Empowerment und Selbstvertretung autistischer Menschen

Eine neue Bewegung macht mobil

Autor:in - Georg Theunissen
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 5/2009, Thema: Verhalten an der Grenze, S. 51-61. Behinderte Menschen (5/2009)
Copyright: © Behinderte Menschen 2009

Abbildungsverzeichnis

    Information

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    Empowerment und Selbstvertretung autistischer Menschen

    Wer die Entwicklung auf dem Gebiet der Behindertenpolitik verfolgt, wird unschwer erkennen, dass sich in den letzten Jahren eine Abkehr von einer ausschließlich an den Vorstellungen von mächtigen Verbänden, Wohlfahrtsorganisationen oder Elternvereinigungen orientierten Praxis zu einer Hinwendung zu den Interessen und Stimmen behinderter Menschen abgezeichnet hat. Diese Umorientierung ist weltweit zu beobachten und bildet den fühlbaren Hintergrund von Antidiskriminierungsgesetzen und insbesondere der soeben verabschiedeten UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen. Bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass diese Entwicklung durch zwei international operierende Selbstvertretungsbewegungen maßgeblich befördert wurde: zum einen durch die Independent Living Movement, die überwiegend Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen repräsentiert; zum anderen durch die Self-Advocacy Movement von Menschen mit Lernschwierigkeiten (geistiger und Lernbehinderung), die unter dem Organisationsnamen People First in Erscheinung tritt. Über beide Bewegungen habe ich an anderer Stelle ausführlich berichtet (vgl. Theunissen 2009; auch 2001a;b). Hier genügt nur der Hinweis, dass sich ihre politischen Leitziele weithin ähneln, ihre Entstehungsgeschichte, Organisationsformen, Konzepte und Arbeitsweisen auf handlungspraktischer Ebene sich jedoch in vielerlei Hinsicht unterscheiden.

    Anfänge der Independent Living Movement reichen zurück in die 1960er Jahre, als sich in den USA eine Gruppe an Studenten mit Körperbehinderungen gegen Diskriminierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und ein Wohnen in Institutionen wandte, ein rechtlich kodifiziertes selbstbestimmtes Leben einforderte und eine Kontakt- und Beratungsstelle für ein Peer Counseling aufbaute. Dieses Engagement imponierte und motivierte viele andere Betroffene, sich gleichfalls selbst zu organisieren und politisch aktiv zu werden. Heute gibt es in den USA ein recht dichtes Netz an Independent Living Centers, in denen vorwiegend körper- und sinnesbehinderte Menschen in eigenverantwortlicher Regie ihre Angelegenheiten selbst managen und sich selbst beraten.

    In Westdeutschland hat es eine durchaus parallele Entwicklung gegeben, als sich in den späten 1960er Jahre vorwiegend körperbehinderte Menschen in einem selbstorganisierten Zusammenschluss einer „Krüppelbewegung“ gegen gesellschaftliche Benachteiligung, Bevormundung, Unterbringung und Entmündigung in Pflegeheimen, Behindertenanstalten oder auch Psychiatrien wandten, deren Zustände oftmals menschenverachtend waren. Nachfolgende Initiativen und Zusammenschlüsse wie zum Beispiel die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben" setzten dann Bestrebungen in Gang, auch in Westdeutschland Zentren für Peer Counseling sowie Dienstleistungssysteme für ein ambulantes Wohnen behinderter Menschen aufzubauen. Ferner wurde eine gezielte politisch-emanzipatorische Arbeit betrieben, die sich gegen das traditionelle Bild eines behinderten Menschen als inkompetentes- und versorgungsbedürftiges Mängelwesen wandte. Stattdessen wurde die Stimme als „Experte in eigener Sache“ zur Maxime erklärt und es wurden Kompetenzen (rechtliche Zuständigkeiten) und politische Mitsprachemöglichkeiten (z. B. durch Einflussnahme auf Gesetze, durch Behindertenbeauftragte und -beiräte bei Konzepten auf Länder- oder kommunaler Ebene) eingefordert. Dieses politische Empowerment, das eine fruchtbare Unruhe im Bereich der etablierten Wohlfahrtsverbände, Einrichtungsträger und Selbsthilfeorganisationen von Eltern behinderter Kinder bewirkt hatte, ist heute nicht mehr wegzudenken und unzweifelhaft der zentrale Motor für eine zeitgemäße Behindertenpolitik.

    Im Unterschied zur Independent Living Movement hat sich die Self-Advocacy Movement erst später formiert und sich vor allem zu Beginn ihrer Aktivitäten um eine Korrektur des Behinderungsbildes eingesetzt – wurden doch Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht nur von einem nihilistisch geprägten Nicht-Können her betrachtet und behandelt, sondern mitunter auch jegliche positiven menschlichen Eigenschaften bzw. das Personsein und Potenziale für eine Persönlichkeitsentwicklung abgesprochen. Daher gab sich die Bewegung den Organisationsnamen People First, durch den ein zentrales Anliegen, nämlich als Person respektiert, wertgeschätzt und ernst genommen zu werden, zum Ausdruck gebracht werden soll.

    Ansonsten bewegen sich die Zielsetzungen von People First im Hinblick auf eine rechtliche Kodifizierung einer Antidiskriminierung, Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Partizipation behinderter Menschen in ähnlichen Bahnen wie bei der Independent Living Movement. Unterschiede bestehen im Peer Counseling, das sich zumindest hierzulande erst in den Anfängen befindet. Ferner operieren die unter der Independent Living Movement gefassten Selbstvertretungsgruppen autonom, während die People First Gruppen auch innerhalb einer Institution oder als Anschluss einer Elternvereinigung bzw. eines Verbandes organisiert sein können. Außerdem werden mitunter Koalitionen mit anderen Empowermentgruppen behinderter Menschen aufgesucht. Die Unterschiede erklären sich unter anderem durch einen spezifischen Unterstützungsbedarf von Menschen mit Lernschwierigkeiten, wenn es darum geht, sprachlich, strategisch und auf breiter Front Interessen besser durchsetzen zu können. Nicht wenige People First Gruppen werden durch nichtbehinderte Vertrauenspersonen in der Rolle als Advisor, Counselor oder Facilitator ehrenamtlich unterstützt. Diese Assistenz tangiert auch selbstorganisierte Fortbildungen, Schulungen oder die Aufbreitung und Verbreitung von wichtigen Informationsmaterialien in „leichter Sprache“ (z. B. über gesetzliche Bestimmungen, Wohnmöglichkeiten, Persönliches Budget), um Menschen mit Lernschwierigkeiten ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. In Deutschland besteht seit etwa 20 Jahren eine Dachorganisation unter dem Namen „Netzwerk People First e. V.“ mit Sitz in Kassel, unter der sich ca. 24 Selbstvertretungsgruppen mit ca. 240 Mitgliedern registriert haben.

    Neben diesen beiden Empowerment-Bewegungen macht nunmehr eine dritte unter Bezeichnungen wie „Autism Rights Movement“, „Anti-Cure-Movement“, „Neurodiversity Movement“ oder auch „Autistic Self Advocacy Network“ auf dem US-amerikanischen und internationalen Parkett der Behindertenarbeit, Sozial- und Gesundheitspolitik von sich Reden. Diese Bewegung, die wie die Independent Living Movement autonom, also gänzlich in eigener Regie fungiert, ist in Deutschland allerdings erst ansatzweise zur Kenntnis genommen worden, obwohl die ihr zugehörigen Selbstvertretungsgruppen wie „Aspies“ oder Auties“, die sich vor wenigen Jahren gegründet haben, bereits über 500 Mitglieder haben und mit einem bemerkenswerten selbstorganisierten Bildungsprogramm und Internetauftritt imponieren. Auf diese Bewegung, ihre Interessen, Intentionen und Initiativen möchte ich im Folgenden näher eingehen.

    Zur geschichtlichen Entwicklung

    Ein genauer Zeitpunkt der Entstehung der Empowerment-Bewegung autistischer Menschen ist nicht auszumachen, wohl aber gibt es verschiedene Momente, die sich bei aller Originalität oder Unterschiedlichkeit zu einer Gestalt verdichten lassen, die einen gemeinsamen roten Faden erkennen lässt. Vor diesem Hintergrund dürfen wir von einer Bewegung sprechen, die auf unterschiedlichen Einzelinitiativen beruht, welche seit wenigen Jahren vermehrt beobachtet werden und freilich nicht alle erfasst und aufgeführt werden können. Daher greife ich nur einige der wichtigsten Initiativen exemplarisch auf.

    Jim Sinclair war wohl eine(r) der ersten Autisten aus den USA, die/der sich unmissverständlich gegen die damals recht weit verbreitete therapeutische Vorstellung wandte, einen Autismus heilen zu wollen und eine „anti-cure“ Haltung und Rechte-Initiative autistischer Menschen einforderte (vgl. Solomon 2008). Zusammen mit Donna Williams und Kathy Grant rief sie/ er dann 1992 das Autism Network International ins Leben, um Newsletters von und für Autisten zu verbreiten und Professionelle sowie Eltern autistischer Kinder über Erfahrungen, Sichtweisen und Wünsche von Betroffenen zu informieren und aufzuklären. Die Zahl der Interessenten und Mitglieder dieser Netzwerk- Organisation nahm über die Jahre langsam, aber stetig zu.

    Ein weiterer wichtiger Impuls, sich in Gruppen zusammenzuschließen und auszutauschen, geht von Erfahrungsberichten und Biographien (besser Leidensgeschichten) autistischer Persönlichkeiten aus (z. B. Temple Grandin, Donna Williams; Liane Holliday Willey), die zu einer differenzierten, nicht selten neuen Betrachtung von Verhaltens- und Erlebensweisen von Autisten anstiften und kollektive Interessen vor Augen führen.

    Zudem hat in den letzten Jahren das Internet maßgeblich dazu beigetragen, dass immer mehr Autisten Chaträume oder Internetforen einrichten, die Kommunikationen, einen Informationsaustausch und Konsultationen ermöglichen sowie zu gemeinsamen Treffen einladen. Vor diesem facettenreichen Hintergrund sind mehrere Selbstvertretungszusammenschlüsse und selbstorganisierte Netzwerke entstanden, die mit unterschiedlichen Namen (Naughty Auties; Aspies for Freedom; The Real Voices of Autism) oder Internetadressen operieren (z. B. aspies.com; zomgaspies.com; auties.org; neurodiversity. com). Der Begriff „neurodiversity“, der für eine neurologische Vielfalt mit ihren unterschiedlichsten Erscheinungen steht, ist zum Beispiel von Judy Singer, einer Asperger- Autistin aus Australien, in die Diskussion eingebracht worden (vgl. Solomon 2008); und Ari Ne'eman gilt als wichtiger Promotor des Autism Self Advocacy Network und der „Neurodiversity Movement“, die sich insbesondere gegen die Vorstellung wendet, dass alle menschlichen Gehirne gleich strukturiert sein sollten. Von der australischen Autistin und Künstlerin Donna Williams stammt der Organisationsname „Auties“, der sich auf alle Menschen im Autismus- Spektrum bezieht, während der Begriff „Aspies“, der mit anderen „talentbegründeten Ausdrücken“ wie Solistin, Genie oder Tänzer in Verbindung gebracht wird (Attwood & Gray 1999, 2), von der US-amerikanischen Asperger- Autistin und Erziehungswissenschaftlerin Liane Holliday Willey eingeführt wurde und sich in erster Linie auf Asperger-Autisten bezieht. Die Gründung von „Naughty Auties“ geht dem Anschein nach auf Dave Sparrow zurück, der im März 2008 ein Refugium für Personen mit gleichgelagerten Interessen schuf, um über Autismus zu diskutieren, Erfahrungen auszutauschen, sich gegenseitig zu stützen, Ideen für Veränderungen und Strategien zur Umsetzung durch politische Einflussnahme und Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln. Damit wurden durch regelmäßige Sonntagstreffs Weichen für eine Unterstützungsgruppe (support group) für alle Personen im so genannten autistischen Spektrum (autism spectrum disorders) geschaffen.

    Alles in allem haben wir es mit einer rasanten, bereits kaum mehr überschaubaren Entwicklung auf dem Gebiete der Selbstvertretung autistischer Menschen zu tun, welche auch unsere Breitengrade erfasst hat, was sich unschwer an der hiesigen Selbstdarstellung des Vereins Aspies sowie an entsprechenden Internetauftritten oder -seiten (vgl. auch Autismus & Kultur; Aspergia; Autisten e. V.) erkennen lässt. Die Bevorzugung des Begriffs „Aspies“ als Vereinsbezeichnung gegenüber dem Begriff „Auties“ hatte (auch) hierzulande zunächst zu Irritationen geführt, da sich vor allem Menschen mit der Diagnose „High-Functioning-Autismus“ nicht angesprochen bzw. als zugehörig fühlten. Dieses Problem ist vorläufig dadurch gelöst worden, dass von „Aspies e. V. Menschen im Autismus-Spektrum“ gesprochen wird, um alle autistischen Menschen einbeziehen zu können. Allerdings halten einige Mitglieder des Vereins „Aspies“ diese Namensnennung für unglücklich, weshalb zur Zeit auch über alternative Vereinsnamen diskutiert wird (vgl. Aspies e. V. 2009, 22ff.).

    Gleichfalls ist es ein Zeichen von Empowerment, wenn sich Betroffene bewusst als Autisten bezeichnen und sich im Unterschied zu People First gegen die „Mensch-zuerst-Terminologie“ wenden – dies mit dem Argument, dass „Autismen immer wesentliche, personspezifische Merkmale“ seien (Sapon-Shevin 2007, 176). So schreibt zum Beispiel J. Sinclair (1993): „Autismus ist nicht etwas, was eine Person hat. (…) Autismus ist eine Form des Seins. (…) Es ist nicht möglich, Autismus von der Person zu trennen.“ Demgegenüber würde die Bezeichnung „Mensch mit Autismus“ (v. a. Mensch mit autistischer Störung) allzu leicht negativ konnotiert. Diese Überzeugung sowie die Begriffsdebatte und Initiativen auf dem Gebiete der Selbstorganisation lassen unschwer erkennen, dass wir es hier mit einer selbstbewussten Stimme eines „autistic pride“ zu tun haben, die Autisten als „Experten in eigenen Angelegenheiten“ repräsentiert.

    Wenn ich nunmehr all diese Aktionen als Empowerment- Zeugnis einer Autism Rights Movement ausweise, so möchte ich damit eine soziale Erscheinung kennzeichnen, die sich mit Blick auf die frühen Bürgerrechts- und Behindertenbewegungen in den USA nicht nur gegen Diskriminierung, Menschen- oder Bürgerrechtsverletzungen zur Wehr setzt, für Inklusion und ein Leben in der Gemeinde (community living) eintritt (v. a. das Autistic Self Advocacy Network), sondern sich darüber hinaus für spezifische Erkenntnisse und spezielle Anliegen autistischer Menschen engagiert. Dabei geht es vor allem um die Sensibilisierung und Ermutigung von „neurotypischen“ Bezugspersonen, Unterstützern, Angehörigen, Medizinern, Therapeuten und der nichtbehinderten Bevölkerung, das Phänomen Autismus als „neurodiversity“ in seinem Facettenreichtum zu akzeptieren, sich von Zwangsmaßnahmen und Heilungsabsichten zu distanzieren (v. a. Anti-Cure-Movement), autistische Symptome nicht als Ausdruck von Störungen zu fokussieren, sondern positiv zu konnotieren sowie eine Stärken-Perspektive und Ressourcenaktivierung in den Blick zu nehmen. Des Weiteren setzt sich die Autism Rights Movement dafür ein, dass Autisten zu einem Selbsthilfe- und Bewältigungsverhalten (Coping) befähigt werden, anstatt ihnen durch Korrektionstherapie, Dressur und heilpädagogische Übungsbehandlungen eine Anpassung an Verhaltensweisen und Konventionen „neurotypischer“ Menschen aufzuoktroyieren. Unmissverständlich werden die gleichen Rechte wie für alle „neurotypischen“ Bürgerinnen und Bürger postuliert und selbstbestbewusst wird sich der Empowerment-Philosophie (dazu Theunissen 2009) verschrieben: „Autistic Self Advocacy Network hopes to empower autistic people across the world to take control of their own lives and the future of our common community. Nothing about us, without us!“; und an anderer Stelle heißt es: „our activities include public policy advocacy, community engagement to encourage inclusion and respect for neurodiversity, quality of life oriented research and the development of autistic cultural activities and other opportunities for autistic people to engage with others on the spectrum” (zit. n. www.autisticadvocacy.org).

    Bemerkenswert ist, dass mit der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen diese Leitgedanken und Forderungen der Selbstvertretungsbewegung von Autisten eine prominente Unterstützung erfahren. Das gilt nicht nur für Inklusion, Partizipation oder Schaffung einer Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit im gesellschaftlichen Raum, sondern ebenso für das Selbstbestimmungsrecht und die Rechtsund Handlungsfähigkeit behinderter Personen, die in der Vergangenheit allzu oft Betroffenen abgesprochen und durch Stellvertreter ersetzt wurde (dazu Bach 2007). Die UN-Konvention fordert hingegen ihre Vertragsstaaten dazu auf, sich von diesem „disempowerment“ behinderter Menschen zu verabschieden (Minkowitz 2007, 25) und durch geeignete Bedingungen und Unterstützungsformen allen Betroffenen eine Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit zu ermöglichen; und dort, wo dies aufgrund schwerer kognitiver Beeinträchtigungen kaum möglich erscheint, soll nicht „für“, sondern von den Bedürfnissen und Interessen der betreffenden Person aus und mit ihr gemeinsam ihr potenzieller Wille erschlossen werden. Um Fehlschlüsse oder Missbrauch vorzubeugen, sollen solche Entscheidungen und Unterstützungsleistungen durch unabhängige Instanzen regelmäßig überprüft werden. Für die Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen ist dieser Artikel der UN-Konvention besonders wichtig, verbietet er doch einerseits die bisherige Gepflogenheit, den Willen Betroffener zu ignorieren und legt er ihr andererseits nahe, nicht nur „empowered persons“, die für sich selber sprechen können (z. B. Personen mit Asperger-Syndrom), sondern auch schwer geistig behinderte Autisten (z. B. Personen mit einem „frühkindlichen Autismus“) in ihre Programmatik mit einzubeziehen und nicht generell auszugrenzen.

    Vom medizinischen Modell zur Stärken-Perspektive

    Die vorausgegangenen Ausführungen lassen schon erahnen, dass die kritische Auseinandersetzung mit den therapeutischen Heilungsabsichten mit einer Kritik am medizinischen (Rehabilitations-)Modell und insbesondere mit der Pathologisierung des Autismus eng verbunden ist. Die Gepflogenheit, den Autismus zu pathologisieren, negativ zu konnotieren und zu prognostizieren, ist für klinische Disziplinen (Psychiatrie/ Medizin) und Forschungen (Neurowissenschaften) typisch, spielt aber ebenso in der Praxis der Heilpädagogik und Behindertenhilfe eine Rolle.

    Es sind aber nicht nur die Betroffenen selbst, die sich dagegen unmissverständlich wenden: „Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen, zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung“, und „wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird“ (Aspies e. V. 2008b). Dabei ist ihre Kritik nicht nur an das Lager der helfenden Berufe, Fachwelt und Kostenträger, sondern allgemein an die Gesellschaft, Politik und insbesondere auch Medien adressiert, wo der Begriff mitunter als Schimpfwort instrumentalisiert wird oder gar als „Metapher für das Böse“ (vgl. Aspies e. V. 2007b) herhalten muss.

    Stattdessen verweisen in letzter Zeit immer mehr autistische Persönlichkeiten und Selbstvertretungsgruppen auf die so genannte Stärken- Perspektive, die eine positive Konnotation der klinischen Symptome des Autismus nahe legt und zu einem radikalen fachlichen und wissenschaftlichen Umdenken herausfordert. Tatsächlich findet im Lager der Fachwelt und Autismusforschung die Einsicht wachsendes Gehör, dass heilpädagogische oder therapeutische Konzepte, die das Defizitäre fokussieren und auf symptomzentrierte Interventionen hinauslaufen, letztlich keinen angemessenen Beitrag zur Entfaltung der Persönlichkeit und Unterstützung eines selbstbestimmten Lebens autistischer Menschen leisten. Mit O. Sacks, C. Gray, T. Attwood, M. Dawson, M. Gernsbacher und L. H. Willey haben wir es mit prominenten Fachleuten, Forschern und Wissenschaftlerinnen zu tun, die Autismus im Lichte eines positiven Denkens buchstabieren, autistische Menschen mit ihren Lebenserfahrungen, Sichtweisen und Interessen respektieren und wertschätzen sowie ihre persönlichen Stärken hervorheben, die es im zwischenmenschlichen Umgang, Zusammenleben und Zusammenarbeiten zu fokussieren gilt.

    Was die Orientierung an Stärken oder Ressourcen betrifft, die bekanntlich im Empowerment- Konzept (vgl. Herriger 2006; Theunissen 2009), aber ebenso in der modernen Psychotherapie (Grawe 2004) eine prominente Rolle spielt, so stoßen wir hierzu bei Weick et al. (1989, 352f.) auf eine wegweisende Aussage: „Eine Stärken- Perspektive gründet sich auf Würdigung der positiven Attribute und menschlichen Fähigkeiten und Wege, wie sich individuelle und soziale Ressourcen entwickeln und unterstützen lassen. (…) Alle Menschen haben eine Vielzahl von Talenten, Fähigkeiten, Kapazitäten, Fertigkeiten und auch Sehnsüchte. (…) Die Präsenz dieser Kapazitäten für erhöhtes Wohlbefinden muss respektiert werden. (…) Menschen wachsen nicht durch Konzentration auf ihre Probleme – im Gegenteil, dadurch wird das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich auf selbstreflektierende Weise zu entwickeln, geschwächt.” Genau über diese Erfahrung berichtet unter anderem D. Williams (o. J.): „Jeden Tag hat man etwas gemacht, was nicht gut war, nicht normal, nicht richtig.“ Solche alltäglichen Erfahrungen sind frustrierend und ein fruchtbarer Boden für Verhaltensweisen (Bewältigungsstrategien als Selbstschutzmechanismen), die üblicherweise als psychosozial auffällig, gestört oder gar psychopathologisch wahrgenommen und behandlungsbedürftig eingeschätzt werden.

    Wenngleich die Stärken-Perspektive als Wegbreiter für ein psychologisches Empowerment in den letzten Jahren im Bereich der Behindertenarbeit immer mehr Zuspruch findet, muss kritisch gesehen werden, dass zwischen Theorie und Praxis noch erhebliche Diskrepanzen bestehen. So fällt es vielen (Fach-)Kräften oder Helfern im schulischen und außerschulischen Bereich nach wie vor schwer, positive Signale und Stärken von Menschen mit (kognitiven) Behinderungen zu erkennen und unterstützend aufzugreifen (Theunissen 2003, 17ff., 54ff.; 2009, 269f.). Anscheinend ist es für viele ausgesprochen schwierig, sich von einem defizitorientierten Behinderungs- und statischen Persönlichkeitsbild zu lösen. Ohne tiefgreifende Prüfung, Reflexion und ggf. Änderung der eigenen Einstellung bzw. „Kopfarbeit“, die das Bild eines behinderten Menschen im Sinne der Stärken-Perspektive für sich wertschätzend erschließen muss, kann kaum eine an Stärken orientierte Praxis gedeihen.

    Genau an dieser Stelle lohnt es sich, Geschichten über Menschen mit Behinderungen oder Autobiographien zu studieren, die uns persönliche Stärken plastisch vor Augen führen. Es ist ein Verdienst von Oliver Sacks (1995; 2000), der breiten Öffentlichkeit Stärken-Geschichten über geistig behinderte und autistische Menschen präsentiert zu haben, die wie der autistische Künstler José einst von der Medizin oder Rehabilitation als abnorm, bildungsunfähig und „hoffnungslose Fälle” denunziert und abgeschrieben wurden.

    Ebenso eindrucksvoll wie Sacks' durch Respekt, mitmenschliche Wärme und Genauigkeit in der Beobachtung sich auszeichnenden Lebensgeschichten sind Autobiographien oder Erzählungen, die direkt von Autisten stammen, beispielsweise von Nicole Schuster (1997; auch Quarks & Co 2008), Temple Grandin (1997), Liane Holliday Willey (2003) oder Donna Williams (1992; 1994). Diese Werke öffnen der Bezugs- und Mitwelt die Augen durch eine „Innenansicht“, aus der von Autisten wahrgenommenen, erlebten Perspektive, indem die Problematik der Pathologisierung des Autismus in all ihren Facetten sowie eklatante Missverständnisse und Fehlinterpretationen in Bezug auf Verhaltens- und Erlebensweisen autistischer Menschen aufgezeigt werden. So wird immer wieder berichtet, dass Eigenschaften, die ein Autist an sich selbst gut findet, sich von den Charakterzügen oder Tugenden, die Eltern oder Fachleute typischerweise wertschätzen, unterscheiden. Folglich wird nur sehr selten positiv auf die Verhaltensweisen und Züge reagiert, die die autistische Person als persönlich bedeutsam ansieht. Dabei handelt es sich um Eigenschaften und Stärken wie Zuverlässigkeit, Loyalität, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Durchhaltevermögen, Genauigkeit, logisches Denken, Spezialwissen, Kreativität oder außergewöhnliche Wahrnehmungsleistungen, die sich Autisten im Sinne des „autistic pride“ selbstbewusst zuschreiben.

    Darauf ist O. Sacks (2000) eingegangen, wenn er mit Blick auf Temple Grandin schreibt, dass „man den Autismus nicht nur als pathologischen Zustand sehen und als Syndrom diagnostizieren (darf ), sondern (ihn) darüber hinaus als ein ganz eigenes Sein, als vollkommen andere Lebensart oder Identität betrachten (müsse, G. T.). Temple Grandin scheint ähnlich zu denken: Sie ist sich (wenn auch nur intellektuell, deduktiv) sehr wohl bewusst, was ihr im Leben fehlt, doch sie weiß zugleich (und unmittelbar) um ihre Stärken – ihre Konzentrationsfähigkeit, die Intensität ihres Denkens, ihre Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit, ihre Unfähigkeit zu heucheln, ihre Direktheit und ihre Aufrichtigkeit“ (398f.).

    In ähnlichen Bahnen bewegen sich die Auffassungen von M. Dawson (dazu Dern 2008), die bemängelt, dass sehr wohl intellektuelle Defizite, Wahrnehmungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten bei Autisten registriert, kaum aber „kognitive Stärken“ (z. B. Genauigkeit, hervorragendes Erinnerungsvermögen, visuelles Unterscheidungsvermögen) beachtet und wertgeschätzt würden. Demnach hätten viele Autisten nicht eine niedrigere, sondern eine „andere Intelligenz“, die nach D. Williams auch als eine „Wahrnehmungsstärke“ zu Tage treten kann (ebd., 8). Diese Sicht hat in jüngster Zeit einige Autismusforscher/innen dazu veranlasst, ihre Aussagen über Wahrnehmungsstörungen zu relativieren. Wurde zum Beispiel der viel zitierte Befund einer „schwachen zentralen Kohärenz“ (vgl. Happé & Frith 2006) zunächst ausschließlich defizitär in einem negativen Licht gesehen, so ist heute von einem „veränderten Wahrnehmungsstil“ autistischer Personen (Happé 1999; Müller 2007) die Rede, der auch seine Stärken (strengths, splinter skills) hat. Das betrifft zum Beispiel (herausragende) Fähigkeiten wie Bilder in Einzelelemente aufzugliedern, komplizierte visuelle Muster oder Umrisse zu erkennen, sich auf die Identifizierung von Details zu konzentrieren und nicht vom Umfeld beeinflussen zu lassen oder geometrische Figuren oder Objekte exakt abzuzeichnen (dazu Theunissen 2010).

    Dass solche Stärken eines detailorientierten kognitiven Stils pädagogisch beachtet und gewürdigt werden sollten und ebenso für eine berufliche Karriere förderlich sein können, führt uns wiederum O. Sacks (1995; 2000) vor Augen. Es mehren sich aber auch andere Berichte über das Aufgreifen von Stärken autistischer Menschen für Tätigkeiten auf dem 1. Arbeitsmarkt sowie über positive Erfahrungen am Arbeitsplatz (vgl. Murray 2006; Salter 2006; ZDF 2009 über das dänische IT-Beratungsunternehmen „Specialisterne“).

    Ohne jeden Zweifel erscheint somit die Stärken- Perspektive als eine verheißungsvolle Angelegenheit, die zu einem radikalen Umdenken auf dem Gebiete des Autismus herausfordert. Nichtsdestotrotz bietet sie aber auch Anlass zu heftiger Kritik. So wirft zum Beispiel Lenny Schafer, Adoptivvater eines schwerbehinderten, autistischen Kindes und Herausgeber des international verbreiteten „Schafer Autism Report“ den Selbstvertretungsaktivisten eine „gefährliche Täuschung“ (zit. n. Solomon 2008), Trivialisierung und Ignoranz vor, wenn sie ausgehend von einer atypischen Gehirnfunktion klinische Befunde und autistische Störungen leugnen, stattdessen eine neurologische Vielfalt predigen oder nur Stärken sehen. Wenn wir an dieser Stelle den Vorschlägen T. Attwoods (2005) sowie der Argumentation O. Sacks' (2000, 349) folgen, gilt es beide Seiten des Autismus zu sehen: „Autismus verschwindet nicht. (…) Gleichwohl können autistische Menschen ihr Handicap in bemerkenswertem Maße kompensieren, und viele tun das auch. [Doch] ein Defizit bleibt (…), etwas, das sich weder korrigieren noch ausgleichen lässt.“ Es werden jedoch ebenso im Lager der Selbstvertretung spezifische (Autismus typische) Schwierigkeiten nicht völlig geleugnet: So berichtet beispielsweise D. Williams (o. J.) über das Problem der „Reizüberladung“, indem zu viele Reize oder Dinge auf sie einstürzen. „Unsere Sehprobleme bestehen zum Teil darin, dass die visuellen Eindrücke viel zu schnell und vielfältig sind. Unser Gehirn hat nicht die Zeit, die unwichtigen von den wichtigen Informationen zu trennen und sich auf das Wesentliche zu fokussieren.“ Alle Informationen werden als gleichwertig behandelt. Zugleich führt sie uns aber auch ihre Stärken vor Augen, indem sie für sich erkennt, was für sie gut ist bzw. ihr gut tut, zum Beispiel im Hinblick auf Gestaltung oder Nutzung von Räumen als Refugium, um Überladungs- und Stresssituationen zu vermeiden. Neben diesen Schutzmechanismen hat für sie die Pflege ästhetischer Kulturbetätigung (Musizieren, Malen von Bildern, Texte schreiben) eine psychisch haltgebende, entlastende und identitätsstiftende Funktion.

    Folgerichtig geht es weder um eine Bagatellisierung von Problemen, noch um einem Verzicht auf Hilfe. Bemerkenswert ist, dass in dem Zusammenhang nicht etwa einer Dekategorisierung das Wort geredet wird, indem neurologische Unterschiede eingeebnet werden und der Autismus-Begriff zugunsten der Erfassung eines „Unterstützungsbedarfs“ aufgegeben wird. Vielmehr würde – so die Argumentation aus dem Lager der hiesigen Selbstvertretung – eine korrekte Diagnose zum Beispiel als Asperger- Autist nicht selten als eine Befreiung erlebt. „Es lassen sich dann auch leichter Fachleute finden, mit denen man darüber reden kann, die einem auch Therapiemöglichkeiten aufzeigen können und vor allem findet man ja so auch erst den Zugang zu dem ständig wachsenden Angebot an Selbsthilfe“ (Döhle o. J.).

    Was die therapeutische (oder heilpädagogische) Arbeit betrifft, so sollte diese freilich keine Symptombehandlung fokussieren, sondern um eine funktionale Analyse, positive Konnotation der als problematisch geltenden Verhaltensweisen und positive Verhaltensunterstützung (z. B. bei der Aneignung von Bewältigungsstrategien; Nutzung alternativer Kommunikationshilfen) bemüht sein. Autisten nachgesagte Eigenschaften wie eigensinnig, stur, unflexibel, unkooperativ oder unwillig sind demnach Ausdruck eines Engagements, einer Entschlossenheit, Hartnäckigkeit, Geradlinigkeit oder Zielstrebigkeit (vgl. Murray 2006); und das Vermeiden von Blickkontakt gilt beispielsweise als Strategie, „um kognitive Anforderungen zu bewältigen“ (Dern 2008, 12); zudem kann sie „ein Zeichen für konzentriertes Zuhören sein“ (ebd.). Dadurch, dass das autistische Verhalten funktional betrachtet und positiv gedeutet wird, können sich die professionellen Helfer auf das konzentrieren, was zuvor (üblicherweise) nicht oder kaum wahrgenommen wurde. Ein solcher Ansatz steht ohne Zweifel einer Verhaltensmodifikation nach ABA (applied behavior analysis) kontrapunktisch gegenüber, die von vielen im Lager und im Umfeld der Selbstvertretungsgruppen als eine ethisch umstrittene Zwangsmethode verworfen wird (vgl. Aspies for Freedom; Harmon 2004; Gernsbacher 2004).

    Es bleibt allerdings die Frage zu klären, ob die persönliche Selbstdarstellung und kollektive Selbstvertretung autistischer Menschen zu einer Fehleinschätzung oder falschen Vorstellung ines Unterstützungsbedarfs für diejenigen verleitet, die nicht als „empowered autistic persons“ imponieren können, die im strengen Sinne bzw. als besonders stark autistisch gelten. Werden die Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Selbstständigkeit oder Eigenverantwortung dieser Personen überschätzt, kann dies negative Auswirkungen auf Unterstützungsleistungen haben, die womöglich einer Einsparpolitik zum Opfer fallen. Die Gefahr der Exklusion wird im Lager der Selbstvertretung (Aspies e. V.) sehr wohl gesehen: „Besonders stark beeinträchtigte Autisten haben andere Probleme als Menschen, denen man den Autismus kaum anmerkt. Ihnen können wir im Alltag kaum effektiv helfen; es gibt auch Autisten, für die die Beteiligung im Internet, in Selbsthilfegruppen u. ä. aufgrund ihrer Einschränkungen keine Option ist“ (Aspies e. V. 2008a). An dieser Stelle steht die Selbstvertretungsbewegung auf dem Prüfstand - sollte doch sichergestellt sein, dass diejenigen, die sich selbst vertreten, auch Fürsprecher aller anderen sind, also „advocates not just for themselves but for all individuals with developmental disabilities“ (Miller & Keys 1996, 317). Ansonsten könnte eine Neuauflage der Etikettierung schwerbehinderter, autistischer Menschen als „hoffnungslose Pflegefälle“ ein fatales Ergebnis sein.

    Eine solche Fürsprache ist vor allem dann geboten, wenn Betroffene in Heime abgeschoben werden sollen und wenn ihnen Rechte verwehrt oder abgesprochen werden. Zudem gibt es nicht wenige Stimmen aus der Selbstvertretungsbewegung, die für eine generelle Wachsamkeit in Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen des Autismus plädieren und Empowerment als ein gesellschaftskritisches Korrektiv betrachten, das es schon bei den geringsten Anzeichen einer Bedrohung des „autistischen Seins“ (v. a. bei Zwangstherapien; bei Vorstellungen, an Genen zu manipulieren, um eine Heilung zu erzielen; bei Versuchen, Autismus zu eliminieren) zu mobilisieren gilt (vgl. Solomon 2008; auch Harmon 2004).

    Schlussbemerkung

    Vor diesem Hintergrund spielt die Selbstorganisation in Gruppenzusammenschlüssen eine wichtige Rolle. Sie dient freilich nicht nur dem politischen Empowerment und Engagement, sondern sie hat ebenso in sozialer und identitätsstiftender Hinsicht und in Bezug auf individuelle Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten ihre Bedeutung. „Der Kontakt zu anderen AutistInnen hilft uns, uns besser kennen und schätzen zu lernen und Alltagsprobleme gemeinsam zu reflektieren, ohne in die Rolle des ‚Hilfebedürftigen‘ gedrängt zu werden, dem ein ‚allmächtiger Helfer‘ gegenüber sitzt“ (Aspies e.V. 2008b). Ferner fällt im Zusammensein mit anderen Autisten das schwierige Erklären, was Autismus ist, weg, und es fallen „damit auch viele psychologische Hemmungen (weg) und man erlebt untereinander auch immer wieder den ‚das-kenneich- bei-mir-auch‘-Effekt, der oft große Erleichterung bewirkt“ (Döhle o. J.). Zudem lassen sich unter autistischen Menschen bzw. in Gruppen Betroffener leichter Freunde finden, die den einzelnen zumeist besser als „neurologisch typische Menschen“ verstehen, emotional stützen, stärken und ermutigen können.

    Eine weitere Stärke der Selbstvertretungsgruppen und Betroffenen-Initiativen besteht darin, dass sie sich selbst ganz im Sinne von Empowerment Wissen erarbeiten (Selbstbildung) und Handlungskompetenzen aneignen, um eben als Experten in eigener Sache politisch Einfluss nehmen und mitentscheiden zu können. Dabei spielt der Leitgedanke eine wichtige Rolle, dass die Vertretung von Autisten zur Durchsetzung und Sicherung ihrer sozialen und politischen Rechte in erster Linie Aufgabe der Betroffenen selbst sein sollte: „Die wahren Fachkräfte zum Thema Autismus sind die Autisten selbst. Nur wir verfügen über die Innenperspektive, (neurologisch typische Menschen, G. T.) kennen uns lediglich von außen“ (Autisten.de o. J.).

    Bemerkenswert ist ein eigenes Bildungsprogramm mit einem breiten Spektrum an Angeboten, Informationsbörsen und Aktivitäten:

    Webseiten mit Internetforen oder Chaträumen als Kommunikations- und Begegnungsstellen (Das Forum des Vereins „Aspies“ verzeichnet bereits 400 registrierte Mitglieder und 35000 Beiträge und gehört damit zu den größten Foren für Autisten.)

    Webseiten mit Adressenlisten (z. B. von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Autismus- Zentren, Wohneinrichtungen oder Wohnprojekten)

    Newsletter (mit Informationen über aktuelle Aktivitäten oder speziellen Themen)

    Vereinsbibliothek (mit Zeitschriften oder Büchern über Autismus)

    Sommercamps (als selbstorganisierte Freizeitveranstaltungen) sowie mit nationalen und internationalen Sommercamps und Jahrestreffen; so wird zum Beispiel seit 2005 jährlich am 18. Juni der „Autistic Pride Day“ gefeiert.

    Projektgruppen (zu unterschiedlichsten Themen wie beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit, Fundraising, Sozialberatung, Krisendienst, Barrierefreiheit, Lernen und Erwachsenenbildung).

    Dieses Erscheinungsbild legt nahe, dass sich Autisten zu Recht als kompetente Gesprächspartner betrachten und erwarten, dass nicht wie bisher über ihre Köpfe hinweg oder stellvertretend für sie Entscheidungen getroffen werden (Aspies e.V. 2008b). Vielmehr sollte die Bezugswelt anerkennen, dass es ihnen im Sinne der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen um einen „Ansatz der Gleichberechtigung“ zu tun ist; und das heißt, dass sie bereit sein sollte, auch von Betroffenen zu lernen, ihnen zuzuhören und sie „als Persönlichkeiten mit einzigartigen Stärken zu respektieren und wertzuschätzen“ (Autisten.de o. J.).

    Literatur

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    Aspies e. V. zu Autismus im schulischen Alltag am 07.06.2007 in Berlin. www.forum.landeselternausschuss.de (abgerufen: 27.05.2009)

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    Der Autor

    Abbildung 1. Prof. Dr. Georg Theunissen

    Portrai des Autors Prof. Dr. Georg Theunissen

    Prof. Dr. Georg Theunissen Lehrstuhl Geistigbehindertenpädagogik Institut für Rehabilitationspädagogik FB Erziehungswissenschaften Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, D 06099 Halle theunissen@paedagogik.uni-halle.de

    Quelle

    Georg Thenissen: Empowerment und Selbstvertretung autistischer Menschen.Eine neue Bewegung macht mobil.

    Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 5/2009, Thema: Verhalten an der Grenze, S. 51-61.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 04.02.2015

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