Ein Podium für mich

Zur Bedeutung von Bühne und Auftritt für Menschen mit Behinderung und Benachteiligung

Autor:in - Katharina Witte
Themenbereiche: Kultur
Schlagwörter: Identität, Kunst, Theater, Beziehung
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 2/2007, Seite 42-49 Behinderte Menschen (2/2007)
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Information

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Ein Podium für mich

Seit der Antike sind Menschen fasziniert von der "magischen" Wirkung des Theaters wie zum Beispiel die Philosophen Platon und Aristoteles. Später versuchen Theaterwissenschaftler, Psychologen und Pädagogen immer wieder, die verschiedenen Facetten des Theaters in ihren Auswirkungen zu beschreiben.

Was dem Theater an Einflüssen und Auswirkungen auf den Menschen zugeschrieben wird, ist so unterschiedlich wie die Theaterformen, die es gibt, und die theoretischen Hintergründe, die den Erklärungen und Beschreibungen der Wirkungen des Theaterspiels auf den Menschen zugrunde liegen. (Für Übersichten und Strukturierungsversuche zur Geschichte der Theaters und der sich daraus ergebenden Theaterpädagogik vgl. z.B. Hentschel [1996],

Weintz [2003], Wondrak [2002]). Nur einige zentrale Elemente, die in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen, seien hier schlagwortartig genannt:

  • Theater als Aufklärung über Gesellschaft (einer der Ursprünge des Theaters)

  • Theater in psychohygienischer Funktion, (als Spiegel für den Zuschauer)

  • Theaterspielen als Erweiterung des Interaktionsrepertoires und der emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten

  • Theaterspielen als Stärkung des Selbstvertrauens

Bereits in dieser Aufzählung deutet sich an, dass bei allen beobachteten Einflüssen und Auswirkungen des Theaterspiels auf den Menschen grob unterschieden werden kann zwischen

  • Auswirkungen auf die Person des Schauspielers

  • Auswirkungen auf das Publikum, die Gesellschaft

Beide Richtungen können auch aus sonderpädagogischer Perspektive betrachtet werden. Sie lassen sich zuspitzen auf folgende Fragen:

  • Inwieweit ist gerade Theaterspiel ein hilfreiches Ausdrucksmedium für Menschen in besonderen und häufig schwierigen Lebenssituationen?

  • Inwieweit kann das Theater einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration von Menschen in besonderen Lebenssituationen leisten?

Wechselwirkung Zuschauer - Spielende

Beide Fragen müssen natürlich im wechselseitigen Zusammenhang betrachtet werden. Theater leistet dann einen Beitrag zur Integration von Menschen in besonderen Lebenslagen, wenn ihnen eine Art des Theaterspielens ermöglicht wird, in der sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend ausdrücken und präsentieren können. Dazu müssen auf Seiten der Theaterleiter eine sensible Wahrnehmung der Personen und professionelles Theaterhandwerk zusammenspielen, um Fähigkeiten herauszufinden und so zu präsentieren, dass das Ergebnis für ein öffentliches Publikum zu einem positiven Theatererlebnis wird.

Umgekehrt ist das Theaterspiel dann ein sinnvolles Ausdrucksmedium für Menschen in besonderen Lebenslagen, wenn es eine sozial konstruktive Perspektive auf die Theaterspielenden eröffnet - wenn also das positive Echo auf das Spiel sich in irgendeiner Weise auf die Personen der Schauspieler auswirkt. Dies geschieht nicht immer auf dem direkten Weg über den Inhalt eines Stückes, das gespielt wird oder über die Figur, die die spielende Person verkörpert, sondern es geschieht auch über die Begleitumstände und über die Wahrnehmung der Person in ihrer sozialen Rolle als Schauspieler und Schauspielerin.

Dabei geht es immer um die Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer. Berücksichtigt man die Diskussion um den "Behindertenbonus", dann zeigt sich, wie schmal der Grat ist zwischen einer "wirklichen", Akzeptanz des Schauspielers bzw. der Person durch die Zuschauer und andererseits einer positiv gefärbten Wahrnehmung, da ja ein "besonderer Mensch" da spiele. Diese Art der Wahrnehmung kann im Extremfall auch zur Irritation über die Zurschaustellung von Behinderung werden. In einem Briefwechsel zwischen Martin Th. Hahn und dem Schauspieler Peter Radtke wird deutlich, dass die Frage der Rollenbesetzung durch Menschen mit (Körper-)Behinderung im Theater sehr viele ethische, gesellschaftskritische und auch theaterwissenschaftliche Fragen aufwirft, die Radtke letztlich mit dem Hinweis auf die großen integrativen Chancen des Theaters mit Menschen mit Behinderung auf der Bühne beantwortet (Hahn/Radtke, 2006).

Wirkungsweise von Theater

Hier lohnt sich ein Blick auf die Frage, was denn eigentlich die besondere Wirkungsweise des Theaters ausmacht Unter anderem lassen sich folgende Grundelemente des Theaters bestimmen:

  • Figuren/ Rollen (mit den dazugehörigen Kostümen und Requisiten) als Verfremden der eigenen Person

  • ein (Spiel-)Raum für diese Figuren

  • die Präsentationssituation (das Gegenüber von Bühne und Publikum)

Das dritte der hier aufgezählten Elemente, die Präsentationssituation (das "Podium") soll im folgenden beleuchtet werden als das Schlüsselelement des Theaters, insbesondere des Theaters mit Menschen in besonderen Lebenssituationen.

"Bretter, die die Welt bedeuten"

Es werden Handlungen präsentiert, die durch andere Maßstäbe bestimmt werden als durch die des Alltags. Es entsteht eine besondere "Erlebnisqualität" dadurch, dass etwas für die eigene Person in jedem Falle Außergewöhnliches getan wird. Es kann dabei um die Verwirklichung heimlicher Träume, die Umsetzung eigener Vorstellungen vom Leben oder auch nur irgendetwas im Alltag nicht Übliches gehen. Nach Koch entsteht ein Erlebnis für eine Person dann, wenn ein äußeres Ereignis als subjektiv bedeutsam wahrgenommen wird.

Durch die Erinnerung werden Erlebnisse zu Erfahrungen und können als solche zu Erkenntnissen führen, die der Entwicklung der Persönlichkeit wichtige Impulse geben (Koch, 2000).

Wie der " Auftritt" auf der Bühne für den Einzelnen bedeutsam wird, soll im Folgenden in drei Bereichen umrissen werden:

  1. Ein Auftritt verlangt von allen Beteiligten verantwortliches Handeln

  2. Ein Auftritt bedeutet hohe Intensität des Handelns und Erlebens

  3. Ein Auftritt bringt die Schauspieler in das Spannungsfeld von Authentizität und Anerkennung

Alle drei Bereiche stellen zunächst Anforderungen an die Schauspieler dar, tragen als solche jedoch zu der häufig erwähnten und beschriebenen Stärkung der Persönlichkeit bei.

Zu 1. Verantwortung

Ein Bühnenauftritt bedeutet hohe Anforderungen. Das " Lampenfieber" ist Ausdruck davon Dazu kommt als weitere Anforderung die verlangte Verbindlichkeit. Diese ist bereits lange vor der direkten Auftrittssituation erforderlich:

Ein Auftritt vor Publikum bedeutet

1.1. Verlässlichkeit statt Freiwilligkeit

Wenn ein Auftritt bevorsteht, müssen alle Beteiligten bei den Proben dabei sein und zwar verbindlich. Das Engagement für das Theater, bisher vielleicht eine Freizeitbeschäftigung, wird für die Zeit bis zum Auftritt zur Verpflichtung. Dies ist für Menschen in erschwerten Lebenssituationen nicht einfach einzuhalten. Es ist Aufgabe der Leitung, die Spieler auf ihre Verantwortung dem Vorhaben und den anderen gegenüber hinzuweisen. Nicht immer wird es beispielsweise so sein wie bei Jürgen, der sich von einem anderen Schauspieler beleidigt fühlte und daher nicht mehr mitmachen wollte. Viele Argumente wurden vorgebracht, um ihn wieder mit hinein zu nehmen - das einzige, was half, war der kurze Satz: "wir haben bald Auftritt."

1.2. Verabredung statt Spontaneität

Bei der Erarbeitungsphase eines Stückes bildet die Improvisation, das Ausprobieren verschiedener Ideen einen wesentlichen Bestandteil der Theaterarbeit. Im Hinblick auf einen Auftritt wird das Spiel jedoch, wenn nicht in allen Einzelheiten, so doch in wesentlichen und strukturierenden Elementen festgelegt. Das Prinzip der Verabredung hilft, die erarbeitete Gestaltung des Stückes einzuhalten und ist für die SchauspielerInnen eine Herausforderung.

1.3. Vollendung statt Beliebigkeit

Für einen Auftritt müssen Handlungen und Abläufe so geprobt werden, dass sie einen bestimmten Grad an Vollendung erreichen. Diese Qualität der Ausführung muss darüber hinaus abrufbar, also wiederholbar sein. Es genügt nicht, dass eine Szene durch Zufall einmal perfekt gelingt, sondern Handlungen müssen so angelegt sein - und geprobt werden, dass sie wiederholt mit einer bestimmten Qualität und Präsenz ausgeführt werden können. Dies verlangt Ausdauer. Es handelt sich zunächst einmal um ein Üben durch ständige Wiederholung. Dies kann monoton und "langweilig" wirken. Die hohe Anforderung für den Schauspieler, aber auch für den Leiter der Proben besteht darin, diese Art der Wahrnehmung zu durchbrechen und zu einer starken Disziplin und Verantwortung d.h. intrinsischen Motivation, zu gelangen.

1.4. Einmaligkeit statt Wiederholbarkeit

Im Moment des Auftritts aber wird Einmaligkeit (ein scheinbarer Widerspruch zum o.g.) verlangt, es muss das getan werden, was in den Proben verabredet wurde. Diese "unwiderrufliche Situation" trägt sicherlich wesentlich zum Lampenfieber bei. Trotzdem gibt sie der Situation des Auftritts eine besondere Intensität.

Zu 2. Intensität

"Das Heiße ist ja, wenn Du ganz Dich in die Situation reinversetzt und ... dann wird es ja immer noch heißer und noch heißer, das körperlich Heiße durch den Anzug, dann das Heiße durch die Konzentration, Koordination und so. Dann wird alles noch heißer, wie ein glühender Sonnenball ... aber dann ist der Reiz auch da, Du machst das, Du bringst Deinen Körper in Schwung, auf Hochtouren, und dann geht es auch."

Diese Beschreibung seiner Empfindungen beim Auftritt durch einen jungen Mann mit Down-Syndrom zeigt, dass ein Auftritt auf der Bühne eine Situation von großer Intensität bedeutet. Einige Charakterzüge und Eigenschaften, die zur Person des Schauspielers gehören, werden verstärkt sichtbar.

  • Wolfgang wird vor dem Auftritt schlecht. Er fordert sehr viel Zuwendung von Seiten der Begleitpersonen ein und stellt sich selbst als überfordert dar. Trotzdem bringt er dann auf der Bühne eine ihm vollkommen angemessene Leistung.

  • Axel ist vor dem Auftritt so ruhig wie immer und wird jedoch auf der Bühne immer lauter und temperamentvoller, wenn er positive Reaktionen des Publikums wahrnimmt. Beim Schlussbeifall bricht er in eine Kaskade von Jubel in Stimme und Bewegung aus.

Hier zeigt sich die Bedeutung, die der Grundstruktur der Auftrittssituation innewohnt: "Ich tue etwas und erhalte dafür Beifall". Das Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung wird unmittelbar bedient. Axel reagiert vor allem auf den (realen) Beifall, während Wilhelm vor allem auf eine mögliche Blamage und die vorweggenommenen negative Publikumsreaktion reagiert. Beide erleben ihr Handeln auf der Bühne als ein von Anderen wahrgenommenes Handeln. Die Besonderheit bei Menschen mit Behinderung und Benachteiligung liegt darin, wie sie auf diese Situation reagieren. Sie intensivieren Ihr Handeln und ihre Reaktionen auf der Bühne und geraten in eine Faszination von sich selbst. Bei Wolfgang und Axel verändert sich in der "Auseinandersetzung mit dem Publikum Entscheidendes. Bei Wolfgang eher nach innen - was sich zum Beispiel auf der Bühne durch einen häufigen Blickkontakt zur Souffleuse äußert -, bei Axel eher nach außen gerichtet und im Sinne extremeren Handelns. Gesten werden größer, die Stimme erhebt sich unerwartet laut.

Für beide gilt: wenn sie bei dem, was sie auf der Bühne tun, den Bezug zur eigenen Person wahren, dann entsteht ein Spannungsfeld, zwischen der "Innensicht" und der "Außensicht" auf die eigene Person. Auf der Bühne könnte dies im Idealfall die Spannung zwischen "Authentizität und Anerkennung" sein.

Zu 3. Authentizität und Anerkennung

Inhaltsverzeichnis

Was auf der Bühne im Fall eines gelungenen Auftritts geschehen kann, lässt sich in Grundbegriffen der Identitätspsychologie beschreiben. Begriffe wie die soziale Identität und die personale Identität beziehen sich auf die Selbstdarstellung im Alltag.[1]

Wenn die soziale Identität der personalen Identität gegenübersteht, dann tut sie das auf der Bühne in besonders prägnanter Weise. Denn der Schauspieler hat eine Figur gewählt, die er auf der Bühne verkörpert und er hat sich mit dieser Figur oder dem, was sie tut, lange und intensiv auseinandergesetzt. Nun präsentiert er das Ergebnis dieser Auseinandersetzung einem Publikum. Dieses Publikum ist bei einem Theaterbesuch darauf eingestellt, das Geschehen auf sich wirken zu lassen.

Wenn es bei dieser Darstellung, d.h. der stellvertretenden" Gegenüberstellung von personaler und sozialer Identität gelingt, dass positiv reagiert wird, dann ist - im Sinne Krappmanns - ein Schritt in Richtung der die beiden Pole integrierenden Ich-Identität gelungen. Eine - womöglich authentische - Selbstdarstellung trifft auf Anerkennung beim Publikum. Diese Pole sollen nun - in bezug auf das Theater näher betrachtet werden.

Authentizität im Theater

Der Begriff der Authentizität ist zunächst sehr vage. Authentisches Theater wird unterschiedlich definiert (vgl. Wondrak, 2005). Als Grundprinzip kann gelten, dass häufig für Theaterstücke mit Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften keine Stückvorlage aus der Literatur gewählt wird, sondern ein Stück "aus dem Leben" der SchauspielerInnen mit ihnen gemeinsam erarbeitet wird. Dies ist keine notwendige Bedingung für authentisches Theaterspiel, wird aber häufig so praktiziert. Aus der Diskussion um die Frage des authentischen Spiels[2] lässt sich kurz zusammenfassen: Menschen mit Behinderung oder Benachteiligung sind nicht die "edlen Wilden" (Wartemann), die sich selbst spielen. Sie füllen aber auch nicht eine Rolle aus, mit einer Flexibilität wie es ein professioneller Schauspieler tut. Der Prozess, in dem Rollen bzw. Darstellungsformen - für Menschen mit Behinderung gefunden werden, wird häufig so beschrieben, dass eine Figur gefunden werden muss, die die Person mit ihren Eigenheiten "aufnimmt" und künstlerisch überformt.

Dieser Prozess ist Teil der Erarbeitung eines Stückes und bietet dem Einzelnen Gelegenheit, schon vor der Phase des eigentlichen Auftritts das "Podium für sich" zu beanspruchen.

Das kann sehr unterschiedlich aussehen und soll durch einige Beispiele illustriert werden:

  • Sigrid spielt auch zu Hause für sich Theater. Oder sie tanzt, sie rezitiert (eigene) Gedichte, wählt sich Kostüme und Requisiten aus - kurz: das Entwickeln und Ausprobieren von Ideen ist Teil ihres Alltags. In den Theaterproben findet sie dann den Raum, ihre Ideen auch anderen zu präsentieren. Das tut sie zusätzlich auch bei spontanen Improvisationen, bei denen sie schnell die Führung über Improvisationspartner übernimmt.

  • Karo hat große Freude am Umtexten von Liedern oder am Schreiben eigener RAP-Texte. Kennt sie das Thema eines Stückes, dann schreibt sie zu Hause etwas, das sie der Gruppe als mögliches Element des neuen Stückes anbietet.

  • Friederike, aufgefordert, einige Eigenschaften der Person zu nennen, die sie spielen wird, nutzt die Gelegenheit endlich einmal zu formulieren, was für eine Rolle sie gerne im Alltag spielen würde.

  • Kordula ist eine zunächst eher verschlossen wirkende Person, die im Vergleich zu den Anderen in der Gruppe sicherlich die meisten Anstrengungen aufbringen muss, dem Probengeschehen eine Bedeutung für sich selbst abzugewinnen. Jedoch nutzt sie die Gelegenheit, in dem Rahmen, der ihr innerhalb des Stückes gesteckt wird, meist durch kleine Neckereien in kurzen, aber sehr intensiven Kontakt zu ihren Mitspielern zu treten.

  • Jonas genießt es sichtlich, zu zeigen, dass er spontan sehr schlagfertige kurze Monologe halten kann und immer wieder eine neue Idee zum Konzept des Stückes hinzufügen kann.

  • Axel schließlich beansprucht einfach die Zeit seiner ZuschauerInnen, indem er alle Soli sehr lang ausdehnt, und lange Wiederholungsschleifen oder freie Assoziationsreihen in seine Texte und Handlungen einfügt.

In der Probe geschieht die Inszenierung der eigenen Person in einem geschützten Rahmen. Heiner Keupp spricht davon, dass Personen "Spielerisch sich selbst entwerfen" (Keupp, in Kultur leben lernen, Remscheid 2002).

Der Hintergrund für diese Beschreibung ist die aktuelle Diskussion über Identitätsprozesse. In der Theatergruppe geschehen solche Vorgänge ganz konkret. Wenn sie mit in einen öffentlichen Auftritt hineingenommen werden, erhalten sie noch größere Bedeutung für die eigene Person.

Wenn nun eine Brücke geschlagen wird zwischen der Selbstinszenierung auf der Bühne und Entwicklungsprozessen der persönlichen Identität, dann wird davon die Frage nach Auswirkungen des Theaterspielens auf den Alltag berührt.

Gerade bei Menschen mit Behinderungen fragt sich, ob und in welcher Art wirklich die Vorstellungen, Wünsche und Ideen der jeweiligen Person auf der Bühne zum Vorschein gebracht und umgesetzt werden können.

Auch hier wieder ein Beispiel zur Illustration:

  • Carolin soll in dem demnächst aufzuführenden Theaterstück mit einem Lied auftreten. Sie erhält ein Kostüm und es wird ein Lied für sie ausgewählt. Sowohl das Kostüm als auch das Lied sind künstlerische Ausdrucksmittel für diesen Auftritt. An der Art und Weise, wie die Spielerin zu diesen Ausdrucksmitteln gelangt, lässt sich die Problematik erkennen: sie bedeutet für den Theaterleiter, dass er sehr weitgehend steuern kann und daher sehr genau entscheiden muss, wie stark der Bezug der Person zu diesen Ausdrucksmitteln ist. Man kann sich vorstellen, dass das Kostüm von Fachleuten entworfen wird und der Schauspielerin gut gefällt. Das Tragen des Kostüms auf der Bühne wird zum Erlebnis: "Ich habe ein schickes Kleid an und alle sehen mich".

Das Lied wird für die Schauspielerin ausgesucht und mit ihr erarbeitet, indem sie es auswendig lernt. Sie singt es gern auf der Bühne, weil Singen "Spaß" macht, obwohl sie möglicherweise nicht den übertragenen Textinhalterfasst.

In diesem Fall kann die Inszenierung der eigenen Person sich für die Schauspielerin als ein von außen ermöglichtes, punktuelles, positives Erlebnis auswirken.

Wenn die Schauspielerin das Kostüm selbst entwirft, ist es ein Ausdruck des eigenen Geschmackes, der anderen präsentiert wird. Wenn sie auch das Lied selbst ausgewählt hat, weil es ihr mit seinem Inhalt persönlich wichtig ist, wird von ihr die Chance einer Selbstinszenierung genutzt als Entwicklungsimpuls zur Arbeit an der eigenen Person Es bleibt nun die Frage nach den Auswirkungen auf den Alltag. Es werden Erfahrungen gemacht, die die "personale Identität" prägen und dadurch sich auch im Alltag auswirken. Dabei liegt es nahe, dass das "Erlebnis" auf der Bühne - gleich welcher Intensität - eine stärkende Funktion für den Einzelnen hat.

Diskrepanzen entstehen zunächst für die soziale Identität, da es sicherlich einige Zeit braucht, bis sich der Blick auf eine Person aufgrund ihrer schauspielerischen Tätigkeit nachhaltig ändern.

Wieder soll das Beispiel der Schauspielerin Carolin der Illustration dienen:

  • Ihre Eltern befürchten eher eine Verstärkung des bereits vorhandenen "Stigmas", sie empfinden den Auftritt ihrer Tochter als "Zurschaustellung" von Behinderung.

  • die Betreuer aus der Wohngruppe sind begeistert, sie hätten nicht erwartet, dass in dieser ihnen bekannten Person "so viel steckt" - und sind der Meinung, sie müsste in Zukunft noch mehr in dieser Richtung gefördert werden.

  • Der Werkstattleiter ist ebenfalls sehr positiv überrascht, sieht aber die Position der Schauspielerin innerhalb ihrer Kollegenschaft gefährdet, wenn sie sich zu sehr in eine "Sonderrolle" begibt.

  • Eine Person aus dem Publikum, die normalerweise keinen Umgang mit Menschen mit Behinderung hat, empfindet es als "Sensation", dass "so jemand so etwas" kann.

Es wird deutlich, dass in vielen Fällen eine positive Reaktion geschieht, jedoch erst wenn es gelingt, die Person mit ihren Leistungen auf der Bühne losgelöst von ihren sonstigen Zusammenhängen zu sehen, kann durch die "Bühnentätigkeit" dieser Person ein neuer Lebenszusammenhang, auch im Alltag, entstehen. So kann der Ausgleich zwischen sozialer und personaler Identität ein Stück vorangebracht werden.

Die Präsentationssituation auf der Theaterbühne kann so mit Recht als ein Entwicklungsschritt in eine veränderte Position durch Behinderung benachteiligter Menschen gesehen werden.



[1] Ein soziologisches und in der Sonderpädagogik verwendetes Identitätskonzept sieht Identität als eine Leistung an, vor allem im Hinblick auf die zwei Gegenpole der personalen und der sozialen Identität.(Krappmann in Cloerkes (2001), S. 154) Die personale Identität ist charakterisiert durch die Frage: was bin ich, was kennzeichnet mich aus meiner eigenen Sicht? Die soziale Identität ist die Summe dessen, wie ich von anderen gesehen werde und welcher gesellschaftlichen "Kategorie" ich zugeordnet werde. Menschen mit Behinderung oder in durch andere Umstände erschwerten Lebenssituationen werden dabei im Rahmen der sozialen Identität häufig durch negative Zuordnungen zu Kategorien stigmatisiert. (vgl. auch Goffman, in Cloerkes (2001), S. 152/153). Beide Gegenpole der Identität müssen laut Krappmann vom Individuum ständig ins Gleichgewicht gebracht werden. Dies ist ein aktiver Prozess, der durch eine "angemessene Selbstdarstellung" (ebda. S. 155) geleistet werden muss.

[2] Die umfangreiche Diskussion zum Thema "Authentizität" reicht im Extremfall von der Frage, ob Menschen mit Behinderung und Benachteiligung als Schauspieler genau verstehen können und müssen, was sie spielen, über die Beobachtung, ob sie sich selbst oder eine Rolle spielen, bis hin zu der Frage, inwiefern die Zuschreibung von authentischem Spiel nur auf den Bedürfnissen und Sehnsüchten der Zuschauer nach Authentizität beruhe (vgl. Wartemann, Manuskript 2000).

Literatur

Cloerkes , Günter (2001): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg.

Hentschel , Ulrike (1996): Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Weinheim.

Keupp , Heiner (2002): Spielerisch sich selbst entwerfen. Identitätsprojekte in der Spätmoderne und ihre Voraussetzungen. In: Kultur leben lernen, Remscheid.

Koch , Michael (2000): Wenn die Fachdiskurse miteinander tanzen...! Erlebnisorientierte Jugendkulturarbeit als emanzipatorischer Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. In: Kulturarbeit und Armut. Konzepte und Ideen für die kulturelle Bildung in sozialen Brennpunkten und mit benachteiligten jungen Menschen. Remscheid.

Wartema nn, Geesche (2000): Selbstdarstellung und Rollenspiel geistig behinderter Akteure. unveröff. Manuskript eines Vortrages auf der Tagung "Weltsichten" (Eucrea Deutschland) in Hamburg

Weintz, Jürgen (2003): Theaterpädagogik und Schauspielkunst: ästhetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit. Butzbach-Griedel.

Wondrak, Joachim (2002): Aspekte von Theaterarbeit mit unfreiwilligen Subkulturen. Berlin u.a.

Die Autorin

Katharina Witte

  • Dipl. Psych., Dipl.Rhythmiklehrerin

  • 1998-2004 Wiss. Mitarbeiterin an der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg im Bereich Angewandte Sonderpädagogik/Kulturarbeit/ Musik

  • seit 2004 pädagogische Leitung eines Theaterprojektes in Kooperation zwischen dem Theater Reutlingen Die Tonne und der Lebenshilfe Reutlingen

  • freiberufliche Tätigkeit und Lehrauftrag im Bereich Musik und Bewegung mit Menschen mit Behinderung

Quelle:

Katharina Witte: Ein Podium für mich. Zur Bedeutung von Bühne und Auftritt für Menschen mit Behinderung und Benachteiligung.

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 2/2007, Seite 42-49

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.10.2010

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