Isolieren? - Integrieren!

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 321 - 331
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Grundsätzliche Bemerkungen

Die Vereinten Nationen haben das Jahr 1981 zum "Internationalen Jahr behinderter Personen" mit dem Generalthema "Volle Beteiligung und Gleichheit" deklariert. Dieses Jahr war für viele Funktionäre, Institutionen, Vereine, Initiativgruppen und nicht zuletzt Betroffene der Anlaß, ihre Forderungen im Rahmen der Sozialpolitik bei den zuständigen Stellen zu deponieren und der Öffentlichkeit über Medien und Aktivitäten näherzubringen. Der Antrag zur Durchführung des "Jahres der behinderten Menschen" war von Libyen eingebracht worden. Das Motiv dafür: angeblich war kein von diesem Land bis dahin gestellter Antrag angenommen worden.

Wir sind überzeugt, daß das "Jahr der behinderten Menschen" Veränderungen gebracht hat. Aber nicht zuletzt das Zustandekommen der Deklaration hinterläßt bei uns ambivalente Gefühle: Veränderungen, die im Bereich der Sozialpolitik bzw. im Bereich der Behindertenarbeit in den letzten 20 Jahren vorgenommen wurden, waren nicht immer identisch mit Verbesserungen. Die medizinisch, sonderpädagogisch und psychologisch bis vor kurzem sicherlich unumstrittene und gut gemeinte Maßnahme der Errichtung von Sonderkindergärten, Sonderschulen, Heimen usw. bewirkte nach den heutigen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen genau das, was der Terminus "Sonder" - Einrichtungen aussagt: Der Behinderte wurde ausgesondert, isoliert und zum Objekt wissenschaftlicher Bemühungen gemacht. Veränderung kann zwar verbal formuliert und in Resolutionen schriftlich niedergelegt, aber häufig nicht oder nur sehr langsam vollzogen werden. Wir leben z.B. derzeit im 20. Jahr nach der Unterzeichnung der europäischen Sozialcharta durch Österreich. In dieser völkerrechtlichen Bestimmung sind Formulierungen enthalten, die heute wie vor 20 Jahren als sehr fortschrittlich anzusehen sind: Diese Sozialcharta beinhaltet bereits das für 1981 von der UNO proklamierte Generalthema "Volle Beteiligung und Gleichheit"

Wir sind daher der Ansicht, daß in der Behindertenarbeit inhaltlich und gesellschaftspolitisch bis jetzt viel weniger erreicht und positiv verändert wurde, als von Funktionären und "Insidern" angenommen wird. Wir glauben vor allem, daß die Probleme der Behinderten in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind und daß die Diskussionen einer Gratwanderung gleichen, bei der man rasch in zwei Extreme abgleiten kann: In das sozial-karitative Extrem mit seiner individualistischen Einzelfallhilfe (man spendet oder hilft, um sein Gewissen zu beruhigen) oder in das andere Extrem, die noch nicht bewältigte Ideologie des Nationalsozialismus, an die wir in Linz ständig durch die Nähe von Hartheim, eine der großen Vernichtungsanstalten, erinnert werden. Zwischen diesen beiden Extremen liegt der Weg, der uns der einzig geeignete zu sein scheint: Das Bemühen um eine vollkommene Integration ohne Rücksicht auf Ursprung und Art der Behinderung.

Diese Forderung wird von vielen Rehabilitationsfachleuten abgelehnt.

Sie wollen Behinderten Angst und Verunsicherung in einer "normalen" Gesellschaft ersparen. Dabei betreiben sie einen immer größer werdenden Aufwand. Heute begegnet uns in der Behindertenarbeit eine kaum zu überbietende Perfektion bei der Schaffung von Einrichtungen, die allerdings dann zu einem Käfig für Behinderte werden. Die Form der Ausgrenzung und Isolierung Behinderter hat sich im Laufe der Geschichte verändert.

Bei der Ablehnung der Behinderten wird es unserer Meinung nach so lange bleiben, wie wir an der Ausgrenzung festhalten. Nur durch den persönlichen Umgang und das Kennenlernen von Behinderten in allen Lebensbereichen können Ängste, Verunsicherung und Vorurteile durch Behinderte und Nichtbehinderte abgebaut werden.

Ausgangsintention des Arbeitskreises

Aus der eingangs beschriebenen Situation und den daraus resultierenden Erkenntnissen entstand im Jahre 1976 ein Arbeitskreis aus Behinderten und Nichtbehinderten. Allen nichtbehinderten Mitgliedern gemeinsam war ein professioneller oder privater Kontakt mit Behinderten. Allen gemeinsam war aber auch ein Unbehagen, eine Unzufriedenheit mit dem "professionellen Umgang" mit Behinderten, die sich aber erst im Laufe der Entwicklung des Arbeitskreises konkretisierte.

Bei der gemeinsamen Reflexion über dieses Unbehagen und einer Analyse der bestehenden Unzufriedenheit zeigten sich Ursachen, die nicht ausschließlich für Behinderte zutrafen, sondern in vielen Punkten mit jenen von Nichtbehinderten in vergleichbaren Lebens- und Arbeitssituationen identisch waren; so ist z.B. die Benachteiligung von Personen aus der Unterschicht bei der Schul- und Berufsausbildung jener von Behinderten vergleichbar.

Das "Behindertenproblem" wurde von unserer Gruppe somit in vielen Belangen als deckungsgleich mit Problemen anderer unterprivilegierter Gruppen (Arbeitslose, unqualifizierte Arbeiter) gesehen, während es von vielen wissenschaftlichen Disziplinen (Medizin, Psychologie, Soziologie) zu einem speziellen Problem gemacht wird, um die eigene "wissenschaftliche Arbeit an Behinderten" (z.B. Behinderte als Objekte von Untersuchungen, Behinderte als Objekte von Psycho-, Arbeits-, Beschäftigungs- und anderen Therapeuten) zu legitimieren. Diese Problemsicht hatte zur Folge, daß unsere Gruppe sich nicht als reine "Selbsthilfegruppe" begriff, sondern die Legitimation für ihr Bestehen in der elementaren Gemeinsamkeit gesellschaftspolitischer Anliegen von "Personen mit Problemen bei der Bewältigung verschiedener Lebenssituationen" sah.

Kernprobleme unserer Unzufriedenheit waren: Einige Mitglieder unserer Gruppe, die vorher in Behindertenverbänden organisiert gewesen waren, hatten die Erfahrung gemacht, daß ihre Interessen durch Funktionäre nicht gut vertreten wurden. Die Forderungen der Verbände waren häufig identisch mit den Anliegen der Funktionäre, nicht aber mit den Bedürfnissen der Betroffenen (Entfernung der Funktionäre von der Basis).

Viele Forderungen wurden jahrelang ohne Erfolg an die zuständigen Stellen herangetragen.

So enthält z.B. der Forderungskatalog des Zivilinvalidenverbandes anläßlich des Jahres der behinderten Menschen Forderungen, die vom selben Verband bereits vor zehn Jahren gestellt wurden.

Die Verbände haben es unserer Meinung nach verabsäumt, wirksame Strategien zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu entwickeln. Der Einsatz erfolgversprechender Mittel - etwa dem der Demonstration - zur Durchsetzung von Forderungen wird von partei- und institutionspolitischen Zwängen sowie Abhängigkeiten von politischen Persönlichkeiten und Geldgebern unterbunden.

Über Standortprobleme (z.B. des Behindertendorfes Altenhof in OÖ), Größenordnung (z.B. von geschützten Werkstätten, Beschäftigungstherapieeinrichtungen) und Qualität der Betreuung (z.B. von Behinderten in psychiatrischen Anstalten) wurde und wird in letzter Zeit viel diskutiert. Uns erscheint in diesem Zusammenhang zweierlei bemerkenswert:

Bis vor kurzem wurden auch in Österreich "Mammutinstitutionen für Behinderte" als geeignet (weil wirtschaftlich) angesehen. Mittlerweile gibt es Ansätze zu strukturellen Änderungen, die auf eine Verkleinerung und Dezentralisierung abzielen. Beispiele sind die Psychiatriereform in Wien, die Schaffung von Übergangswohnheimen für psychisch Behinderte in Linz, Salzburg und Graz, das regionale Betreuungskonzept der Lebenshilfe OÖ in Form kleinerer Therapiezentren in der unmittelbaren Umgebung von Behinderten. Sie sollen eine Integration des Behinderten in die Gesellschaft erleichtern. Doch alle diese Bemühungen stellen in den Augen der Betroffenen nur kosmetische Operationen dar und gehen am eigentlichen Problem vorbei:

Es geht immer nur um eine Verbesserung des Instrumentariums zur Betreuung Behinderter und nicht um eine qualitative Änderung im Sinne von Selbstbestimmung und totaler Integration (wobei hier Integration nicht als Ziel, sondern als dauernd zu praktizierende Methode zu verstehen ist). Integration ist unserer Auffassung nach nicht das höchstmögliche Ziel, das die Nichtbehinderten den Behinderten anbieten können (und zu dessen Erreichung verschiedene, ja oft verschwenderische Mittel in Form verschiedener Instrumentarieneingesetztwerden),sondern das dauernde Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten in allen Lebensbereichen. Dies würde auch - im Gegensatz zur derzeitigen Diskriminierung - eine Verwirklichung der Menschenrechte bedeuten.

Die Größe und der Aufwand der derzeitigen Behinderteneinrichtungen verhindern nicht nur die totale Integration (weil sie ja benützt werden müssen, damit sie sich rentieren), sondern schaffen auch neue selektive Verhaltensmuster gegenüber Betroffenen, die sich aus dem Wechselspiel von Vollbelag und finanziellem Aufwand ergeben: Man kann nämlich ohne weiters auf einen schwierigen Fall, also einen Problemfall, verzichten, wenn durch den Vollbelag die finanzielle Sicherheit der Institution garantiert ist. Die Aufnahmekriterien und die Selektion der für eine Institution "passenden Klienten" werden mit steigender Nachfrage immer strenger. Zugleich wächst die Intoleranz und Gleichgültigkeit.

In großen Behinderteneinrichtungen wird von den Professionellen eine eigene Sprachregelung zur Bezeichnung "ihrer Klienten" getroffen. So spricht man nicht von einem Herrn Müller mit der Diagnose Spastizität, sondern von unserem "Spasti". Diese Sprachentwicklung in Institutionen ist symptomatisch für die Einstellung der Betreuer zu ihrer Arbeit, die man als "Verwaltung der Behinderten" von Objekten" oder - überspitzt ausgedrückt - als "Behandlung von Objekten" bezeichnen könnte.

Mitglieder und Adressaten des Arbeitskreises

Neben einer Kerngruppe von zehn Personen, die dem Arbeitskreis seit seiner Gründung im Herbst 1976 angehören, gibt es ca.15 weitere Mitglieder, die aus beruflichen oder privaten Gründen nur unregelmäßig an den Sitzungen des Arbeitskreises teilnehmen. Die einzelnen Arbeitskreismitglieder- "Behinderte" und "Nichtbehinderte" - sind Angestellte in Betrieben und Institutionen, Beamte oder Sozialarbeiter, stehen in Ausbildung (Studenten, Sonderschullehrer) oder sind (behinderungsbedingt) Pensionisten.

Zielgruppen für die Tätigkeit des Arbeitskreises sind alle politischen und privaten Institutionen, Vereine, Verbände und Personen, die mit der Behindertenarbeit im weitesten Sinne befaßt sind. Dazu gehören vor allem in dem für den Arbeitskreis relevanten Tätigkeitsbereich von Linz bzw. OÖ einige Abteilungen der oö. Landesregierung und des Magistrates Linz (z.B. Sozialhilfe, Stadtbauamt). Daneben zählen aber auch Behindertenverbände, Architekten, die Verkehrsbetriebe und viele andere Institutionen zu den ständigen Gesprächspartnern. Als Adressaten besonders wichtig sind schließlich die bislang über Behindertenprobleme noch nicht genügend aufgeklärten Teile der Linzer Bevölkerung; eine Integration von Randgruppen kann langfristig ja nur dann erreicht werden, wenn es gelingt, bei diesen Menschen ein Problembewußtsein zu schaffen.

Darüber hinaus gibt es seit 1979 eine intensive Zusammenarbeit mit folgenden anderen Initiativgruppen:

  • Aktionsgruppe Körperbehinderte-Nichtbehinderte, Wien

  • Initiativgruppe Behinderte-Nichtbehinderte, Innsbruck

  • Elterninitiative, Wien.

Diese Gruppen treffen sich zweimal jährlich zu einem Austausch von Erfahrungen und zur Festlegung von Strategien zur Durchsetzung ihrer Forderungen. Gerade die Frage nach geeigneten Strategien stellt einen Kernpunkt der Arbeit aller Initiativgruppen dar.

Die Ergebnisse und Erfahrungen der etablierten Vereine zeigen, daß die bisherigen Aktionen, Methoden und Verhandlungstaktiken in vielen Fällen erfolglos waren und keinen Fortschritt brachten. Das Treffen der Initiativgruppen macht deutlich, daß die traditionelle Behindertenarbeit in vielen Bereichen versagt und daß die Behinderten sich verwaltet und vergewaltigt fühlen.

(Der von den Initiativgruppen erarbeitete Forderungskatalog ist im vorliegenden Buch abgedruckt.)

Als eine mögliche Strategie wurde der "Stufenplan der Eskalation" entwickelt. Das bedeutet im Umgang mit Politikern konkret folgende Vorgangsweise:

  • Herstellen einer Gesprächsbasis

  • Verhandlung

  • Herstellen einer Öffentlichkeit, wenn die Vorstellungen durch Verhandeln nicht durchgesetzt werden können, z.B. durch Medien, Flugblätter etc.

  • Aktionen, z.B. Demonstrationen, als "verstärkende Maßnahmen". Der "Stufenplan der Eskalation" und die Frage der "gewaltfreien Aktion" als strategische Konzepte bedürfen sicher noch der Diskussion.

Der neue Weg, den die Behinderten und Nichtbehinderten durch die Initiativgruppen beschreiten, besteht darin, sich aus der strengen Umklammerung von Vereinen und Organisationen, ihren Statuten und Hierarchien zu befreien und einen gemeinsamen Weg in Form der Teilnahme von Betroffenen (Behinderten) und Nichtbehinderten zu gehen. Bei der Diskussion der Frage, wie Politiker und Funktionäre Behinderteninteressen vertreten, wurde deutlich, daß nur ein entsprechender Druck durch die Betroffenen zum Erfolg führt. Wie verschiedene Beispiele aus der Praxis zeigen, z.B. Gehsteigabschrägungen im Stadtbereich, Schaffung neuer Wohnmodelle usw., führt nur ein hartnäckiges und dauerndes Verfolgen der eigenen Interessen und die permanente Konfrontation mit den Politikern zum Ziel.

Finanzierung

Der Arbeitskreis erhält jährliche Subventionen von der oö. Landesregierung, der Stadt Linz, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für OÖ sowie Spenden von Banken. Vom Beruflichen Bildungs- und Rehabilitationszentrum Linz erhalten wir Unterstützung in Form von Räumlichkeiten, Material, Arbeitszeit für Schreibarbeiten usw. Weitere Einnahmen ergeben sich durch Spenden und Pickerlaktionen ("Isolieren statt integrieren ?") sowie durch den Verkauf von Informationsmaterial.

An dieser Stelle möchten wir allen jenen danken, die unseren Arbeitskreis finanziell unterstützen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung unserer Ziele leisten. Gleichzeitig muß aber auch erwähnt werden, daß finanzielle Zuwendungen oft mit geradezu lächerlichen Argumenten abgelehnt werden. So berief sich z.B. die VÖEST-ALPINE in einem im Ton des Bedauerns abgefaßten Schreiben auf die "weltweite Stahlkrise", die einen finanziellen Zuschuß an den Arbeitskreis nicht erlaube. Verstärkt werden diese Schwierigkeiten der Geldbeschaffung sicherlich dadurch, daß unser Arbeitskreis nicht als Verein eingetragen ist - diese Konstruktion wurde von uns bewußt vermieden.

Bisherige Tätigkeitsschwerpunkte

Das hauptsächliche Ziel unserer Gruppe kann grob umrissen werden als Mithilfe zur Beseitigung baulicher, technischer, sozialer, ökonomischer und psychologischer Barrieren, die eine Benachteiligung Behinderter in den verschiedenen Lebensbereichen bewirken können.

Zur Erreichung dieses Zieles wurden bzw. werden folgende Maßnahmen und Aktionen eingesetzt:

Rollstuhltraining im Zentrum von Linz

Bei dieser Aktion hatten Passanten die Möglichkeit, sich selbst in einen Rollstuhl zu setzen und zu versuchen, Hindernisse wie Stiegen oder Rampen zu überwinden. Dadurch wurde die Bevölkerung sowohl mit der Handhabung eines Rollstuhles, wie auch mit den Schwierigkeiten der Überwindung baulicher Barrieren vertraut gemacht; außerdem kam es zu einem verstärkten Kontakt zwischen Behinderten und Bevölkerung. Das Rollstuhltraining wurde sowohl von Presse und Rundfunk, von der Bevölkerung wie auch den Betroffenen sehr positiv bewertet.

Vorschläge zur Errichtung einer Trainingswohnung für Behinderte

Eine derartige Wohnung wird beim Österreichischen Forschungsinstitut für behindertengerechte Umweltgestaltung eingerichtet und bietet Behinderten die Möglichkeit der Erprobung neuer Einrichtungen zur besseren Bewältigung von Alltagsproblemen.

Test der Linzer Fußgängerzone

Nach dem Umbau der Linzer Landstraße in eine Fußgängerzone wurde die behindertengerechte Ausstattung von Mitgliedern des Arbeitskreises Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte - überprüft. Dabei stellten sich wieder die üblichen Mängel heraus: Die Abschrägung der Gehsteigkanten sowie behindertengerechte Telefonzellen fehlten (verbesserte Telefonzellen werden bereits Zug um Zug installiert).

Überarbeitung der ÖNORM B 1600, die das Bauen für behinderte und betagte Menschen regelt

Diese Norm enthält teilweise ungenügende Empfehlungen, z.B. hinsichtlich der Höhe von Randsteinen (für einen Rollstuhlfahrer spielt jeder Zentimeter eine Rolle) oder der Ausmaße von sanitären Einrichtungen (ein WC für einen Rollstuhlfahrer muß wesentlich größer sein als für einen Nichtbehinderten).

Kontaktaufnahme mit Vereinen, Institutionen und Organisationen, die sich mit Fragen von Randgruppen befassen

Zweck dieser Kontaktaufnahme war die Schaffung einer breiteren Basis zur Durchsetzung gemeinsamer Anliegen. Viele Probleme der Bewährungshilfe, der Nichtseßhaften usw. sind auch Probleme von Behinderten (Wohnungsprobleme, finanzielle Probleme). An ein gemeinsames Vorgehen zur Bewältigung der Probleme ist jedoch derzeit oft nicht zu denken, und zwar sowohl auf Grund von vereinsegoistischen Gründen - Funktionäre fürchten um ihre Existenz, Übertragung von Subventionen an andere Vereine etc. - wie auch wegen der bestehenden Randgruppenhierarchie der Nichtseßhafte, der "Sandler", steht in der Gesellschaft auf der untersten Stufe, weil er seine Situation selbst "verschuldet" hat; der Behinderte, der durch einen Schicksalsschlag in diese Situation geraten ist, möchte mit einem Sandler nichts zu tun haben!

Neben den aufgezählten Aktionen sollen noch zwei Arbeiten näher beschrieben werden, die unsere Tätigkeit und die Zusammengehörigkeit der Gruppe stark geprägt haben:

  • ein alternatives Wohnprojekt

  • die Öffentlichkeitsarbeit in Schulen in Linz

Das "alternative Wohnprojekt" Auwiesen, Linz

Anlaß für den Beginn der Arbeit an diesem Projekt war ein Besuch unserer Gruppe im "berühmt-berüchtigten" Behindertendorf Altenhof/Hausruck, das mittlerweile nicht nur von den Befürwortern einer Integration, sondern auch von Politikern, dort Angestellten und Dorfbewohnern aus verschiedenen Gründen kritisiert wird (hohe Kosten, Isolation innerhalb des Dorfes bei Schneelage, Ghetto nach außen).

Auf Grund dieser Erfahrung entschloß sich unsere Gruppe, Wohnungen zu schaffen, die ein "Wohnen in gewohnter Umgebung" ermöglichen und das Abschieben in ein Heim vermeiden sollten. Ein Auszug aus der Projektbeschreibung soll unsere Vorstellungen verdeutlichen:

Zielvorstellungen

Ziel des Wohnprojektes ist es, alternative Wohnformen für Behinderte, alte Menschen und andere Randgruppen der Gesellschaft zu schaffen. Dabei werden unter "alternative Wohnformen" sogenannte integrierte Wohnungen verstanden, d.h. eine bestimmte Anzahl von Wohnungen für den genannten Personenkreis soll innerhalb eines Wohnkomplexes für Nichtbehinderte vorgesehen werden. Die integrierten Wohnungen sollen zusätzlich zu den bestehenden Einrichtungen geschaffen werden und eine Alternative zum Wohnen in Heimen für Behinderte, Alte etc. darstellen.

Adressaten

Aus dieser Zielsetzung heraus ergibt sich folgender Personenkreis für die Einbeziehung in das Wohnprojekt:

  • Behinderte, unabhängig von Art und Schweregrad der Behinderung

  • Alte Menschen

  • Soziale Randgruppen (Strafentlassene, Nichtseßhafte).

Bedarfserhebung

Das Projekt soll vor allem den Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung tragen. Aus diesem Grund werden die Betroffenen in den Planungsprozeß mit einbezogen und wird vor allem der konkrete Bedarf erfragt. Mit Hilfe des Zivilinvalidenverbandes OÖ wurden über 1.000 Personen angeschrieben und auf das Wohnprojekt Auwiesen aufmerksam gemacht. Rund 20 davon bekundeten Interesse an dem Projekt, vier werden dort letztlich eine Wohnung beziehen. Dazu kommen noch ca. zehn nichtbehinderte Personen, die ebenfalls über Initiative des Arbeitskreises einziehen werden.

Rahmenbedingungen

Bauliche Voraussetzungen: Um eine behindertengerechte Bauweise der gesamten Wohnanlage zu gewährleisen, wurden schon vor Beginn des Bauvorhabens mit allen zuständigen Stellen Kontakte aufgenommen. Gemeinsame Besprechungen fanden statt zwischen

  • den planenden Architekten

  • der zuständigen Wohnungsgenossenschaft

  • dem Wohnungsamt der Stadt Linz als Vergabestelle für die Wohnungen

  • der Wohnbauförderungsstelle des Landes OÖ

  • den Interessenten und Wohnungswerbern

  • sowie den Mitgliedern des Arbeitskreises.

Die wesentlichen Ergebnisse dieser Gespräche sind darin zu sehen, daß sowohl die ÖNORM B 1600, die das Bauen für Behinderte und alte Menschen regelt, wie auch individuelle Wünsche der Behinderten - sofern sie früh genug bekannt sind - berücksichtigt werden können, ohne Mehrkosten zu verursachen. Allerdings müssen auch finanzielle Fragen wie Wohnbauförderung und andere Zuschüsse rechtzeitig beantragt werden.

Dagegen ist die Einrichtung von Wohngemeinschaften nicht möglich, da sie in den Wohnbauförderungsbestimmungen nicht vorgesehen sind.

Personelle Voraussetzungen: Zur Gewährleistung einer reibungslosen Bewältigung von Alltagsproblemen durch die dort lebenden Behinderten ist nicht mehr, sondern eher weniger Personal notwendig als in einer Anstalt. Besonders wichtig sind Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenpfleger.

Infrastrukturelle Voraussetzungen: Besondere infrastrukturelle Voraussetzungen sind nicht erforderlich (Post, Kindergarten, Schulen usw.), jedoch ist auf eine behindertengerechte Ausstattung der betreffenden Einrichtungen zu achten.

Merkmale des Projektes

Zwei Merkmale des Projektes erscheinen uns besonders erwähnenswert:

  • Die für die Behinderten geschaffenen Einrichtungen personeller und baulicher Art (Sozialarbeiter, Rampen) kommen allen Bewohnern zugute.

  • Das Zusammenleben zwischen Behinderten und Nichtbehinderten stellt die Grundlage für eine wirkliche Integration dar, auch wenn der Abbau von Vorurteilen noch viel Arbeit durch den zuständigen Sozial-(Gemeinwesen-)Arbeiter erfordert.

Bisherige Erfahrungen und Ergebnisse

Die bisherige Arbeit am Wohnprojekt Auwiesen hat gezeigt, daß die Realisierung eines derart komplexen Modells - die Bereitschaft aller Beteiligten von Beginn an vorausgesetzt - durchaus möglich ist. Darüber hinaus erscheint uns besonders wichtig, daß die Richtlinien für die Vergabe von Wohnungen bei diesem Projekt großzügiger als üblich gehandhabt wurden:

  • "Behindertenwohnungen" wurden nicht nur an Personen mit einer funktionellen Beeinträchtigung vergeben, sondern auch an solche, die nicht unter den Begriff "Körperbehinderte" (psychisch Kranke, Milieugeschädigte) fallen.

  • In besonderen Fällen verzichtete man auf das sonst übliche Kriterium der Ortsansässigkeit und berücksichtigte auch Behinderte aus dem übrigen oberösterreichischen Raum.

Wie bereits erwähnt, wurden Sonderwünsche bei der Wohnungseinrichtung für Körperbehinderte aus Mitteln der Wohnbauförderung bezahlt.

Die bisherige Arbeit zeigt aber auch, daß trotz des guten Willens der beteiligten Stellen viele Punkte übersehen, nicht klar ausgesprochen oder zu unverbindlich formuliert waren. Negativ muß hier erwähnt werden, daß die Wohnungsgenossenschaft für die Benützung des Liftes von den Behinderten eine zusätzliche, vorher nicht angegebene Monatspauschale von S 700,- einheben möchte. Dieser Betrag kann den Einzug eines finanziell nicht gut gestellten Behinderten in diese Wohnung gefährden.

Eine weitere wichtige Erfahrung in der Arbeit war die "Unverbindlichkeit von Zusagen". Viele Probleme wurden verschleppt, weil die Gruppe sich auf die Zusage verließ und die Verzögerungstaktik übersah. So wurde z.B. die Einstellung eines Sozialarbeiters im Modellbereich beinahe unmöglich, weil eine vorhandene Zusage nicht eingehalten wurde.

Wie schwierig es ist, bei diesem Wohnmodell zum Ziel zu kommen und nicht im "Labyrinth der Interessen" steckenzubleiben, soll die folgende Darstellung des Modells zeigen:

Abbildung 1: Bezugsgruppen des Wohnprojekts Auwiesen

Öffentlichkeitsarbeit in Schulen, Jugend- und Seniorenclubs

In der Proklamation der Österreichischen Bundesregierung zum Internationalen Jahr der behinderten Menschen heißt es: "Durch Information der Öffentlichkeit muß erreicht werden, daß die Behinderten keine Randschicht der Gesellschaft bilden, sondern sowohl am Arbeitsplatz als auch in sonstigen Bereichen der menschlichen Begegnung als gleichwertige Partner angenommen werden. Die Bewußtseinsbildung sollte bereits in Schule und Familie beginnen. Um schon den jungen Menschen mit den Problemen des behinderten Mitmenschen vertraut zu machen und hiefür sein Verständnis zu wecken, soll die Thematik in die Lehrpläne aller Schulen aufgenommen werden."

Dieser Verpflichtung, die sich die Bundesregierung selbst auferlegt hat, kommen der Arbeitskreis und das Berufliche Bildungs- und Rehabilitationszentrum schon seit Herbst 1980 nach. Als gemeinsames Programm dieser beiden Einrichtungen und auf Empfehlung des Präsidenten des Landesschulrates für Oberösterreich wurde in den Schulen von Linz und Umgebung Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Seit Beginn dieser Aktivität Anfang 1981 wurden rund 2.500 Schüler - von Vorschul- bis zu Maturaklassen - mit dem Problem der Behinderten konfrontiert, und zwar sowohl durch Diskussionen mit Betroffenen als auch durch verschiedene Medien (Film, Dias, Video). Die Öffentlichkeitsarbeit wird größtenteils von behinderten und nichtbehinderten Mitgliedern des Arbeitskreises "Bewältigung der Umwelt" in ihrer Freizeit oder im Rahmen einer Dienstfreistellung durchgeführt. Die Reaktionen von Schülern, Studenten und dem Lehrkörper waren bisher so positiv, daß diese Aktion über das Jahr 1981 hinaus durchgeführt werden soll, weil wir überzeugt sind, daß diese Form von Aufklärungsarbeit, nämlich im direkten Kontakt zwischen Betroffenen und der Jugend, die sinnvollste Möglichkeit zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Behinderten darstellt.

Kontaktadresse:

Arbeitskreis "BEWÄLTIGUNG DER UMWELT"

Grillparzerstraße 50

4020 Linz

Mitarbeiter des Arbeitskreises:

Franz Peter Visvader, geb. 1959, Sozialarbeiter

Christian Rachbauer, geb. 1949, Soziologe

Adolf Völkl, geb. 1939, Betriebsseelsorger

Gaby Köglberger, geb. 1959, Sonderschullehrerin

Monika Trübswasser, geb. 1950, Büroangestellte

Gisela Punz, geb. 1963, Buchbinderin

Gerhard Kronsteiner, geb. 1952, Schlosser

Reinhard Karoliny, geb. 1954, Student

Klaudia Kletzander, geb. 1960, Büroangestellte

Ing.Herbert Mallinger, geb. 1940, techn. Angestellter

Gunther Trübswasser, geb. 1944, Beamter

Anneliese Pührer, geb. 1956, Pflegerin/Drogistin

Maria Pauker, geb. 1959, Telefonistin

Brigitte Hollinetz, geb. 1943, Hauskrankenschwester

Emilie Schwarz, geb. 1936, Pensionistin

Quelle:

Arbeitskreis "Bewältigung der Umwelt" - Linz: Isolieren? - Integrieren!

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 321 - 331

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.02.2005

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