Gewalt an Schutzbefohlenen

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Schlagwörter: Gewalt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema Missbrauch und Gewalt. Behinderte Menschen (1/2011)
Copyright: © Behinderte Menschen 2011

Information

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Das Foto zeigt ein Gesicht, das mit Händen bedeckt ist.

Foto: Juttaschnecke / photocase.com

Gewalt an Schutzbefohlenen

Gewalt an Klienten ist durch die mediale Aufmerksamkeit der letzten Jahre zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Viele der dargestellten Vorfälle liegen Jahrzehnte zurück. Durch die fortwährende Professionalisierung der Sozialen Arbeit und die Veränderung der gesellschaftlichen Maßstäbe hat sich ein deutlicher Rückgang der Gewalttaten an Klienten ergeben. Dass es nach wie vor zu Gewalt an Klienten kommt, bleibt allerdings traurige Tatsache. Der allgemeinen Meinung nach ist Gewalt der Ausdruck von Macht. Menschen üben also Gewalt aus, um ihre Macht zu zeigen. Dies ist ein großer Irrtum. Dieser Artikel soll dazu beitragen die wahren Hintergründe von Gewalt zu verstehen, ohne das Verhalten der Täter zu rechtfertigen. Zudem soll der Artikel Aufschluss geben, welche Auswirkungen Gewalt an den Opfern hat. Denn vor allem gilt eines: Gewalt ist niemals okay, ohne Ausnahme!

Der Umgang mit Gewalt ist eine Haltungsfrage

Haben Sie sich schon einmal gefragt, unter welchen Umständen Sie bereit wären, Gewalt gegenüber anderen Menschen einzusetzen? Viele Formen von Gewalt sind in unserem Sozialraum legitimiert und gesellschaftlich argumentierbar. Denken Sie nur an Situationen, in denen Sie sich bedroht fühlen. Selbstverteidigung zum Beispiel ist eine gesellschaftlich anerkannte Gewaltform. Notwehr, das Verteidigen der eigenen Familienmitglieder, usw. alles durchaus im Rahmen und gesellschaftlich „verträglich“. Die Frage, die sich daraus ergibt lautet: Wann, und vor allem wie, ist Gewalt erlaubt und wann und wie nicht. Hier treffen wir auf die wohl wichtigsten Fragen zum Thema Gewalt. Wer bestimmt, was Gewalt ist und ob sie gerechtfertigt ist? Wer definiert Gewalt? Wer sagt: „Du bist / warst gewalttätig“? Und in diesen Fragen steckt eines der essenziellsten Probleme dieses Themas. Wer ist für eine Gewalttat verantwortlich? Hier wird ausschlaggebend sein, welche Haltung Sie zum Thema Gewalt haben.

Es gibt nur eine Person, die feststellt, was Gewalt ist: das Opfer!

Kennen Sie das? Und dann ist mir die Hand ausgerutscht! Oder das? Der hat mich so provoziert, dann hab’ ich ihm eine geknallt! Oder vielleicht das? Aber sie hat angefangen! Alles Aussagen von Tätern, um zu begründen, warum sie gar nicht anders konnten. Einer meiner Favoriten: „Des woa domois hoid a so! I hob ah a Watschn kriagt, wann i sowas getan hab.“

Ein wahres Beispiel aus meiner Praxis als Gewaltberater: Als ich einen Häftling fragte, warum er seine Frau totgeprügelt habe, meinte er im Brustton der Überzeugung: „Ich hab ihr 100-mal gesagt, sie soll geschminkt sein, wenn ich heimkomme! Und dann ist es irgendwann passiert!“ Im Grunde nur eine weitere Version der obigen Beispiele, die Sie vielleicht selber erlebt haben.

Täter geben die Verantwortung für ihre Tat ab, indem sie dem Opfer Handlungen oder Aussagen unterstellen, am Tathergang beteiligt gewesen zu sein. Wir nennen dies das „Prinzip der Mitbeteiligung“. Viele Täter, vor allem im Bereich der Sozialberufe, stellen sich sogar selbst als Opfer dar, indem sie ihre Tat mit dem Tathergang rechtfertigen. Natürlich ist es so, dass der Gewalttat eine Geschichte vorausgeht. Dennoch bleibt übrig: Und dann hat der Täter/die Täterin zugeschlagen, gedemütigt, beleidigt, gestraft, …

Endgültig aus der Verantwortung zieht sich ein Täter, indem er das Vorgefallene herunterspielt und sagt (bzw. denkt): „Das war ja gar nicht so schlimm, das muss man schon aushalten! Hier wieder einer meiner Favoriten: „A gsunde Watschn hod nu koan gschod, mia jo ah ned!“ oder auf psychischer Ebene: „In einem Streit sagt man halt einmal Sachen, die man gar nicht so meint! Des derf ma ned so ernst nehmen!“ Dem Opfer bleibt zu entscheiden, was es als Gewalt erlebt!

Gewaltgesichter

Wir unterscheiden grundsätzlich fünf Erscheinungsbilder von Gewalt.

Physische Gewalt

Durch Einzelpersonen oder Gruppen ausgeübte und gegen Personen gerichtete Gewalt in Form von Schädigung und Verletzung eines Anderen durch körperliche Kraftanwendung.

Verbale Gewalt

Umfasst alle Formen der Schädigung und Verletzung eines Anderen durch beleidigende und entwürdigende Worte.

Psychische Gewalt

Diese Ausdrucksform der Gewalt inkludiert alle Schädigungen und Verletzungen eines Anderen durch Vorenthalten von Zuwendung sowie Vertrauen, seelisches Quälen oder emotionales Erpressen.

Sexualisierte Gewalt

Umfasst alle Formen der Schädigung und Verletzung eines Anderen durch Demütigung und Abwertung, basierend auf einem geschlechtlichen Unterschied bzw. aufgrund einer sexuellen Ausrichtung.

Sexuelle Gewalt

Als sexuelle Gewalt werden Verletzungen eines Anderen durch erzwungene intime Körperkontakte oder andere sexuelle Handlungen, die dem Täter eine Befriedigung eigener Bedürfnisse verschaffen, bezeichnet.

Für alle Gewaltformen gelten dieselben Grundregeln. Ebenso verhält es sich mit den Folgen von Gewalt. Auch hier sind die Auswirkungen dramatisch. Ich werde im weiteren Verlauf des Artikels bewusst nicht zwischen den einzelnen Gewaltformen unterscheiden. Wenn also von Gewalt die Rede ist, so meine ich stets physische Gewalt, verbale Gewalt, psychische Gewalt und sexualisierte Gewalt. Die sexuelle Gewalt ist darüber hinaus ein Spezialthema.

Trotz der Darstellung der Gewaltformen verfügt unsere Gesellschaft über keine klare Gewaltdefinition. Die Problematik liegt darin, dass die gleiche Situation von Betroffenen verschieden wahrgenommen wird. In den vielen Jahren meiner Auseinandersetzung habe ich mehrere hundert verschiedene Gewaltdefinitionen gehört und gelesen. Viele ähneln einander und sind doch sehr verschieden. Eine dieser Definitionen hat mich besonders erreicht, da sie wichtige Aspekte des Themas auf den Punkt bringt:

Gewalt ist eine bewusste Grenzverletzung oder deren Androhung, unter Ausschaltung der Willentlichkeit des Gegenübers.

Lassen Sie uns diese Definition genauer betrachten.

Gewalt „passiert“ nicht!

Gewalt ist also laut obiger Definition eine „bewusste Grenzverletzung oder deren Androhung“. Um zu verstehen, was hier gemeint ist, muss ich an dieser Stelle wiederum einen allgemeinen Irrtum aufklären. Inzwischen ist hinlänglich bewiesen, dass es kein Gewalt-Gen gibt. Es gibt auch kein Krankheitsbild, welches auf Grund einer physischen Beeinträchtigung Gewalt „erzeugen“ würde. Vielmehr gilt: „Gewalt ist immer und ausschließlich eine sozial erlernte Ressource“. Wir erlernen also Gewalt. Wie wir diese Ressource erwerben, ist vielfältig. Man kann hier ein Klischee bedienen. Ja es ist so, dass Menschen, die selbst an sich Gewalt erlebt haben, höchstwahrscheinlich ebenfalls über diese Ressource verfügen. Dieser Umstand ist unter keinen Umständen damit gleichzusetzen, dass Menschen, die selbst Gewalt erlebt haben, daher auch selbst zu Gewalttätern werden. Dem ist nicht so. Es handelt sich hier um einen weiteren Irrtum zum Thema Gewalt.

Gewalt erlernen wir also wie vieles andere auch. In jeder Lebenssituation müssen wir uns blitzschnell, im Bruchteil einer Sekunde entscheiden, welche der uns in einer Situation zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen wir anwenden werden. Wir müssen entscheiden, ob wir morgens zum Abschied winken, ob wir die Diskussion mit einem Kollegen führen oder dieser ausweichen, ob wir in einem Gespräch mit dem Chef unserer Meinung durch das Erheben der Stimme mehr Nachdruck verleihen oder ob wir klein beigeben. So verbringen wir den Tag mit aberhunderten kleinen Entscheidungen. Je mehr Ressourcen ein Mensch hat (wir nennen das „die Vielfalt seiner Möglichkeiten“) desto flexibler ist die Person in ihrer Methodenwahl. Durch Beeinträchtigung und Krankheitsbilder kann bzw. ist unsere Handlungsvielfalt eingeschränkt. Je höher der Beeinträchtigungsgrad ist, desto weniger Ressourcen haben wir zur Verfügung.

Diese Ressourcen wiederum können wir nicht wahllos einsetzen. Sie sind nach drei Grundsätzen geordnet und werden in jeder Situation blitzschnell nach diesen Bedingungen ausgewählt.

  1. Einstufungskriterium: Flexibilität.

    Je flexibler, also universeller eine Ressource einsetzbar ist, desto höher stufen wir diese ein.

  2. Einstufungskriterium: Effizienz.

    Je effizienter also wirksamer uns eine Ressource erscheint, desto höher stufen wir diese ein.

  3. Einstufungskriterium: Erprobtheit.

    Je erprobter eine Ressource ist, also je öfter wir sie bereits eingesetzt haben, desto höher stufen wir diese ein.

Durch Flexibilität, Effizienz und Erprobtheit steigt also die Attraktivität einer Ressource. Daraus ergibt sich ein Problem. Je öfter wir eine Ressource einsetzen, umso flexibler erscheint sie uns auch. Je flexibler sie wiederum einsetzbar ist, umso effizienter erscheint sie uns. Andere Ressourcen rücken in den Hintergrund bzw. rutschen dadurch in der „Liste der Handlungsmöglichkeiten“ immer weiter nach unten. Neu Erlerntes reiht sich übrigens in dieser Liste stets unten ein und muss durch vielmaliges Anwenden stetig nach oben geführt werden. Hat man jemandem etwas Neues beigebracht, muss man in mühseliger Kleinarbeit die neue Ressource durch das Üben und Anwenden nach oben befördern.

Wenden wir uns hier wieder der Ressource Gewalt zu. Gewalt ist eine sogenannte „Universalressource“. Nach obigem Prinzip betrachtet, ist Gewalt kaum zu toppen. Sie ist in den verschiedensten Situationen anwendbar, in ihren Auswirkungen äußerst effizient und zumeist bereits mehrmals erprobt. Gewalt ist also äußerst wirksam! Wer sich allerdings für eine Ressource entscheiden kann, der kann sich auch dagegen entscheiden. Gewalttäter sind ihrer Gewalttätigkeit also nicht „ausgeliefert“!

Über die Wirksamkeit von Gewalt

Wer denkt: „Gewalttäter wollen andere einschüchtern, ihren Opfern Angst machen, ihren Willen durchsetzen“, der irrt sich schon wieder! Was wir hier beschreiben, sind die Auswirkungen, die Gewalt auf das Opfer hat. Diese sind nicht unweigerlich auch die Absichten des Täters. Im Grunde ist es sehr einfach, den tatsächlichen Hintergrund für Gewalt zu erkennen. Man muss sich dafür allerdings von dem Klischee des großen, mächtigen, starken Gewalttäters trennen. Und das wiederum ist schwierig.

Gewalttäter fühlen sich nicht groß und stark, sie fühlen sich klein und schwach. Sie haben ein anspruchsvolles Rollenbild an sich selbst, in dem sie handlungsfähig und entscheidungskräftig sein sollen. In sich selbst haben sie allerdings das Gefühl, diesem Bild nicht zu entsprechen. Sie scheitern also an ihrem eigenen Anspruch. An dieser Stelle wird sichtbar, was der Auslöser von Gewalt ist: Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dieser emotionale Zustand, das Erleben eigener Handlungsunfähigkeit, das Gefühl einer Situation nicht gewachsen zu sein, dieser aber trotzdem „Herr“ werden zu müssen, ist Auslöser für Gewalt.

Gewalt wird also durch das Erlebnis von Ohnmacht und Hilflosigkeit ausgelöst. Durch gewalttätiges Handeln wird die Ohnmacht auf das Opfer übertragen. Nicht mehr der Täter fühlt sich ohnmächtig, sondern das Opfer. In Fachkreisen wird diese Dynamik auch „Hilflosigkeits- Pingpong“ genannt. An dieser Stelle lässt sich der Bogen zu gewalttätigen Professionalisten spannen. Der Auslöser für Gewalt an Klienten wird greifbar! Menschen, die im sozialen Bereich tätig sind, haben zumeist an sich selbst den Anspruch, mit allen Situationen fertig werden zu müssen. Sie sollen immer Rat wissen und die notwendigen Schritte einleiten und umsetzen. Wenn man das nicht selber tut, so werden uns diese Ansprüche von der Gesellschaft, dem Umfeld oder den Vorgesetzten aufgesetzt. Wir haben also stets überlegen und handlungsfähig zu sein! Selbiges gilt übrigens auch für Lehrer, Eltern, Ehepartner,…

Ein weiterer Aspekt ist das häufige Auftreten von Frustrationserfahrungen. Bei der Arbeit mit schwierigen oder stark beeinträchtigten Klienten, im Umgang mit pubertierenden Jugendlichen in der eigenen Familie, oder in der Auseinandersetzung mit Beziehungsthemen, sind oft mehr Rückschläge als Erfolge zu verbuchen. Das Gefühl, Situationen trotz des Einsatzes aller vorhandenen persönlichen Ressourcen kaum beeinflussen zu können, ruft Frustration hervor, was in weiterer Folge zu Hilflosigkeit und Ohnmacht führt. Die Wirksamkeit von Gewalt beschränkt sich also vor allem auf die sehr effiziente Möglichkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht loszuwerden.

Die Ausschaltung der Willentlichkeit!

Im zweiten Teil der eingangs genannten Gewaltdefinition finden wir die Formulierung „Ausschaltung der Willentlichkeit des Gegenübers“. Hier ist gemeint, dass wir von Gewalt dann sprechen, wenn das betroffene Gegenüber zu unseren Handlungen nicht „Nein“ sagen kann.

Ich hätte da mal ein paar Fragen:

  1. Würden Sie sagen, ein Boxkampf ist eine Gewaltsituation?

  2. Würden Sie sagen, wenn sich zwei 13- jährige Buben in der großen Pause raufen und herumrangeln, dass es sich um eine Gewaltsituation handelt?

  3. Ist folgende Aussage gewaltvoll? „Du kannst das nicht, ich muss dir helfen!“

Die richtigen Antworten lauten:

1. Nein / 2. Nein / 3. Ja

zu 1.) Zwei Boxer entscheiden sich freiwillig, in den Ring zu steigen. Niemand zwingt sie dazu. Wenn sie nicht wollen, müssen sie es auch nicht tun. Zudem gibt es ein dickes Regelwerk, welches sicherstellt, dass die Willentlichkeit im Kampf nicht verletzt wird. Man kann jederzeit aufgeben und das „Handtuch werfen“. Die Möglichkeit physischer Verletzungen ist kein Kriterium für Gewalt. Wird eine Person auf der Straße von einer anderen Person niedergeschlagen, beschreiben wir denselben Vorgang allerdings eindeutig als Gewalt. Das Opfer konnte sich der Situation nicht entziehen.

zu 2.) Die beiden Buben messen ihre Kräfte. Das ist in diesem Alter normal. Sie erleben ihre körperliche Leistungsfähigkeit und erlernen zudem, ihre Kräfte zu dosieren und einzusetzen. Diese Situation kennen die meisten Menschen. Üblicherweise gewinnt einer der beiden die Oberhand. Solange der Unterlegene sagen kann „Lass mich los“ und er auch tatsächlich losgelassen wird, sprechen wir nicht von Gewalt. Lässt der Überlegene den Anderen nicht los, kommt es zur Ausschaltung der Willentlichkeit und somit zu Gewalt!

zu 3.) In dieser Aussage liegt der „Teufel“ in der Formulierung. Die Aussage „Ich muss dir helfen“, schließt ein Nein grundsätzlich aus. Die Willentlichkeit ist durch diese Form der Formulierung bereits ausgeschaltet und ein Paradebeispiel für verbale Gewalt. Das hätten Sie wohl nicht vermutet!

Ausschlaggebend ist also, ob sich eine Person einer Situation entziehen kann. Noch genauer, ob eine Person auf das Geschehen Einfluss nehmen kann. Wenn es um Schläge oder Beschimpfungen geht, ist meist alles sonnenklar! An diesem Punkt lässt sich nun auch die Dimension psychischer Gewalt deutlich machen. Gerade auf psychischer Ebene ist es besonders leicht, gewaltsam zu sein. Lassen Sie mich einige Ausdrucksformen psychischer Gewalt anführen: Liebesentzug, unverständliches Murmeln in Streitsituationen, Beziehungssicherheit entziehen (der Klassiker: „Wennst so tuast, kumst ins Heim“), Abwertung, Angst machen, einschüchtern, ausgrenzen, ignorieren, überfordern, jemandem das Gefühl der Wertlosigkeit geben, bloßstellen, jemanden zu eigenen Gunsten schlecht machen… und vieles mehr.

Ein ausformuliertes Beispiel (gilt übrigens als eine der häufigsten psychischen Gewaltformen): Ein Ehepaar sitzt gemeinsam am Esstisch beim Abendessen. Die letzten Tage waren etwas konfliktreich. Er macht ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Er spricht nicht mit ihr, sieht sie nicht an, es ist offensichtlich, irgendetwas stört ihn. Er fühlt sich allerdings ohnmächtig, seiner Frau begreiflich zu machen, was mit ihm los ist. Die Ehefrau bemerkt dies und fragt: „Was ist denn los?“ und er drauf: „Nix“.

Wenn er ihr nicht völlig egal ist, was nicht anzunehmen ist, haben wir es mit einer echten psychischen Gewaltsituation zu tun. Wer das schon einmal erlebt hat, weiß, wie hilflos und ohnmächtig sich die Frau in unserem Beispiel jetzt fühlt. Pingpong! In Bezug auf das Thema Gewalt an Klienten ist die Ausprägung psychischer Gewalt noch viel facettenreicher. Vieles, was wir im Bereich der Alltagsarbeit an Konsequenzen oder Handlungsweisen finden, ist dem Grunde nach psychische Gewalt. So gilt es zum Beispiel als psychische Gewalt

  • … wenn Strafen so lange andauern, dass Klienten die Ursache der Strafe nicht mehr nachvollziehen können.

  • … wenn Klienten gezielt entmutigt werden, „um ihnen die Realität vor Augen zu führen“.

  • … wenn Klienten mit emotionalem Druck zur Verhaltensänderung gezwungen werden.

  • … wenn ein Klient gestraft wird, ohne sicher zu gehen, dass er/sie die Zusammenhänge auch verstanden hat.

  • … wenn Klienten zum Spielball von Teaminteressen werden.

  • … wenn Klienten dazu benutzt werden, die eigenen Defizite auszuleben (z.B. das Bedürfnis nach Beziehung und Nähe, der Wunsch gebraucht zu werden, Kontrollsucht).

  • … wenn Klienten keine Grenzen gesetzt werden.

  • … wenn Betreuungspersonen das Verhalten des Klienten wichtiger ist als seine Person.

  • … wenn Betreuungspersonen Bedürfnissen und Wünschen der Klienten (bewusst) nicht nachkommen.

Gewalt und ihre Auswirkungen

Gewalt an Klienten und Schutzbefohlenen ist in seinen Auswirkungen direkt vergleichbar mit den Auswirkungen häuslicher Gewalt. Klienten sind ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert. Meist glaubt man ihnen sehr lange Zeit nicht. Vorfälle werden zumeist tabuisiert oder „kleingeredet“. Anderenfalls werden Gewalttätigkeiten als „Erziehungsmaßnahmen“ verkleidet oder im Sinne der Verantwortungsabgabe dem Klienten selbst zugeschrieben. Man hätte sich ja wehren müssen, heißt es da oft. Wir sprechen hier vom sogenannten „Geschützten Rahmen für Gewalttäter.“ Die folgende Auflistung führt typische Auswirkungen von Gewalt auf, wie sie am häufigsten auftreten. Viele Betroffene leiden unter mehreren Symptomen.

  • Emotionales Abstellen mit Verlust der Empathiefähigkeit

  • Konfliktvermeidungsverhalten

  • Psychosomatische Krankheitsbilder

  • Verantwortungsübernahme

  • Abgrenzungsschwierigkeiten

  • Posttraumatische Belastungsstörung

  • Flash back, das Wiedererleben der Gewaltsituationen oftmals in Träumen in Form wiederkehrender Alpträume

  • Vermeidungsverhalten, insbesondere Vermeiden von Situationen, die mit Gewalterlebnissen in Verbindung gebracht werden

  • Leistungsverweigerung

  • Angststörungen

  • Depression

  • Zwangsstörungen

  • Unsicherheit

  • chronische Schuld- und Schamgefühle

  • niedriges Selbstwertgefühl

  • Hilflosigkeit- und Ohnmachtsgefühle

  • Einsamkeitsgefühle

  • Übermäßige Ärgerneigung

  • Persönlichkeitsstörungen

  • Impulsivität

  • emotionale Instabilität

  • Borderline Persönlichkeitsstörungen

  • Substanzgebundenes Suchtverhalten

  • Selbstschädigendes Verhalten wie Selbstverletzung

  • erhöhte Bereitschaft zu Risikoverhalten

  • Suizidalität in Gedanken und Handlungen

  • Somatische und psychosomatische Symptome wie chronische Bauchschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Brust- und Gliederschmerzen

  • erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen

  • Dissoziative Störungen wie Gedächtnislücken, Identitätsstörungen

  • Schlafstörungen

  • Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech- Sucht sowie Ess-Sucht

  • Störungen in sozialen Beziehungen

  • andauernde Unzufriedenheit in Beziehungen

  • dissoziales Verhalten

  • Gewalttätigkeit

Zum Schluss, die zweite Seite der Medaille

Menschen, die im Bereich der sozialen Arbeit speziell im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern, Jugendlichen, in der Behindertenarbeit und in der Arbeit mit psychischen Erkrankungen tätig sind, sind selbst immer wieder der Gewalt durch die Klienten ausgesetzt. Der Umgang mit Gewalt stellt im beruflich-, pädagogischen Umfeld eine besondere Herausforderung dar. Die Auswirkungen dieser Gewalt sind auch hier dramatisch und zeigen sich durch eine überdurchschnittlich hohe Burnoutrate, psychische Erschöpfung und viele der vorher angeführten Symptome. Die Antwort auf Gewalt kann aber niemals Gegengewalt sein. Denn eines gilt: Gewalt ist niemals okay, ohne Ausnahme!

Der Autor

Portrait des Autors
Alexander Unterberger

Der Autor (geb. 1973), ist hauptberuflich beim Verein STI tätig, den er 1995 (mit zwei Kollegen) gegründet hat und den er seither leitet. Der Verein STI betreibt Wohn- und Therapieeinrichtungen für schwer verhaltensauffällige und gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene. Im Zuge dieser Arbeit, und auch schon vorher, als er noch im Kinder- und Jugendwohnheim Schloss Leonstein arbeitete, hat er sich mit dem Thema Erlebnispädagogik beschäftigt und seitdem ca. 30 Projekte geplant, geleitet und durchgeführt. Im Zuge seiner Tätigkeit war und ist er stets mit dem Thema Aggression und Gewalt, oft auch direkt mit schwer gewalttätigen Menschen konfrontiert. Aufgrund seiner Erfahrung im Umgang mit dieser Klientel hat er 1998 beschlossen, die Ausbildung zum Gewaltberater bzw. Gewaltpädagogen am Institut Formale in Hamburg zu absolvieren. Zudem berät er seit 2001 Teams in der Arbeit und im Umgang mit aggressiver und gewalttätiger Klientel und hält viele (ca. 15 pro Jahr) Fortbildungen zu diesem und anderen Themen. Derzeit berät er 15 MitarbeiterInnen-Teams, viele davon in der Behindertenarbeit. Seit 1999 betreibt und leitet er ein Erwachsenenbildungsinstitut. Das Institut bietet Ausbildungen für soziale Berufe an. Er unterrichtet auch selbst Pädagogik, systemisch Denken und Handeln, strategische Methodik, Spiel und Freizeitpädagogik, uvm. In den Ausbildungen Erlebnispädagogik und Gewaltpädagogik unterrichtet er großteils selbst. Seit 2004 ist er an der Fachhochschule Linz als nebenberuflicher Lektor tätig. Im September 2000 kam sein Sohn Jakob zur Welt.

www.institut-unterberger.at

Quelle

Alexander Unterberger: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema Missbrauch und Gewalt.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.10.2015

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