Iserlohner Aufruf: Dialog für eine zukunftsfähige Ethik

Iserlohner Aufruf

Autor:in - Katrin Grüber
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001; Thema: Geschlecht: behindert Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2001)
Copyright: © Katrin Grüber 2001

Bedarf an Ethik

Die Nachfrage nach Ethik hat seit einigen Jahren in der öffentlichen Debatte Hochkonjunktur, auch wenn oft nicht allen bewusst ist, was mit "Ethik" gemeint ist. Das Angebot ist vielfältig, sowohl bezogen auf die Methoden, die Ansätze und die Handlungsfelder. So gibt es eine Ethik für wirtschaftliches Handeln, für Umwelt oder auch für Politik.

In der Medizin wurden in den letzten Jahren durch technische Entwicklungen ethische Fragen aufgeworfen und ein neuer Entscheidungsbedarf geschaffen, die vor 20 Jahren noch gar nicht existierten. Vielfach hat die Medizintechnik, heute ein wesentlicher Bestandteil der Medizin selber, die Probleme erst geschaffen, die nachträglich durch ethische Reflexion auf Erlaubtheit hin beantwortet und bewältigt werden müssen.

Grenzziehungen wie z.B. die Definition darüber, ob der Tod eines Menschen mit dem Herzstillstand oder dem Hirntod identisch ist und entsprechend festgestellt werden kann, führten zu neuen Entscheidungsdilemmata von Ärztinnen und Ärzten. Vergleichbares gilt für die künstliche Befruchtung, die Forschung an Embryonen, für die Pränataldiagnostik.

In den 60iger Jahren wurde für Entscheidungssituationen in der Medizin, die sich aufgrund technischer Entwicklungen ergaben, die "Bioethik" entwickelt. Ihr Name ist verführerisch, zumal "bios", aus dem griechischen stammend, "Leben" heißt. (vgl. "Biologie" - Lehre vom Leben). Der Gebrauch ist aufgrund des vorherrschenden Paradigmas der Naturwissenschaften sehr verengt und eingeschränkt. Zumeist liegt eine Reduktion auf Mechanismen oder eine Systembeschreibung des Lebendigen vor. "Bioethik" ist im Selbstbewusstsein und in der Darstellung keine "Ethik des Lebendigen", weil die Bemühungen, philosophisch oder religiös Lebendigsein zu erfassen, ausgeblendet werden.

Bioethik im Dienst von Naturwissenschaften und Medizin

Bioethik ist die Schwester der Biomedizin, die weitestgehend die im 19. Jahrhundert entstandene naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin verstärkt, bekräftigt und untermauert. Anworten der Bioethik bewegen sich innerhalb eines bestimmten Teiles der Medizin. Sozial- und umweltmedizinische Ansätze werden ebenso ausgeblendet wie präventive und alternative Medizinformen. Erkenntnisse der Pflegewissenschaft werden ignoriert. Die Bioethik hört somit auf, im Sinne unserer philosophischen Tradition ein kritisches Korrektiv zu sein und die umfassenden, lebensweltlichen Entscheidungsdilemmata wie Wertkonflikte offen zu diskutieren.

Technikentwicklungen wie z.B. das Klonen von Menschen werden im neuen Verständnis von "Bioethik" als autonom, eigengesetzlich und nicht veränderbar hingenommen. Ethische Urteile werden oft unkritisch gegenüber der Faktizität technischer Entwicklungen gefällt. Sie basieren damit auf falschen Einschätzungen und Vorannahmen über die sog. Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft und Technik. Nicht technische Lösungen werden häufig außer acht gelassen.

Ein konkretes Beispiel:

Bioethik gibt vor, Unterstützung zu leisten, indem sie Kriterien für Sterbehilfe entwickelt. Doch häufig liefert sie statt einer intensiven Güterabwägung Begründungen dafür, wann Tötungen angemessen sind, ohne auf einen letzten Tötungsvorbehalt wie im Grundgesetz oder in den Traditionen der großen Religionen postuliert, Rücksicht zu nehmen bzw. deren Auflösung als Folge von Tötungshandeln für eine gesellschaftliche Moral zu thematisieren. Möglichkeiten, psychosoziale Betreuung und Schmerztherapie zu verbessern, werden oft ignoriert. Dass Sterben und Schmerzen zum Menschenleben dazugehören, Bedeutung für eine Biographie und für Lebenssinn enthalten, wird im Kontext eines leidfreien und fortschrittsbestimmten Menschenbildes vernachlässigt.

Bioethik hat sich so in den Dienst der Naturwissenschaften, verstärkt der Genforschung und einer dadurch zunehmend bestimmten Medizin gestellt. Diese sollen durch "Bioethik" legitimiert werden. Sie schöpft ihre Daseinsberechtigung und öffentliche Anerkennung daraus, dass sie Begründungen für das liefert, was technisch machbar ist, und darum auch ohne Bedenken gemacht werden sollte. Sie "ent-schuldet" in einem Vorwegverfahren die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und bereitet so den Boden für Grenzüberschreitungen und -erweiterungen vor. Sie hat sich damit aus der kritischen Tradition der philosophischen, christlichen und humanistischen Ethik verabschiedet. Das "Sein" vorhandener Machbarkeiten wird zum Maßstab für das "Sollen" und nicht mehr der Entwurf eines guten, mitmenschlichen und lebensdienlichen Zusammenlebens in Freud und Leid.

Bioethik und Öffentlichkeit

Die Öffentlichkeit wird häufig erst dann an bioethischen Überlegungen beteiligt, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist. Eine auf Öffentlichkeit angewiesene und diese fördernde Diskursethik wird als unangemessen angesehen. Experten und Expertinnen beraten und entscheiden.

So fand die Beratung über die Bioethikkonvention des Europarates hinter verschlossenen Türen statt, bis durch eine Indiskretion der Entwurf bekannt wurde. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich in Deutschland eine breite Debatte. Sie hat gezeigt, wie groß das Interesse der Zivilgesellschaft an solchen Fragestellungen ist und wie tief andere als dort zugrundegelegte Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Betroffene Menschen und Gruppen konnten sich noch rechtzeitig beteiligen, so dass ihre Argumente berücksichtigt werden mussten und eine gemeinschaftlich-gesellschaftliche ethische Güterabwägung zwischen dem Wohl der Menschen und den anderweitigen Interessen in Gang kam. Das Argument der Achtung und Förderung menschlicher Würde spielte eine zentrale Rolle.

Durch diese öffentliche Diskussion wurden zumindest zum Teil die Allmachtsfantasien von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die in den Himmel gewachsen waren, korrigiert. In der neueren Fassung der Bioethikkonvention wurden Türen, die vorher weit aufgestoßen wurden, zumindest angelehnt, und die Türschwellen, die zu überschreiten sind, wurden erhöht. Damit können wir uns nicht zufrieden geben.

Es ist die unverzichtbare Aufgabe einer Ethik, dafür zu sorgen, dass Öffentlichkeit entsteht und qualifiziert ethische Fragestellungen diskutieren kann, weil die Dilemmata aufgedeckt und die zugrundeliegenden Normen benannt sind. Dann kann die Öffentlichkeit, wie in diesem Fall, ein wichtiges Korrektiv sein und werden.

Zukunftsfähige Ethik

Die kritische Aufklärung über Verfahren und Verflechtung der Bioethik und der Verweis auf die Notwendigkeit einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit sind zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend für einen angemessenen ethischen Diskurs. Wir schlagen darum die Entwicklung einer "zukunftsfähigen Ethik" vor, die ein Gemeinschaftswerk ist, sich an den anspruchsvollen ethischen Traditionen der großen Religionen, der abendländischen Philosophie und dem Humanismus messen lässt, und in einem dialogischen Prozess entwickelt wird. Dieser Prozess ist offen und öffentlich unter Beteiligung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die dabei ihre unterschiedlichen Interessen offen legen und einbringen. Das geht nicht ohne Streit und Konflikt ab.

Die Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft soll nicht nur Korrektiv sein. Sie muss der Ausgangspunkt und der Adressat ethischer Überlegungen sein. Wir brauchen eine ethische Diskurskultur auf der Basis politischer Mündigkeit und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Dazu werden einige Kriterien und Eckpunkte im Folgenden benannt.

Vielfalt

Eine zukunftsfähige Ethik erkennt an, dass es gerade die Besonderheit des menschlichen Lebens ausmacht, dass es eine Vielfalt von Lebensgestaltungsprozessen gibt, die eine Bereicherung darstellen. Eine Reduktion würde eine Verarmung der Menschen bedeuten.

Deshalb bezieht sie nicht nur die sogenannten rationalen, sondern auch affektive und emotionale Argumente, wie z.B. Furcht und Angst, in ihre Entscheidungsfindung ein. Menschen sind mit allen Sinnen, mit Herz und Verstand beteiligt und betroffen, wenn es um ihre und der Mitmenschen und Umwelt Geschicke geht. Darum sind die Betroffenen ebenso zu hören wie die sog. Experten und Expertinnen. Letztlich sind in ethischen Fragen alle Menschen Experten bzw. können und sollten dazu werden.

Eine zukunftsfähige Ethik erkennt daher an, dass es verschiedene Interessen und verschiedene Argumentationsebenen gibt, die offengelegt werden müssen, um die notwendige Distanz herzustellen, und um doch mit der einfühlsamen Nähe zum betroffenen Lebensgeschick zu immer vorläufigen und schuldbehafteten Entscheidungen zu gelangen.

Wer z.B. Menschen im Wachkoma als in einem "grauenvollen Zustand" lebend ansieht und wahrnimmt, dem entgeht die eigene Qualität dieser Lebensweise. Wer so davon spricht, stellt nur sein eigenes Gefühl und das damit verbundene Urteil unter Beweis. Er oder sie trifft keine Aussagen über die Eigenschaften und das Empfinden der Betroffenen, das er nicht kennt. Sein "Mitleid", das zum Beenden dieses Lebens führen kann, ist deshalb kein "Mit-leiden" mit dem Patienten oder der Patientin in deren Sinne. Wer aus dem beschriebenen Gefühl Handlungen ableitet, hat nur scheinbar rational begründet gehandelt.

Eine kritische ethische Reflexion eröffnet statt dessen noch andere Handlungsoptionen. Im übrigen gilt auch für den öffentlichen ethischen Diskurs wie für eine pluralistische demokratische Gesellschaft insgesamt die Bewahrung einer Vielfalt von Ausdrucks- und Darstellungsformen der Kultur, wie sie sich im Mythos, in der Sprache, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht und Politik zeigen. Diese Pluralität sichert gegen jede Form von Totalitarismus und Totalität, in welcher Form auch immer sie auftritt. Sie relativiert die vorherrschende Engführung der bioethischen Positionen und Diskussionen, die - wie z.B. die Hirntoddebatte zeigt - die Einstellungen anderer Kulturen und Religionen gegenüber dem Geheimnis des Todes missachtet haben. Ein bestimmtes Menschenbild wird als allgemeingültig gesetzt, ohne eine öffentliche Debatte darüber zu führen.

Bescheidenheit

Eine zukunftsfähige Ethik ist bescheiden. Sie erkennt ihre eigene - auch kulturelle - Begrenztheit an. Sie weiß um die Revidierbarkeit, die Fragmentarität, um die oft unlösbaren Dilemmata ethischer Entscheidungen und die damit verbundene Schulddimension.

Zudem weiß sie um die Grenze ihrer Argumentation: nicht in allen Situationen führt die bewusste Reflexion auf Moral zu eindeutigen Entscheidungen. Doch entlastet eine zukunftsfähige Ethik die Handelnden nicht von der zu tragenden Verantwortung für ihre Entscheidungen. Oft bleibt eben eine risikoreiche, einsame oder im kleinen Team gefällte, ethisch nicht abgesicherte Entscheidung übrig. Darum sind für sterbende Menschen, Angehörige und für das Pflegepersonal sowie die Ärztinnen und Ärzte eine psychosoziale Betreuung, eine mitmenschliche Begleitung und eine gute Palliativmedizin und Pflegewissenschaft wichtiger als alle ethische Korrektheit.

Eine zukunftsfähige Ethik ist deshalb eng mit einer Sozial- und Beziehungsmedizin verbunden. In diesem Sinne unterstützt sie alle Bemühungen, die Palliativmedizin und Pflegewissenschaft sowie die Begleitung und Beratung von Patienten und Betroffenen, z.B. auch in der pränatalen Diagnostik, zu verbessern. Sie fordert zudem dazu auf, nach Möglichkeiten Situationen zu verhindern, die eine problematische Entscheidung hervorrufen könnten.

Grenzbewusstsein

Eine zukunftsfähige Ethik anerkennt die Grenzen der Endlichkeit des Menschen und einer endlichen Vernunft. Sie weist darauf hin. Es darf nicht alles gemacht werden, nur weil es technisch machbar ist. Wer heilt, hat nicht automatisch recht. Erfolg ist kein hinreichendes Kriterium für eine zukunftsfähige Ethik, auch wenn dieses Kriterium in einem gängigen Bewusstsein heute alleinige Gültigkeit zu haben scheint.

Eine Grenze ist die Endlichkeit des Lebens. Es gibt kein Leben ohne Tod. Eine andere Grenze besteht in der Würde des Menschen. Ein Mensch ist ein Mensch.

Diese Grenzen haben Auswirkungen auf das konkrete Handeln. Daraus folgt, dass Menschen im Wachkoma nicht getötet werden dürfen und dass sterbende Menschen nicht getötet werden dürfen. Die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen oder die Forschung an Embryonen sind abzulehnen. Die Klonierung menschlichen Lebens wird geächtet. Das menschliche Erbgut ist tabu. Eine Patentierung genetisch veränderter Zellen ist unrechtens, weil sie eine Ökonomisierung des Lebens und ein Eigentumsdenken von Lebendigem fördert. Die Keimbahnmanipulation wird ebenso als ethisch unerlaubt zu beurteilen sein.

Dabei wird eine zukunftsfähige Ethik alles dafür tun, dass es zu einer "Selbstbegrenzung aus Freiheit" (W. Huber) im ethisch bewussten Verhalten Einzelner, von Gruppen und in der gesamten Gesellschaft kommt. Zwang ist nicht möglich und selbst gesetzliche Regelungen haben hinsichtlich ihrer Sanktionierung Grenzen.

Eine Grenzziehung, die für viele erschwerend wirkt und als überholt gilt, birgt nicht nur Nachteile, sondern auch Chancen. Darin liegt der Abschied von einem eindimensionalen, linearen Denken mit einem einlinigen Fortschrittsdenken. Durch die "Selbstbegrenzung aus Freiheit" wird der Blick für die Möglichkeiten innerhalb der Grenzen frei für viele Fragen und Aufgaben, die wir bisher nicht gesehen haben und für die wir keine Antworten gesucht haben, weil der Blick fixiert und reduziert war. Angesichts erfahrbarer Endlichkeit und Begrenztheit kann Kreativität und Fantasie freiwerden für nichttechnische Lösungen, die zu einer Förderung mitmenschlichen, solidarischen Zusammenlebens führen. Es entwickelt sich eine neue Lebenskunst und ein Forum des Austauschs und konkurrenzlosen Wettbewerbs.

Eine zukunftsfähige Ethik bezieht sich nicht alleine auf technische Lösungen, sondern reflektiert Lebens-, Beziehungs- und Gesellschaftsaspekte unseres Handelns, die wir einbeziehen und ebenso beantworten müssen. Darum werden sowohl die Fragen als auch die Wege zu Entscheidungen einer eindimensionalen Bioethik hinterfragt werden müssen. Die lebensweltliche Einbettung des ethischen Dialoges eröffnet die Möglichkeit zu lebensweltlich angemessenen Entscheidungen und Lösungen.

Geschichtsbezug

Eine zukunftsfähige Ethik ist geschichtlich orientiert und eingebunden in den Strom der Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es kann keine geschichtslose Ethik geben, weil das Leben der Menschen geschichtlich geprägt ist. Sie berücksichtigt darum jene Dimensionen, die die Gegenwart und den Nahbereich bei weitem übersteigen.

Sie weiß, dass Erinnerung zur Erneuerung und zur Bewältigung von Konflikt- und Entscheidungssituationen beitragen kann. Die Schrecken der Vergangenheit, z.B. der technisch barbarische Umgang mit menschlichem Leben im Nationalsozialismus, gehören unabdingbar zum ethischen Urteilsprozess hinzu.

Eine zukunftsfähige Ethik rehabilitiert die Zeit, nicht nur die Zukunft, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart. Werte und Normen sind in ihrer Auslegung zeitgebunden und müssen daher im Rahmen einer Erinnerungskultur geprüft und gemessen werden an ihrer Missdeutung und Instrumentalisierung, aber auch an ihrer ursprünglichen Intention. Nur wenn eine Verbindung zwischen Zukunft und Vergangenheit hergestellt wird, ist der Verweis auf Traditionen keine Ideologie oder Fundamentalismus. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.

Dabei setzt sich eine zukunftsfähige Ethik mit der Vergangenheit kritisch auseinander. Sie lernt ebenso aus dem Scheitern von Utopien "leidensfreier Gesellschaften", wie sie die Wurzeln einer antihumanistischen Ideologie vom "Übermenschen", vom Nationalsozialismus auf furchtbare und menschenverachtende Weise exekutiert, offenlegt.

Eine zukunftsfähige Ethik bezieht konstruktiv-kritisch das Erbe der großen Religionen mit ihren Schattenseiten und die Tradition des Humanismus mit ein. Sie widerspricht darum jeder Forderung von "Anthropotechniken" zur "Züchtung" (Sloterdijk) und setzt nach wie vor auf die zivilisatorische Kraft "Zähmung" durch den Humanismus.

Tradition

Eine zukunftsfähige Ethik knüpft an die jüdisch-christliche Tradition an und beteiligt sich am Dialog der Weltreligionen im Blick auf ein "Weltethos" (H. Küng u.a.). Sie ist zugleich humanistisch geerdet und dem Erbe des Renaissance-Humanismus und der reflexiven Aufklärung verpflichtet. Sie steht in der Tradition der Erklärung der Menschenrechte und schreibt sie auf neue Verhältnisse hin fort.

Es ist höchste Zeit, sich darauf zu besinnen, was der Mensch ist: Teil der Natur und zugleich ihr Gegenüber. Er ist Leib und hat Körper und ist darum mehr als technischer Apparat oder komplexe Maschine. Ein Mensch, wie immer er auch ist, bleibt Mensch, was immer auch geschieht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Kant'sche Imperativ "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in Deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" hat an Gültigkeit und Geltung nichts verloren. Ein menschenfreundlicher und lebensdienlicher Fortschritt schließt ein, sich auf diese ethischen Traditionen zu besinnen, sie zu bedenken und sie in veränderten Lebens- und Entscheidungssituationen zu erneuern.

Zukunft

Eine zukunftsfähige Ethik wird den ethischen Dialog um die Dimension und den Aspekt der Berücksichtung und Anerkennung nachfolgender Generationen erweitern. Sie basiert auf dem Vorsorgeprinzip unter Berücksichtigung des Fürsorgeprinzips. Bei allem Handeln und Verhalten sollten wir alle möglichen Konsequenzen unserer Entscheidungen im Auge behalten, auch die unwahrscheinlichen. Fehlerfreundlichkeit, Revidierbarkeit, Tragfähigkeit und Erhalt der Vielfalt sind wichtige Maximen einer zukunftsfähigen Ethik.

Unser Entscheiden und Handeln heute kann und darf die Zukunft kommender Generationen nicht so festschreiben, dass diese dereinst in Zwang statt in Freiheit ihre Entscheidungen treffen müssen. Die Freiheit zur Entscheidung sowie die Spielräume des Entscheidens, die wir für uns reklamieren, müssen wir auch kommenden Generationen ermöglichen. Daran sind unsere Entscheidungen zu messen und dadurch müssen sie begrenzt werden. Das verlangt Zukunftsblick und Fantasie sowie eine intensive und extensive Folgenabschätzung.

Weltoffenheit

Eine zukunftsfähige Ethik ist weltoffen und denkt global. Sie macht sich Gedanken zum Thema Gegenwart und Zukunft der Menschheit und des Globus. Zukunftsfähigkeit kann und darf nicht auf ein Land oder eine Bevölkerungsgruppe beschränkt bleiben. So kann und darf sich eine Medizin nicht auf Kosten des Abbaus von Basisgesundheitsdiensten und ärztlichem Angebot in der 2/3-Welt erweitern und Gelder verschlingen, die eigentlich benötigt werden, damit Neugeborene überhaupt leben können. Unter diesem Aspekt erscheint die In-Vitro-Ferti-lisation als ein Luxus.

Eine zukunftsfähige Ethik führt den Gesichtspunkt einer "Globalisierung der Solidarität" gegen eine Globalisierung von Technik und Märkten bzw. vermarktungsfähiger Medizintechniken ins Feld. Sie fordert und fördert ein globales Netzwerk der Menschlichkeit und Nachhaltigkeit. Deshalb muss der ethische Dialog global ausgeweitet werden und unterschiedliche Kulturen mit ihren moralischen Traditionen einbeziehen.

Der Bezugspunkt ihrer globalen Verantwortung ist soziale Gerechtigkeit und lebensförderliche Nachhaltigkeit. Es ist nicht hinnehmbar, dass heutzutage 1,5 Milliarden Menschen kein Wasser von ausreichender Qualität haben und dass 40000 Menschen täglich verhungern. Es ist nicht akzeptabel, dass 1 Milliarde Menschen kein schützendes Dach über dem Kopf haben. Es ist ethisch nicht legitimierbar, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Eine zukunftsfähige Ethik plädiert dafür, dass diese Fragen nicht ausgeblendet werden, wie das oft in bioethischen Ansätzen geschieht. Zivilgesellschaftliche Kräfte sollen sich zusammenschließen, damit Antworten gefunden werden, die durch die Beteiligung und den Einsatz möglichst vieler umgesetzt werden.

Komplexität

Eine zukunftsfähige Ethik ist komplex. Weil komplexe Fragestellungen nicht hastig oder gar hinter verschlossenen Türen in Expertenkreisen entschieden werden können, macht sich eine zukunftsfähige Ethik das Prinzip der Langsamkeit zu eigen. Erst das Innehalten ermöglicht den ethischen Diskurs und die Beachtung aller möglichen Aspekte im ethischen Urteil.

Zukunftsfähige Ethik stört den rasanten Prozess der Beschleunigung und plädiert bei Bedarf auch für Moratorien. Das Prinzip der Langsamkeit gehört allerdings nicht an das Ende oder an den Rand laufender Handlungsdiskurse, die ja schon immer stattfinden, indem wir tun oder unterlassen, entscheiden und produzieren. Es gehört in die Mitte.

Das "Innehalten" und Selbstbesinnung wie -vergewisserung historischer und transzendenter Voraussetzungen ethischer Entscheidungen müssen den Charakter des "Mit-Wissens" (con-scientia) in unseren Entscheidungen erhalten. Solches "Mit-Wissen" heißt seit der Antike "das Gewissen".

Eine zukunftsfähige Ethik ist immer "Ethik im Kontext" und gemeinschaftliche Ethik. Sie widerspricht der gängigen Privatisierung des Gewissens. Menschen dürfen in ihren Gewissensentscheidungen nicht alleine gelassen werden, sondern bedürfen der Ver-gewisserung der sie leitenden und prägenden Werte, Normen und Traditionen sowie der Würde aller Menschen im Kontext ihrer Kultur. Darum muss für ethische Diskurse und Entscheidungsfindungen Zeit und Raum sein und geschaffen werden. Wir brauchen kollegiale und kollektive Ethikberatung auf allen Ebenen, die ihrerseits den Boden für eine zukunftsfähige Ethikkultur bereiten und zugleich sichern helfen.

Vergewisserung im Dialog

Immer wieder gibt es Situationen, in denen PolitikerInnen, UnternehmerInnen, WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen, PatientInnen, Angehörige schnell entscheiden und handeln müssen. Deshalb muss in ihrem Bewußtsein ("Gewissen" / con-scientia) oder durch eine nachträgliche Prüfung ihrer Entscheidungen eine Art Bremse wirksam werden.

Eine zukunftsfähige Ethik verschafft kein ruhiges Gewissen. Sie stiftet vielmehr Unruhe und stört. So soll verhindert werden, dass nach vollzogenen Handlungen und angeblichen Erfolgen leichtfertig und ungerechtfertigt vorhandene moralische Tabus gebrochen werden bzw. als unbedeutsam eingeschätzt werden. Entscheidungen sollen nicht stromlinienförmig, nicht ohne Ambivalenzbewusstsein und nicht ohne Einsicht in Schuldzusammenhänge getroffen werden.

Eine zukunftsfähige Ethik unterbricht die Herrschaft des Faktischen. Sie wird dem Handelnden zeigen, dass er den anderen immer etwas schuldig bleibt und geblieben ist. Sie ist darum kein sanftes Ruhekissen, indem sie beruhigte Gewissen schafft. Vielmehr will sie die entprivatisierten Gewissen schärfen und auf ihre Verantwortung für das größere Ganze hinweisen.

Gesellschaftlicher Fortschritt

Zukunftsfähige Ethik bestimmt Fortschritt nicht als technischen, sondern als gesamtgesellschaftlichen, auf Teilhabe beruhenden und Nachhaltigkeit fördernden Fortschritt. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt misst sich an den Fortschritten einer Gesellschaft, wie sie diese in der Bildung einer Kultur entwickelt, in der es Gerechtigkeit für alle gibt und in der Reichtum nach Bedarf und Bedürftigkeit verteilt ist. Armut darf nicht länger ein Krankheitsrisiko sein.

Das bedeutet eine Rückbindung ethischer Entscheidung an die Option für die Schwächsten, an die wechselseitige Anerkennung der Beteiligten und Betroffenen und an die vorbehaltlose Förderung der Bedürftigen. Die jeweils Schwächsten sind der Maßstab für die ethische Güte von Entscheidungen.

In den letzten Jahren hat es erfreulicherweise einen kulturellen Fortschritt gegeben. Die Sensibilität darüber, wie Menschen mit Menschen umgehen, hat zugenommen. Dieser Fortschritt ist leider nicht immer leicht zu erkennen, weil es auf dem eingeschlagenen Weg auch Rückschritte gegeben hat. Leider sind die vielen kleinen Schritte und die bescheidenen ethischen Heldinnen und Helden des Alltags zu wenig bekannt. Hier brauchen wir statt eines Skandaljournalismus eine Kultur des Erzählens und Wertschätzens mutiger lebensförderlicher und menschenfreundlicher Entscheidungen sowie eines Handelns mit Zivilcourage. Die öffentlichen Medien sind aufgefordert, von solchen Alltagsbeispielen sowie von Entscheidungsdilemmata im ärztlichen Tun und in den schweren Entscheidungen betroffener Menschen zu berichten. So kann ethische Sensibilität gefördert und das Bewusstsein für ethische Urteilsprozesse verbreitert werden. Wir brauchen gute ansteckende Beispiele als Ansätze einer "narrativen Ethik".

Aufruf zur öffentlichen Diskussion

An den bisherigen Ansätzen einer "Kultur der Barmherzigkeit und Empathie", an Beispielen des Mutes und des Widerstandes für das Leben wollen wir anknüpfen und darauf aufbauen. Wir rufen zu einem breiten Diskussionsprozess auf, der eine tragfähige und zukunftsfähige Ethik und eine reflektierte Kultur ethischer Urteilsbildung entstehen lässt. Wir wünschen uns, dass dieser Prozess mit gelungenen Beispielen, aber auch mit offenherzig vorgetragenen Beispielen des Scheitern bereichert wird.

Wir wissen: Ethik kann und wird nicht einfach sein. Eine zukunftsfähige Ethik schon gar nicht. Sie will zur Klärung, nicht zur Vernebelung von Sachverhalten beitragen. Deshalb geschieht sie nicht im machtfreien Raum und schwebt sie nicht über dem Alltag der Menschen. Sie stellt Ansprüche an unser Verhalten, vor allem an das von WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, ÄrztInnen und Angehörigen. Sie rechtfertigt nicht vorschnell technisch Machbares und angeblich erfolgreiches Verhalten. Sie fordert auf, im Leiden und in der Behinderung nah bei den betroffenen Menschen zu sein, um ihnen Mitmenschlichkeit zu zeigen und sie zur Bewältigung ihrer Lebenssituation zu ermächtigen.

Zukunftsfähige Ethik ist macht- und organisationskritisch. Sie ist politisch und ganz und gar nicht technik- und wissenschaftsgläubig. Sie verteufelt die den Menschen gegebenen kulturschaffenden Fähigkeiten nicht. Sie weiß sich vielmehr dem Auftrag, Schmerzen zu lindern und Prozesse des Heilens zu unterstützen, verpflichtet. Doch nicht um jeden Preis. Sie will dem Leben der Menschen und der Natur dienen, die Würde des Menschen achten und sie fördern helfen, dabei "Ehrfurcht vor dem Leben" (A.Schweitzer) praktizieren und diesen ethischen Schatz an kommende Generationen weitergeben.

Denn: der Mensch ist Teil der Natur und zugleich ihr gestaltendes Gegenüber. Er ist auf

Ethik als Nachdenken über gutes und gelingendes Leben angesichts von Scheitern und Leiden angewiesen. Der Mensch braucht Ethik zur Ermittlung dessen, was getan werden soll. Dabei kann ihn die in jedem Atemzug unmittelbar erfahrbare Einsicht leiten: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." (A. Schweitzer). In dieser Einsicht zeigt sich beides zugleich: der ethische Konflikt und die Perspektive seiner Lösung, die keine Bioethik nivellieren oder wegargumentieren kann, sondern durch die sie erst zu einer Lebensethik, zu einer zukunftsfähigen Ethik werden kann.

Erarbeitet im Mai 2000 und unterstützt von:

Christel Bienstein, Günter Dörr, Prof. Klaus Dörner, Prof. Günter Ebbrecht, Prof. Hans Grewel,

Dr. Katrin Grüber, Priv. Doz. Dr. Udo Krolzik,

Dr. Friedrich Leidinger, Dr. Peter Markus,

Dr. Ralph Seidel, Andrea Trenner, Wolf Trenner, Dr. Andreas Zieger

Kontakt

Dr. Katrin Grüber

Kirchfeldstraße 95, 40215 Düsseldorf

Tel 0211/131171

Fax 0211/131275

katrin.grueber@selbsthilfe-online.de

Quelle:

Katrin Grüber: Dialog für eine zukunftsfähige Ethik

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2001; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006

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