Von der Anerkennung zur Kooperation am "Gemeinsamen Gegenstand"

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/2001; Thema: Integration ist unteilbar Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/2001)
Copyright: © Josef Fragner 2001

Von der Anerkennung zur Kooperation am "Gemeinsamen Gegenstand"

Das Werk von Georg Feuser ist umfassend. Er zwingt uns immer wieder, bis an die Wurzeln zu denken. Wie gelangen wir von der aussondernden Kategorisierung zu der Anerkennung jeder Person, genügt die rechtliche und politische Gleichstellung, oder müssen wir weiter fragen, was die notwendigen Bedingungen einer humanen und solidarischen Pädagogik sind? Wir werden durch Georg Feuser in unserem Interesse und im Interesse von beeinträchtigten Personen aufgefordert, über unsere Denk- und Wahrnehmungsgrenzen hinauszugelangen.

"Die Zeit ist aus den Fugen", analysiert Wolfgang Jantzen nach einem Shakespeare-Zitat den Zerfall des an Fortschritt und Zukunft orientierten Weltbildes.

Gegenwartsdiagnosen listen die einzelnen Bereiche auf (vgl. Dederich 2001):

  • Neoliberalismus und Ökonomisierung des Sozialen

  • Ausgliederung des Fremden durch moderne Ordnungsstrategien (Bauman 1995, 2000)

  • Erosion bzw. Zersetzung des Charakters durch den flexiblen Kapitalismus (Sennett 1998)

  • Erosion alter Ordnungen durch Enttraditionalisierung der Gesellschaft und Individualisierung (Beck 1986)

  • Exklusionsverkettungen aufgrund von niedrigen Bildungsabschlüssen, Armut, desolaten Intimbeziehungen, Drogenproblemen, Obdachlosigkeit etc.(Bourdieu 1998)

  • Ambivalenzen in der Biomedizin - Gesundheitsverheißungen und Gesundheitszwänge durch neue Reproduktionstechnologien (Beck-Gernsheim 1991)

All diese gegenwartsdiagnostischen Stichworte verweisen auf Verzerrungen bzw. das Brüchigwerden von sozialen Verbindlichkeiten und Anerkennungsverhältnissen. Anerkennungsverhältnisse sind aber der Ermöglichungsrahmen individuellen gelingenden Lebens.

Einer, der diesen Möglichkeitsraum theoretisch und praktisch fundiert und immer wieder einfordert, ist Georg Feuser. Er denkt das atomisierte, primär autonom angenommene Subjekt als radikal situiert und die Genese der Person und ihrer Identität wird in ihren komplexen sozialen Bezügen, in ihrer Geschichtlichkeit und ihrer Einbettung in eine kulturelle Lebensform gesehen. Die Wahrung der Vielfalt endet aber bei ihm nicht in Indifferenz - wie es in der Postmoderne-Diskussion oft der Fall ist, sondern in der Forderung nach einer humanen und solidarischen Gesellschaft.

Es ist anders - der Möglichkeitsraum

Wenn ich einem "behinderten" Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst - meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nutze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt ....!

(Georg Feuser)

Verstehen kann man am besten, wenn man an der Grenze ist. Der Indikativ des Längstvertrauten beginnt dann zu schillern, und die eigene Ordnung tritt in den conjunctivus potentialis: es könnte auch anders sein.

Wer weiß, wie die Welt ist, der weiß auch, was er selbst und was die anderen in dieser tun müssen, um sich "richtig" zu verhalten. Manchmal eröffnen uns aber Lebensereignisse, Krisen oder Personen einen Möglichkeitsraum, der unsere Grenzen überschreitet, wenn wir den Versuch wagen, diesen Raum zu betreten. Eine dieser Personen, die solche Räume weit aufstoßen, ist Georg Feuser.

"Damals war der Ansatzpunkt, um mit der Therapie zu beginnen", beschreibt Monika Schubert ihre Situation nach einem Vierteljahr im Koma, "dass ich einen Finger meiner linken Hand bewegte. Dies wurde von den Ärzten als spiraler Reflex verstanden. Georg Feuser und Heike Meyer hingegen sahen darin einen Kommunikationsversuch.

Heute lebe ich wieder zu Hause in dem Appartement, welches ich auch schon vor den Schlaganfällen bewohnt habe. Das ist nicht selbstverständlich. Wäre es damals nach den Ärzten gegangen, wäre ich in einem Heim gelandet"

(M. Schubert, 2000, 21).

Die Moderne war nach Zygmunt Bauman der Traum einer rational fehlerlosen und ästhetisch vollkommenen Ordnung (vgl. zum Folgenden Greiner/Fragner 2000, 6ff.). Menschliche Natur existierte nur ihrer Möglichkeit nach, sie musste konstruiert werden. Moralisches Vermögen wurde damit in den Kontext von Aufklärung, Technikentwicklung, Herstellung von Eindeutigkeit gebracht. Die Pädagogikkonstruktionen der Moderne sind geprägt von Idealvorstellung des Menschen. Der Mensch sei grundsätzlich unbestimmt und nur durch Erziehung könne er zu Selbstbestimmung, Autonomie, Ich-Stärke und Vernunft geführt werden.

Mit Descartes beginnt die Durchsetzung des neuzeitlichen Prinzips der Subjektivität. Diese ist verbunden mit einer einfachen Sortierung von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, von Materie und Idee, von Fremdem und Eigenem in der Vorherrschaft des Bewusstseins, das - alles durchdringend und mathematisierend - das Erkennen zum Identifizieren alles (ihm) Fremden machen wird. Was dann als Rückkehr des Menschen aus seiner Ent-Fremdung, als Selbstermächtigung und Inbesitznahme des Fremden - der Welt und des anderen - gepriesen wurde, entlarvt sich aus der Sicht der Dialektik der Aufklärung als Herrschaftsprogramm selbst-reflektiven Denkens. Die gelebte Welt wird in eine gedachte verwandelt.

Mit Hegels absolutem Geist zur Überwindung der Entfremdung beginnt das neuzeitliche Befreiungsprogramm, das die Selbstentfremdung zum Grundproblem der Menschheit erhebt. Feuerbach fordert "die Einheit des Menschen mit dem Menschen", und Marx die "Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung".

Der Mensch wird als körperliche, arbeitende, sprechende Existenz systematisch zu begreifen versucht. Die Moderne definiert sich als erkenntnistheoretisches Bewusstsein vom Menschen als solchem, ohne die grundsätzliche Zweideutigkeit - der Mensch als Souverän und als Objekt der Erkenntnis - jemals reflektorisch einholen zu können. Die Endlichkeit und Unbestimmtheit des Menschen wird qua (Selbst-)Erkenntnis vernichtet: Die humanwissenschaftlichen Inhalte "überpropfen ihn mit ihrer ganzen Festigkeit und durchdringen ihn, als wäre er nichts weiter als ein Naturgegenstand oder ein Gesicht, das in der Geschichte verlöschen muss." (Foucault 1974, 379).

Der selbstgewisse Glaube an das Vernünftige ist durch die Erfahrungen im vorigen Jahrhundert brüchig geworden und zerbrochen. Zur Zeit feiern die Schattenseiten der Vernunft Auferstehung - sei es in Gestalt des (ausgegrenzten) Körpers, der Natur oder des Weiblichen. Auf dem "Weg zur Ganzheit" - in der Integrationsrhetorik ein geflügeltes Wort - haben wir uns mit der Gefahr auseinanderzusetzen, dass Leib, Handlung oder Sprache nur Platz tauschen mit dem Bewusstsein, sodass das Muster einer einzigen (beherrschenden) Souveränität (nun etwa des Leibes oder der "Erfahrung") wieder die Vielfalt der Erkenntnis- und Handlungsordnungen leugnet, das heißt, auch die bleibende Zweideutigkeit (den Riss) im Subjekt selbst. Den Mythos der Unmittelbarkeit hat schon Th. W. Adorno in seiner "Negativen Dialektik" als Wiederkehr des Imaginären beschrieben, die jenem Verblendungszusammenhang entstammt, dem sie glaubt, entronnen zu sein.

Die emanzipatorische Utopie eines durch mündige Selbstverwirklichung autonomen Subjektes wird immer mehr verdrängt von dem Bild eines in sich uneinholbaren, dezentrierten Subjektes und dessen irreduzibler Selbst-Differenz. Der Mensch wird als fremdes, fragmentiertes und auf die Interventionen des anderen zutiefst angewiesenes Wesen beschrieben, dessen gebrochene Identität und Verletzbarkeit neue Formen widerständiger Subjektivität herausbildet und tiefer mit der Gefahr des Schatten des eigenen im anderen vertraut ist.

Aber auch die biologischen Einsichten eines Maturana und Varela zeichnen sich durch ein Subjektverständnis aus, das die Pluralitäten selbstreferentieller Welterzeugungen einem monologisierenden Einheitssubjekt entgegenhält. Eine solche Auffassung wird als erstes zur Anerkennung der Differenz überzugehen haben.

Wir haben also den überforderten Begriff des Subjekts, der auf einem sich selbst als ausschließlichen, einer Welt gegenüberstehenden Denkwesen basiert, zu erweitern, in dem Bildung als Selbstgestaltung nicht länger als ein Akt der Selbstreflexion dargestellt wird, sondern als ein gemeinsam geteilter, inter-subjektiver Lebenszusammenhang. Dabei steht das Bildungssubjekt nicht einer Welt gegenüber, sondern lebt, agiert, antwortet in einem intersubjektiv geteilten Lebenszusammenhang, der Drittes, Neues sich bilden lässt. Als gemeinsames Merkmal eines solchen Subjektverständnisses entsteht das Ernstnehmen des Mangels, der unaufhebbaren Lücke in der Selbstkonstituierung des Menschen und in einer fundamentalen Neubefragung anthropologischer Grundkategorien.

Durch diese radikale Neubefragung schafft Georg Feuser wieder einen Möglichkeitsraum für jeden Menschen.

Von der Ausgrenzung zur Anerkennung

Sprachgebrauch, Vernunft, Freiheit, Verantwortlichkeit, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch oder "Präferenzen haben zu können" als konstruktive Eigenschaften der Gattung Mensch resultieren letztendlich aus der Offenheit und Unbestimmtheit der Menschen als deren Gattungsspezifik (vgl. Rödler 2000a, 2000b). Während die Tiere an die Zielvorgaben des Instinkts gebunden bleiben, sind Menschen dagegen in ihren Zielen und Zwecken unbestimmt.

Dies ermöglicht die menschliche Kultur in ihren vielfältigsten Ausprägungen und eigenverantwortliches vernünftiges Handeln. Dieser Möglichkeitsraum korreliert aber mit einer gattungstypischen biologischen Desorientierung. Damit ist jeder einzelne Mensch auf andere angewiesen und diese Angewiesenheit ist allen Menschen gemeinsam!

Alle Menschen sind von Beginn des Lebens an der Schaffung gemeinsamer Bedeutungsräume gebunden, den PeterRödler den gemeinsamen Sprachraum bezeichnet, in Anlehnung an Maturana/Varelas "Reich der Sprache". Dieses "Reich der Sprache" umfasst nicht nur die konventionellen Kommunikationssysteme, sondern alle menschlichen Handlungen und Produkte.

Die Qualität diese gemeinsamen Interpretationsraumes wird nicht durch die Qualität der Sprecherinnen und Sprecher gekennzeichnet, "sondern vor allem in der Bereitschaft, der fremden Perspektive des anderen die Gelegenheit zu geben, im eigenen Denken eine Spur zu hinterlassen, das eigene Ich am Du des Anderen werden zu lassen" (Rödler 2000b, 92).

Die neue biologische Entität macht den Menschen zu keiner Person, nicht einmal überlebensfähig; erst im gemeinsamen Be-Deutungsraum, im gemeinsamen Interpretationsraum sind alle Menschen Personen!

Dieser gemeinsame Bedeutungsraum schafft verschiedenen individuellen Sinn. Isolierende Bedingungen (mangelnde Kompetenz oder Bereitschaft des Umfeldes) führen dazu, dass der gemeinsame Interpretationsraum seine (mit-) menschliche Funktion verliert und zu einem Faktor der Entmenschlichung und der Entzug von Würde im Interpretationsraum wird.

Gerade Georg Feuser weist immer wieder darauf hin, dass wir nur mit einem Menschenbild, das auf die Qualität der humanen Beziehungen aufbaut, weiterkommen. Das zur Zeit vielgepriesene Paradigma der "Selbstbestimmung", das sich dem Individualisierungsschub des Zeitgeistes so schön einordnen lässt, steht in Gefahr, diese Beziehungsdimension zu verlieren.

Aus der Sicht der Theorie des Sprachraumes entwickelt sich Geist - sowohl personal wie objektiv verstanden! - entlang der wechselseitigen Fragen im Rahmen einer gemeinsamen Tätigkeit" (Rödler 2000b, 96).

Es gehört zur Sprache, dass ein gemeinsamer Raum von Regeln, Verständigung gesucht werden muss, Sprache aber dort stirbt, wo das eigene Bild von den Anderen als deren Wesen verkannt wird oder wo "Einstimmigkeit" durch Machtmittel hergestellt wird.

Wie sehr sich der gesellschaftliche Sprachraum wieder verengt, kann hier nicht ausgeführt werden. Eindrucksvoll zeigt Francois Emmanuel dies in seinem Roman "Der Wert des Menschen" (München 2000). In seinem Buch behauptet Emmanuel nicht bloß gewisse Ähnlichkeiten zwischen nationalsozialistischem und neokapitalistischem Betriebsmanagement, sondern er weist sie auf und führt sie durch wie eine Partitur.

Die postindustrielle Arbeitswelt ist aseptisch, lautlos, rational, abstrakt - aber nicht weniger gewalttätig als ihre industriellen Vorläufer.

So setzt er Passagen aus dem Handbuch der Arbeitspsychologie in ihrer Verschlungenheit mit einem anderen Text aus dem Vernichtungsprogrammen T4 zusammen. Der Roman ruft eine Beklommenheit und einen "existentiellen Schwindel" hervor, der kaum zu überbieten ist.

Das "Besondere" der Pädagogik liegt nach Georg Feuser nicht in der "Besonderung" der Kinder und Schüler, sondern im "allgemeinen" einer basalen, subjektorientierten Pädagogik. Dabei geht er von einem neuen Verständnis von Entwicklung und Lernen aus. Die Basis bildet dabei die Aussage: Menschliche Natur ist immer soziale Natur.

Der menschliche Körper ist von Anfang an ein Ort der Vermittlung von Sozialem und Individuellem (vgl. zum Folgenden W. Jantzen 2000, 102 ff.). Wir müssen aufgrund von Forschungsergebnissen die Existenz eines angeborenen intrinsischen Motivationssystems annehmen, das in enger Verbindung mit dem emotional-motorischen System des Neugeborenen steht. Das neugeborene Kind erwartet unter allen Umständen, da es sich um eine emergente Systemleitung des gesamten Nervensystems handelt, die "Illusion" einer Wirklichkeit, es trägt also das Soziale als "virtuelle Konstruktion" in sich. Dies führt zu reichhaltigem Austausch mit der Umwelt, wobei dieser Austausch von Seite des Kindes psychisch reguliert wird durch ein virtuelles Bild des "Anderen", sowie ein virtuelles Bild des Selbst, vermutlich realisiert im Körperselbst des Neugeborenen.

Dieser dialogische Raum, der die Suche nach einem freundlichen Begleiter wie die Produktion von gemeinsamen Zeichen einschließt, ist bereits zum Zeitpunkt der Geburt von Seiten des neugeborenen Säuglings vorhanden. Welche Qualität müssen diese Dialoge haben, in denen das Kind Weltbild, Bild des anderen und Selbstbild trennt?

Für R. Spitz ist die Reziprozität das entscheidende Kriterium. Er sieht in der mangelnden Rückkoppelung das Hauptkriterium, an welchem das Kind das Belebte vom Unbelebten zu unterscheiden vermag.

D.N. Stern (1992) weist auf, dass schon von frühester Kindheit an nicht einzelne Objekte in Erinnerung bleiben, sondern ganze Episoden. Entscheidend dabei ist die Einfärbung durch die jeweilige Beziehungserfahrung. Diese wird nicht allein durch das Verhalten der Erwachsenen bestimmt, sondern auch durch die Teilnahme des Kindes. Stern entwickelt dabei das Konzept vom Empfinden des Kern-Selbst. Dieses besteht aus vier Elementen: Das Gefühl der Urheberschaft - also die Möglichkeit, Initiativen zu entwickeln, die auf das Geschehene einwirken - das Gefühl der Selbstkohärenz - das Empfinden, "ein vollständiges körperliches Ganzes zu sein" und in Bewegung wie in Ruhe über Grenzen und ein körperliches Handlungszentrum zu verfügen - schließlich die dazugehörenden Gefühlsqualitäten und die "Selbstgeschichtlichkeit", d.h. das Gefühl einer zeitlichen Strukturierung mit der Möglichkeit, Hypothesen über die Zukunft zu bilden und sich selbst im Prozess der Veränderung als zusammengehörend und identisch zu empfinden.

Auch W. Jantzen nimmt an, "dass Dialoge den Kern von Prozessen psychischer Bindung darstellen und über ihre eigene Zeitdimension die Systemzeit des Subjekts, also die Tiefendimension der emotionalen Prozesse, durch reziproke Bestätigung stabilisieren. Denn im Psychischen muss zu jedem Augenblick eine eigene Zeitachse zugrunde gelegt werden, auf deren Basis die vorauseilende Widerspiegelung der künftigen Entwicklung der körpereigenen Prozesse (Bedürfnisbefriedigung) und der vorauseilenden Widerspiegelung der Weltprozesse vorhergesagt werden kann"

(Jantzen, 2000, 113).

Diese Überlegungen basieren auf Wygotskis Grundgesetz, dass in der kindlichen Entwicklung alle Prozesse zweimal auftreten, zunächst im sozialen und sprachlichen Verkehr, zwischen den Personen, interpsychisch, die dann erst zu Prozessen im Psychischen des Kindes, intrapsychisch werden. Für alle psychischen Räume auf allen Repräsentationsniveaus gilt, dass ihre äußere Grenze durch dialogische Verhältnisse von Anerkennung gebildet wird. Diese Anerkennungsräume werden von interpsychischen in intrapsychische verlagert und müssen auf jedem Niveau neu justiert werden.

Beeinträchtigungen können wir als Zustände erhöhter Verwundbarkeit dechiffrieren, die ein erhöhtes Risiko darstellen für gelingende dialogische Absicherung.

Um aus dem Reich der Ausgrenzung ins Reich der Anerkennung zu gelangen, brauchen wir sichere empathische Brücken von Übertragung und Gegenübertragung. Dies geschieht über Dialoge, welche die Äußerungen jedes Anderen grundsätzlich als "sinnvolle Sätze" betrachten und in denen die eigene Gegenübertragung weder in Empathieverweigerung noch in emphatische Verwirrung abgleitet. Dies bildet die Grundlage für eine Re(Organisation) der Verhältnisse von Welt, Selbst und bedeutsamen Anderen.

Von der Anerkennung zur Gerechtigkeit

In mancher Euphorie über die erzielten Schritte und in kleinlicher Sichtweise reflektieren wir nicht scharf genug die tiefgreifende kulturelle Deformation der Integration durch die neoliberale Bildungs- und Gesellschaftspolitik.

Die pädagogische wie die moralische "Urszene" entfaltet sich zwischen dem Ich und dem Anderen. Innerhalb dieses Raumes liegt der Geburtsort der Pädagogik und Moral und alle Nahrung, die das moralische Ich braucht, um sich am Leben zu erhalten. Dies ist zwar ein weites Feld, dennoch ein zu enges, was das menschliche In-der-Welt-sein betrifft. Was passiert, sobald "das Dritte" in die moralische Partei der Zwei einbricht, oder anders gefragt, wie ist die Gültigkeit der ethischen Beziehungen unter den Bedingungen des täglichen Lebens zu retten? Also: Welche Bedeutung hat eine Beeinträchtigung für die soziale Teilhabe betroffener Menschen? Welche Formen der Lebensgestaltung werden diesen Menschen vorenthalten, und welche werden ihnen angeboten, beispielsweise in der Erziehung und Bildung? Welchen Stellenwert haben beeinträchtigte Menschen im sozialen Gefüge des Alltags?

Ethik muss als Teil der kritischen Gesellschafts- und Subjekttheorie reflektiert werden und mit einer Theorie politischen Handelns systematisch verbunden werden. Im Mittelpunkt muss dabei die Auseinandersetzung um Menschenwürde und gegen die Ungerechtigkeit stehen. Das heißt, die Sphäre des Rechts und damit der Politik, welche die Anerkennung als Person und als Rechtssubjekt gewährleistet und auf diesem Weg Grundlagen für eine gerechte politische und soziale Gestaltung der Gesellschaft liefert, darf nie aus unseren Augen verloren gehen.

Die größte Gefahr einer Bedrohung von Menschenwürde und Lebensrecht sieht Georg Feuser in der sogenannten "Apersonalität" menschlicher Existenz.

Nach Z. Baumann haben folgende Bedingungen den Holocaust ermöglicht:

  • die Existenz moderner Bürokratien

  • die Erzeugung moralischer Insuffizienz

  • die Ersetzung von moralischer Verantwortung durch technisch-formale Verantwortung

  • die soziale Utopie von einer schönen, neuen Welt

  • die Möglichkeit und der Wille, diese Idee umzusetzen.

Die Quelle für moralische Insuffizienz sieht Baumann in der Disziplin, der moralischen Unsichtbarmachung der Opfer und der Dehumanisierung der Opfer. In meinem Handeln aus Disziplin bin ich mit meinen Gefühlen nicht mehr beim Du, sondern bei meiner Pflicht, in wessen Namen diese immer auch ausgeübt wird.

Der Mechanismus der moralischen Unsichtbarmachung der Opfer besteht darin, die Menschen am empfangenden Ende der Handlungen nicht als moralische Subjekte sondern als Objekte zu sehen. Damit wird jedes Mitgefühl ausgeschaltet. Eine wesentliche Grundlage der Dehumanisierung ist darin begründet, dass das Handlungsobjekt als potentielles moralisches Selbst zerstört wird, indem es in Kategorien und Eigenschaften zerlegt wird.

Denjenigen, die die Geschichte hinter sich lassen wollen, sei es mit der (nicht mehr) fernen Zukunft beschrieben. Das Klonen eines Menschen, der neue Nachwuchs wird zum ultimativen Shopping-Erlebnis - im Voraus entworfen, nach Spezifikation hergestellt und auf dem biologischen Marktplatz eingekauft (vgl. Rifkin 2001). Das neue Novum Sacrum - das biophilosophische Weltbild - verheißt die Interpretation und Deutung der gesamten menschlichen Kultur. Wird das Genom nicht nur als biologische Grammatik, sondern als Handlungsanweisung für das Leben verstanden, dann stürzen alle anderen Weltdeutungen zu einem Metaphernhaufen zusammen. Die Mutierung der Humanwissenschaften zu Genfatalisten, für die Freude und Leid, Erinnerung und Zukunftswünsche, Gefühle von Identität und freier Wille nichts weiter sind als das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und den dazugehörigen Molekülen, resultiert aus der Verweigerung genauer Wahrnehmung oder durch die schlichte Übernahme naturwissenschaftlicher Resultate als ethische Appelle.

Tatsächlich produzieren die gegenwärtig umstrittensten Technologien, der Kernenergie-Bereich und die Gentechnologie, Entscheidungsprobleme, ohne den Rückgriff auf bewährte anthropologische Beurteilungsnormen zu ermöglichen. Der eigentliche Skandal ist aber der, dass sie diese zu ihrer politisch-ökonomischen Legitimation gar nicht benötigen.

Jeremy Rifkin sieht aber die eigentlichen Gefahren im Klonen in folgenden Fragen: Wie werden wir in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen ihren Genotyp klonen und schließlich nach Design-Spezifikationen und technischen Standards maßschneidern, jenes Kind ansehen, das nicht geklont oder maßgeschneidert ist? Wie wird es um jenes Kind stehen, das mit einer Behinderung geboren ist? Wird die übrige Gesellschaft diesem Kind mit Toleranz begegnen, oder wird sie es letztlich als einen Fehler im genetischen Code ansehen - mit einem Wort: als mangelhafte Produktion? Künftige Generationen könnten viel weniger tolerant gegenüber Menschen werden, die nicht technisch produziert sind und von den genetischen Standards und Normen des bioindustriellen Marktes mit seinen "optimalen Praktiken" abweichen. Wenn dies der Fall wäre, könnten wir das kostbarste Geschenk überhaupt verlieren: die Fähigkeit des Menschen zur Empathie. Empathie mit den Menschen bedeutet, dass wir seine Verletzlichkeit, seine Schwächen und sein Leiden, aber auch seinen einzigartigen Kampf um Behauptung seiner Menschlichkeit mitfühlen und miterleben.

Die einklagbare Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten bildet einen institutionellen Rahmen für den Schutz elementarer Bedingungen der Menschenwürde. Sie ist unverzichtbar in der Verwirklichung integrativer Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die Identität des Einzelnen, der die Möglichkeit hat, ein als sinnvoll und legitim anerkanntes Recht zu beanspruchen.

Dabei sind drei Arten von Rechten relevant:

  • Liberale Freiheitsrechte (Schutz an Leib, Leben und Eigentum)

  • Politische Teilnahmerechte

  • Soziale Wohlfahrtsrechte

Die rechtliche Anerkennung, die Einklagbarkeit von Rechten, die Abschaffung von Diskriminierung ist zwar als Mindeststandard unbedingt erforderlich, gewährleistet auch ein Mindestmaß an Sicherheit, führt jedoch noch nicht automatisch zu einer positiven Einstellung, zu einer Bejahung und wertschätzenden Integration von Personen.

Solidarität in der Kooperation am "Gemeinsamen Gegenstand"

Wo entsteht aber diese Empathie, die als Solidarität ein Bollwerk darstellen soll gegen den Verlust der Humanität? Gelebte Solidarität kann und muss sich tagtäglich in der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand ausbilden.

Solidarisches Verhalten entsteht also nicht automatisch durch rechtliche Absicherung, sondern im gemeinsamen Tun, in dem jeder die Chance erhält, ohne kollektive Abstufungen, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gemeinschaft zu erfahren.

"Nichts wird für das zukünftige Überleben der Menschheit und das humane Zusammenleben der Menschen wichtiger und gleichzeitig richtiger sein, als das "Lernen zu lernen" und solidarisch untereinander, um einer gemeinsamen Sache willen, kooperieren zu können" (Georg Feuser)

Georg Feuser (1999) wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass in der Integration durch die enorme didaktische Abstinenz individuelle Curricula oft zu Maßnahmen der äußeren Differenzierung führen. Integration erfordert aber eine Allgemeine Pädagogik und eine entwicklungslogische Didaktik. Didaktik sieht Feuser als einen erziehungswissenschaftlichen Operator, der Bildungs- und Gesellschaftsfragen in konkrete Erziehungs- und Unterrichtspraxis transformiert und diese Erfahrungen wieder in die erziehungswissenschaftliche Reflexion und Theorienbildung mit einbringt.

Das didaktische Zentrum pädagogischer Praxis ist die "kooperative Tätigkeit am gemeinsamen Gegenstand" der Lehrenden und Lernenden, aufbereitet in "innerer Differenzierung durch Individualisierung".

Es genügt nicht zu fordern, wir brauchen mehr Toleranz, mehr Demokratie, mehr Sinn für globale Verantwortung und mehr Solidarität, mehr Achtung für die Menschenwürde und Menschenrechte. Es geht nicht um die Steigerung des moralischen Aufkommens, sondern um die konkrete Realisierung und um die öffentliche gesellschaftspolitische Wahrnehmung dieser Forderungen.

Integriert ist jemand, der gebraucht wird. Dazu ist es notwendig, zu erfahren und zu entdecken, dass jeder Mensch ein ebenbürtiger und gleichwertiger Kultur-Träger wie Kultur-Schöpfer (D. Fischer) ist.

Die Realisierung einer Allgemeinen Pädagogik liegt großteils in den Händen der Lehrerinnen und Lehrer. Dies ist zwar eine immense Herausforderung an das Erziehungs- und Bildungssystem, doch es ist eine unabdingbare Voraussetzung, dass Integration eine Chance hat.

Literatur

Bauman Z.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt 1995

Bauman, Z.: Die Krise der Politik. Hamburg 2000

Beck-Gernsheim, E.: Technik, Markt und Moral. Über Reproduktionsmedizin und Gentechnologie. Frankfurt 1991

Beck, U.: Risikogesellschaft. Frankfurt 1986

Bourdieu, P.: Gegenfeuer. Konstanz 1998

Dederich, M.: Behinderung Medizin Ethik. Behindertenpädagogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und am Ende des Lebens. Bad Heilbrunn 2000

Dederich, M.: Anmerkungen zu einer Ethik und Politik der Anerkennung und ihrer Bedeutung für Menschen mit Behinderungen. BEHINDERTE 2000

Emmanuel, F.: Der Wert des Menschen, München 2000

Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche - Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt, Berlin 1995

Feuser, G.: Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration - "Geistigbehinderte gibt es nicht!" -Vortrag vor den Abgeordneten zum Nationalrat im Österreichischen Parlament am 29. Oktober 1996 in Wien

Feuser, G.: Wider die Unvernunft der Euthanasie. Grundlagen einer Ethik in der Heil- und Sonderpädagogik. Luzern 1997, 2. Aufl.

Feuser, G.: Integration - eine Frage der Didaktik einer Allgemeinen Pädagogik. In: BEHINDERTE, 22. Jg. (1999), Heft 1, S. 39-49

Fragner, J.: Pädagogische Essays Band 1, Linz 2000

Foucault, M.: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1974

Greiner, U., Fragner, J.: Die Humanwissenschaften und ihre Menschenbilder. In friends, 6.Jg.(2000), Heft 2, S. 5-9

Jantzen, W.: Die Zeit ist aus den Fugen. Marburg 1998

Jantzen, W.: Schwerste Beeinträchtigung und die "Zone der nächsten Entwicklung" in: Rödler, P. u. a.: 2000, S. 102-126

Rifkin, J.: Der embryonale Marktplatz in: Süddeutsche Zeitung Nr. 87 vom 14./15./16. April 2001, S. 13

Rödler, P.: Geistig behindert: Menschen lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen? Berlin 2000a

Rödler, P.: Die Theorie des Sprachraums als methodische Grundlage der Arbeit mit schwerstbeeinträchtigten Menschen. in: Rödler, P. u. a. 2000b, S. 86-101

Rödler, P., Berger, E. Jantzen, W. (Hrsg.): Es gibt keinen Rest! Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Neuwied 2000

Schubert, M.: Der Kopf arbeitet langsamer als früher. in: Rödler, P., u.a. 2000, S. 20-25

Sennett, R.: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998

Stern, D. N.: Die Lebenserfahrung der Säuglinge. Stuttgart 1992

Der Autor

Dr. Josef Fragner

Direktor der Pädagogischen Akademie des Bundes

Kaplanhofstr. 40

A-4020 Linz

Quelle

Josef Fragner: Von der Anerkennung zur Kooperation am "Gemeinsamen Gegenstand"

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 2/2001; Reha Druck Graz, S.11-18

bidok - Volltetxtbibliothek. Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006

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