Zeit und Raum aus Sicht behinderter Menschen

Autor:in - Peter Radtke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98. Thema: Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/1998)
Copyright: © Peter Radtke 1998

Zeit und Raum aus Sicht behinderter Menschen

Raum und Zeit bedingen einander. Die eingeschränkte Raumerfahrung eines behinderten Menschen wirkt sich auch auf sein Zeiterleben aus. Dabei handelt es sich um eine Wahrnehmungsform eigener Qualität, der Pädagoginnen und Pädagogen Rechnung zu tragen haben.

Als ich vor etlichen Monaten gebeten wurde, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe ein Referat zum Thema "Zeit und Raum aus Sicht behinderter Menschen" zu halten, zögerte ich - und wie sich im Laufe der Beschäftigung mit der Aufgabenstellung herausstellte, nicht zu Unrecht. Was sollte ich Ihnen schon sagen? Ich bin kein Sonderpädagoge und kein Psychologe. Ich habe mich nicht mit der einschlägigen Sekundärliteratur beschäftigt, die es sicher auch auf diesem Gebiet gibt. So fehlt mir die theoretische Grundlage, auf der ich dem Plenum neue, tiefschürfende Einblicke eröffnen könnte. Andererseits bin ich aber auch nicht jener Schwerbehinderte, dessen Leben sich so gravierend von dem sogenannter Nichtbehinderter unterscheidet, daß für ihn Zeit und Raum tatsächlich eine andere, eine neue Qualität annehmen würden. Ich hatte gewisse Vorstellungen, die ich weder durch die Theorie noch durch meine eigene Situation belegen konnte. Wie sollte ich sie dann aber vermitteln? Da erlitt ich einen Unfall - und plötzlich war alles anders.

Während einer Vortragsreise in Norddeutschland verunglückte ich auf der Zugfahrt. Der Rollstuhl kippte um, und ich brach mir das Handgelenk sowie zwei Finger der rechten Hand.

Das ist unangenehm, wenn man Rechtshänder ist; es kommt einer Katastrophe gleich, wenn man Rechtshänder ist und auf den Rollstuhl angewiesen. Es geht dann nämlich nicht mehr nur um die Frage, ob man noch eine Unterschrift leisten kann oder mit dem Schlüssel die Tür aufsperren. Ich benötige die rechte Hand auch, um meinen Rollstuhl zu lenken, von diesem auf den Autositz zu wechseln, ja selbst um die Hose hochzuziehen oder auf der Toilette ohne Hilfe zurecht zu kommen. Ich habe mich nie als schwerbehindert empfunden, obwohl andere mich oft so einstufen. Doch von einem Tag auf den anderen wurde mir klar, was Menschen mit einer wirklich schweren Behinderung tagtäglich als Grunderfahrung erleben. Dies hat auch Auswirkungen auf ihr Gefühl von Zeit und Raum. Wenn ich also im Nachfolgenden von meinen ureigensten Beobachtungen der letzten Monate in dieser Hinsicht berichte, so nicht, weil ich Ihr Mitgefühl wecken will oder eine Selbstdarstellungsmanie habe. Ich tue dies, weil es für mich der einzige Ansatzpunkt ist, mit dem ich mir - und auch Ihnen - Antwort auf die gestellte Frage geben kann: "Was bedeuten Raum und Zeit bei Menschen mit einer schweren Behinderung?"

Es gibt keine Aktivität ohne Bewegung im Raum.

Obwohl ich schon auf über hundert Frakturen zurückblicken kann, die meisten in meiner Kindheit und Jugend, heißt dies keinesfalls, daß ich mich an Knochenbrüche gewöhnt hätte. Sie sind genauso schmerzhaft wie bei anderen Menschen. Schmerz aber ist Einschränkung: Einschränkung der Bewegung und Einschränkung der Aktivität. Ich nenne diese beiden Begriffe in einem Atemzug, denn es gibt keine Aktivität ohne Bewegung im Raum und umgekehrt ist Bewegung immer auch eine Form der Aktivität. Für mich besteht Aktivität z.B. im Reisen oder in der Teilnahme an Veranstaltungen und Konferenzen. Mit einem Unfall waren diese Unternehmungen weitestgehend in Frage gestellt. Schon das Einsteigen ins Auto brachte eine Reihe von Problemen mit sich. Da ich mich nicht mehr selbst umsetzen konnte, mußte ich hoffen, daß mich jemand ins Auto heben würde. Würde ich dann am Bestimmungsort wieder einigermaßen schmerzhaft herauskommen? Wie sah es mit der Bewältigung des Toilettengangs am Versammlungsort aus? Würde ich überhaupt die Spülung betätigen können? Kleinigkeiten, zugegeben, aber sie können einem den Elan bis zum Nullpunkt bremsen. Diese Zurücknahme der Aktivität reicht aber auch hinein bis ins kleinste Detail. Wenn ich beim Referatschreiben etwas im Lexikon nachprüfen will, muß ich mich vom Schreibtisch zum Bücherschrank bewegen. Angesichts der Strapazen, den Rollstuhl mit einer Hand voranzuschieben und gleichzeitig in der Richtung zu halten, werde ich mir dreimal überlegen, ob ich nicht lieber das Referat vergesse und die Zeit mit Fernsehen oder Schlafen verbringe. Ich bleibe an meinem Platz, ich bewege mich nicht von der Stelle und reduziere damit, im konkreten wie im übertragenen Sinn, den Radius meiner Aktivität. Wo Bewegung endet, da endet Aktivität.

Meine Zeitdimension reduzierte sich auf den Augenblick.

Was für die Bewegung gilt, gilt in sehr komplexer Weise auch für die Zeit. Ich war immer in der glücklichen Lage, mich selbst anziehen zu können. Ich darf wohl behaupten, das ging in der Regel Ruck-Zuck. Wenn ich aus dem Bett aufstand, konnte ich davon ausgehen, daß ich fünf Minuten später angezogen in meinem Rollstuhl sitzen würde. Plötzlich aber hatte diese Regel keinen Bestand mehr. Es begann schon bei den Strümpfen. Haben Sie schon einmal versucht, sich mit einer Hand Strümpfe anzuziehen? Es ist teuflisch, besonders wenn es sich um neu gekaufte Kniestrümpfe handelt, die eigentlich wie angegossen sitzen. Ähnliche Schwierigkeiten stellten sich mit jedem weiteren Kleidungsstück ein. Zusammengenommen brauchte ich nunmehr über zwanzig Minuten, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Sachen bei weitem nicht so saßen, wie sie sitzen sollten. Diese zwanzig Minuten waren Gegenwart. Darunter verstehe ich, daß ich in dieser Zeit keinerlei Gedanken an irgend etwas aufwenden konnte, als an eben das, was ich gerade tat. Ich mußte mich voll auf mich selbst konzentrieren. Mein Denken richtete sich auf die Ausführung meiner Bewegungen, d.h ich dachte zuerst das, was ich tun wollte, um es dann tatsächlich zu tun. Mein Tagesrhythmus verlangsamte sich also nicht nur, gleichzeitig weitete sich auch die Gegenwart aus, oder aus anderer Sicht betrachtet, meine Zeitdimension reduzierte sich auf den Augenblick. Manche Denker behaupten, es gäbe überhaupt keine Gegenwart. Diese sei vielmehr eine Art Grenze zwischen Nicht-Mehr-Seiendem und Noch-Nicht-Seiendem. Das mag vom philosophischen Standpunkt aus stimmen.

Die Alltagserfahrungen kann jedoch auch das Gegenteil lehren. Der Augenblick erhält in bestimmten Situationen oder Lebensverhältnissen ein solches Übergewicht, daß für eine andere Zeitdimension kein Platz mehr übrig bleibt.

Die gegenseitige Abhängigkeit von Zeit und Raum ist eine Konstante im abendländischen Denken von Plato bis Albert Einstein. In der Physik spricht man deshalb auch gerne von einem Zeit-Raum-Kontinuum. Die Zeit braucht einen vorgegebenen Raum, um greifbar werden zu können, und den Raum definieren wir durch Maßeinheiten der Zeit. Wir sprechen von der Unendlichkeit des Raums oder von Gestirnen, die so und soviel Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt sind. Dabei handelt es sich eindeutig um Zeitangaben, die auf Größenverhältnisse übertragen werden. Daß andererseits ein Tag nicht unbedingt ein Tag ist, sondern sich durch den Raum relativiert, merken wir, wenn wir z.B. mit dem Flugzeug über den Atlantik fliegen. Wir steigen am Vormittag in Frankfurt in die Maschine, sitzen unsere acht oder neun Stunden ab; doch bei der Landung in Florida, ist es noch immer früher Nachmittag. Wenn wir den Wissenschaftlern glauben dürfen, hat die Bewegung im Raum sogar Auswirkungen auf unseren Alterungsprozeß.

In Zusammenhang mit dem Thema "Behinderung" ist die gegenseitige Wechselwirkung von Zeit und Raum, soweit mir bekannt ist - doch ich bin, wie gesagt, in dieser Hinsicht kein Fachmann - bisher noch wenig behandelt. Meine persönliche Erfahrung aufgrund des Unfalls bestätigt lediglich das, was ich zuvor bereits in Ansätzen glaubte, behaupten zu können. Es gibt zwei Gleichungen, die in direkter Abhängigkeit zueinander stehen: 1. Je schwerer eine körperliche Behinderung ist, desto größeren Raum nimmt die Gegenwartsdimension ein. Ich könnte an dieser Stelle versuchen, aus dem Gesagten eine mathematische Formel abzuleiten, und, um ehrlich zu sein, habe ich dies in der Vorbereitung des Referates auch getan. Aber meine Schulzeit liegt zu lange zurück, als daß es mir gelungen wäre, eine angemessene Darstellungsform für meine Thesen zu finden. Wahrscheinlich ist dies jedoch auch gar nicht nötig. Schließlich geht es nicht um meßbare Werte, die ihrerseits zu numerischen Ergebnissen führen sollen. Wichtig ist vielmehr das Verdeutlichen eines Zusammenhangs zwischen Behinderung einerseits und Aktionsradius sowie Gegenwartsdimension andererseits. Dies hat nämlich auch Auswirkungen in sonder- und heilpädagogischer Hinsicht.

Dort, wo die Erfahrung ausfällt, kommt es zu keinem Begreifen und Verstehen.

Doch bemühen wir uns zunächst um eine Begriffsdefinition. Kaum eine zweite Weltsprache ist so ausdrucksstark wie das Deutsche. Ausschlaggebend hierfür ist zum einen seine beeindruckende Wortfülle, zum andern aber auch und vor allem seine Fähigkeit, durch das Voranstellen oder Anhängen von Silben neue Begriffe zu prägen. Diese Struktur ermöglicht es, Sinnzusammenhänge transparent zu machen, die in anderen Sprachen ungeklärt bleiben.

Im Fall der kognitiven Aneignung von Inhalten, dem eigentlichen Lernen werden die unterschiedlichen Etappen des Vorgangs sprachlich sehr differenziert bezeichnet. Wir reden von Erfahren, Begreifen und Verstehen. Jede Erkenntnis beruht zunächst auf einer persönlichen Erfahrung. Diese muß verarbeitet werden, was im Begreifen stattfindet. Erst nachdem die Erfahrung im Begreifen verinnerlicht ist, läßt sich umfassend vom Verstehen einer Sache sprechen. In allen drei Begriffen finden sich als Wurzel Verben, die eine Art Bewegung ausdrücken: Fahren - Greifen - Stehen. Die Abfolge ist nicht willkürlich gewählt. Zeitlich an erster Stelle ist die weitausholende Geste, das "Fahren"; mit "Greifen" schließt sich eine feinmotorische Bewegung an und schließlich bildet das "Stehen", das Innehalten der Bewegung, den Abschluß des Lernprozesses. Wenn sie wollen, können wir diese Form des Lernens in ihrer Reihung auch in der Geschichte belegen. Der Geselle, der Meister werden wollte, begab sich auf Wanderschaft, um etwas zu erfahren. In der Fremde erlernte er neue Techniken, indem er sie selbst erprobte. Nach Abschluß seiner Lehr- und Wanderjahre kehrte er als "bewanderter Mann" nachhause zurück und ließ sich seßhaft am Heimatort nieder. Nun erst verstand er wirklich sein Handwerk. Erfahren - Begreifen - Verstehen, das ist eine Zeit-Raum-Konstellation, die in ihrer Abfolge nicht willkürlich umkehrbar ist, und es ist eine Abfolge, deren Einzelelemente jedes für sich benötigt werden. Dort, wo die Erfahrung ausfällt, kommt es zu keinem Begreifen und Verstehen. Dort, wo die Erfahrung nicht vom Begreifen begleitet wird, bleibt es bei unzusammenhängenden Erlebnissen. Dort, wo erfahren und begriffen wird, ist die Basis für das Verstehen gelegt. Das hört sich alles sehr theoretisch an; es läßt sich aber durchaus in der Alltagspraxis der Arbeit mit behinderten Menschen überprüfen.

Menschen mit erheblichen Bewegungseinschränkungen von Kindheit auf, sind in der Schule oft schwache Rechner. Da sie im buchstäblichen Sinn des Wortes den Raum nicht erfahren haben, fällt es ihnen schwer, sich Größenverhältnisse und Maßstäbe vorzustellen. Daraus ergibt sich im Normalfall ein Defizit überall dort, wo Verständnis für abstrakte Denkvorgänge vorausgesetzt wird. Natürlich gibt es auch hier, wie überall, Ausnahmen von der Regel. Doch werden Sie vermutlich lange suchen müssen, bis Sie einen Menschen mit schwerer körperlicher Behinderung unter den Koryphäen der Mathematik finden, während wir sehr wohl eine Reihe herausragender Beispiele für ungewöhnliche Leistungen im Kreativen haben, insbesondere im bildnerischen Gestalten, in der Malerei und in der Literatur. Vielleicht wollen Sie jetzt als Gegenbeispiel einen der größten lebenden Naturwissenschaftler des Jahrhunderts anführen: Stephen William Hawking. Doch der an amyotrophischer Lateralsklerose, kurz ALS, leidende britische Physiker büßte erst nach Abschluß der Collegezeit seine Beweglichkeit ein, so daß in seinem Fall die Behinderung möglicherweise sogar eine Chance darstellte, soweit man dies von einer Behinderung sagen kann. Sie ermöglichte ihm nämlich, nach Ausformung seiner Begabung für abstrakte Denkvorgänge, ein weitgehend ausschließlich auf das Philosophisch-Theoretische hin ausgerichtetes Leben, was vielleicht ohne ALS nicht in dieser Weise realisierbar gewesen wäre.

Wenn, wie wir gesehen haben, die Schwere einer Behinderung Einfluß auf Raum- und Zeiterfahrung des jeweils betroffenen Menschen hat, so müßte umgekehrt die Erweiterung der Raumerfahrung bzw. das Zurückdrängen der Gegenwartsdimension als einziger Zeitdimension zugunsten anderer Zeiterfahrungen dem Abbau von Behinderung förderlich sein. Selbstverständlich können auch noch so gute heil- oder sonderpädagogische Maßnahmen niemals eine schwere körperliche Einschränkung kompensieren. Dem besten therapeutischen Wirken werden durch die Natur immer gewisse Grenzen gesteckt bleiben. Doch ist solch deterministische Anschauung wenig hilfreich. Wir haben aus prinzipiellen Gründen stets von der Veränderlichkeit zum Positiven hin auszugehen, selbst wenn die Ansatzpunkte hierfür gering sind. Andernfalls müßten wir generell unsere Arbeit in Frage stellen. Menschen mit einer schweren Behinderung sind mehr oder minder uner"fahren", und dies im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn. Um also das Verstehen auch bei ihnen anzubahnen, muß ihnen Gelegenheit geboten werden, Erfahrungen zu sammeln und das Begreifen zu praktizieren. Es ist mir, ehrlich gesagt, unfaßbar, wie in Sondereinrichtungen, die an sich schon Stätten der reduzierten Erfahrung sind, Exkursionen und Schullandheimaufenthalte aus Kostengründen oder dem Mangel an Begleitpersonen reduziert werden oder sogar völlig ausfallen, obwohl hierdurch die Basis zu einer unbehinderteren Persönlichkeitsentwicklung gelegt werden könnte. Die Wirkung solcher Ausflüge wird weitgehend unterschätzt. Sogar Fachkräfte aus dem Rehabilitationsbereich meinen oft, Fahrten über längere Strecken seien sowieso nur eine Strapaze für alle Beteiligten. Den sogenannten Schwerstbehinderten sei es schließlich gleich, wo sie auf die Toilette gebracht würden. Ansonsten bekämen sie ohnedies nicht viel mit. Und für die Betreuer fiele eine Menge Mehrarbeit an. Hier liegt ein Irrtum vor, denn Erfahrung ist nicht nur das über den Verstand bewußt wahrgenommene Erleben. Im Gegenteil: Wie wir gesehen haben, liegt die Erfahrung vor dem Verstehen. Der Mensch mit schwerer Behinderung, wie übrigens auch jede nichtbehinderte Person, nimmt seine Umwelt nicht nur mit dem Verstand wahr. Alle Sinne sind in diesen Prozeß mit einbezogen. So mag der Betroffene vielleicht nicht wissen, daß die Alpen 700 Kilometer von der Nordsee entfernt sind. Vielleicht weiß er nicht einmal, was die Alpen sind und was die Nordsee. Er merkt jedoch, ob er lange unterwegs ist oder nicht. Selbst wenn ihm hierfür das Bewußtsein fehlt, spürt und riecht er, daß die Luft in den Alpen anders ist als die Brise, die ihm an der Nordseeküste entgegen bläst. Ist das wirklich so wichtig? Diese Frage, meine ich, dürfen wir uns gar nicht erst stellen. Sie müßte dann nämlich für all unsere Erfahrung gelten, ungeachtet dessen, ob es sich um Menschen mit oder ohne Behinderung handelt. Oder haben Sie sich schon einmal darüber Rechenschaft abgegeben, ob das, was Sie tun, wirklich wichtig ist?

Ortsveränderung bedeutet in gewisser Weise immer auch, Vergangenheit zu schaffen.

Eine Veränderung des Ortes regt die Sinne an, weckt zur Neugier. Dies sind positive Voraussetzungen für einen Lernprozeß. Solch ein "Tapetenwechsel" hat jedoch auch Auswirkungen auf die Zeitdimension. Wer nur die eigenen vier Wände kennt, hat keinen Anker in der Vergangenheit. Wie oft hören wir von alten Leuten: "Damals, als ich da und da war...", "Damals, als ich das und das erlebte...". Stets handelt es sich dabei um Ereignisse, die vom Alltäglichen abweichen. Kaum einer wird sagen: "Damals, als ich vor meinem Fernseher saß..." oder "Damals, als ich das Mittagessen machte....". Ortsveränderung bedeutet in gewisser Weise immer auch, Vergangenheit zu schaffen. Die Gleichförmigkeit ohne Unterscheidung von Ort und Zeit ist das charakteristische Merkmal einer verminderten Lebensqualität. Nicht umsonst versuchen wir, mitunter sogar recht erfolgreich, autistische Kinder aus ihren stereotypen Verhaltensmustern herauszuholen. Wir schaffen ihnen hierdurch einen Ausweg aus ihrem selbst auferlegten Gefängnis und eröffnen ihnen neue Perspektiven. Der Ortswechsel ist jedoch auch maßgeblich an der Ausbildung von Zukunft beteiligt. Erst wenn ich weiß, daß es ein Anderswo gibt mit einem Anderssein, werde ich beginnen zu planen, mir etwas vorzunehmen, Hoffnung zu schöpfen. Das aber bedeutet im Grunde Zukunft. Den Raum zu durchmessen, Veränderungen des Ortes vorzunehmen, das heißt folglich Zeitbewußtsein zu kreieren, und damit Leben lebenswerter zu gestalten.

Persönlich hatte ich das große Glück, trotz meiner Angewiesenheit auf den Rollstuhl, ziemlich viel von der Welt erfahren zu haben. Dies geschah zunächst in einem Kindersitz auf dem Gepäckträger eines Damenfahrrades, das von meiner Mutter gelenkt wurde. Später weitete sich mein Aktionsradius dank der Bahn, dem Auto und dem Flugzeug noch erheblich aus. Solche Reisen haben mir Raum erlebbar gemacht. Ohne jene prägenden Eindrücke meiner Kindheit und Jugendjahre wäre ich bestimmt ein anderer Mensch geworden. Aber die Reisen, die Mobilität, die mir andere, insbesondere meine Mutter, schenkten, hatten auch Auswirkungen auf mein Verhältnis zur Zeit; sie schufen mir eine Vergangenheit, aus der ich noch heute Kraft schöpfe. Nicht jeder wird aus seinen Erlebnissen gleich eine Autobiographie schreiben, wie ich es getan habe. Das ist auch nicht nötig. Wichtig ist vielmehr, daß die Gegenwart nach rückwärts hin aufgebrochen wird und in schweren Zeiten ein Refugium bietet, das im Bedarfsfall die Gegenwart leichter ertragen läßt. Derartige Erfahrungen weiten aber auch den Blick nach vorn. Wo es eine Vergangenheit gibt, gibt es auch eine planende Zukunft. Ich kann Pläne schmieden, weil mir die Erfahrungen der Vergangenheit Zuversicht geben, daß gewisse Vorstellungen selbst für mich realisierbar sind.

Neben den konkreten Unternehmungen, die mir gegönnt waren, konnte ich noch auf ein Zweites zurückgreifen, das mir Zeit und Raum öffnete. Dort, wo man nicht selber Erfahrungen machen kann, ist die Aneignung der Erfahrung anderer ein sinnvoller Ausgleich. Dies geschieht in erster Linie durch das Lesen. Ich glaube, ich habe als Kind mehr gelesen, als die meisten Erwachsenen in ihrem ganzen Leben. Ich war kein Vielleser, nein, ich war ein Megaleser. Alles, was gedruckt war, wurde verschlungen. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Inhalt für den jungen Geist taugte oder nicht. Es ist sicher nicht einfach, Schwerbehinderten - man erlaube mir in diesem Zusammenhang den Ausdruck - das Lesen beizubringen. Die Möglichkeit, über Bücher mangelnde Mobilität aufzufangen, stößt an natürliche Grenzen. Dennoch scheint mir im Unterricht behinderter Schüler das Augenmerk auf das geschriebene Wort allzu oft vernachlässigt zu werden. Darüber hinaus bieten die modernen Medien Ansätze genug, das geschriebene Wort optisch oder akustisch zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Wichtig ist die Vermittlung eines Inhaltes, mit dem sich der Betroffene identifizieren kann und der ihm erlaubt, seine Zeit- und Ortsgebundenheit hinter sich zu lassen. Noch einmal möchte ich in Erinnerung rufen: Je stärker die Behinderung desto eingeschränkter die Raumerfahrung und desto begrenzter die Zeiterfahrung von Vergangenheit und Zukunft. Dies gilt leider auch für die Kompensationsmöglichkeiten, die ich soeben angesprochen habe. Von anderen auf Reisen mitgenommen zu werden oder sich selbst Horizont zu erlesen, ist um so problematischer, je schwerer eine Behinderung ist. Im ungünstigsten Fall bleibt trotz aller Bemühungen nur ein Hier und Jetzt, die unbegrenzte Gegenwart und die mehr oder minder totale Fixierung an ein und demselben Ort.

Ich fühle, also bin ich.

Wenn dieser Fall gegeben ist und keine sonderpädagogische Einwirkung von außen den Zustand ändern kann, dann stellt sich folgerichtig die Frage: "Was ist unsere Aufgabe in einer solchen Situation?" Viele Fachkräfte haben bereits ohne großartiges philosophisches Fundament den richtigen Weg gefunden. Er wird mit einem bekannten Spezialbegriff umschrieben und lautet: Basale Stimulation. Basale Stimulation ist nichts anderes, als sich voll auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren und diesen dem Betroffenen durch entsprechende Reize erfahrbar zu machen. Selbst die Gegenwart wird als Gegenwart erst erkannt, wenn sie zumindest vom Körper her bewußt wahrgenommen werden kann. So wie der Augenblick die Konzentration auf die Mitte der Zeit ist, so ist der Körper die Konzentration auf die Mitte des Ortes. In der Basalen Stimulation, im Erleben des eigenen Körpers zu einem gegebenen Zeitpunkt, geschieht das, was der australische Ethikprofessor Peter Singer Menschen mit schwerster Behinderung abspricht: das Bewußtsein ihrer selbst. Bewußtsein muß nicht zwangsläufig und ausschließlich über den Intellekt ablaufen. Alle Sinne sind daran beteiligt. Selbst der Volksmund hat für diese Erkenntnis eine Umschreibung. Wie oft sagen wir nicht scherzschaft, wenn wir irritiert sind und nach einem Orientierungspunkt suchen: "Kneif' mich; ich glaube, ich träume"? Das Bewußtsein des Körpers soll uns das Bewußtsein unseres gesamten Ichs wiedergeben. Man müßte dem in mancher Hinsicht fatalen Axiom Descartes' "Cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich" ein ebenso kraftvolles "Senso ergo sum - Ich fühle, also bin ich" gegenüberstellen.

Wer meine Einstellung zu sogenannten Behindertenproblemen kennt, der wird sich denken können, daß ich auch in Hinblick auf unser Thema die Tragweite der Überlegungen nicht auf den Personenkreis der Behinderten beschränkt sehen möchte. Wie Sie vielleicht schon selbst festgestellt haben, hat vieles, was bisher gesagt wurde, Gültigkeit nicht nur in Bezug auf behinderte Menschen. Ich halte die Probleme von Menschen mit einer Behinderung, insbesondere mit einer schweren Behinderung, für allgemein menschliche Probleme. Sie unterscheiden sich durch nichts von den allgemeinen Fragestellungen außer, daß die Betroffenen sie weniger leicht verdrängen und vor der Umwelt verbergen können. Dies erlaubt uns, gesellschaftliche Zustände, quasi wie in einem Labor, in einer auf das Wesentliche konzentrierten Form zu analysieren. Unwillkürlich wird damit der Mensch mit einer Behinderung, dem andere mitunter das Menschsein sogar absprechen, zum Prototyp der Conditio humanae. So sehe ich es auch im vorliegenden Fall von Zeit und Raum. Jeder von uns durchläuft von seiner Geburt bis zum Tod verschiedene Phasen, von denen jene am Anfang und am Ende seines Weges nicht nur für jeden gleich sind, sondern auch in frappanter Weise der Situation ähneln, die für Menschen mit einer schweren Behinderung ihr ganzes Leben über gelten. Das Neugeborene ist zunächst mehr oder minder auf einen Ort fixiert. Seine Bewegungen sind isotopischer Natur, d.h. sie vollziehen sich an ein und derselben Stelle. Der Raum, der seiner Aktivität zur Verfügung steht, ist der Fleck, an dem es niedergelegt wurde. Eine Raumerfahrung im herkömmlichen Sinn ist in diesem Stadium noch kaum möglich. Ebenso gibt es, soweit wir vermuten dürfen, kein Bewußtsein für Vergangenheit und Zukunft. Die allumfassende Zeit ist die Gegenwart oder genauer genommen, der Augenblick. Dieser Augenblick bestimmt das Empfinden des Säuglings. Wenn der Augenblick negativ erlebt wird, schreit und weint das Kind, wird er positiv erfahren, lacht es oder kräht oder ist zumindest mit sich selbst und der Umwelt in Einklang. Die Mutter, die das Kleinkind stillt, die es wiegt, die es streichelt, will nicht mehr, als ihm den Augenblick zu einem Moment des Glückes und der Zufriedenheit zu machen. Die Befriedigung des Augenblickes erhält einen Wert in sich, ohne Rücksicht auf ein Vor- oder Nachher. Die gleiche Konstellation wiederholt sich am Ende unserer Tage, sofern es sich um einen normalen Alterungsprozeß handelt. Wiederum engt sich der Zeit- und Raumradius des Menschen ein. Immer kürzer werden die Wegstrecken, die er selbständig bewältigen kann. Schließlich sitzt er im Lehnstuhl und liegt zuletzt auf dem Krankenbett, das sein Sterbebett wird. Als erstes verliert die Dimension der Zukunft ihre Bedeutung. Der alternde Mensch denkt nicht mehr nach vorn, vielmehr dient ihm die Gegenwart zur Befriedigung seiner elementaren substantiellen Bedürfnisse und die Vergangenheit als Stoff für seine intellektuelle Betätigung. Doch mit schwindendem Verstand nimmt er auch von der Vergangenheit Abschied. Wie zu Beginn des Lebens dominiert der eigene Körper und dessen Empfindungen; der Augenblick etabliert sich erneut als der alles beherrschende Faktor. Doch es besteht ein gravierender Unterschied zum Anfang des Lebens. In der Regel gibt es nämlich jetzt niemanden mehr, der den so eingeschränkten Menschen in den Arm nimmt, um ihm die Befriedigung des Augenblicks zu ermöglichen. Der Sterbende wird sich selbst überlassen, die Basale Stimulation ist ersetzt durch eine inhumane unpersönliche Nahrungs- und Sauberkeitsversorgung. Eine über Wärme und Hautkontakt ausgeübte Hinwendung zum greise gewordenen Menschen ist in den seltensten Fällen vorhanden.

Es geht darum, den Augenblick wieder als menschliche Dimension zu erfahren.

Die Raum- und Zeitvorstellung von Menschen mit einer schweren Behinderung tendiert hin zum Augenblick und zur Konzentration auf sich selbst und den eigenen Körper. "Carpe diem", "Pflücke den Tag" hat Horaz in seinen Oden die philosophische Lebensmaxime ausgegeben. Diese Losung wurde oft falsch verstanden und mißinterpretiert. Es geht nicht darum, gedankenlos und ohne Moral in den Tag hinein zu leben. Sehr wohl aber handelt es sich darum, den Augenblick wieder als menschliche Dimension zu erleben. Mitunter scheint es, als habe nur das einen Wert, was auf die Zukunft hin ausgerichtet ist. Wer kein Bewußtsein von Vergangenheit oder Zukunft hat, ist - nach Peter Singer - kein vollwertiger Mensch. Woraus bezieht Singer diese Gewißheit? Bei den Hopi-Indianern, wie auch bei anderen Sprachfamilien wird nicht nach Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft unterschieden, sondern nach dem Verlauf einer Handlung oder deren punktuellem Eintritt in ein Geschehen. Dementsprechend müßte auch Singers Definition des Menschen in neuem Licht erscheinen. Ist jemand, der nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheidet, weniger Mensch als ein in abendländischen Zeitkriterien aufgewachsener Westeuropäer? Deutet sich hier nicht ein neuer Rassismus an, der weit gefährlicher ist als alles bisher Gekannte? Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Art Zwischenstadium der Sprache, das sich in der Deutschen Gebärdensprache der Gehörlosen findet. Zwar kennt auch dieses Idiom die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, doch werden alle Gedanken in der Gegenwart ausgedrückt. Lediglich durch eine Handbewegung, quasi als Vorsilbe, deutet der Gebärdende an, daß die nachfolgenden Sätze als Ausdruck innerhalb der Vergangenheit oder der Zukunft zu verstehen sind.

So sehr die Weitung unseres Horizontes in Bezug auf Raum und Zeit zu einer Bereicherung unseres Lebens führt, so wenig sollte der Augenblick, das Hier und Heute gering geachtet werden. Vielleicht läßt sich dies von Menschen mit einer schweren Behinderung lernen. Lassen Sie mich diese Überlegungen mit einigen Sätzen des Dichters Heinrich Heine beschließen. Für die letzten acht Jahre seines Lebens kann er mit Fug und Recht als "Schwerstbehinderter" bezeichnet werden. Er litt an Rückenmarksschwindsucht, die ihn auf die "Matratzengruft", wie er sein Krankenlager zu nennen pflegte, zwang. Er wußte, was er sagte, wenn er formulierte:

"...für Leute, die nur Vergangenheit und Zukunft kennen und nicht in jedem Momente der Gegenwart eine Ewigkeit leben können, ja, für solche muß der Tod schrecklich sein! Wenn ihnen die beiden Krücken, Raum und Zeit, entfallen, dann sinken sie ins ewige Nichts."

Der Autor

Dr. Peter Radtke, geb. 1943. Bereits mit drei Knochenbrüchen zur Welt gekommen (Glasknochenkrankheit). Dolmetscher, Übersetzer und Handelskorrespondent. Promotion in Romanistik mit Nebenfach Germanistik. Fachgebietsleiter für Behindertenarbeit an der Münchner Volkshochschule. Seit 1984 Geschäftsführer und Leitender Redakteur der "Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien e.V.". Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Behindertenproblematik. Theaterstücke: z.B. "Theater am Sozialamt", "Ein halbes Leben aus Glas". 1978 Initiator des ersten deutschen Behindertenstückes mit authentischen Behinderten ("Licht am Ende des Tunnels"). Mitbegründer des "Münchner Crüppel Cabarets". Seit 1992 Gast am Wiener Burgtheater. Eigenständige Regiearbeit an den Städtischen Bühnen Regensburg. Mitwirkung an mehreren Hörspielen.

Bonnerplatz 1/V

D-80803 München

Quelle:

Peter Radtke: Zeit und Raum aus Sicht behinderter Menschen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.04.2006

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