Identität und Hörseh-Behinderung

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/2011, Thema Die Welt der Nähe – Taubblinde Menschen. Behinderte Menschen (3/2011)
Copyright: © Behinderte Menschen 2011

Abbildungsverzeichnis

    Information

    BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

    Identität und Hörseh-Behinderung

    „Wer die Probleme der Taubblindheit löst, löst auch allgemeine menschliche Probleme. Wer dies erfahren hat, weiß, dass Taubblindheit kein spezifisches Problem ist, sondern dass siedie allgemeinen Probleme menschlicher Entwicklung nur verschärft und vergrößert.“ Alvin Aprausev

    „Identität hängt immer mit Beziehungen zusammen. Die eigene Identität wird durch Situationen und Beziehungen zwischen Menschen in diesen Situationen definiert oder determiniert.“ Theresa Smith

    Ausgangspunkt

    In den letzten Jahren wurden auf internationaler Ebene verschiedene Studien zur Lebenssituation von taubblinden und hörsehbehinderten Menschen durchgeführt. Im sogenannten „Nordic Projekt“ wurden die Erfahrungen von 20 erwachsenen Personen mit einer progressiven Hörsehschädigung im Alter zwischen 17 und 63 Jahren in den Ländern Norwegen, Schweden, Island und Dänemark erhoben.

    Abbildung 1. Halil Sahin

    Portraitfoto

    Im Jahr 2007 veröffentlichte Ilene Miner, Direktorin eines Programms zur mentalen Gesundheit gehörloser, taubblinder und schwerhöriger Menschen in New York City eine Studie mit dem Titel „Taubblinde Menschen und Selbstidentität“. Inspiriert zu dem Thema Identität in Kombination mit dem Selbstbild taubblinder Menschen wurde sie durch zwei Artikel, die beide aus Großbritannien kamen:

    Der eine Artikel von Susannah Barnett fragt, ob es eine taubblinde Kultur in Großbritannien gibt. Kultur wird von der UNESCO[1] folgendermaßen definiert:

    „(…) Kultur sollte als das Zusammenspiel bestimmter spiritueller, materieller, intellektueller und emotionaler Faktoren der Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe verstanden werden, und (…) umfasst, zusätzlich zu Kunst und Literatur, auch den Lebensstil, die Art des Zusammenlebens, die Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen.“

    Um über den Lebensstil, die Art des Zusammenlebens, die Wertsysteme usw. von taubblinden Menschen etwas zu erfahren, wurden sie per Mail interviewt und hatten mehrere Antwortmöglichkeiten. Das Ergebnis war, dass es keine taubblinde Kultur gibt, da auch keine taubblinde Gemeinschaft existiert. Die zehn interviewten Personen hatten keinen Kontakt mit anderen taubblinden Menschen. Nur eine pflegte regelmäßigen Kontakt mit anderen taubblinden Personen und nur drei trafen bisher überhaupt andere taubblinde Menschen. Der andere Artikel war ein internationales Interview zum Lebensstil von 67 Personen mit dem Usher-Syndrom.

    Diese Umfrage beschäftigte sich mit dem Thema Identität, indem sie nach der Selbstidentifizierung fragte. Dafür wurde eine Liste erstellt, welche allerdings nicht das Wort „taubblind“ beinhaltete, da dieser Begriff als zu negativ behaftet angesehen wurde. Somit war es den Befragten nicht möglich diese Option zu wählen.

    Beim letzten DBI[2]-Kongress im September 2009 wurde in einem Workshop mit dem Titel „Finding your identity by taking part in a network group“ über die Identitätssuche von taubblinden Frauen berichten. Zwei Sozialarbeiterinnen organisierten für hörsehbehinderte Frauen in Dänemark ein gemeinsames Treffen. Anfänglich trafen sich die Frauen alle sechs Wochen, später fanden die Gruppentreffen in regelmäßigen Abständen ungefähr alle zwei Wochen statt. Die Frauen beschreiben ihre Beziehung zueinander als starkes Band. Die Gruppe ist für die Frauen ein Baustein in ihrer Identitätssuche.

    Bei der genannten nordischen Studie wurden die 20 Betroffenen über eine Zeitspanne von fünf Jahren von Fachpersonen mehrere Male zu ihren Erfahrungen und den Konsequenzen der progressiven Erkrankung befragt. Thematisiert wurden die Diagnose, der Bedarf und die Erfahrungen bezüglich Unterstützung und Beratung sowie Partizipation und Kommunikation, Bildung und Arbeit.

    Ilene Miner wiederum beschäftigt sich in ihrer Befragung speziell mit der Frage: Wie denken taubblinde Menschen oder Menschen, die sowohl das Hör- als auch das Sehvermögen verloren haben, über sich selbst und wie beschreiben sie sich selbst? Was bedeutet es, sich selbst als taubblind zu bezeichnen?

    Taubblinde Menschen beschreiben sich auf verschiedenste Arten. Sie bezeichnen sich als hör- und sehbeeinträchtigt, als schwerhörig und sehbehindert, gehörlos mit Usher, schwerhörig mit Retinitis pigmentosa, Taubheitsglaukom, Schwerhörigkeitsglaukom, blindschwerhörig, sehbehindert-hörbeeinträchtigt, taubblind, blind-taub, etc. Die Liste ist so lang, wie die der Diagnosen selbst.

    Analog zu einer Studie in der Schweiz, die das Verständnis von Taubblindheit auf der Grundlage der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO formuliert, können vier Kombinationen von Hör- und Sehbehinderungen, die zu einer funktionellen Taubblindheit führen, unterschieden werden.

    1. Vollständige Blindheit und vollständige Gehörlosigkeit

    2. Vollständige Blindheit und hochgradige Schwerhörigkeit

    3. Hochgradige Sehbehinderung und vollständige Gehörlosigkeit

    4. Hochgradige Sehbehinderung und hochgradige Schwerhörigkeit

    Hängt es von der Schwere der Hör- und Sehbeeinträchtigung ab oder vom Sprachgebrauch, ob Menschen sich selbst als „taubblind“ bezeichnen, wenn sie danach gefragt werden? Wer beschreibt seine eigene Identität als taubblind? Wer benutzt diesen Begriff zur Selbstidentifizierung und beschreibt sich selbst damit – und verwendet ihn nicht nur zur Beschreibung der Diagnose oder als von der Gesellschaft aufgedrücktes Markenzeichen?

    Ist Taubblindheit Teil von Identität, eine beständige Wahrnehmung des eigenen Selbst? Und welche möglichen Faktoren beeinflussen die Wahl von Selbstidentität? Ist ein Faktor das Zugehörigkeitsgefühl zu einer größeren Gruppe, die vielleicht sogar ihre eigene Kultur und Werte hat? Kann jemand eine Identität als taubblinde Person haben, wenn keine Zugehörigkeit zu einer taubblinden Gemeinschaft vorliegt?

    Viele dieser Fragen werden in diesem Artikel aufgegriffen und bearbeitet. Eine einfache oder gar vollständige Beantwortung darf jedoch nicht erwartet werden, vielmehr kann mit neu aufgeworfenen Fragen zum Themenkreis Identität, Taubblindheit und Mensch-Sein gerechnet werden.

    Es mag manche verwundern, dass taubblinde Menschen, welche einer taubblinden Gemeinschaft zugehörig sind, sich selbst eher als taubblind im Sinne einer Identität bezeichnen als solche, welche nicht in eine taubblinde Gemeinschaft integriert sind. Doch gerade in unserer Zeit, im Zeitalter von Globalisierung, Migration und Wirtschaftkrisen ist das Thema auch fernab der Taubblindenbewegung aktuell.

    Die Frage, wer bin ich im Verhältnis zum Anderen (zum Fremden) wird in vielen unterschiedlichen Kontexten berührt. Bei einer kürzlich stattgefundenen philosophischen Tagung ging es zum Beispiel um das Thema „Wer bin ich wo? – Identitäten, Orientierung, Zukunftsangst.“ Zahlreiche Forschungsprojekte befassen sich auch mit der ethnischen Identität. Wann und unter welchen Bedingungen fühlt sich ein Mensch als Österreicher, als Italiener, als Deutscher? Ist es die Sprache, ist es die Kultur, ist es die Geschichte oder ist es schlicht die Staatszugehörigkeit?

    Abbildung 2. Andreas Heissig

    Portraitfoto

    Umgelegt auf taubblinde oder hörsehbehinderte Menschen könnten wir fragen, wann fühlen sie sich als taubblind, wann fühlen sie sich der Gruppe der hörsehbehinderten Menschen zugehörig und wovon hängt das ab?

    Die innere Identitätsentwicklung bei taubblinden Menschen verläuft nach den gleichen Prinzipien wie bei hörenden und sehenden Menschen. Ganz im Sinne von Aprausev, der schreibt, „dass Taubblindheit kein spezifisches Problem ist, sondern dass sie die allgemeinen Probleme menschlicher Entwicklung nur verschärft und vergrößert“ soll in diesem Artikel Identität und ihre Entwicklung als ganz „normales“ menschliches Phänomen betrachtet werden.

    Was ist nun Identität eigentlich? Es folgt der Versuch einer Annäherung an einen schwer zu fassenden Begriff. Glaubt man Wikipedia, so versteht man unter Identität beim Menschen (Identität: lat. idem, derselbe, der gleiche) die ihn kennzeichnenden und als Individuum von anderen Menschen unterscheidenden Eigentümlichkeit seines Wesens. In einem weiteren (sozial)psychologischen Sinne versteht man unter Identität häufig die Summe der Merkmale, anhand deren sich ein Individuum von anderen unterscheiden lässt. Das erlaubt eine eindeutige Identifizierung. Also der Name, das Geburtsdatum, der Geburtsort, der individuelle Fingerabdruck usw.

    Ein anderes Begriffsverständnis fasst unter dem Begriff „Identität“ alle Merkmale, die ein Individuum ausmachen, und unterscheidet zwischen Ich-Identität (einzigartige Merkmale) und Wir-Identität (mit einer Gruppe, der Wir-Gruppe, geteilte Merkmale).

    Abbildung 3. Monika Schlägl

    Portraitfoto

    „Aus anthropologischer Sicht ist die Identität eine Beziehung und nicht, wie die Umgangssprache meint, eine individuelle Eigenschaft. Deshalb ist die Identitätsfrage nicht wer bin ich? , sondern wer sind die Anderen im Verhältnis zu mir? Das Konzept der Identität ist untrennbar vom Konzept der Alterität?“ (Keupp 2008)

    In der taubblinden Population hängt die Frage nach der eignen Identität, sowohl mit der Ich-Identität als auch mit der Wir-Identität, die stark mit dem vorhandenen Unterstützungssystem verbunden ist, zusammen. Am Unterstützungssystem lässt sich erkennen, wie eine Gesellschaft die Population der taubblinden Menschen wahrnimmt und wie sehr sie auch das Fremde, das Andere respektiert. Wie Miner zeigen konnte, lösten die befragten Betroffenen in Dänemark die Identitätsfrage dank des ausgebauten Systems von persönlicher Assistenz erfolgreicher, als die Betroffenen in den USA, wo persönliche Assistenz nur in Form eines zufällig vorhandenen Flickteppichs vorhanden ist (vgl. SZB-Bulletin 2009).

    Abbildung 4. Tobias Slama

    Portraitfoto

    Jeder Mensch stellt sich in seiner Einheit der Person dar, aber auch in einer Vielfalt der Rollen, die er im Laufe seines Lebens und in verschiedenen Lebenssituationen einnimmt. Eine Person hat einen individuellen Namen, mit einem speziellen Geburtsdatum, ist an einem ganz bestimmten Ort geboren und besitzt einen einzigartigen Fingerabdruck. Genau diese Person nimmt aber auch eine Vielzahl an Rollen ein. Sie ist Frau oder Mann, Mutter oder Vater, Tochter, Sohn, Schwester, Bruder, Ehemann, Ehefrau, Student, Chef, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, arbeitsuchend, taubblind.

    Der Begriff der Identität bzw. der Ich-Identität ist untrennbar mit Erik Erikson verbunden, der ein umfassendes psychoanalytisches Modell der Ich-Entwicklung zur Verfügung stellt.

    Der Identitätsprozess ist aber nicht nur ein Mittel, um am Ende der Adoleszenz ein bestimmtes Plateau einer gesicherten Identität zu erreichen, sondern er ist vielmehr ein Motor lebenslanger Entwicklung (Keupp) und diese Entwicklung verläuft für das Individuum und seine Gesellschaft weitgehend unbewusst (Eriksen).

    Identität ist also eine soziale Realität, die „kontinuierlich produziert wird durch die Erfahrung und Interaktion der Individuen“ (Keupp 2008).

    Dieser Prozess passiert von Außen unbemerkt täglich, ob der Mensch taubblind oder hörend und sehend ist, ist dabei nicht von Bedeutung. Martin Buber lehrt uns, dass wir nur über das Du zum Ich kommen können und das Eigene ohne das Fremde nicht existiert. Das Eigene ist ohne das Fremde, das Andere weder denk noch lebbar. Ich und die Anderen, die Anderen und ich sind der Mittelpunkt im Karussell der Identitätsentwicklung.

    An dieser Stelle interessiert die besondere Entstehung von Identität. Wie also bildet sich Identität aus? Nach welcher Art und Weise? Der Herstellungsmodus von Identität kann als offener Prozess, der alltäglicher und lebenslanger Bearbeitung zugänglich ist, betrachtet werden. Die Rollen, die Menschen in ihrem Leben einnehmen, ändern sich. Eine Person bleibt immer Tochter, es kommt aber vielleicht im Lauf des Lebens die Mutterrolle dazu, die wiederum die Rolle als Tochter verändern wird. Die Rolle als Tochter wird sich verändern, wenn die eigenen Eltern nicht mehr leben, trotzdem ist die Person nach wie vor Tochter.

    Taubblindgeborene Menschen erleben ihre Identitätssuche und -entwicklung sicher anders als Menschen, die im Laufe ihres Erwachsenenlebens ertaubten oder erblinden.

    Wie ändert sich die Selbstwahrnehmung mit der Diagnose „taubblind“?

    Abbildung 5. Peter Köcher

    Portraitfoto

    Hier hat sich in den genannten Studien gezeigt, dass der Moment und die Umstände der Bekanntmachung der Diagnose eine einschneidende Lebenserfahrung ist. In welchem Lebensabschnitt die Diagnose kommt, wie sie vermittelt wird und welche Unterstützung, familiär wie professionell, vorhanden ist, spielt dabei eine wichtige Rolle. Im heiklen Moment der Entgegennahme der Diagnose reagieren betroffene Menschen sehr unterschiedlich. Dass Menschen unterschiedlich reagieren, hängt nicht zuletzt von ihrer Persönlichkeit, ihrem Umfeld und den bis dato gemachten Erfahrungen ab.

    Dabei interessiert in diesem Zusammenhang besonders die Frage, welche Spuren und Strukturen die Interaktionsprozesse, die betroffene Personen mit ihrer Umwelt eingehen, identitätsbezogen hinterlassen? Wie verläuft nun diese Entwicklung und was wissen wir darüber?

    Nach heutigem Stand der Forschung kann mit Keupp angenommen werden, dass Identität durch Verknüpfungsarbeit, durch Konfliktaushandlungen und Ressourcen- und Narrationsarbeit entsteht. Was darunter alles verstanden werden kann, wird in der Folge, beginnend mit dem Begriff der Verknüpfungsarbeit ausgeführt.

    Was passiert bei der Verknüpfungsarbeit? Der Mensch ordnet seine gemachten Selbsterfahrungen einer zeitlichen Perspektive unter, das heißt er verknüpft Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigen. Die Erfahrung als Tochter kann die junge Frau in ihrer neuen Rolle als Mutter nützen. Sie verknüpft die vergangenen Erfahrungen mit dem gegenwärtigen Erleben und auch mit dem Zukünftigen.

    Weiters verknüpft der Mensch Selbsterfahrungen unter bestimmten lebensweltlichen Gesichtspunkten, das heißt, er verknüpft Erfahrungen von sich selbst, als Partner, als Berufstätiger, als Sportler usw. Und drittens verknüpft er noch auf der Ebene von Ähnlichkeiten und Unterschieden, das heißt er unterscheidet zwischen Erfahrungen, die vorhandene Erfahrungen bestätigen und zwischen solchen, die vorhandenen Erfahrungen widersprechen oder einfach neu sind.

    Identität entsteht als Passungsprozess an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen. Der Mensch nimmt sich also im Übergang von innerlich erlebten Vorgängen und äußerlich sichtbaren Handlungen im Besonderen wahr. Auch wenn die Identitätsentwicklung ein im Subjekt stattfindender Prozess ist, so basiert dieser stets als Aushandlungsprozess des Subjekts mit seiner Umwelt.

    Die Auseinandersetzung mit einer fortschreitenden doppelten Sinnesbehinderung wird durch den Kontakt mit anderen betroffenen Personen maßgebend erleichtert, sei dies im Rahmen von Aktivitäten einer Fachorganisation oder durch Kontakte mit einer Selbsthilfegruppe und einem leicht zugänglichen Unterstützungssystem, das die Kommunikationsbarrieren und Mobilitätseinschränkungen von taubblinden Menschen berücksichtigt.

    Abbildung 6. Daniel Ranitsch

    Portraitfoto

    Neben der Diagnose ist für die betroffenen Menschen meist die Marginalisierung in immer mehr sozialen Lebensbereichen bei gleichzeitigem Verlust von vertrauten und sinnstiftenden Lebensbereichen wie Arbeit, Freundschaften, Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten, familiäre Bindung, soziale Rollen, Sicherheiten und Aktivitäten eine prägende Erfahrung. Dies führt häufig zur Verunsicherung über den eigenen Platz in der Gesellschaft und damit verbunden auch zu Verunsicherung der Identität.

    „Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“ (Mead 1998).

    Im Mittelpunkt stehen hier die Fragen: Wer bin ich aktuell? Woher komme ich? Diese situationsabhängige Selbstthematisierung besteht aus einer komplexen Wahrnehmung und Erinnerungen unterschiedlicher Erfahrungsmodalitäten, die sich aus fünf zentralen Selbstwahrnehmungen, dem emotionalen, dem körperlichen, dem sozialen, dem kognitiven Eindruck und dem produktorientierten Bild zusammensetzen.

    Durch die Einbeziehung der Zukunft mit den Fragen, wer ich sein will und wohin ich mich entwickeln möchte, kommt es in der alltäglichen Identitätsarbeit zu Identitätsentwürfen, diese werden zu Identitätsprojekten konkretisiert und dann in aktuelle Lebensführung umgesetzt. Es gibt keine Erinnerung, die nicht auch in die Zukunft gerichtet wäre und keinen Entwurf, der nicht vergangene Erfahrung beinhaltet.

    Bei taubblindgeborenen Menschen kann es zu einem Mangel an Identitätsentwürfen kommen oder ihre Entwürfe werden auf Grund von Kommunikationsschwierigkeiten von ihrer Umwelt nicht verstanden und können so zu gar keinen Projekten werden. Bei Menschen mit einer erworbenen Taubblindheit besteht die Gefahr, dass sie ihre Entwürfe zwar in Projekten konkretisieren können, sie jedoch die Chance zur Umsetzung in die Realität nicht erhalten. Es fehlt in diesem Fall oft an kompetenter Begleitung oder auch an der Möglichkeit, weiterhin trotz der fortschreitenden Sinnesbehinderung berufstätig zu bleiben.



    [1] UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization)

    [2] DBI Deafblind International

    Konfliktaushandlung

    Als zweite Säule der Identitätsentwicklung kann die Konfliktaushandlung betrachtet werden.

    1971 meint Erikson noch, „das Kernproblem der Identität besteht in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrecht zuhalten.“

    Heute sagen wir eher, dass die Konstante des Selbst nicht in der Auflösung jeglicher Differenzen besteht, sondern darin, die daraus resultierenden Spannungen zu ertragen und immer wiederkehrende Krisen zu meistern.

    Wie die betroffenen taubblinden Menschen ihre Handlungskompetenz trotz der mit der Diagnose einhergehenden Spannung erhalten können, hängt von vielen Faktoren ab und ist so unterschiedlich wie die Gruppe der taubblinden Population selbst.

    Die Anpassungsleistungen des Individuums sind meist größer, wenn die Diagnose bereits im Kinderalter gestellt wird (zit. nach SZB Vorstudie: Ran Olesen und Jansbol 2005b, 35ff).

    Anpassungsleistungen können als Teil der Identitätsarbeit verstanden werden, die stets die Dynamik der permanenten Aushandlung der Differenzen und nicht einen spannungsfreien Balancezustand meint. Die Passung hat das Ziel, eine Form zu finden, die das Gefühl gibt nicht widersprüchlich zu sein, eine Struktur zu schaffen, die die Verschiedenheit integriert.

    Der Umgang mit der eigenen Behinderung hängt ab vom Selbstbewusstsein, den gemachten Lebenserfahrungen, dem Leistungsvermögen, dem Eingebundensein und der Annahme durch die nähere Umgebung und einer Umwelt, die den Betroffenen gerecht wird. Die Konflikte, die eine taubblinde Person mit sich selbst und seiner Umwelt aushandeln muss, sind schwer nachvollziehbar. Aus persönlichen Interviews und durch die Begleitung von taubblinden Menschen erfahren wir, dass es in manchen Fällen ganz beeindruckend zu gelingen scheint. Wir erleben großartige und beeindruckende Persönlichkeiten – vom kleinen Kind bis zum alten Menschen.

    Ressourcenarbeit

    Als dritter wichtiger Pfeiler im Rahmen der Identitätsentwicklung kann die Ressourcenarbeit, also der Zugang zu und die Nutzung von verschiedenen Ressourcen, genannt werden.

    Wie bereits deutlich gemacht wurde, steht Identität stets in einem Aushandlungsprozess des Subjekts mit seiner gesellschaftlichen Umwelt. Dieser Prozess wird dabei entscheidend von den Ressourcen geprägt, die ein Subjekt bei seiner Identitätsarbeit zu mobilisieren und zu nützen vermag. Trivial könnte man meinen, dass ein üppiges Reservoir an Ressourcen die Identitätsentwicklung vereinfacht, beschleunigt und ein Mangel an Ressourcen dieselbe erschwert und limitiert. Es ist jedoch komplexer.

    Für die alltägliche Identitätsarbeit sind zu einem nicht einfach „objektiv vorhandene Ressourcen“ relevant, sondern jene, die ein Subjekt als Ressourcen wahrnimmt oder eben nicht wahrnimmt, jene Ressourcen, die es sich erschließen und die es damit nutzen kann – oder eben nicht erschließen und nutzen kann.

    Taubblinde Menschen verfügen auf Grund ihrer Sinnesbehinderung schon über eingeschränkte körperliche Ressourcen bzw. erschwert die Behinderung den Zugang zu vorhandenen Mitteln.

    Nur die betroffene Person kann für sich als Experte/Expertin fungieren. Dabei beeinflussen aber natürlich auch ökonomische Ressourcen die Identitätsentwicklung. Die Studien zeigen, dass taubblinde Menschen sich eher als taubblind bezeichnen, wenn damit auch finanzielle Unterstützungen verbunden sind.

    Weiters spielen die kulturellen und sozialen Ressourcen eine bedeutsame Rolle in der Identitätsfindung. Soziale Ressourcen umschreiben all jene Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu anderen Personen beruhen. Die kulturellen Ressourcen sind einerseits die Übertragung des Kulturkapitals innerhalb einer Familie und andererseits die Nutzung von Errungenschaften einer Gemeinschaft, wie dies für blinde und sehbehinderte Menschen in der Blindenhilfe und in Gehörlosen- und Schwerhörigenbereichen in deren Selbstvertretungen der Fall ist. Bei einer progressiven Hörsehbehinderung fallen die Menschen, wenn nicht aus ihren familiären Bezügen, so doch häufig aus den Unterstützungsprogrammen der genannten Anbieter heraus. Und verlieren neben der Funktionstüchtigkeit ihrer Sinnesorgane auch noch bekannte und vertraute Systeme und Anknüpfungspunkte, die auch eine wichtige kulturelle Ressource im Rahmen der Identitätsentwicklung wären.

    Abbildung 7. Astrid Sapik

    Portraitfoto

    Wir haben nun Identitätsarbeit als einen Passungsprozess kennen gelernt, bei dem vergangene, gegenwärtige und zukunftsbezogene Selbsterfahrung unter verschiedenen Identitätsperspektiven reflektiert wird. Dabei werden unterschiedliche Sorten von Ressourcen identitätsbezogen verarbeitet. Der gesamte Identitätsprozess verläuft voller Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche.

    Identität als Passungsarbeit meint nicht, diese Differenzen zu harmonisieren, sondern sie in ein für das Subjekt lebbares Beziehungsverhältnis zu bringen. Womit wird nun dieser Prozess in seinen verschiedenen Schritten vom Subjekt konstruiert?

    Abbildung 8. Bernhard Köfler

    Portraitfoto

    Was ist das Mittel der Verknüpfungsarbeit? Die Ausbildung einer individuellen Identität ist maßgeblich abhängig von sozialen Interaktionen der einzelnen Individuen mit anderen Menschen. Das geschieht über Sprache und andere Mittel der Kommunikation.

    Köhler beschreibt die Fähigkeit zur Kommunikation als eine gezielte Beziehung zwischen Menschen, welche bestimmte Zwecke anstrebt und Verständigung anzielt. Fehlt dem Menschen die Möglichkeit, durch ein verbales oder nonverbales Kommunikationssystem seine Empfindungen auszudrücken, Bedürfnisse zu äußern und Sachverhalte darzustellen bzw. ist er nicht in der Lage, solches von seiner Umwelt aufzunehmen, verarmt er in psychischer, emotionaler, sozialer und intellektueller Hinsicht. Diese Person bleibt letztlich von menschlichen Bezügen ausgeschlossen.

    Ilene Miner fand in ihrer Studie heraus, dass die Identifikation mit taubblind nicht, wie vielleicht vermutet werden könnte, mit dem Grad des Hör- oder Sehvermögens abhängt, sondern vielmehr von der Gemeinsamkeit mit anderen Betroffenen und der Anzahl der Kontaktpersonen, die taubblindenspezifisches Wissen haben und die entsprechenden Kommunikationsformen beherrschen.

    Eine betroffene Frau meinte, dass es bei den Treffen der FDDB[3], weniger auf die verwendete Sprache (Gebärdensprache oder gesprochene Sprache) ankam, als auf das Zusammensein. Es verbindet das Gemeinsame. Wenn sich taubblinde Menschen als Gruppe und somit in ihrer Wir-Identität erleben, scheint die Art des Kommunikationssystems irrelevant zu sein. Anders wird es im Umgang mit der hörenden und sehenden Welt beschrieben. Die häufigste Wortmeldung der Befragten war, dass nur speziell ausgebildete TaubblindenberaterInnen die Komplexität der kombinierten Hör- und Sehverlustes verstehen. Und nur sie entsprechende Dienstleistungen anbieten können. An diesem Punkt ist die Kompetenz des Beraters hinsichtlich der vom Betroffenen verwendeten Kommunikationsform eine Voraussetzung.

    Die interviewten schwedischen Personen betonten, dass sie sich BeraterInnen wünschen, die spezifisches Wissen zur Taubblindheit haben und es nicht ihnen selbst überlassen werden kann, die Fachbereiche der Sehbehindertenhilfe und Hörbehindertenhilfe zu integrieren.

    Dies bedeutet natürlich auch, dass die Hilfspersonen in der Lage sind, direkt mit den hörsehbehinderten Menschen mittels Lautsprache, Gebärdensprache, taktiler Gebärde, Bilder usw. zu kommunizieren.

    Die kleine Zahl der Betroffenen macht dies schon allein aus geographischer Sicht schwierig bis unmöglich. Und dies ist weltweit so. Umso wichtiger erscheint es, Strategien zur Unterstützung von Menschen mit einer Hörsehbehinderung basierend auf fundiertem Wissen und durchdachten Untersuchungen zu entwickeln.

    Abbildung 9. Michael Heinemann

    Portraitfoto

    Also während die Kommunikationsform in der Gruppe der Betroffenen wenig Bedeutung hat, hat sie in der Beziehung zum professionell unterstützenden Berater einen hohen Stellenwert.

    Identitätsarbeit ist stets auch Narrationsarbeit, denn erzählend organisiert sich das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines individuellen Erlebens. Wie das Subjekt erzählt ist keine Eigenschöpfung, sondern im sozialen Kontext verankert und von diesem beeinflusst.

    Die Entstehung und die Veränderung von narrativen Strukturen stehen in einem komplexen Prozess mit der sozialen Wirklichkeit und bestimmen die Art und Weise, in der die Person erzählen kann (vgl. Keupp 2008).

    Bei taubblindgeborenen Menschen kann immer wieder beobachtet werden, wie sie sich in der Phase der Entspannung und Ruhe Erlebnisse des Tages oder andere Erfahrungen in die Hand lormend oder gebärdend erzählen.

    Bei Mead ist der Kern der Identität die sprachlich vermittelte Intersubjektivität. Das Subjekt erzielt Identität dadurch, dass es aus der frühen Selbstbezogenheit heraustritt und mit anderen Personen interagiert und zudem dazu in der Lage ist, die Beziehung zu anderen zu reflektieren. Insofern erklärt sich der Schwerpunkt in der Förderung von taubblinden Menschen, die Kommunikationsentwicklung, auch im Bezugsrahmen von Identitätsfindung von selbst. Heute versuchen wir die Kommunikation beim taubblinden Kind so natürlich wie möglich entstehen zu lassen, dabei dient im sogenannten Co-Creating-Communication- Modell der Prozess der Kommunikationsentwicklung bei nicht behinderten Kindern als Orientierung. Die Entwicklung der Sprache wird bei Mead als Voraussetzung und Folge der Identitätsentwicklung angesehen.

    Identität kann als fortschreitender Prozess eigener Lebensgestaltung verstanden werden. In jeder alltäglichen Handlung wird diese neu konstruiert. Identität wird vom Subjekt nicht ab und zu gebildet, sondern permanent. Die Entwicklung kann auch nicht beschleunigt, verlangsamt, gestoppt und wieder neu angedreht werden. Die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt zwingt ihn zu vielfältigen Passungsleistungen, die sich auf die Identitätsentwicklung und das Identitätsgefühl zurückwirken.

    Taubblinde Menschen wollen, so wie wir auch, Teil der Gesellschaft sein, sie wollen ihre Bedürfnisse gehört und gesehen wissen und zeigen durch ihre Lebensführung immer wieder auf, wie wichtig in unser aller (Identitäts-) Entwicklung die Beziehung zum Anderen, zum Fremden ist, damit jeder von uns ICH werden kann, in seiner ganz besondern Form des Seins.



    [3] FDDB – The Danish Association for the Deaf-Blind

    Literatur

    Aprause v, Alvin: Erziehung zum Optimismus 1988

    Smith , Theresa : unveröffentlichtes Manuskript 2008

    Miner, Ilene: Deafblind People and Self-Identity – an Interview Survey 2008

    Mead, Georg Herbert : Geist, Identität und Gesellschaft 1998

    Keupp , Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmodere 2008

    Lemke -Werner , Gudrun; Pittr off, Hanne: Taubblindheit und Hörsehbehinderung 2009

    SZB: Bulletin 2009

    SZB: Taubblindheit in der Schweiz 2007

    Tanne Schweizerische Stiftung für Taubblinde: Im Dialog mit hörsehbehinderten Menschen. Leitfaden zur Kommunikationsentwicklung

    Buber , Marti n: Das dialogische Prinzip. 1973

    Die Autorin

    Portraitfoto der Autorin

    Mag.a Barbara Latzelsberger: Pädagogin und Leiterin der Beratungsstelle für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen.

    Quelle

    Barbara Latzelsberger: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/2011, Thema Die Welt der Nähe – Taubblinde Menschen.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 17.12.2015

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