Integrativer Unterricht in einer Freien Waldorfschule.

Erste Erfahrungen im gemeisamen Leben und Lernen

Autor:in - Freimut Bahmann
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Alfred Heinrich (Hrsg.): WO IST MEIN ZUHAUSE? Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Verlag Freies Geistesleben Stuttgart 1997. S. 229-237
Copyright: © Freimut Bahmann 1997

Einleitung

Marvin kann einfache Texte lesen und abschreiben. Marco hat sich den Zahlenraum bis 20 erobert. Frederik erkennt alle Buchstaben und kann sie in Zeichensprache ausdrücken. Tabea findet unter fünfundzwanzig Schülerstühlen ihren eigenen, mit Namen gekennzeichneten heraus und hat gelernt, beim Tischdecken zu helfen. Marvins beste Freundinnen sind Clara und Lenya; sie besuchen sich häufig gegenseitig und dürfen auch beim jeweils anderen über Nacht bleiben. Tabea hat eine starke Beziehung zu Robin, Frederik zu Eleni und Marco ganz allgemein zu den anderen Jungen.

All dies scheint überaus banal und normal. Allerdings sind Marvin, Marco, Frederik und Tabea seelenpflegebedürftige Kinder, in der offiziellen Terminologie "geistig behindert", und die anderen Kinder sind es nicht. Und diese Entwicklungen und Bezeichungen sind nur deshalb möglich geworden, weil sie alle zusammen in dieselbe Klasse gehen, in die zweite Klasse der Freien Waldorfschule Emmendingen bei Freiburg i.Br., und dadurch gemeinsam leben und lernen können.

Es ist nichts Neues, dass in einer Waldorfschule behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. In vielen Waldorfschulen finden sich Kinder mit Schwierigkeiten oder Behinderungen, und dies auch schon seit der Gründung der ersten Waldorfschule.[1] Neu ist in der Freien Waldorfschule Emmendingen,[2] dass systematisch in jeder Klasse ein gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern stattfindet und dass dabei ein durchgängiges "Zwei-Lehrer-Prinzip" zum Tragen kommt.[3]



[1] Siehe dazu die grundsätzliche, umfassende Darstellung von Hans Friedbert Jaenicke, Kinder mit Entwicklungsstörungen. Möglichkeiten und Grenzen der Integration in der Waldorfschule, Stuttgart 1996.

[2] Baden-Württemberg gehört in der Bundesrepublik Deutschland zu den Bundesländern, in denen eine schulische Integration bisher nur in einem Modellversuch "erprobt" worden ist. Rechtlich möglich ist bisher nur eine Kooperation zwischen Grundschulen und den "Sonderschulen für Geistigbehinderte". In unserem Fall werden vom Freiburger HAUS TOBIAS offiziell "Außenklassen" gebildet, die dann, angesiedelt an der Freien Waldorfschule Emmendingen, gemeinsam mit den jeweiligen Waldorfklassen unterrichtet werden. Eine integrative Genehmigung, welche v.a. die Möglichkeit bieten würde, auch Kinder mit anderen Behinderungen aufzunehmen, wird bisher von den Kultusbehörden verweigert.

[3] Eine weitere Waldorfschule, die Windrather Talschule in Velbert (Nordrhein-Westfalen), hat im Schuljahr 1995/96 mit ihrer integrativen Arbeit begonnen. Darüber hinaus gibt es in der Bundesrepublik weitere Gründungsinitiativen, die eine integrative Beschulung anstreben.

Rückblick

Anfang der neunziger Jahre wurden im Freiburger Raum zum ersten Mal in einer größeren Zahl schwerer behinderte Kinder in Regelkindergärten und auch in Waldorfkindergärten aufgenommen. Schon sehr bald stellte sich die Frage, wie es mit der Integration in der Schule aussehen würde. So machten sich Eltern von behinderten und nichtbehinderten Kindern, Therapeuten und Lehrer auf den Weg, um eine Integration dieser Kinder in die Waldorfschulen zu erreichen. Klar wurde aber bald, dass die bestehenden Waldorfschulen mit ihren großen Klassen dies nicht würden leisten können. So entstand unter dem Motto "Eine Schule für alle" eine Initiative zur Gründung einer "Integrativen Waldorfschule". Ziel war und ist es, alle Schüler, unabhängig von möglichen Entwicklungsstörungen oder Behinderungen, auf der Grundlage des Waldorflehrplans gemeinsam zu unterrichten, unter Einbeziehung der anthroposophischen Heilpädagogik.

Konzeptionelle Fragen

Zu Beginn unserer Arbeit gab es viele hilfreiche und Mut machende Erfahrungen und Informationen: Zum einen existierten bereits langjährige Erfahrungen mit Integrationsklassen im Regelschulbereich (in vielen europäischen Ländern und in Deutschland, z.B. seit 1975 in Berlin), in denen durchweg sehr positive Erfahrungen gemacht wurden. (Siehe hierzu auch den Beitrag von Ferdinand Klein, "Die integrative Grundschule, S. 210 ff.) Außerdem waren da die vielen behinderten Kinder, die auch ohne besondere Zusatzförderung in Waldorfschulen unterrichtet wurden, und die daraus resultierenden positiven Erfahrungen von Lehrern und Eltern, die diese "Integration" als Bereicherung für alle Schüler sahen.

Zum anderen waren es Fachleute, die uns auf unserem Weg weiterhalfen. Zu nennen ist zuallererst Professor Jakob Muth, der in der Zwischenzeit leider verstorbene Nestor der deutschen Integrationspädagogik. Anfang 1992 führte er in seinem Vortrag in Freiburg (im Rahmen der ersten der von uns veranstalteten Tagungen "Waldorfpädagogik und Integration") aus: "Darüber hinaus aber scheint die ganze Organisation der Waldorfschulen den behinderten Kindern in besonderer Weise entgegenzukommen. In Waldorfschulen gibt es zum Beispiel den Epochenunterricht. Das ist eine Unterrichtsform, in der ein Unterrichtsfach - ich verkürze das etwas - mit einer Doppelstunde an jedem Tag unterrichtet wird, und das für mehrere Wochen, bevor dann ein anderes Fach an die Stelle dieses ersten Epochenfachs tritt und die Leitfunktion für den Unterricht übernimmt. Hier, in einem solchen Epochenunterricht, in einer epochenunterrichtlichen Konzeption, hat auch das behinderte Kind die Möglichkeit, sich zu konzentrieren, hat es die Möglichkeit - ich greife einen Buchtitel der letzten Jahre auf -, die ´Langsamkeit zu entdecken`. Dieses Prinzip des Epochenunterrichts kommt gerade den behinderten Kindern entgegen." Als einen weiteren wesentlichen Punkt nannte Jakob Muth das Klassenlehrerprinzip: "Die Kinder der Waldorfschulen aber haben durch das Klassenlehrerprinzip eine stabile Bezugsperson, die pädagogisch und didaktisch sich ausspielen kann für die Kinder, die pädagogisch intensiv wirken kann - und das über acht Jahre. Das kommt vor allem auch den behinderten Kindern zugute." Überdies betonte er in seinem Vortrag die Tatsache, dass es keine Ziffernzensuren und kein Sitzenbleiben gebe und hob die heilsame Wirkung der Eurythmie hervor.

Neben diesen großen Vorteilen der Waldorfpädagogik gab es jedoch deutlich zwei schwierige Klippen: Würden die im Regelschulbereich gewonnenen Integrationserfahrungen in einer Waldorfklasse umsetzbar sein? Wären die offensichtlich für den gemeinsamen Unterricht nötigen Rahmenbedingungen "Zwei-Lehrer-Prinzip" und "offener Unterricht" übertragbar? Um uns darüber Klarheit zu verschaffen, suchten wir das Gespräch mit Dr. Michaela Glöckler, Johannes Denger (Medizinische Sektion) und Dr. Heinz Zimmermann (Pädagogische Sektion) von der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum (Darnach) und konnten zu unserer Freude feststellen, dass unser integratives Konzept dort Unterstützung fand. Weder die Frage des Zwei-Lehrer-Prinzips noch die nötigen Veränderungen in der Methodik stießen auf Widerspruch. Im Gegenteil sogar: Angesichts der zunehmenden Anzahl von entwicklungsgestörten Kindern auch in Waldorfschulen wurde ein stärkerer Einfluss der Heilpädagogik ohnehin als dringend nötig erachtet, und wir wurden ermutigt, neue Wege zu gehen.

Erste Erfahrungen in der Praxis

So entstand nach mehrjährigen und intensiven Vorarbeiten zum Schuljahr 1995/96 die Freie Waldorfschule Emmendingen,[4] die mit einer l. Klasse von 21 Schülerinnen und Schülern ihren Betrieb aufnahm. Vom ersten Tag an voll integriert war die "Außenklasse" mit den vier behinderten Kindern. Das Lehrerteam bestand aus den beiden Lehrern der Klasse (ein Waldorflehrer und ein Heilpädagoge mit Waldorflehrerzusatzausbildung, beide mit langjähriger Berufserfahrung), den Fachlehrern und Therapeuten (Heileurythmie, Sprachtherapie), zu denen noch der Schularzt trat. Eine wichtige Rolle spielte auch eine Praktikantin, die sich mit viel Liebe und Engagement vorrangig um die behinderten Schüler kümmerte.

Soziales Miteinander

Sowohl auf Lehrer- als auch auf Schülerseite begann ein vorsichtiges Herantasten. Die Schüler stellten anfangs noch Fragen, wer denn die behinderten Kinder seien. Schon bald aber gab es nicht mehr "die" behinderten oder nichtbehinderten Kinder, sondern jedes Kind hatte seinen Namen und wurde in seiner Individualität wahrgenommen. Es begannen sich Beziehungen und Freundschaften herauszubilden, die sich zum einen im Unterricht als Hilfe herausstellten (Helferprinzip) und sich zum anderen im außerschulischen Bereich in gegenseitigen Einladungen und Besuchen niederschlugen. Von der jetzigen l. Klasse ist zu berichten, dass von den fünf behinderten Kindern nur zwei von ihren Mitschülern als behindert angesehen werden: Amelie, ein Mädchen ohne Lautsprache, und Jennifer, ein schwer-mehrfachbehindertes Mädchen, das am Unterricht nur liegend teilnehmen kann.

Eine wichtige Rolle spielten bei dem Entstehen dieser sozialen Gemeinschaft die wöchentlichen Projektsamstage, an denen jeweils einzelne Themen im Vordergrund standen (z.B. Backen / Gartenarbeit, Wanderungen oder Laternenbasteln etc.) und bei denen immer auch Eltern mitwirkten. Auch beim Mittagessen und beim Spielen nach dem Unterricht (im Rahmen einer "Kernzeitbetreuung") konnten sich die behinderten und die nichtbehinderten Kinder näher kommen und einander kennen lernen. Nicht zu vergessen sind auch die vielen gemeinsamen Feste in der Klasse. Trotz der "Außenklassenkonstruktion" empfanden sich Lehrer, Schüler und Eltern immer als eine Klasse mit zwei verantwortlichen Lehrern.

Unterrichtsorganisation

Zu Beginn nahmen alle Schüler gemeinsam am gesamten Unterricht teil. Durch das Hinzukommen der beiden Fremdsprachen (Englisch und Französisch) und durch die Erfahrungen der ersten Monate wurde dies dann folgendermaßen modifiziert: Am Hauptunterricht nehmen alle Schüler teil. Dabei gibt es - je nach Epoche - eine Binnendifferenzierung im Lern- bzw. Übteil; übrigens nicht nur für die behinderten Schüler. Ebenso werden Englisch[5], Eurythmie und Handarbeit im Klassenverband unterrichtet. In den Fächern Religion, Musik und Turnen wird die Klasse jeweils geteilt. Förderunterricht für die behinderten Schüler findet zu einem Zeitpunkt statt, wo die anderen Schüler Französisch lernen. Hinzu kommen Einzeltherapien, die parallel zu den anderen Unterrichtsstunden gegeben werden und an denen auch nichtbehinderte Kinder teilnehmen (Heileurythmie, Sprachtherapie, Musiktherapie). Auch im Fachunterricht gilt natürlich das Zwei-Lehrer-Prinzip, und es ist immer einer der beiden Teamlehrer dabei.

Dieses Modell, bei dem der Unterricht sowohl in der ganzen Klasse (15 Wochenstunden) als auch in der halben Klasse (6 Stunden) oder in einer Kleingruppe (3 Stunden) bzw. in Einzelförderung stattfindet, scheint den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Schüler am ehesten zu entsprechen.

Der Hauptunterricht wird jeweils von einem der beiden Lehrer erteilt, wobei oft einzelne Elemente (z.B. rhythmischer Teil oder Erzählteil) vom jeweils anderen übernommen werden. Die behinderten Kinder sind sowohl im Kreis als auch an den Gruppentischen integriert und befinden sich zwischen ihren Klassenkameraden. Der heilpädagogische Lehrer und der Zivildienstleistende stehen oder sitzen dabei jeweils neben einem der behinderten Schüler. Bisher war es so, dass es in zwei Epochen einen Rollentausch zwischen dem "Klassenlehrer" und dem "heilpädagogischen Lehrer" gab. Dieser Perspektivwechsel wurde von beiden als sehr hilfreich in der Wahrnehmung der Klasse erlebt.

Leistungsfortschritte

Ohne den Leistungsbegriff hier diskutieren zu wollen, gibt es nach den Erfahrungen von eineinhalb Jahren Unterricht ein sehr erfreuliches Ergebnis; Bei allen Schülern können Lernerfolge und Fortschritte konstatiert werden. Für die nichtbehinderten Schüler gilt dabei, dass ihre Lernfortschritte und ihre Leistungsentwicklung mindestens denen der "normalen" Waldorfschüler der entsprechenden Waldorfschule gleichkommen.[6] Die binnendifferenzierenden Maßnahmen, die intensivere Betreuung und die geringe Anzahl von Schülern in einer Klasse haben dort ihren Niederschlag gefunden. Von der überwiegenden Mehrheit der Schüler wird auch berichtet, dass sie mit Freude zur Schule gehen und dass an den freien Samstagen (in diesem Schuljahr gibt es nur alle zwei Wochen einen Projektsamstag) vielen die Schule sehr fehlt. Eine Schülermutter bemerkte als außerordentlich positiv, dass ihre Tochter, die bereits vor der Einschulung lesen konnte, die Einführung der Buchstaben mit Spannung und Begeisterung verfolgt habe und es ihr kein bisschen langweilig geworden sei. Mit Freude festzustellen, aber kaum zu evaluieren sind hingegen die Fortschritte im "sozialen Lernen": das Erleben von Kindern mit Schwierigkeiten und Andersartigkeiten in Unterricht und Freizeit und das gemeinsame, natürliche Leben und Lernen.

Was die Fortschritte der behinderten Kinder angeht, so sind Lehrer und Eltern gleichermaßen positiv überrascht worden. Marco und Marvin, die beiden Kinder mit Down-Syndrom, haben alle Buchstaben kennen gelernt, können diese schreiben und beginnen sich auch rechnerisch darin zu bewegen. Frederik, ein Junge mit Cochlear-Implantat, war, bevor er zu uns kam, ein Jahr lang in einer Sonderschule für Geistigbehinderte und wurde als sehr verhaltensauffällig beschrieben. Jetzt, im gemeinsamen Unterricht, zeigt sich, dass er ganz offensichtlich unterfordert gewesen sein muss, denn er hat nicht nur alle Buchstaben gelernt, sondern auch das Zeichenalphabet. Dies war unter anderem deshalb möglich, weil er die notwendige Einzelförderung erhalten konnte. Er ist ein fröhlicher, hilfsbereiter Junge geworden und verständigt sich mit Lehrern, Zivildienstleistenden und seinen Klassenkameraden in Zeichensprache (mehrere Schülerinnen haben zur besseren Kommunikation aus sich heraus das Zeichenalphabet gelernt!). Tabea, auch ein Kind ohne Lautsprache, beginnt Buchstaben oder gar Worte zu erkennen, freut sich an Rhythmen, Geschichten und Liedern, entdeckt das Lernen und geht außerordentlich gern in die Schule. Alle vier behinderten Kinder sind insgesamt durch die Aktivitäten der nichtbehinderten Mitschüler stark angeregt.

Was die gesamte Klasse betrifft, so sind wir bemüht, die Leistungs- und Sozialentwicklung sowohl der nichtbehinderten als auch der behinderten Schüler in Wort und Bild (v.a. mit Videoaufnahmen) zu dokumentieren.

Die Mitwirkung der Eltern

Die Schülereltern sind nicht nur finanziell oder arbeitsmäßig in die Schule eingebunden, sondern übernehmen eine sehr aktive Rolle, zum Beispiel bei den Projektsamstagen (wobei sie v.a. auch die gesamte Klasse im Unterricht erleben können) bzw. auch bei der Erkrankung eines Lehrers als Hilfe im regulären Unterricht. Genauso gut war es möglich, dass Eltern, die den Wunsch äußerten, am Unterricht teilnehmen zu können, jeweils einen Vormittag lang hospitierten. Es gibt monatliche Elternabende, die bei allen Eltern eine starke Sensibilisierung für das pädagogische und soziale Geschehen in der Klasse und im Umfeld erreicht haben. Mit den Eltern der behinderten Kinder und interessierten anderen Eltern gibt es in größeren Abständen gesonderte Treffen, an denen selbstverständlich das "Klassenlehrerteam" teilnimmt. Hausbesuche werden in der Regel ebenfalls von den beiden Lehrern gemeinsam durchgeführt. Jede Woche finden zudem jeweils Einzelgespräche zwischen dem heilpädagogischen Lehrer und den Eltern der behinderten Kinder statt. Darüber hinaus gibt es für die Kinder ohne Lautsprache ein "Kommunikationsbuch" zum besseren Informationsaustausch zwischen Elternhaus und Schule.

Die Eltern aller Schüler haben sich bewusst für diese Schule und damit von vornherein für einen gemeinsamen Unterricht entschieden. Die Anmeldungen für die kommenden Schuljahre zeigen, dass die Akzeptanz auch von neuen Eltern gut ist: Es gibt für das kommende Schuljahr im Bereich der Waldorfklasse sehr viel mehr Anmeldungen als Plätze.



[4] Die Freie Waldorfschule Emmendingen betreibt nach wie vor sowohl auf politischer als auch auf juristischer Ebene - derzeit läuft eine Verwaltungsklage gegen das Land Baden-Württemberg - die Zulassung als "integrative Waldorfschule".

[5] Frederik, der nichthörende Schüler, erhält in diesen Stunden Einzelförderung und Kommunikationstraining.

[6] Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass in der Gruppe der sogenannten "nichtbehinderten" Waldorfschüler sich einige befinden, die deutliche Lern- bzw. Verhaltensstörungen haben. Sie wären vermutlich in einer "normalen" Waldorfschule nicht mehr zu halten gewesen, haben sich aber hier im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut entwickelt und sind sozial in die Klassengemeinschaft eingebunden.

Aufgaben und zukünftige Arbeitsfelder

Die Erfahrungen der ersten beiden Jahre haben gezeigt, dass sich unter den angemeldeten Kindern jeweils auch solche mit starken Entwicklungs- bzw. Verhaltensstörungen (sogenannte "Grenzbereichskinder") befinden, deren Eltern hoffen, dass eine integrative Beschulung eine mögliche Sonderschulkarriere ihrer Kinder vermeiden helfen kann. Allerdings hat die "Außenklassen"-Konstruktion als derzeit einzige Möglichkeit, den gemeinsamen Unterricht mit der entsprechend nötigen sonderpädagogischen Förderung durchführen zu können, als Konsequenz eine Festlegung auf eine einzige Behinderungsart, die sogenannte "geistige Behinderung". Das bedeutet, dass wir offiziell keine Kinder mit Sinnesstörungen, Lernschwächen oder Verhaltensauffälligkeiten aufnehmen können - oder aber der notwendige individuelle Förderbedarf nicht bezahlt wird. Wir können diese Kinder daher nur in ganz beschränktem Umfang als "normale" Schüler aufnehmen.

Unser ursprüngliches Konzept sah vor, pro Klasse ca. siebzehn nichtbehinderte Kinder und etwa drei Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen aufzunehmen. Unsere ersten Erfahrungen haben nun gezeigt, dass die vier Kinder mit einer "geistigen Behinderung" und die Kinder mit Lern- oder Verhaltensstörungen die Lehrer vor immense Aufgaben stellen. Obwohl es insgesamt nur fünfundzwanzig Schüler sind, so waren doch in manchen Situationen selbst zwei Lehrer und ein Zivildienstleistender in der Klasse zu wenig, um allen Schülern gleichermaßen gerecht werden zu können.

Eine große und zu Beginn von uns sicher unterschätzte Aufgabe ist auch die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und -auswertung vor allem der beiden Klassenlehrer. Auch wenn die Freiheit des einzelnen Lehrers dadurch eingeschränkt wird, so ist unseren Erfahrungen nach eine regelmäßige und intensive gemeinsame Planung und Rückschau unabdingbar. Es hat sich bei den beiden derzeit arbeitenden Lehrerteams gezeigt, dass der gute Wille zur Zusammenarbeit nicht ausreicht, sondern dass Strukturen und feste Absprachen geschaffen werden müssen, auch was die eventuelle Rollenteilung betrifft. Gerade im Hauptunterricht gibt es ja viele Möglichkeiten der Arbeitsteilung.

Dabei haben sich zwei Punkte als wesentlich herausgestellt:

Der erste betrifft die Gesamtverantwortung beider Lehrer. Einer der beiden Lehrer kümmert sich in besonderem Maße um die behinderten Kinder, damit diese gut und individuell gefördert werden können. Der andere ist vor allem für die "normalen" Kinder zuständig. Aber obwohl beide Lehrer diese unterschiedlichen Schwerpunkte haben, ist es wichtig, dass sich beide für alle Kinder verantwortlich fühlen, also für die Gesamtsituation der Klassengemeinschaft. Das bedeutet also auch, dass sie beide die Klasse gemeinsam führen.

Der zweite wesentliche Punkt ist die gemeinsame Vorbereitung des Unterrichts. Neben kurzen täglichen Absprachen treffen sich beide Lehrer wöchentlich ca. zwei bis drei Stunden. In dieser Besprechung, in der jeder seine Sichtweisen, Fragen, Vorschläge und Fähigkeiten einbringt, entsteht als etwas Neues die Planung eines gemeinsamen Unterrichts. Im weiteren Verlauf wird geklärt, wer vor der Klasse steht, wer welche Aufgaben übernimmt und wer die unterstützende Tätigkeit ausübt. Unsere Erfahrung zeigt, wie wichtig es ist, dass auch der Lehrer, der seinen Schwerpunkt bei den heilpädagogisch zu betreuenden Kindern hat, von allen Schülern als unterrichtender, gleichwertiger Lehrer erlebt wird, durch diesen "Rollenwechsel" lernt aber auch jeder Lehrer die Aufgaben seines Kollegen kennen und schätzen. Dies wiederum ist für eine gedeihliche Arbeit unabdingbar, Wie sich nun diese Zusammenarbeit der beiden Lehrer (und auch mit Fachlehrern imTeam) gestaltet, hängt jeweils von der Ausbildung, den Fähigkeiten und Erfahrungen der jeweiligen Lehrer und den Bedürfnissen der Schüler ab. Diese Arbeitsweise ist auf jeden Fall einem "additiven Modell" vorzuziehen, in dem der Waldorflehrer seinen Unterricht vorbereitet und der heilpädagogische Lehrer seinen Teil lediglich dazustellt.

Wichtig ist, dass von Anfang an, so wie wir es geplant und durchgeführt haben, eine "Teamsupervision" (oder ein "Coaching") stattfindet, damit mögliche Konflikte - vor allem was die Arbeitsfelder und die Rollen betrifft - von vornherein bearbeitet werden können. Allein schon Formulierungen wie "meine" Klasse statt "unsere" Klasse können zwischen sensiblen Kollegen solche Konflikte im Keim anlegen,..

Von Epoche zu Epoche, von Schuljahr zu Schuljahr werden sich nun unsere Erfahrungen im gemeinsamen Unterricht weiterentwickeln. Unsere Ausgangsidee und das Konzept sind zwar gut formuliert, aber erst die ganz konkrete Arbeit in der Klasse zeigt, wo die Aufgaben und Schwierigkeiten versteckt sind. Dazu gehören methodische Fragen, vor welche die Lehrer gestellt sind, wie beispielsweise eine stärkere und systematisierte Binnendifferenzierung der Lern- und Übphasen erreicht werden kann. Gleiches gilt auch für Struktur- und Rhythmusfragen, die mit dem Stundenplan zusammenhängen, oder auch für spezielle Fragestellungen, wie zum Beispiel, ob die behinderten Kinder beide Fremdsprachen lernen sollen.

Auch tauchen ganz neue pädagogische Fragen auf, beispielsweise, wie die Lehrer oder Schüler mit Kindern ohne Lautsprache in Kommunikation treten können, Dazu war und ist es nötig, auch über unseren Topfrand hinauszuschauen und nicht nur nach anderweitig gemachten Erfahrungen in Waldorfschulen oder in heilpädagogischen Schulen zu fragen, sondern gerade auch die Erfahrungen in integrativen Regelschulen wahrzunehmen, unter anderem durch Hospitationen oder durch Einbeziehung von Fachleuten von außen.[7]



[7] So waren v.a. die Unterrichtshospitationen und Ratschläge von Dr. Rene Müller (Zürich), einem Spezialisten für die Integration hörgeschädigter / nichthörender Kinder, sehr hilfreich, Wichtige Impulse für unsere Arbeit gingen weiterhin von der von uns in Emmendingen organisierten Tagung "Kommunikation mit Kindern ohne Lautsprache" (AAC) im Oktober 1996 aus.

Folgerungen und Zukunftsperspektiven

Wir haben im Herbst 1995 ganz klein mit einer l. Klasse angefangen und begonnen, unsere Ideen und Konzepte in die Tat umzusetzen. Unsere Hoffnung war, dass wir es schaffen könnten, behinderte und nichtbehinderte Kinder auf der Grundlage von Waldorfpädagogik und anthroposophischer Heilpädagogik gemeinsam zu unterrichten. In einer ersten kleinen Bilanz können wir sagen, dass sowohl die soziale Entwicklung als auch die Lernleistungen unserer Schüler unsere Erwartungen und Hoffnungen übertroffen haben, Die Schule soll weiter wachsen und zu einer echten integrativen Waldorfschule werden können. Dabei werden sich in jeder weiteren Klassenstufe immer wieder Fragen auftun, die neue Lösungen erfordern. Bisher können die behinderten Schüler noch ohne Probleme in den Hauptunterricht integriert werden; allerdings werden sich in den höheren Klassen und bei zunehmender Komplexität des Lernstoffs neue Fragen stellen, was Methodik und Lerninhalte betrifft: Nicht alle werden immer das Gleiche lernen können, aber doch am gleichen Thema arbeiten.

Die enge Zusammenarbeit zwischen den Lehrerteams untereinander und auch mit den Therapeuten und mit dem Schularzt muss gepflegt und ausgebaut werden. Dabei wird die Supervision weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, Wichtig wird auch in Zukunft sein, bei künftigen Lehrern nicht nur nach ihrer waldorfpädagogischen und / oder heilpädagogischen Ausbildung (und möglichst Erfahrung) zu fragen, sondern auch besonders nach ihrer Teamfähigkeit,

In staatlichen Schulen wird in einigen Bundesländern der "gemeinsame Unterricht" schon bis zum Ende der Sekundarstufe I (Klasse 10) erfolgreich praktiziert. Wir unsererseits stehen erst am Anfang und freuen uns auf die Entwicklung der nächsten Jahre und hoffen auf weitere Schulen, die sich einem integrativen Konzept öffnen wollen.

Adresse

Freie Waldorfschule Emmendingen / Neubronnstraße 25 / 79312 Emmendingen

Telefon und Fax (07641) 461-4300

Quelle:

Freimut Bahmann: Integrativer Unterricht an einer Freien Waldorfschule.

Erschienen in: Alfred Heinrich (Hrsg.): WO IST MEIN ZUHAUSE? Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Verlag Freies Geistesleben Stuttgart 1997. S. 229-237

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.10.2005

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