Kooperation ist nicht alles, aber alles ist ohne Kooperation nichts

Themenbereiche: Kultur, Lebensraum
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/2013, Thema: Kooperation S. 49-59. Behinderte Menschen (3/2013)
Copyright: © Eva Prammer-Semmler, Wilfried Prammer 2013

Abbildungsverzeichnis

    Abstract:

    Der Begriff der Kooperation wird in derart vielen Zusammenhängen verwendet, dass es schwer fällt, zu einem gemeinsamen Verständnis als Grundlage pädagogischer, sozialpolitischer, aber auch ethisch­moralischer Diskurse zu kommen. Die Frage der sozialen Angewiesenheit des Menschen auf Kooperation muss unter einem gemeinsamen Verständnis immer wieder diskutiert werden, wobei Kooperation unter den Aspekten gemeinsamer Handlungen in einem sozialen Raum entwickelt werden muss. Die Tendenz, Kategorien zu bilden und Menschen Kategorien wie z.B. Fremdheit und Ähnlichkeit zuzuordnen, verlangt, dass Kooperation einen ethischen Reflexions­ und Bezugsrahmen braucht, um inklusive Prozesse vorantreiben zu können.

    Kooperation ist nicht alles, aber alles ist ohne Kooperation nichts

    Kooperation ist ein in alltäglichen und wissenschaftlichen Kontexten vielfältig gebrauchter und daher in seinem Bedeutungsgehalt verschwommener Begriff. Als Kooperation können sozial-ökonomische Organisationsformen und Vereinigungen zur gemeinsamen Produktion von Gütern oder Dienstleistungen verstanden werden oder eine soziale Norm, als Ausdruck der Verpflichtungen, sich bestehenden Verhältnissen unterzuordnen oder Kooperation als Teamfähigkeit, mit dem Ziel, – wie auch immer definierte – Arbeitsergebnisse zu erhalten. Wir beschäftigen uns mit einem Kooperationsbegriff als eine soziale Einstellung, deren Motivation die Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen darstellt, also durchaus einen normativen Charakter hat. Kooperation entsteht nicht in kontextfreien Räumen, sondern in Räumen, die sich durch bestimmte Interdependenz- und Verteilungsstrukturen ausweisen. Dies erscheint uns vor allem im Hinblick auf benachteiligte Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen in Kooperationsprozessen benachteiligt oder überhaupt ausgeschlossen sind, von Bedeutung. Wir versuchen, die Bereitschaft des Menschen zur Kooperation aus unterschiedlichen Perspektiven (anthropologisch, entwicklungspsychologisch...) zu beleuchten und stellen unseren Weg, einen ethisch-moralischen Rahmen zu begründen, der es allen Menschen gestattet, an Kooperation teilzuhaben und sie mitzugestalten, zur Diskussion.

    Tatsächlich ist der Mensch von Geburt an, schon um zu überleben, auf einen anderen ausgerichtet. Es ist typisch menschlich (Tomasello 2010), zu kooperieren. Als Menschen sind wir sozial situiert und „(...) die Genese der Person und ihrer Identität wird in ihren komplexen sozialen Bezügen, in ihrer Geschichtlichkeit und ihrer Einbettung in eine kulturelle Lebensform gesehen.“ (Fragner, 2001, S. 12) Trotzdem scheinen die modernen Gesellschaften einen Sog entwickelt zu haben, in dem kooperative Fertigkeiten verschwinden, behauptet Sennett (2012). Er analysiert die Gegenwart als eine Zeit, die geprägt ist von Ungleichheit und sozialen, ethnischen oder in der Weltanschauung großen Unterschieden. Er stellt sich die Frage, wie Menschen unter diesen Voraussetzungen zusammenleben und zusammenarbeiten können.

    Kooperation – der Versuch einer Definition

    Im Zusammenhang mit Kooperation finden sich Synonyme wie Gemeinschaft, Team, Kollaboration, Kollektiv, Hand in Hand, Schulter an Schulter... – ausschließlich positive Bedeutungen.

    Tomasello (2010) beschäftigt sich als Verhaltensforscher mit der Evolution der menschlichen Sprache und der Kooperation. Für ihn ist Kooperation dem Menschsein innewohnend und zeichnet sich durch ein gemeinsames Ziel verschiedener Beteiligter in allgemein anerkannten Rollen aus, wobei sich alle Beteiligten bewusst sind, dass ihr Erfolg vom gegenseitigen Einsatz abhängig ist. Mit Sennett (2012, S. 17) lässt sich Kooperation nüchtern als „Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“ definieren. Kooperation ist nach diesen Definitionen eine beliebige Kategorie. Das Ziel, der Einsatz, der Profit, den alle Beteiligten haben, selbst der Schulterschluss werden nicht näher definiert. Kooperation könnte demnach z.B. auch dem Wettbewerb als profitsteigerndes Werkzeug untergeordnet werden.

    Um Kooperation aus der Beliebigkeit herauszulösen, nehmen wir eine Dimension hinzu, die wir als gemeinsam geteilten Raum bezeichnen. Tomasello (2010) sieht das „typisch Menschliche“ im Verständnis der subjektiven Intentionen des Gegenübers, und erst die geteilte Intentionalität führt zu kooperativen Aktivitäten mit geteilten Zielen und gemeinsamen Absichten.

    Schönberger setzt sich im Rahmen der „Kooperativen Pädagogik“ mit dem Begriff der Kooperation auseinander. Für ihn gründet jede Kooperation, also auch die sensomotorische, in der gemeinsamen Lösung eines gleichen Problems und ist „ein solidarisches Handeln gleichberechtigter Partner“. (Schönberger 1987, S. 119) Er sieht in der Kooperation mehr als das bloße „Miteinandertun“, weil sie verlangt, dass „Beteiligte ihre Handlungsziele einbringen, koordinieren und gemeinsam vereinbaren können, dass sie sich – nicht zuletzt als Voraussetzung für eine solche Zielkonstruktion – an gemeinsamen Wertkonzepten orientieren und dass sie ihre Handlungspläne im Hinblick auf die vereinbarten Ziele abstimmen und zur Geltung bringen.“ Dabei geht es nicht nur um das äußere Handeln und die Abstraktion durch die Sprache, sondern um die emotionale Qualität. Sie eröffnet die Qualität des gemeinsam geteilten Lebensraumes, in dem Kooperation „Existenzwahrnehmung, Existenzanerkennung und Existenzbestätigung [...] (er)schafft.“ (Kobi, 2002, S. 20)

    Kooperation in diesem Sinne kann die Lebenswelt nur insofern prägen, als dass gesellschaftliche Machtverhältnisse Gleichberechtigung und Freiheit ermöglichen. Für Jantzen ist Kooperation anthropologisch ein Wesensmerkmal des Menschen und der Vergesellschaftung. Kooperation an sich sagt aber noch nichts über die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, aus. Für Jantzen ist deshalb „Kooperation als ein arbeitsteiliger Prozess, aber auch gemeinsamer Prozess anzusehen, der durch Dialog und Kommunikation vermittelt ist, aber die Möglichkeit der Übernahme der Leitungsfunktion beinhaltet, wobei der Einzelne seine Fähigkeiten einbringt und gleichzeitig neue erwirbt“. (Jantzen 1990, S. 220) Den Austragungsort einer wie oben beschriebenen Kooperation sieht Jantzen im Kollektiv, als eine überindividuelle Einheit subjektiven Handelns, das durch die Sinnbildung und Bedeutungsstiftung der Individuen entsteht und diese organisiert.

    Kooperation ist als ein gemeinsamer Einigungsprozess zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, Sichtweisen und Fähigkeiten zu sehen, wobei es letztendlich zu einer gemeinsamen Zielvereinbarung kommt. Das Ziel wird gemeinsam und/oder arbeitsteilig verfolgt, wobei die Übernahme der Leitungsfunktion allen Beteiligten gleichermaßen möglich sein muss. Kooperation wird durch Kommunikation und Dialog vermittelt. Sie verlässt aber auch die abstrakte Ebene der Analyse und Sprache und bringt bewusst die emotionale Qualität mit ein. Die Qualität von und die Möglichkeit zur Kooperation wird durch die jeweiligen Machtverhältnisse geprägt. Kooperation an sich ist wertfrei und braucht einen ethischen Rahmen, der Prozesse der Annäherung und Abgrenzung auf der Basis der Wertschätzung und Anerkennung der Individualität des anderen zulässt.

    Von Geburt an kooperativ?

    Der Mensch ist zutiefst auf sein soziales Gegenüber angewiesen. Schon der menschliche Körper ist von Anfang an ein Ort der Vermittlung von Sozialem und Individuellem (vgl. Jantzen 2002, S. 102). Säuglinge lernen ihr Verhalten an das der Mutter – etwa beim Stillen – zu antizipieren. Im Alter von zwei Jahren interagieren Kleinkinder mit anderen Kindern, indem sie auf deren Bewegungen reagieren bzw. ihre Bewegungen antizipieren. Antizipation und Reaktion aktivieren neuronal Pfade, sodass Kooperation die mentale Entwicklung des menschlichen Kindes ermöglicht.

    Im zweiten Lebensjahr erfahren die Kleinkinder auch, dass materielle Dinge wie auch Personen ein Eigendasein führen, das sich von ihrem eigenen unterscheidet. Junge Kinder machen also schon sehr früh die Erfahrung von Unterschieden und von Komplexität. Dies lernen Kinder aber nur in der Auseinandersetzung mit der dinglichen und personalen Umwelt, indem sie experimentieren und kommunizieren. Kinder lernen dadurch sehr früh, „Mehrdeutigkeiten“ zu verhandeln. Die Auseinandersetzung mit Dingen und Personen, die anders sind als das eigene Ich, erzeugen Selbstbewusstsein. Eriksons entscheidende These ist, dass die Kooperation der Individuation vorausgeht. Folgt man dieser These, dann – so selbstverständlich das auch klingen mag – kann die Individuation nicht aus der Isolation entstehen (vgl. Erikson 1976, S. 241–245). Kooperation setzt voraus, die Intentionalität der jeweils anderen zu erkennen und in Folge arbeitsteilig gemeinsame Ziele zu verfolgen. Wenn Kooperation nicht wertfrei ist, muss sie bewertet werden. In welcher Weise sie bewertet wird, hängt von der moralisch-ethischen Einstellung der Bewertenden ab. Die Entwicklung der Fähigkeit zur moralischen Beurteilung lässt sich beschreiben. Aber die Maßstäbe für Bewertungen sind immer in einen interpersonalen sozialen Raum eingebettet und können nur durch ihn definiert werden.

    Die Entwicklung des dafür notwendigen prosozialen Verhaltens im Sinne der Entwicklung von Fürsorglichkeit, Altruismus und Empathie werden von Oerter (2002, S. 249ff) so charakterisiert, dass anfänglich prosoziales Verhalten zur der Verminderung des eigenen Unbehagens resultiert, dem folgen eine Kooperation als Austausch von Hilfeleistungen und der Wunsch nach sozialer Akzeptanz. In weiterer Folge kommt eine internalisierte Verantwortung auch gegen äußere normative Vorgaben zum Tragen, die die Maximierung des Nutzens für alle zum Ziel hat, und eine Balance sozialer Beziehungen und die Gewährleistung der Rechte und Pflichten aller anstrebt. Als übergeordneten Bewertungsmaßstab können moralische Normen, wie auch Rechts– und Konventionsnormen genannt werden. Für eine gelingende Kooperation, wie oben beschrieben, ist es entscheidend, wie normative Urteile moralisch begründet werden. Diese sind handlungsleitend und entscheiden letztendlich, ob geteilte Intentionalität in kooperativen Prozessen entstehen kann. Kohlberg sieht in der Suche nach allgemeingültigen ethischen Prinzipien im Sinne eines allgemeingültigen Verfahrens zur Prüfung normativer Entscheidungen die höchste moralische Entwicklung. (vgl. Oerter 2002, S. 635ff) Dies stößt auf Kritik. So fordert Habermas eine Diskursethik als Stufe, in der die autonom entscheidende Person als Endziel der Moralentwicklung als unzureichend abgelehnt wird. Vielmehr sollte das Prinzip der Rechtfertigung von Normen nicht mehr nur der monologisch anwendbare Grundsatz der Verallgemeinerungsfähigkeit, sondern das gemeinschaftlich verfolgte Verfahren der diskursiven Einlösung von normativen Geltungsansprüchen sein. (vgl. Habermas 1983, in Oerter 2002, S. 638)

    Kooperation scheint also „typisch menschlich“ zu sein und ist die Grundlegung für die Individuation. Kooperative Fähigkeiten entwickeln sich aber nicht „per se“, sondern sind in Kontexte eingebettet. Dies setzt ein „Gemeinschaftsmilieu“ voraus. „Denn nur ein soziales Leben [...], ein möglichst umfassendes Selfgovernment vermag Persönlichkeiten heranzubilden, die ebenso zur Selbstbestimmung und zur gegenseitigen Achtung befähigt sind.“ (Piaget 1975g, S. 46ff, zit. nach Bloh 2000, S. 457)

    Anthropologisch sind Menschen auf Kooperation angelegt

    Tomasello setzt sich mit der seit Jahrhunderten gestellten Frage nach der Natur des Menschen auseinander, die von zwei grundsätzlichen Positionen bestimmt ist: Hobbes‘ Meinung, dass die Menschen egoistisch zur Welt kommen und die Gesellschaft sie zur Kooperation erziehen muss, und Rousseaus Darstellung, nach der Menschen von Natur aus kooperativ sind und später von ihrem Umfeld zu Egoisten gemacht werden. Er beschäftigt sich in Studien mit Kindern und Schimpansen und versucht damit, neues Licht auf diese uralte Frage zu werfen und gleichzeitig herauszuarbeiten, was typisch menschlich ist.

    Es gibt zwei deutlich erkennbare Besonderheiten der menschlichen Kultur, die sie qualitativ einmalig machen. Die erste ist die sogenannte kulturelle, in der menschliche Artefakte und Verhaltensweisen im Laufe der Zeit an Komplexität zunehmen, indem sie von anderen übernommen, aber auch verbessert werden. Dies führt zu einer Art „kulturellem Wagenhebereffekt“. (Tomasello 2010, S. 10)

    Die zweite Besonderheit der menschlichen Kultur, die sie als einzigartige kennzeichnet, ist die Schaffung sozialer Institutionen. Soziale Institutionen bestehen aus einer Reihe von Verhaltensweisen, die durch verschiedene, wechselseitig anerkannte Normen und Regeln bestimmt werden, z.B. kulturell abhängige für Partnerwahl und Heirat. Beide genannten Besonderheiten der menschlichen Kultur – kumulative Artefakte und soziale Institutionen – basieren auf einer Reihe von artspezifischen Fähigkeiten und Motivationen zur Kooperation. (vgl. Tomasello 2010, S. 11f)

    Aufgrund seiner Studien kommt Tomasello zu folgenden Schlüssen:

    Kollektive Aktivitäten bei Menschen basieren aus der Sicht beider Partner/innen auf generalisierten Rollen, die potenziell vom jeweils anderen übernommen werden können.

    Im Rahmen kollektiver Aktivitäten richten die Teilnehmer/innen nicht nur ihre Aufmerksamkeit auf Dinge, die für das Erreichen eines gemeinsamen Zieles relevant sind, sondern sie verfügen jeweils auch über eine andere Perspektive. Das Konzept der Perspektive beruht darauf, dass die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Ziel fokussiert wird, das dann unterschiedlich betrachtet werden kann. Die menschliche Kommunikation entwickelte sich zunächst im Rahmen kollektiver Handlungen, welche den entsprechenden Hintergrund für die Entstehung gemeinsamer Themen bildeten und gleichzeitig die kooperativen Motive lieferten. Die einmalige Struktur der kollektiven Handlungen bei Menschen zeichnet sich also dadurch aus, dass es ein gemeinsames Ziel und individuelle Rollen gibt, die durch gemeinsame Aufmerksamkeit und individuelle Perspektiven koordiniert werden. Toleranz und Vertrauen sind dabei von grundlegender Bedeutung und stehen für eine Vielzahl von menschlichen Eigenschaften, die bei Tieren, die ständig miteinander um Nahrung konkurrieren, erst gar nicht entfaltet wurden. An irgendeiner Stelle müssen also zunächst Toleranz und Vertrauen entstanden sein, um das Entstehen komplexer Fähigkeiten zur Kooperation bei unseren Vorfahren zu ermöglichen. In der Kooperation sind sich alle Beteiligten bewusst, dass ihr Erfolg vom gegenseitigen Einsatz abhängig ist. Hierin liegt sowohl der Ansatz für die normative Beurteilung von Rechten und Pflichten als auch die Grundlage für die vielfältigen Formen der Arbeitsteilung und der Statuszuordnung. Tomasellos Forschungen zur Kooperation bei Kindern konzentrieren sich auf zwei grundlegende Phänomene: Altruismus – jemand unterstützt jemanden und hilft jemand anderem uneigennützig – und Kooperation: mehrere Individuen arbeiten zum gegenseitigen Nutzen zusammen.

    Dabei bedienen sich Kinder unterschiedlicher Tätigkeiten – dem Helfen, dem Teilen und dem Informieren und in weiterer Folge dann dem Kommunizieren.

    Kleinkinder im Alter zwischen 14 und 18 Monaten begegnen einem nichtverwandten Erwachsenen, den sie erst kurz kennen. Der Erwachsene steht vor einem kleinen Problem und die Kleinkinder helfen ihm, es zu lösen. Sie unternahmen alles Mögliche, vom Herbeiholen nicht erreichbarer Gegenstände bis zum Öffnen von Schranktüren, wenn der Erwachsene keine Hand frei hatte. Für jede dieser Situationen gab es entsprechende Kontrollbedingungen. Ein Erwachsener warf z.B. eine Heftklammer absichtlich zu Boden, anstatt sie aus Versehen fallen zu lassen. In diesen Fällen reagierten die Kinder nicht, und das zeigt, dass sie nicht einfach nur gerne Klammern aufheben.

    Tomasello schlussfolgert aus diesen Studien (ebd. S. 21ff), dass es in der Natur des Menschen liegt, anderen bei der Lösung einfacher Probleme zu helfen. Das relativ frühe Auftreten dieses Verhaltens spricht dafür, weil in diesem frühen Alter die meisten Eltern noch nicht ernsthaft damit begonnen haben, prosoziales Verhalten von ihren Kindern zu erwarten oder sie dazu zu erziehen. Allerdings sehen Kleinkinder schon sehr früh, wie Erwachsene einander helfen. Interessant ist vielmehr, dass Belohnungen oder Ermutigungen durch die Eltern das hilfsbereite Verhalten nicht zu steigern scheinen. Dieses Verhalten erfolgt altruistisch.

    Mit Kindern wurde eine Studie durchgeführt, in der sie Süßigkeiten aufteilen sollten. Anders als Schimpansen, mit denen dieselbe Versuchsanordnung durchgeführt wurde, spielte für die Kinder die Anordnung der Süßigkeiten keine Rolle. Sie verteilten sie nach Fairnessprinzipien. Manchmal nahm eines mehr, aber wenn es zu einer gerechten Verteilung aufgefordert wurde, gab das erste Kind fast immer nach. Beide Kinder versuchten es wieder miteinander und vertrauten darauf, dass sie eine gemeinsame Lösung finden können.

    Es gibt ein spezielle Form des Helfens, die nur bei Menschen vorkommt: die Weitergabe notwendiger Informationen. Dabei ist das Vorhandensein einer Lautsprache nicht notwendig, Kinder informieren andere schon mit ungefähr zwölf Monaten durch Zeigegesten. (Ebd., S. 26ff)

    In einer Studie wurde eine Situation geschaffen, in der zwölf Monate alte Kinder zusahen, wie eine erwachsene Person einer für sie üblichen Tätigkeit nachgeht, z.B. dem Abheften von Unterlagen. Sie verließ den Raum und eine andere Person kam herein und räumte die Gegenstände in ein Regal. Anschließend kam der erste Erwachsene mit weiteren Unterlagen in der Hand, die abgeheftet werden sollten, zurück ins Zimmer. Er suchte, ohne zu sprechen, mit fragenden Gesten nach dem zuvor weggeräumten Hefter. Die Kinder erfassten das Problem, indem sie dem Erwachsenen dabei halfen und auf das gesuchte Klammergerät zeigten. Wenn sie mit Zeigegesten konfrontiert werden, scheinen sich Kinder zu fragen: „Warum denkt er, dass es für mich relevant ist, meine Aufmerksamkeit auf dies oder das zu lenken?“

    Den wichtigsten Anteil an der Entstehung von Kooperation hatte das gemeinsame Lösen von Problemen, und am Anfang standen Zeigegesten, die bei Aktivitäten im Rahmen gemeinsamer Aufmerksamkeit verwendet wurden. Es wurde jedoch notwendig, über Dinge außerhalb des Hier und Jetzt zu kommunizieren, wodurch noch nicht konventionalisierte Gesten entstanden sind.

    Obwohl der gezeigte Altruismus nicht als Ergebnis von kultureller Prägung oder irgendeine Art von Sozialisierung ist, spielt die Sozialisierung eine kritische Rolle, wenn die Kinder älter werden (vgl. ebd., S. 36ff). Unterschiedliche Individuen haben unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Werte und Normen – und das hat Auswirkungen. Dies führt letztlich dazu, dass Kinder im Anschluss an eine rein altruistische Phase zunehmend unterscheiden, wem sie ihre Hilfe gewähren. Im Alter von rund drei Jahren beginnen sie entsprechende Urteile zu treffen und sind eher bereit zu teilen, wenn die Empfängerin/der Empfänger zuvor nett zu ihnen war oder aus ihrer Gruppe kommt.

    Altruismus findet sich dann eher in Freundschaften oder Partnerschaften und heißt in ihrer Idealform, dass Menschen uneigennützig große Bedeutung füreinander haben. „Amicalität [...] reagiert auf scharfe Asymmetrie durch freundschaftliche Symmetrisierung, die aber nicht einfach Gleichheit herstellt, sondern das ,Gelten-Lassen‘ von Verschiedenheit durch Relevanzmarkierung (Inklusion) und den Ausschluss der Markierung der Nicht-Relevanz (Exklusion).“ (Dederich / Schnell 2011, S. 254ff) Wenn Kinder beginnen, ihre Angebote zum Helfen an bestimmte vertraute Menschen zu richten, dann orientieren sie sich nicht nur an Kooperationsnormen, sondern auch an Konformitätsregeln und an Konventionalität auf Grundlage der Normen und Werte der jeweiligen kulturellen Gruppe.

    In der Entwicklungsgeschichte wurde es für die Mitglieder einer Gruppe wichtig, sich gleich zu verhalten und es entstand Anpassungsdruck. Das Motiv könnte sein, so wie die anderen sein zu wollen, Teil des Wir-Gefühls der Gruppe zu sein. Um als Gruppe zu funktionieren, müssen bestimmte Verhaltensmuster befolgt werden, die sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben. Imitation und Konformitätsbestrebungen können in vielerlei Hinsicht eine zentrale Rolle für den Richtungswechsel in der menschlichen Evolution gespielt haben, die gleichzeitig zu Homogenität innerhalb der Gruppe und zu großen Unterschieden zwischen einzelnen Gruppen hätte führen können. Sowohl Kooperations- als auch Konformitätsnormen werden durch Schuld- und Schamgefühle untermauert, die soziale Normen voraussetzen.

    Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam Ytterhus (2008) durch eine genauere Analyse der sozialen Position und Teilnahme von behinderten Kindern in der Gleichaltrigengruppe im Kindergarten. Als eine wesentliche Kooperationsform in diesem Alter gilt das Spielen. Spielen heißt Teilnahme in dem System geteilter Muster und Bedeutungen, die in dieser Aktivität kreiert werden. Spielen verlangt den Zugang zu einem symbolischen Kontext von Annahmen, verlangt die Fähigkeit zu verstehen und an Transformationsprozessen teilzunehmen und die Fähigkeit, die doppelte Erscheinung von Realität und Fantasiertem zu handhaben. Letztendlich ist Partizipation auf Zugang zu einem sozial-kommunikativen Kontext angewiesen, in dem Transformationen ausgehandelt werden, in dem das Drehbuch erfunden, Regie geführt und gehandelt wird. Das Wichtigste für die Kinder in diesem Alter ist der Wunsch, jemanden zu finden, „der mit mir zusammen sein will“. (Ytterhus 2008, S. 117) Es gibt aber eine große Bereitschaft unter den Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren, einander miteinzubeziehen und „spielbar“ (ebd., S. 124) zu machen. Wenn sich Einzelne als aktuelle Handlungspartner/innen anbieten, können die anderen sehr flexibel in ihrem Rollenrepertoire sein. Die Kinder setzen „Spielbarkeit“ voraus. Die nicht „Spielbaren“ sind diejenigen, die keine verständliche Reaktion zeigen, wenn jemand versucht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Diese Einschätzung wird von Interaktionsregeln beeinflusst. Interaktionsregeln sind Regeln, die in variierendem Grad an die formellen Regeln des Kindergartens und der Gesellschaft geknüpft sind. Die Regeln sind allgemeingültig mit den Kindern ausgehandelt. Die offenkundigsten und vielleicht am wenigsten überraschenden Regeln waren: Du sollst anderen keine physischen Schmerzen zufügen und du sollst kein laufendes Spiel verderben. Das war eine überaus absolute Regel mit sofortigen Sanktionen. Kinder jagten die Regelbrecher/innen buchstäblich weg, und viele kontaktierten auch Erwachsene. Hier waren sowohl nicht beeinträchtigte Kinder als auch Kinder mit Behinderung inbegriffen. Kinder, die es bewusst darauf anlegten, anderen ihr Spiel zu verderben, wurden von ihren Gleichaltrigen mit Vertreibung und demonstrativer Entfernung sanktioniert. Kinder mit geistiger Behinderung konnten Mühe haben einzusehen, dass sie etwas zerstört hatten und sie riskierten, Störungen zu wiederholen. Nicht beeinträchtigte Kinder zeigten sich manchmal verunsichert, ob sie dieses Verhalten sanktionieren oder auf die „Andersartigkeit“ zurückführen sollten.

    Kinder beginnen – geleitet von den Interaktionsregeln – bald, Kategorien zu bilden. (Vgl. Ytterhus 2008, S. 124ff). Die beobachteten Kinder ordneten einander in Kategorien ein. Sie sprachen von Netten und Komischen. Als „nett“ und „komisch“ wurden „spielbare“ Kinder bezeichnet. Die „Komischen“ waren Kinder, die den anderen in der Situation zweideutig oder gänzlich unverständlich vorkamen. Einzelne Kinder mochten in der einen Situation als „nett“ und in einer anderen als „komisch“ dastehen, und so gesehen waren die Kategorien flexibel. „Nur komisch“ wurden Kinder bezeichnet, die ungewöhnlich reagierten, den Spielablauf anderer aber nicht störten. „Komisch und krank“ als Kategorie traf auf Kinder zu, die sichtbar verschieden zur Mehrheit waren. Ihre sichtbare Verschiedenheit von der Mehrheit schien sich mildernd auf die Einschätzung der anderen auszuwirken. Die Kinder mäßigten bei ihnen ihre Ansprüche an Fähigkeiten und sie definierten Rollen, von denen sie meinten, dass sie zum gezeigten Verhalten des Einzelnen passten. Kinder, die als „komisch und langsam“ bezeichnet wurden, waren unterschiedliche Kinder mit oder ohne Beeinträchtigung. Diese Kinder waren eher langsam und unbeholfen und wurden in bestimmten Situationen, in denen sie die Entfaltung der anderen einschränkten, von den Gleichaltrigen abgelehnt. „Komisch und gemein“ wurde auf Kinder angewandt, die anderen psychischen Schaden zufügten, was nichts mit Behinderung oder Nichtbehinderung zu tun hatte. Diesen Kindern fiel es schwer, die Feinfühligkeit im Spiel (nur so zu tun, als würde man jemanden verletzen oder etwas kaputt machen) und im Initiieren von Spielen zu finden. Eine weitere norwegische Studie (Janson in Ytterhus, S. 133ff) beschäftigt sich mit Integration und Teilhabe an der Peer-Kultur von Kindern im Kindergartenalter. Janson stellt fest, dass jüngere Kinder eher darauf reagieren, was andere Kinder tun und nicht so sehr darauf, was sie sind. (Vgl. ebd., S. 134) Beiträge zu Aktivitäten und Übereinstimmung mit in der Gruppe etablierten sozialen Normen sind entscheidend dafür, wie das andere Kind eingeschätzt wird.

    Die auf Gleichaltrige bezogene soziale Kompetenz ist ein signifikanter Faktor in der Entwicklung von Peer-Beziehungen. Kontextueller Zugang und die Beziehungen zwischen Aktivitätsbedürfnissen und individuellen Fähigkeiten sind die primären Voraussetzungen für Partizipation und Kooperation.

    Spezifische Beeinträchtigungen implizieren spezifische Aktivitätsbeschränkungen. Wenn eine Aktivität, die in einer Gruppe von Kindern hoch eingeschätzt wird, das verlangt, was eingeschränkt ist, dann beinhaltet die Ermöglichung der Interaktion und Kooperation von Teilnehmer/innen mit solchen Beschränkungen Herausforderungen für die gesamte Gruppe. Werden diese Aktivitäten von Erwachsenen unterstützt, so Janson, besteht die Aufgabe darin, den sozialen Prozess des stattfindenden Spiels so zu beeinflussen, dass die Zugangsmöglichkeiten vergrößert und/oder der Abstand zwischen Bedürfnis und Fähigkeit verringert wird. Da das Ziel die Teilnahme an einer Aktivität der Bezugsgruppe ist, sollte dieses verfolgt werden, ohne den Anspruch der Kinder auf ihre Aktivität, ihre kulturelle Autonomie als Autor/innen, Regisseur/innen und Akteur/innen des Drehbuches in Frage zu stellen.

    Ergebnis der Studie ist, dass Kinder mit Beeinträchtigungen an demselben Ort physisch präsent wie die anderen Kinder sind, sie nähern sich an und reagieren, sie leisten ihre Beiträge und erhalten Einladungen — aber in unterschiedlicher Weise. Sie nähern sich an und reagieren in geringerem Maße, sie erfahren weniger Ansprache und ihnen wird seltener geantwortet. Zugangsversuche werden in stärkerem Maße ignoriert oder als störend wahrgenommen. In der Kind-Kind-Dimension haben Kinder mit Beeinträchtigung mehr Schwierigkeiten in der Peer-Orientierung, in der Aktivitätsorientierung, in der Annäherung und in der Erfolgsquote bei Aktivitätsvorschlägen. Nur in der Suche nach Aufmerksamkeit zeigen Kinder mit Beeinträchtigung mehr Erfolg. Wenn Kinder mit Beeinträchtigungen sich selbst in abhängige und hilfsorientierte Positionen begeben, sind sie mit positiven Reaktionen konfrontiert. Die Ausrichtung solcher Aktivitäten auf erwachsene Zielpersonen erhöht die Wahrscheinlichkeit noch mehr. Auch diese Kinder zeigen – ähnlich wie die Ergebnisse aus Tomasellos Forschung – die gesamte Bandbreite von Vertrauen, Verzeihen und Kooperation. Sie kategorisieren aber auch über Erwartungen reziprokes Verhalten, die Anerkennung von Interaktionsregeln und sanktionieren unter Umständen bis zum Ausschluss aus einer Spielhandlung. Die Struktur im sozialen Umgang der hier untersuchten Kinder ist instabil. „Dass etwas instabil ist, bedeutet, dass es leicht geändert werden kann, sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren. Die Membran zwischen inkludierendem und exkludierendem Umgang ist dünn.“ (Ebd., S. 127) Es hängt – so schlussfolgert Ytterhus (ebd., S. 130) wie Janson (ebd., S. 150) – von kompetenten Erwachsenen ab. Sie müssen den Kindern Anregungen und Beispiel geben, indem sie Deutungshilfen für den kontextuellen Zugang geben und helfen, die Beziehungen zwischen Aktivitätsbedürfnissen und individuellen Fähigkeiten so weit wie möglich (wieder) herzustellen.

    Ist die Kooperation gefährdet?

    Als Menschen sind wir radikal sozial situiert, aber die Angewiesenheit auf andere ist ständig gefährdet. Bei kooperativen Aktivitäten müssen die Partner/innen zu allererst empfänglich für den intentionalen Zustand der/ des jeweils anderen sein. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Merkmale: Die Partner/innen haben ein gemeinsames Ziel und koordinieren ihre Rollen- und Handlungspläne, einschließlich der Möglichkeit, der/dem anderen – wenn nötig – in der jeweiligen Rolle zu helfen. Aus kulturanthropologischer Sicht ist das Zusammenleben der Menschen im Sinne wechselseitigen Gebens und Nehmens gekennzeichnet. „Getauscht werden kann prinzipiell nur dann, wenn der Tausch über ein gemeinsames Drittes reguliert wird. Irgendetwas muss ein Äquivalent, etwas Gleichwertiges, darstellen, das zwischen den Individuen vermittelt.“ (Jantzen 2002, S. 43)

    Ziemen (Dederich / Jantzen 2009, S. 96ff) beschreibt, dass dieses Geben und Nehmen sozialen Beziehungen Stabilität verleiht, Kooperation immanent ist, jedoch durch Ungleichheit verzerrt sein kann. Kooperationen als Form des sozialen Tausches sind gefährdet, wenn z.B. Möglichkeiten der Kommunikation eingeschränkt sind, wenn Wahrnehmungsverarbeitung durch eine Behinderung erschwert ist, wenn die zeitliche Synchronisation der beteiligten psychischen Systeme nicht hinreichend gelingt, wenn soziale Routinen stark gestört sind. Die Gegengabe kann nicht verstanden werden, die Freiheit der beteiligten Personen wird eingeschränkt. Es scheint keine Handlungsoptionen zu geben, Zeitverluste müssen toleriert und Probleme oder gar die Unmöglichkeit der Ausräumung von Missverständnissen müssen hingenommen, als eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden empfunden werden.

    Ähnlich wie bei den Kindern in den angeführten Studien ist Kooperation dann gefährdet, wenn der „Rhythmus zwischen Geben und Nehmen“ aus dem Takt kommt, weil etwas erwartungswidrig verläuft und nicht geht. (Vgl. Weisser 2005)

    Ungleichheit ist sozial konstruiert. Sie erzeugt „gruppenspezifische und historisch wandelbare Sets von Schlechterstellungen, Nichteinbeziehungen, Behinderungen, Aussonderungen, Ausgrenzungen, Einschließungen, Abwertungen, Rechtfertigungsdiskursen, Gewaltanwendungen, bis hin zu systematischen Vertreibungen und Ermordungen“. (Vgl. Bukasa, Görg 2013, S. 7)

    Auch wenn die betroffenen Gruppen von Menschen nicht konstant bleiben und Vehemenz, Form und Umfang der sozialen Ungleichheit variabel sind, so gibt es doch Gruppen, die davon überdauernd betroffen sind, wie z.B. Menschen mit einer schweren Behinderung.

    Bukasa und Görg sehen gegenwärtig in den allgemeinen Bedingungen einer durchkapitalisierten Gesellschaft mit nichtpluralistischen Bewertungsmaßstäben die Ausschluss- und Diskriminierungstendenzen stark forciert. „Der systemimmanente Drang zum Erzielen von profitablen Resultaten eröffnet bzw. verschließt Kooperationschancen. Tendenziell werden die Kooperationsmöglichkeiten mit den Personen in Positionen mit mehr Zugängen bzw. weniger ‚Handycaps‘ größer. Die Definition von ‚Handycaps‘ ist wiederum eine hegemonial-normalisierte. Durch die selbstverständliche Reproduktion von Bewertungsmaßstäben wird die Tendenz verstärkt, dass die fremden ‚Handycaps‘ nicht zu Vorteilen umgedeutet werden.“ (Ebd. 2012, S. 8)

    Auch Sennett betont die soziale Ausgerichtetheit des Menschen, sieht aber gegenwärtig die Kooperationsbereitschaft bzw. Kooperationsfähigkeit als geschwächt und brüchig und beschreibt Entwicklungen, die er als kooperationsmindernd bezeichnet. (Sennett 2012, S. 241)

    Dazu führt er mehrere Begründungen an, wie die soziale Ungleichheit oder die neue Form des Kapitalismus, bei der kurzfristige Arbeitsverhältnisse und eine institutionelle Fragmentierung betont werden. Das erschwert oder verunmöglicht es, dauerhafte soziale Beziehungen einzugehen.

    Situationen, die instabil und für Einzelne schwer oder gar nicht deutbar sind, veranlassen Menschen, sich aus der Kooperation zurückzuziehen. Unterschiedliche Motive für den Rückzug, wie Angst, Verleugnung, Obsession können bewirken, dass ein Mensch zu einem „unkooperativen Ich“ (Sennett 2012, S. 241) wird. Menschen verinnerlichen in Folge den Rückzug und den Ausschluss und haben dann tatsächlich das Gefühl, sie würden an andere nicht heranreichen.

    Das Scheitern dem Gelingen gegenüber stellen

    Mit zunehmender Individualisierung öffnet sich die Biografie der/des Einzelnen, wird als Aufgabe in die Hand Einzelner gelegt. Das Prekäre der Individualisierung liegt darin, dass Selbstgestaltung und Selbstinszenierung der eigenen Biografie, Einbindung in Netzwerke, Anpassung an die Vorgaben des Bildungssystems, des Arbeitsmarktes, ... als Aufgabe Einzelner gesehen wird bzw. der Misserfolg auch Einzelnen zur Last gelegt wird. Somit steigen nicht nur die individuellen Chancen, sondern gleichzeitig auch biografische Risiken und mit ihnen Exklusionsrisiken (vgl. Beck, 1986). Damit wird das Individuum auf sich selbst gestellt. Den Menschen als ein sich selbst gestaltendendes, ausschließlich autonomes, sich selbst verwirklichendes Subjekt zu konstruieren, scheint zu Desintegration, Exklusion größerer und immer wieder neuer Gruppen zu führen. Gesellschaftliche Entsolidarisierungsprozesse als Folge der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen führen vermehrt zu Erosionen stabiler sozialer Netzwerke und damit zu individuellen und gruppenbezogenen Exklusionsrisiken.

    Das durch mündige Selbstverwirklichung autonome Individuum scheint zusehends mehr zu einer emanzipatorischen Utopie zu werden. Diese Utopie ist zum Scheitern verurteilt, sind doch die Möglichkeiten, Risiken, Problemlagen bewältigen zu können, noch immer ungleich verteilt bzw. bringen neue Ungleichheiten hervor.

    Es ist die Angst vor den Anforderungen, vor Abstieg, Versagen und Ausgesondert-Werden, nicht dazu zu gehören, denen sich Menschen nicht gewachsen fühlen, und die sie zum Rückzug zwingen. (Vgl. Sennett, 2012, S. 181ff)

    Dies zeigt eine Seite gegenwärtiger Entwicklung, die der Individualisierung, die isolierende Effekte aufweist und mit Angst und Rückzug verbunden ist und in einer radikalen Simplifizierung des sozialen Lebens zur Abgrenzung gegen andere Gruppen führen kann.

    Sennett sieht Möglichkeiten der „Reparatur“ und vergleicht die Rückbesinnung der Menschen auf Kooperation mit einem Bild der Werkstatt. Er setzt dabei auf Rhythmen und Rituale, auf informelle Gesten, auf die Sprache und auf den Umgang mit Widerständen, auf Nähe und Dialog und auf Empathie, mit deren Hilfe es gelingt, „auf wechselseitige Unterschiede und Unstimmigkeiten zu achten“. (Sennett, 2012, S. 371)

    Gegenwärtig lassen sich zumindest im deutschsprachigen Raum auch andere Tendenzen feststellen. Man scheint sich darauf zu besinnen, dass die Grundlage menschlichen Daseins wieder in das Bewusstsein der Menschheit gerückt werden muss. Die lokale Gemeinschaft scheint als guter Ort entdeckt zu werden, um einen kooperativen Prozess, in dem Menschen den Wert direkter persönlicher Beziehungen herausarbeiten und die Grenzen solcher Beziehungen bearbeiten, wieder in Gang zu bringen. In der gegenwärtigen Bildungsdebatte ist es die „Inklusive Region“, der dieses Denken zugrunde liegt. In dem Sinn, dass es für die Erziehung und das Aufwachsen von Kindern ein ganzes Dorf braucht, erscheint es plausibel, dass es bei Schüler/innen mit ganz unterschiedlichen Lernausgangslagen erst recht notwendig ist, dass über den „Tellerrand der Schule hinaus kooperiert und gehandelt werden muss“. (Dlugosch 2013, S. 28)

    Kooperation kann die tiefe Sehnsucht des Menschen nach Solidarität und Anerkennung erfüllen. Kooperation impliziert eine positive Zielinterdependenz, Abstimmung in der Aufgabenorientierung und Rollenteilung, wechselnde Leitung und setzt normative Reziprozität voraus: gegenseitigen Respekt, reziproke Verpflichtung zur aktiven Partizipation sowie Kommunikation und Akzeptanz. (Vgl. Bloh 2000, S. 456)

    „Die wahre Zusammenarbeit ist deshalb selten und zerbrechlich in einem sozialen System, das aus Interessen und Unterwerfungen besteht [...]“ (Piaget 1975f, S. 250, zit. n. Bloh 2000, S. 456) Kooperation in der gegenseitigen Anerkennung stabilisiert soziale Beziehungen, kann Entwicklungen unterstützen und kennzeichnet Begegnungen bzw. gemeinschaftliches Miteinander. Jeder Mensch ist auf die Anerkennung durch andere angewiesen, man wird anerkannt, wenn man anerkennt. „Für die Anerkennungsbeziehung kann das nur heißen, dass in sie gewissermaßen ein Zwang zur Reziprozität eingebaut ist. [...] Wenn ich meine Interaktionspartner nicht als eine bestimmte Art von Person anerkenne, dann kann ich mich in seinen Reaktionen auch nicht als dieselbe Art von Person anerkannt fühlen.“ (Honneth, 1994, S. 64f)

    Anerkennung in der Kooperation braucht solidarische Lebenskontexte der Achtung und Wertschätzung individuellen So-Seins und des jeweiligen Beitrags zu einem Gemeinwesen, das Werte teilt, also einen gemeinsamen Wertehorizont hat, ergänzt um den Aspekt wechselseitiger, affektiver Anteilnahme und der Fürsorge.

    Mit Antor schlagen auch Dederich und Jantzen vor, dass es „(...) Gemeinschaften bedarf, in denen die Überzeugung vom Lebenswert eines Lebens mit Behinderung die gemeinsame Wertebasis darstellt [...]. In dem Zusammenhang gehört sicherlich auch die integrative Schule, die sich neuerdings auch als Beitrag zur Stärkung des Gemeinwohls zu präsentieren sucht.“ Er plädiert dabei für Gemeinwesenorientierung und „(...) Selbstverwirklichung in gemeinschaftlicher Lebenspraxis oder Realisierung individueller Freiheitsrechte in mit anderen geteilten Lebensformen.“ (Antor, 1996, S. 380, zit. n. Dederich, 2009, S. 216)

    Literatur

    Arbeitskreis Kooperative Pädagogik (AKoP) E.v. (Hrsg.) 2002: Vom Wert der Kooperation – Gedanken zu Bildung und Erziehung, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien

    Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt

    Bloh, Egon (2000): Entwicklungspädagogik der Kooperation. Münster: Waxmann Verlag

    Bukasa, Di-Tutu / Görg, Andreas (2012): Empowerment. Theoriestudie zu Macht gegen Diskriminierung. http://www.enara.at/wp-content/uploads/2011/03/Empowerment020228.pdf [7.6.2013]

    Dederich, Markus (Hrsg.) (2009): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart: Kohlhammer

    Dederich, Markus (2011): Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik. Bielefeld: transcript Verlag

    Dederich, Markus/Greving, Heinrich/Mürner, Christian/Rödler Peter (Hrsg.) (2006): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen: Psychosozial-Verlag

    Dlugosch, Andrea (2013): Inklusion als Mehrebenenkonstellation. In: Behinderte Menschen. Graz: Verein Initiative für behinderte Kinder und Jugendliche. S. 20–34

    Erikson, Erik (1976): Kindheit und Gesellschaft, Ernst Klett Verlag Stuttgart; Auflage: 6. Auflage

    Fragner, Josef (2001): Von der Anerkennung zur Kooperation am „Gemeinsamen Gegenstand“. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Graz: Verein 1% für behinderte Kinder und Jugendliche. 2/2001 S. 11–18

    Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/Main: Suhrkamp

    Janson, Ulf (2008): Partizipation im Vorschulbereich als sozialer Prozess. In: Kreuzer, Max/Ytterhus, Borgunn (Hrsg.): „Dabeisein ist nicht alles.“ Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München: Ernst Reinhard Verlag, S. 132–153

    Jantzen, Wolfgang (1990): Allgemeine Behindertenpädagogik. Band 2. Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim / Basel: Beltz

    Jantzen, Wolfgang (1992): Allgemeine Behindertenpädagogik. Band 1. Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. 2. überarb. Aufl., Weinheim: Beltz

    Jantzen, Wolfgang (2002): Identitätsentwicklung und pädagogische Situation behinderter Kinder und Jugendlicher. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Band 4: Gesundheit und Behinderung im Leben von Kindern und Jugendlichen. München: Deutsches Jugendinstitut, S. 317–394

    Kobi, Emil E. (2006): Kooperation von vornherein und in Nachhinein zu Integration In: Arbeitskreis Kooperative Pädagogik (AKoP) e.V. (Hrsg.) 2002: Vom Wert der Kooperation – Gedanken zu Bildung und Erziehung

    Oerter, Rolf (2002): Kindheit als Erzeugnis der Kultur und Geschichte. In: Oerter, Rolf/Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 5. vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag, S. 209–258

    Schönberger, Franz/Jetter, Karl Heinz/Praschak, Wolfgang (Hrsg.) (1987): Bausteine der Kooperativen Pädagogik. Teil 1. Stadthagen: Bernhardt-Pätzold

    Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: Carl Hanser Verlag

    Weisser, Jan (2005): Behinderung, Ungleichheit und Bildung. Eine Theorie der Behinderung. Bielefeld: transcript Verlag

    Ytterhus, Borgunn (2008): „Das Kinderkollektiv“ – Eine Analyse der sozialen Position und Teilnahme von behinderten Kindern in der Gleichaltrigengruppe. In: Kreuzer, Max/Ytterhus, Borgunn (Hrsg.): „Dabeisein ist nicht alles.“ Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München: Ernst Reinhardt Verlag, S. 112–131

    Ziemen, Kerstin (2009): Sozialer Tausch. In: Dederich, Markus/ Jantzen, Wolfgang. (Hrsg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, S. 96–105

    Die Autorin, der Autor

    Abbildung 1. Eva Prammer-Semmler, M.A.

    Portraitfoto Eva Prammer-Semmler

    Sonder-, Volks- und Beratungslehrerin, M.A. Inklusive Heilpädagogik/Inclusive Education, Lehrende an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich

    Pädagogische Hochschule Oberösterreich

    Kaplanhofstraße 40,

    4020 Linz

    Eva.Prammer-Semmler@ph-ooe.at

    Privat: Brunnwald 5, 4190 Bad Leonfelden, evpra@aon.at

    Abbildung 2. Wilfried Prammer, M.A.

    Portraitfoto Wilfried Prammer

    Sonder- und Volksschullehrer, M.A. Inklusive Heilpädagogik/ Inclusive Education, Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums Urfahr-Umgebung, Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich

    Pädagogische Hochschule Oberösterreich

    Kaplanhofstraße 40,

    4020 Linz

    Wilfried.Prammer@ph-ooe.at

    Privat: Brunnwald 5, 4190 Bad Leonfelden, wipra@aon.at

    Quelle

    Eva Prammer-Semmler, Wilfried Prammer: Kooperation ist nicht alles, aber alles ist ohne Kooperation nichts; Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/2013, Thema: Kooperation S. 49-59.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 15.05.2019

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