Der Mini-Freak

Teil 9

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001 ; Thema: Geschlecht: behindert Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2001)
Copyright: © Franz-Joseph Huainigg 2001

Teil 9: Der Beginn des eigenen Lebens

Mit dem Beginn des Studiums begann auch unweigerlich der wichtige Loslösungsprozess von meinen Eltern. Nachdem ich zwei Monate lang zwischen Spittal und Klagenfurt mit meinem Auto täglich 150 Kilometer hin- und hergependelt war, konfrontierte ich meine Eltern eines Tages mit der Frage, ob ich mir nicht in Klagenfurt eine Studentenwohnung suchen sollte. Wo ich denn wohnen wolle, fragten sie mich. Darauf hatte ich schon eine Antwort parat, denn ich hatte bereits im 200 Meter neben der Universität gelegenen Studentendorf um eine Wohnung angefragt und man hatte mir dort eine Garçonnière in Aussicht gestellt. Ich hatte mir erwartet, dass meine Mutter darauf eher negativ und mein Vater eher positiv reagieren würde. Aber es war genau umgekehrt: Meine Mutter, die sich beinahe rund um die Uhr um mich gekümmert hatte, mich in der Früh angezogen, am Abend ausgezogen hatte, mich wusch, pflegte und mindestens einmal in der Woche badete, mich im Auto herumkutschiert, das Essen bereitet und die Wäsche gewaschen hatte - sie war plötzlich dafür, dass ich in Klagenfurt eine eigene Wohnung bezog. Mein Vater hingegen meinte, dass es für mich wohl besser sei, wenn ich weiterhin zu Hause wohnen würde. Ihm fiel dieser, mein erster Schritt zum Abschied und zur Selbstständigkeit offenbar besonders schwer. Und so versuchte er mich mit Argumenten zum Verbleib in der geschützten Familienidylle zu überreden: Zu Hause ginge es mir doch so gut; alleine zu leben sei schwierig, besonders für mich; ich müsste mich alleine an- und ausziehen und kochen, wie ich das schaffen wolle... Ich wusste zwar nicht, wie ich mir mein selbstständiges Leben organisieren sollte und ob ich überhaupt in der Lage war, mich alleine aus- und anzuziehen. Aber in mir war der Ehrgeiz entbrannt, es einmal zu versuchen, und so überspielte ich meine eigene Unsicherheit und tat ganz überlegen, als hätte ich alles ganz locker im Griff. Und so willigten meine Eltern in den Umzug nach Klagenfurt ein.

Meine Garçonnière war sehr klein, nur über Stufen erreichbar und besaß nur eine Dusche, die ich nicht verwenden konnte. Ich war aber so überglücklich über meine eigenen vier Wände, dass ich alles nur positiv sah: Stufen dienten dem körperlichen Training, die Enge des Zimmers hatte den großen Vorteil, dass ich nicht einmal umfallen konnte, und duschen musste ich sowieso nicht, da ich am Wochenende ohnehin immer nach Hause baden fahren wollte und bei der Gelegenheit auch meiner Mutter die Schmutzwäsche vorbeibringen konnte. Ich fuhr auch tatsächlich jeden Freitag abend oder spätestens Samstag vormittag nach Spittal, wurde von meiner Mutter gebadet und fuhr mit voll aufgetanktem Auto, ausgerüstet mit frischem Gewand und einem ganzen Sack voll Essen nach Klagenfurt zurück.

Ich wusste zwar nicht, wie ich mir mein selbständiges Leben organisieren sollte und ob ich überhaupt in der Lage war, mich alleine aus- und anzuziehen.

So blieb die Trennung von Zuhause zwar nur halbherzig, aber ich hatte ohnehin damit zu kämpfen, meine gewonnene Freiheit irgendwie organisatorisch in den Griff zu bekommen. Kam ich Sonntag abends voll beladen mit Säcken im Studentendorf an, parkte ich mein Auto direkt vor meiner Wohnung und schleppte die Säcke meiner Eltern alleine in meine vier Wände. Besonders schwierig und daher langwierig war es, auf Krücken die Säcke über die Stufen zu schleifen. Nach einigen Versuchen hatte ich aber einen geeigneten "Trick" gefunden: Ich stellte mich mit dem Rücken zu den Stufen und klemmte meine linke Krücke und den Sack in die rechte Hand. Mit der linken Hand hielt ich mich am Geländer fest und hantelte mich mit der einen Krücke in der rechten Hand Stufe um Stufe empor. Die Anstrengung lohnte sich und ich war besonders stolz darauf, auch solche Schwierigkeiten alleine und autonom zu lösen. Als offener und freundlicher Mensch hatte ich aber auch bald Kontakt zu anderen Studenten geknüpft und neue Freunde gewonnen, die mir - etwa beim sonntäglichen Säckeschleppen - halfen.

Die Selbstständigkeit, so lernte ich, hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten: Jahrelang hatte meine Mutter darauf gedrängt, dass ich mich alleine an- und ausziehe. Immerhin war ich ja schon zwanzig Jahre alt und mir war bewusst, dass bereits Fünfjährige mir in dieser Beziehung weit voraus waren. Aber auch wenn ich grundsätzlich gerne selbstständiger gewesen wäre, die Überwindung, während der Schulzeit früher aufzustehen, um mich in meine Klamotten und Stützapparate zu zwängen, war zu groß. Jetzt, als keine Mama da war, wurde das An- und Auskleiden bald zur Selbstverständlichkeit und fiel mir leichter als gedacht.

Meinen Tagesablauf konnte ich nun frei von jeglichen familiären Zwängen selbst organisieren. Eine heimtückische Freiheit, wie sich bald herausstellte, denn ich trank den ganzen Tag Kaffee, aß nichts und stopfte mir abends den Magen voll. Nicht dass ich dadurch dick wurde, aber ich fuhr bald mit Magenkoliken nach Hause, legte mich mit Fieber ins Bett und ließ mir meine Gastritis durch die liebevolle Pflege meiner Mutter auskurieren. Auch wenn die Wohnung noch so klein war, musste der Haushalt instand gehalten werden: Auf Staubsaugen und Fensterputzen konnte ich zur Not ja noch verzichten, nicht aber auf das Geschirrabwaschen. Nun bin ich jedoch ein sehr pragmatischer Mensch und ich dachte mir: Nach einem Essen Geschirrabwaschen zahlt sich ja nicht aus, besser ist zweimal essen und einmal abwaschen, oder noch besser dreimal essen und einmal abwaschen... Schließlich wusch ich stets erst ab, wenn kein sauberes Geschirr mehr vorhanden war. Das Abwaschen des schimmligen und angedörrten Geschirrs erwies sich aber als besonders schwierig und ekelig. Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre.

Erstmals war ich mit anderen unterwegs und machte so meine Erfahrungen mit der Unsicherheit nichtbehinderter Menschen.

Ich ging gerne auf die Uni, die Vorlesungen erschienen mir zwar teilweise nicht so interessant, wie ich es mir erwartet hatte, aber ich hatte mir selbst einen vollgestopften Vorlesungskalender verordnet und holte mir bei jeder Vorlesung Punkte heraus, die mich motivierten. Mehr Faszination übte auf mich jedoch das Leben auf der Uni auf: die vielen Jugendlichen, die ähnliche Interessen wie ich hatten; das Diskutieren und Plaudern in der Kantine; das Abend- und Nachtleben... Erstmals war ich mit anderen unterwegs und machte so meine Erfahrungen mit der Unsicherheit nichtbehinderter Menschen.

Natürlich stieß ich auf der Universität auf gewisse Schwierigkeiten, die oft ganz unerwartet auftauchten, etwa in Gestalt von gewöhnlichen Plastiksesseln. Ich probierte alle nur erdenklichen Arten aus, mich auf die Uni-Plastiksessel zu setzen, es war unmöglich. Ich rutschte und glitt dahin, klammerte mich mit den Händen an den Sesselrändern fest, doch wenn auch langsam so doch unaufhörlich rutschte mein Hintern über den Sesselrand. Doch von einem Sessel wollte ich mich nicht unterkriegen lassen oder mir gar das Leben vermiesen lassen. Kurz entschlossen hüpfte ich auf meinen Krücken in das Institutssekretariat der Studienrichtung Germanistik, schilderte mein Sesselleid, fand nicht nur Gehör, sondern auch eine Lösung. Ich deponierte meinen Stundenplan im Sekretariat und von nun an brachte mir ein Hausarbeiter immer zu Vorlesungsbeginn meinen gepolsterten Chef-Drehsessel. Das System funktionierte an und für sich sehr gut, der Hausarbeiter war immer pünktlich zur Stelle und auch nach der Vorlesung brachte er den Stuhl wieder - vor den anderen Studenten - in einem Kämmerchen in Sicherheit. Mit der Zeit jedoch eignete ich mir auch meinen persönlichen Zeitrhythmus an und kam bei jeder Vorlesung mindestens eine Viertelstunde zu spät. Der Hausarbeiter wartete immer brav vor der Türe, öffnete sie, ich klapperte mit meinen Krücken auf den Platz, hinter mir rollte der Hausarbeiter laut den Bürosessel nach und richtete alles, wie ich es benötigte - was natürlich so seine Zeit brauchte. Immer leicht betrunken redete der Hausarbeiter ganz laut mit mir, als wäre niemand im Saal. Er fragte mich, ob es so passt, ob er den Stuhl noch etwas näher schieben soll, ob ich noch etwas zum Schreiben brauchte, er hätte da noch einen Kugelschreiber... Die Professoren schienen immer etwas irritiert, die anderen Studenten amüsiert, ich hingegen wurde rot und mir war es schon etwas peinlich. Als ich den Hausarbeiter, der übrigens auch Franz hieß, einmal darauf ansprach, ob es ihm nichts ausmache, wenn er so in die Vorlesung hineinplatze, meinte er cool: "Aber geh, die Studierten sind ja auch nur Menschen."

Einmal sprach mich ein Professor darauf an, warum ich zu seiner Vorlesung, die - so muss hier angeführt werden - jeden Dienstag um acht Uhr früh, also für mich kurz nach Mitternacht begann, immer zu spät kam. Er erwartete wohl eine Antwort in Richtung Behinderung... und wie schwer und mühsam... Ich antwortete jedoch ehrlich und offen: "Ich schaue Montag nachts immer meine Lieblingssendung Columbo." In seiner Überraschung stammelte er irgendetwas, dass er sich diese Sendung auch gerne ansehen würde. Was ich ihm jedoch nicht ganz abnahm.

Bei einer anderen Gelegenheit, es war Winter und der Boden auf der Universität teilweise nass und für die Krücken gefährlich glatt, kam ich wieder zu spät in eine Vorlesung, öffnete mühsam die gefederte Türe zum Vorlesungssaal, hüpfte, endlich drinnen, drei Schritte mit den Krücken, da rutschte eine Krücke weg und ich fiel mit einem lauten Knall auf den Boden. Der Professor unterbrach sofort seinen Vortrag und starrte mich, wie die anderen Studenten auch, geschockt an. Ich sah sie an und meinte nur: "Weitermachen!" Worauf alle lachten.

Neben dem Studium begann ich meinen Traumjob Journalist in die Wirklichkeit umzusetzen. So traf ich den Leiter der Kulturabteilung des ORF-Landesstudios Kärnten, der mir die Möglichkeit gab, als Radiojournalist erste Sporen zu verdienen. Es gab damals nur große schwere Aufnahmegeräte, die mehr wogen als ich selbst. Auch technisch kannte ich mich anfangs mit dem Gerät nicht so gut aus und so musste mein erster Interviewpartner zuerst das Aufnahmegerät von meinem Auto in seine Wohnung schleppen und mir dann die Funktionsweise des Apparates erklären. Trotz dieser Anstrengungen wurde dieser mein erster Radiobeitrag, über "Heimlichdichter", nie gesendet. Aber ich arbeitete unverzagt weiter und bald waren Beiträge von mir im Kulturjournal zu hören. Ich interviewte Leute, die ich - unkonventionell - meist in mein Auto zum Gespräch einlud. Die Arbeit machte mir Spaß und ich wollte sie auch gerne nach Beendigung des Studiums ausüben. So ließ ich mir einen Termin beim damaligen ORF-Intendanten des Landesstudios Kärnten geben. Der lächelte freundlich über meine Ambitionen und meinte, dass sie im Landesstudio für mich keine Verwendung hätten. Wohl auch aufgrund meiner Behinderung, was er nicht sagte, aber durchklingen ließ. "Aber", so meinte er aufrichtig mit meiner Situation mitleidend, "ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bringen mir jede Woche ein Manuskript, bekommen dafür das Geld. Nur: Senden können wir nichts." Ich entschied mich für einen anderen Weg: Für die Wiener Feature-Redaktion gestaltete ich fünf Hörbilder über "Zeitverzögerer", "Nachbarn", "Behinderte" usw., wofür ich nicht so viel Geld bekam, aber die Sendungen wurden ausgestrahlt und erhielten ein sehr positives Echo.

Quelle:

Franz-Joseph Huainigg: Der Mini-Freak. Teil 9

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2001; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.10.2010

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