Behinderte Frauen und Mutterschaft

Eine Bestandsaufnahme

Themenbereiche: Kultur, Geschlechterdifferenz
Schlagwörter: Kinder, Eltern, Sexualität, Frauen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001; Thema: Geschlecht: behindert Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2001)
Copyright: © Herrmenegilde Ferrares 2001

Inhaltsverzeichnis

Eine Bestandsaufnahme

Als Sozialarbeiterin mit Praxiserfahrung habe ich mich auf die Suche nach Hilfsangeboten, Literatur und Projekten für Mütter mit Beeinträchtigungen gemacht. Die Zusammenstellung stellt weder eine wissenschaftliche Bearbeitung des Themas dar, noch erhebt sie Anspruch auf Vollständigkeit!

Im August 1996 fand in Graz eine internationale Tagung von FIMITIC (Internationaler Verband der Behinderten) zum Thema "Behinderung+ Mutterschaft= Menschenrecht" statt.

Für mich war es ein einschneidendes Erlebnis, zu hören, wie selbstverständlich skandinavische Frauen ihre Kinder großziehen konnten, da sie genügend persönliche Assistenz erhalten haben. Auch einige heranwachsende Kinder konnten mit allen Befürchtungen aufräumen, die da lauteten, daß sie unter den Einschränkungen ihrer Mutter gelitten hätten. Die wenigen dort anwesenden österreichischen Frauen, die ein Kind haben, berichteten eher von der mißtrauisch- ablehnenden Haltung ihrer Umgebung und der beruflichen HelferInnen, z.B. des Jugendamtes.

Inzwischen kenne ich einige Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die sich bewußt entschieden haben, ein Kind zu bekommen. Sie sind gebildete Frauen mit relativ stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen, die, auch wenn sie sich vom Partner trennen, in anderen sozialen Gefügen fest verankert sind. Dennoch sind auch diese Frauen bewunderte und mißtrauisch beäugte Ausnahmen.

Ich lernte aber auch andere behinderte Mütter kennen. Frauen, die in bescheidenen Verhältnissen leben, und die auch sonst für ihr Leben die Hilfe des Sozialstaates benötigen (würden) und für die die Mutterschaft genau den Angelpunkt für staatliche Interventionen darstellte.

Das heißt, daß die Fremdunterbringung ihrer Kinder angedroht, durchgeführt oder gerade noch verhindert wurde, während es auf der anderen Seite kaum Unterstützungsangebote für ihre Situation gegeben hat.

Die Art und Schwere der Beeinträchtigung spielt natürlich dabei eine Rolle, wo Probleme geortet werden.

Körperbehinderte Frauen und Frauen mit chronischen Erkrankungen thematisieren medizinische Probleme : "...wird sich die Schwangerschaft auf meine körperliche Befindlichkeit dauerhaft auswirken, welcher Gynäkologe hat Erfahrung, brauche ich wirklich einen Kaiserschnitt..." sind Fragen, die z.B. in der Zeitschrift: Disability, Pregnancy and Parenthood (http://freespace. virgin.net/disabled.parents) oder auch in www.startrampe.net (aus der Sicht querschnittgelähmter Frauen) diskutiert werden.

Die Zeit mit einem Baby und Kleinkind stellt für Frauen mit Sehbeeinträchtigungen oder Bewegungsbeeiträchtigungen technische Probleme in den Vordergrund. Die Frage nach geeigneten Hilfsmitteln zum Tragen, zum Wickeln und Baden oder die Angst, daß das Kind sich so rasch in Gefahrensituationen begeben kann, daß die Mutter nicht rechtzeitig eingreifen kann, wird thematisiert. (z.B. C. Seipelt (1994) Behinderte Mutter. Eine glückliche Familie? in: Das Band 3/94 Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte (Düsseldorf )

Während noch vor einigen Jahren Information auf diesem Sektor Mangelware war, gibt es nun, Internet sei Dank, auch jede Menge Information zu bewährten technischen Hilfsmitteln, selbst adaptiert, zweckverändert oder als Prototypen (www.disabledparents.net ist hier eine Fundgrube!)

Da es für Menschen mit höherem Assistenzbedarf in Österreich noch immer keine adäquaten Lösungen zur Finanzierung des tatsächlich benötigten Zeitaufwandes gibt, schränkt auch dieser Aspekt die Möglichkeiten bewußter Mutterschaft ein.

Die Geschichte einer schwer behinderten Frau in Wien, die ihren Sohn allein mit Hilfe von AssistentInnen aufzieht, wurde nur durch massive Medienberichterstattung als Einzelfalllösung möglich.

Wie tiefgreifende gesellschaftliche Vorurteile gerade im Fall von behinderten Müttern aufbrechen, beschreibt Gisela Hermes:

"Behinderte Menschen werden als abhängig, unselbständig, als nicht entscheidungs-und leistungsfähig gesehen. Sie werden in der Regel nicht gefragt, wie sie leben wollen - ihnen werden Lebensbedingungen ‚verordnet'. Die Vorstellung, daß behinderte Frauen Sexualität leben und attraktive Partnerinnen sein könnten, erscheint der nichtbehinderten Umwelt geradezu absurd.

Dem Bild der unselbständigen, unattraktiven Behinderten steht das Bild der heutigen Mutter konträr gegenüber. Von ihr wird erwartet, daß sie in der Lage ist, die Alleinversorgung der Kinder zu übernehmen, den Haushalt zu schaffen und das alles mit einem Job in Einklang zu bringen.

Mit diesen Bildern im Kopf können sich nichtbehinderte Menschen nicht vorstellen, daß behinderte Frauen in der Lage sind, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Im Gegenteil- viele Frauen mit Behinderung machen die Erfahrung, daß von ihnen regelrecht erwartet wird, keine Kinder zu bekommen. Ihnen wird im Falle einer Schwangerschaft von Verwandten, Freunden und Ärzten geraten, eine Abtreibung oder Sterilisation durchführen zu lassen. Entscheiden sie sich dennoch für ein Kind, haben sie oft gegen sehr hartnäckige (Vor)Urteile gegenüber ihrer ‚Eignung ' als Mutter anzukämpfen. Vorstellungen wie: behindert ist gleich krank; wer behindert ist, ist selbst abhängig von der Hilfe anderer, und hat deshalb kein Recht, Kinder in die Welt zu setzen und ggf. den Staat zusätzlich zu belasten;

behinderte Frauen bekommen immer behinderte Kinder; Frauen mit Behinderung können ihren Kindern keine guten Mütter sein; die Kinder sollen nur als billige Hilfskräfte ausgenutzt werden, gehören zu den gängigen Vorurteilen."

(Hermes in: http://www.behindertefrauen.org/bosnew/sites/archiv/info/download/info5/infoNr05.pdf

oder http://www.behindertefrauen.org/bosnew/sites/archiv/info/download/info5/infoNr05.zip

21.10.04)

Das Bildungs-und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter-bifos e.V. hat im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jänner 2000 eine Expertise zur Lebenssituation von Eltern mit Körper- und Sinnesbehinderungen in der Bundesrepublik Deutschland erstellt: "Behinderte Eltern: (Fast) unsichtbar und doch überall". Nun ist Papier geduldig, und Studien sind noch keine konkrete Hilfe, dennoch entdeckte ich im Zuge meiner Recherche für diesen Artikel weder eine offizielle Studie noch ein gezieltes Projekt in Österreich, das die Elternschaft behinderter Menschen thematisiert

Auch ich habe das Thema Elternschaft in diesem Artikel als Frauenthema behandelt, weil es auch in meiner Erfahrung fast ausschließlich von Frauen thematisiert wurde. Abgesehen von den Fragen zur Zeugungsfähigkeit bei bestimmten Beeinträchtigungen habe ich nur in der Ausgabe 3/98 der Schweizer Zeitschrift über Fragen der geistigen Behinderung "insieme" (Biel) einen Artikel gefunden, der heißt: "Vater mit geistiger Behinderung - na und?"

Für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten, gibt es, im Gegensatz zu Deutschland, bei uns keine organisierten Unterstützungsprojekte.

Eine Rolle spielt wahrscheinlich auch, daß es bis vor etwa 10 Jahren noch durchaus üblich war, daß Eltern ihre geistig behinderte Mädchen vor ihrer Volljährigkeit sterilisieren ließen. In manchen Einrichtungen gehörte dies sogar zu den Aufnahmevoraussetzungen.

Die Projekte in Deutschland beschäftigen sich z. B. mit mobilen Hilfen und gemeinsamen Wohnformen für Eltern und Kinder ("Begleitete Elternschaft" in Bremen, "Das Familienprojekt" der Lebenshilfe Berlin) oder doch eher mit Lösungen für Notsituationen (wie das Annastift in Trier, das ein Mutter-Kind-Haus explizit auch für psychisch kranke und geistig behinderte Frauen mit Kindern anbietet).

Natürlich gibt es auch in Österreich behinderte Mütter mit Kindern, die im Rahmen von Wohngemeinschaften oder mobilen Unterstützungsdiensten Leistungen der Behindertenhilfe bekommen, es handelt sich dabei aber um Einzelfalllösungen und noch immer um Ausnahmen. (tel. Auskunft Lebenhilfe Stmk., Jugend am Werk Wien).

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich berichten, daß sich Mutter-Kind-Einrichtungen für Krisensituationen als unzuständig, bzw. mangelnd kompetent erklärt haben, wenn sich Frauen mit einer bescheinigten Behinderung an sie gewandt haben.

Es scheint allerdings ziemlich willkürlich, ob jemand mit schlechten Schulerfolgen und sozialen Problemen in ihrer Herkunftsfamilie, als sozial depriviert gilt, oder ob jemand in der selben Situation "als behindert anerkannt" wird.

Auch in den wenigen Studien über behinderte Mütter ist auffällig, wie viele davon aus psychosozial belastenden Familienverhältnissen kommen (Alkoholmißbrauch, sexueller Mißbrauch, Armut). Schon die Frage, wie viele Lernbeeinträchtigungen durch schlechte Rahmenbedingungen des Aufwachsens gegeben sind, erscheint mir berechtigt. Aber noch mehr, ob nicht Probleme in der Kindererziehung weniger in der intellektuellen Leistungsfähigkeit, als in dem selbst als Kind vermißten harmonischen Familienleben zu suchen sind.

Die bemühten, interessierten, sozial bessergestellten Eltern geistig behinderter Menschen werden vielleicht öfters erfolgreich und mit besten Absichten Schwangerschaften zu verhindern trachten - ist meine Vermutung.

Pixa-Kettner, Bargfrede und Blanken (1996) kommen in ihrer Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der BRD (Bundesminister für Gesundheit, Baden-Baden) zum Ergebnis, daß es keine universellen, quasi behinderungsspezifischen Probleme mit Elternschaft gibt. Die Tatsache, daß Elternschaften Probleme mit sich bringen können, ist keine Besonderheit von Menschen mit geistiger Behinderung. Die Maßstäbe, die an diese am strengsten kontrollierte und überwachte Elterngruppe angelegt werden, dürften höher sein, als für andere Eltern.

Dr. Ursula Pixa-Kettner, Professorin an der Universität Bremen, trägt mit mehreren eigenen Veröffentlichungen (auch in Behinderte 3/1997) und mit ausführlichen Literatursammlungen zum Thema Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung zur Enttabuisierung und zur Planung von Begleitkonzepten bei.

Denn ohne begleitende Hilfen geht es nicht!

Eine neuere Arbeit dazu ist auch: Brenner und Walter (1999) "Zur Lebenssituation von Eltern mit geistiger Behinderung und ihren Kindern" in: Wilken und Vahsen, Sonderpädagogik und Soziale Arbeit. Rehabilitation und soziale Integration als gemeinsame Aufgabe (Luchterhand).

Eine dramatische Unterversorgung und eine Fülle von neuen Problemen gibt es auch für Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen. "Pro Mente" Oberösterreich hat aufgrund von massiver Nachfrage von Krankenhäusern und Betreuungseinrichtungen ein Konzept für bedarfsorientierte Unterstützung von psychisch kranken Müttern mit ihren Kindern von der mobilen Betreuung über das Leben in betreuten Wohngemeinschaften bis zum Krisenhaus erstellt, das leider von der Landesregierung aufgrund eines negativen Gutachtens eines Amtspsychologen nicht genehmigt wurde. Das Kindeswohl sei durch eine Abnahme der Kinder in diesen Fällen besser gewahrt.

Dies obwohl es in Deutschland wenigstens auf der Ebene von Modellprojekten derartige Unterstützungsangebote gibt. (Dazu: Mattejat v. Lisofsky [1998]: ...nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker; Bonn, Psychiatrieverlag)

"Die Vorurteile reichen tief," schrieb mir David Mc Connell von der Universität von Sydney in Australien. Er hat gemeinsam mit Gwynnyth Llewllyn einige alltagsorientierte Unterstützungsangebote für Eltern mit intellektuellen Beeinträchtigungen konzipiert und begleitet. Ihre neue Studie beschäftigt sich mit behinderten Eltern und der Gefahr der Fremdunterbringung ihrer Kinder ("Disabled parents and the thread of child removal") und zeigt Probleme im Verlauf des Kinderschutzverfahrens auf.

Die Autorin

Hermenegilde Ferrareres, DSA, MA (Comparative European Social Studies)

"Bunte Rampe"

Beratung und Hilfsmittel für selbständiges Leben behinderter Menschen

Kalvariengürtel 62, A-8020 Graz

bunte.rampe@behindert.or.at

Quelle:

Herrmenegilde Ferrares: Behinderte Frauen und Mutterschaft. Eine Bestandsaufnahme.

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2001; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2006

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