Der versehrte Maßstab der Anthropologie:

menschliche Identität - anthropologische Differenz - exzentrische Paradoxie

Autor:in - Dietmar Kamper
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001; Thema: Geschlecht: behindert Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2001)
Copyright: © Dietmar Kamper 2001

Der versehrte Maßstab der Anthropologie

Dieser Beitrag ist dem Ausstellungskatalog zur Ausstellung "Der imperfekte Mensch" - Vom Recht auf Unvollkommenheit, erschienen im Hatje-Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit, 2000, entnommen.

Die Ausstellung läuft z.Z. im Deutschen-Hygiene-Museum, Dresden noch bis 12. August 2001.

Information: info@dhmd.de oder Tel. 0049 351 4846-304.

Erstens: Zur Kritik des perfekten Menschen

"Das Verbrechen ist nie perfekt, aber die Perfektion ist immer ein Verbrechen."

(Jean Baudrillard)

Die folgenden Überlegungen führen nahe an das Stichwort von der "exzentrischen Paradoxie" heran. Sie sind hier zunächst nur gereiht:

Erst der blinde Ödipus sieht. Deshalb ist "Ödipus auf Kolonnos" zeitdiagnostisch wichtiger als "Ödipus, der Tyrann".

Um in ein nicht lügenhaftes Verhältnis zu sich selbst zu kommen, ist die Kommunikationsstörung der reibungslosen Kommunikation vorzuziehen.

Nicht die vollendete Rede, die alle Hörer zum Schweigen bringt, ist der Gipfel der Sprache, sondern das stotternde Sich-Versprechen.

Hinken und Stolpern sind im Verhältnis zum idealen Gehen und Laufen die menschlich aufschlussreicheren Bewegungsarten.

Nicht nur beim Begehren, auch beim Erkennen ist das Scheitern nicht das Ende, sondern unmissverständlich der Anfang des Lebens.

Wer in Denken, Fühlen, Handeln dem "Objekt der Begierde" keine Chance der Antwort lässt, vernichtet es und in der Folge sich selbst.

Seinlassen geht vor Habenwollen. Besitz ist unmöglich und führt in endlose Spiralen der Absicherung des bereits Verlorenen.

Jeder Begabung muss die Spitze abgebrochen werden, damit sie nicht ins Gefängnis aktueller Wiederholungszwänge führt.

Der Satz: "Es gibt nur ein einziges Gehirn auf der Welt, und zwar mein eigenes. Alles andere ist Umwelt" ist selbst hirnrissig.

Alle wirklich genialen Menschen sind Gescheiterte, die sich wirklich nicht zum Vorbild für Überlebensstrategien eignen.

Die Prominenz, die dergleichen verschweigen muss, verstellt selbst den Abgrund, den sie darstellt. Sie ist eine falsche Lösung.

Nicht die Sieger, sondern die Verlierer haben gewonnen. Sieger haben Gründe und sind dumm, Verlierer haben lernfähige Körper.

Weg-sein ist besser als Da-sein. Das durchkreuzt alle elaborierten Inszenierungsstrategien, die in die Sichtbarkeit zwingen.

Anders als Überleben ist Sterblichkeit keine Strategie. Sie sichert aber dem Imperfekten den klaren Vorrang vor aller Vollendung.

Es kommt also darauf an, die eigene Behinderung nicht nur als gesellschaftlich definierten Mangel, sondern als Ausgangspunkt dafür zu nehmen, die sogenannte Normalität als historische und biographische Sackgasse verstehen zu lernen. Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, aus dem ausweglosen Diskurs zwischen sogenannten Normalen und sogenannten Behinderten durch Aufkündigung einer verkappten Hochschätzung historisch produzierter Normen herauszufinden. Wenn dergleichen aber nach beiden Seiten gelingt, wäre es nicht weiterhin skrupellos möglich, mittels Forschung und Technologie das Leben zur Strecke zu bringen. Die "exzentrische Paradoxie" ist, da sie nicht auf der Ebene von Ideologien und Diskursen sich abspielt, eine Barriere in der Sache.

Zweitens: Zwischen Ästhetik und Therapeutik

"Giebt es auf Erden ein Maaß?

Es giebt keines."

(Hölderlin: Phaeton-Segmente)

Es mutet paradox an, wenn man statt einer Phänomenologie des Imperfekten eine Kritik der Perfektion als Aufgabe vorschlägt und sich intensiver mit der Normalität beschäftigt, mit ihrer historischen Durchsetzung und ihrer aktuellen Macht, mit der Wirksamkeit eines allgemeingültigen Maßstabs des Humanen, der noch die heftigste Kritik daran durchherrscht und hinterrücks determiniert. Wie der kranke Hölderlin gespürt hat, ist das absolute Wissen seines Freundes Hegel ein Bluff. Wer sich daran hält, riskiert, vom Denker zum Henker zu werden. Hegel hat zwar historisch recht behalten, doch ahnte er nur manchmal, was das kosten wird. Das System der Gedanken steht an Stelle des Wahnsinns und kann nicht verhindern, dass im Kern nach und nach genau das ausbricht, was für immer ausgeschlossen werden sollte. Ähnlich ist die sogenannte Alternative von Normalität und Behinderung zu begreifen: als Differenz zweier einander entgegengesetzter Ausweglosigkeiten. Man muss die Definitionsmacht bestreiten, nicht das definitiv Definierte. Nur so lässt sich die in der Werbung umworbene, in den Medien massenhaft hochgejubelte, aber rettungslos hohle Nuss der menschlichen Normalität endlich knacken.

Man muss sich also mit "Ästhetik und Therapeutik" und ihrem Verhältnis beschäftigen. Das heißt: Ästhetik der Abwesenheit und Therapeutik des Nicht-Ganzen, des Bruchs, des Zwiespalts. Sich selbst als Nicht-Ganzen akzeptieren. Den aufgebrochenen Zwiespalt des Lebens nicht länger als Verhängnis verweigern, sondern als Chance wahrnehmen. Der unaufhörliche Widerstreit über die unlösbaren Dinge hat sich aus dem sozialen Zwischen ins Innere der Menschen verschoben. "Sich nicht mehr als alles zu wollen, ist Mensch sein wollen oder, wenn man will, den Menschen überwinden" (Georges Bataille). Der Bogen der Problematik verlängert sich von der Identität der Selbstbehauptung über die Differenz eines methodologischen Selbstverhältnisses zur Paradoxie fundamentaler Körpererfahrungen. Von der "menschlichen Identität" über die "anthropologische Differenz" zur "exzentrischen Paradoxie". Der Mensch ist ein versehrter Maßstab - erster Grundsatz einer Ästhetik und Therapeutik, die sich auf dem Niveau der Historischen Anthropologie zu halten versuchen und dieses ihr Verhältnis davor bewahren, in gegenseitiger Exklusivität zu enden.

Die Klischees der Perfektion können nicht einfach, sie müssen zweifach umgedreht werden - zum Plusquamperfekten und zum Imperfekten. Der Mensch ist weder vernünftig, gesund, schön, gut, vollkommen, genußfähig, brauchbar und so weiter, aber er ist auch nicht das Gegenteil, und auch keine Mischung von Anteilen, die ein Ganzes ergäben. Deshalb ist es unmöglich, dem Menschen durch äußere Mittel, sei es pädagogisch, sei es mit anderen Technologien, ein "Wesen" zu verpassen. Damit wäre buchstäblich der Mensch verpasst. Bleiben wir also beim Versehrten, bei der "Versehrung" und bei der Leerstelle, bei der Kluft, beim klaffenden Zwiespalt - das heißt: beim Schmerz der Sterblichkeit. Die Norm ist das Bleibende, Immerwährende, falsche Ewige, das Unsichtbare und Unantastbare. Aber wenn etwas dem aktuellen Desaster entgeht, dann ist es das Spüren, die körperliche Wahrnehmung. Ästhetik ist Wahrnehmung als Passion für das Andere. Therapeutik ist Wahrnehmung in Begleitung des Anderen. Das ist wahrlich ein doppeltes Gegenteil des selbstbezüglichen Geistes.

Eine ausgemachte Sache: um das Problem des Imperfekten überhaupt ädaquat wahrnehmen zu können, muss man sich mit dem Imperfekten in seiner blendenden Erscheinung beschäftigen. Alle Emanzipationsbewegungen der vergangenen Zeit, die Künstlerbewegung, die Frauenbewegung, die Männerbewegung, die Irrenbewegung usw. haben schließlich kurz vor dem Ziel herausgearbeitet, dass dieses Ziel auf eine verhängnisvolle Weise unerreichbar ist, weil sich die Bewegungen in Idealitäten verstricken, die den Charakter von Gefängnissen der Freiheit haben. Norm, Normalität, Normalisierung sind Effekte einer Machtstrategie, die ein Interesse an Abweichungen hat, das heißt an Differenzen, besonders an Alternativen. Die Alternative und eine darauf sich berufende Kritik sind effektiv Exponenten der Macht, gegen die sie Sturm laufen. Das führt in geschichtliche Verhängnisse, in gesellschaftliche Fallen.

Die Bio-Macht (Foucault), die nach der Disziplinarmacht den Menschen auf den Pelz rückt und unter die Haut fährt, zwingt jede und jeden in abstrakte Verhältnisse, damit die Menschen selbst auf teilweise freiwillige Weise die Entfernung ihrer Körper und die Zerstörung ihrer Wahrnehmung betreiben. Gefühle und Gedanken sind nur noch als gestanzte zulässig. Wahrnehmung ist immer zunächst Wahrnehmung des Anderen. Der Körper ist Alterität. Spüren als körperliche Fähigkeit ist deshalb hinderlich und lästig bei der Installation der unsichtbaren Macht. Ästhetik und Therapeutik sind ihrer Intention nach Gegner der Macht und ihrer im Omnipotenzwahn gründenden Infantilität. Wirklich erwachsene Menschen wollen keine Macht. Im Unterschied zur grassierenden Infantilität haben Erwachsene den versehrten Maßstab akzeptiert. Dass auch Ästhetik und Therapeutik gedreht und in die Macht eingefädelt werden können, ist eine historische Erfahrung, die belastend ist. Hierhin gehören Ästhetisierung und Therapeutisierung, die jeweils aufs Ganze und genau dadurch daneben gehen.

Die Weigerung, sich und dem anderen den Körper entfernen und die Wahrnehmung zerstören zu lassen, verwickelt stante pede in einen grausamen Krieg. Die Macht hält es mit dem selbstbezüglichen Geist und feiert überall und jederzeit einen Kult des "Selbst", das als weltlose Zwingburg angelegt ist und jedem Gegner, bevor er überhaupt den Mund aufmachen kann, dieselbe Struktur aufzwingt, nämlich hochgerüstet in die Auseinandersetzung einzutreten. Wer aber das Leben theoretisch und praktisch in eine Gewaltform presst, erntet Gegen-Gewalt, die sofort zur Legitimierung des Krieges herangezogen wird. Diese Lage ist misslich für alle diejenigen, die poietisch leben und zärtlich denken.

Die Biomacht tendiert massiv ins Unsichtbare. Sie verweigert die Analyse und die Wahrnehmung. Sie hat Selbstverständlichkeiten produziert, die durchweg hingenommen wurden. Sie hat sich eingerichtet in einer Logik der Alternative, entweder dafür oder dagegen zu sein. Das heißt: überall dort, wo es nach Ja oder Nein zugeht, ist die Biomacht am Werk. Zum Beispiel zwingt sie die Menschen dazu, entweder Besitzer ihres Körpers zu sein oder des Leibes enteignet zu werden. Man stelle sich vor: nichts außerhalb der Alternative von Eigenbesitz oder Fremdbesitz. Damit ist jeder Mensch entweder Besitzer oder besessen. Nach den Arbeitslosen kommen die Körperlosen, und der Besitz verwandelt sich in eine Form des komfortablen Todes.

Leben heißt: leidenschaftlich, nicht tot sein. Leben heißt Wahrnehmen als Passion und in Begleitung. Leben heißt nicht Herr und Knecht spielen, heißt nicht Sieger sein und das Verlieren vereiteln. Jeder Verlust muss maßlos sein. Leben heißt: leidenschaftlich entbrannt sein für das Feuer, das auch vernichten kann, wo immer es brennt. Leben heißt nicht nur, sich irren zu können, sondern scheitern zu lernen, und dies ohne das Pathos der großen Gesten, aber immer im Bewusstsein, dass der Unterschied von Leben und Tod einen wirklichen Unterschied macht. Die Biomacht in den Biowissenschaften hat dafür gesorgt, dass dieser Unterschied aufgehört hat zu existieren, auch in Ästhetik und Therapeutik. Dadurch sind dieselben nach und nach zu Disziplinen geworden, die das tote Wissen, das absurde Handeln und das leere Fühlen bevorzugen, damit sie sich selbst zu Agenten der Ordnung aufrichten und das fruchtbare Chaos endlich vereiteln können.

Die aktuelle Devise der anthropologischen Reflexion lautet: Sich selbst als Nicht-Ganzen akzeptieren. Den aufgebrochenen Zwiespalt des Lebens nicht länger als Verhängnis verweigern, sondern als Chance wahrnehmen. Ein gelassenes Ja zum Scheitern und zur Niederlage der menschlichen Weltbeherrschung aussprechen. Denn der unaufhörliche Widerstreit über die unlösbaren Dinge hat sich aus dem sozialen Zwischen ins Innere der Menschen verschoben. Dadurch verlängert sich der Bogen der Anthropologie von der Identität über die Differenz zur Paradoxie. Es kommt unaufhaltsam heraus, dass der Mensch ein versehrter Maßstab ist, der mehr nicht hat, aber auch nicht weniger als ein Denken, das am Bruch partizipiert, der es möglich macht. Es wird Zeit, diese im Prozess des Denkens verkappte Wahrheit über das Denken nicht länger abzuwehren.

In Rücksicht auf diese Lage hat sich in der Epoche "Leben machen und Sterben lassen" (Foucault) einiges geändert. Seitdem werden die Menschen nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit Leben bedroht. Seitdem haben sich die Strategien "menschliche Identität" und "anthropologische Differenz" in Aporien verwandelt. Seitdem stocken die Bewegungen vor dem nächsten Schritt. Die Alternative ist ausweglos geworden. Nicht einmal die Chance des "kleineren Übels" ist geblieben. Man muss sich entscheiden, obwohl man weder will noch kann. Und nach der Entscheidung gibt es kaum noch, weder zu leben noch zu sterben. Um dazu überhaupt einen Zugang zu finden, wäre ein dritter Term einzuführen und zu entfalten: exzentrische Paradoxie.

Plessner hatte dem Menschen im Unterschied zu anderem Lebendigen eine "exzentrische" Position zugebilligt. Paradoxie heißt "neben" der Doxa, heißt ein "Neben der (anerkannten) Lehre". Das wäre auszuführen in folgender Richtung: Der performative Selbstwiderspruch gilt in der Logik als verboten und als unfreiwillige Selbstwiderlegung. Die Menschen in der fortgeschrittenen Zivilisation sind aber fast ausnahmslos in solcher Lage. Sie widersprechen sich selbst unter der Bedingung einer unmöglichen Prämisse. Sie sagen entweder Ja oder Nein zu einer Zumutung, die weder mit Ja noch mit Nein hinlänglich beantwortet werden kann. Es handelt sich um einen verkapselten Widerstreit, der in die Körper der Menschen vorgerückt ist und darauf wartet, gespürt und gedacht zu werden. Darauf passt Kafkas Satz: "Die Logik ist zwar unerschütterlich. Aber einem Menschen, der leben will, hält sie nicht stand."

"Ich lebe aus spürbarer Erfahrung und nicht aus logischer Erklärung."

(Georges Bataille)

Der Autor

Prof. Dr. Dietmar Kamper, Professor für Soziologie und Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin, zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Der zweite Blick (Hg.) Paderborn 1999, Die Entfernung der Körper. Ästhetik der Abwesenheit, Paderborn 2000.

Quelle:

Dietmar Kamper: Der versehrte Maßstab der Anthropologie: menschliche Identität - anthropologische Differenz - exzentrische Paradoxie

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 29.03.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation