Forderungskatalog der Alternativgruppen von Behinderten und Nichtbehinderten Österreichs

Autor:in - Alternativgruppen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 391 - 400
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Gefordert wird die totale Integration

Es geht darum, alle gesellschaftlichen Lebensbereiche so zu gestalten, daß Behinderte daran teilnehmen können.

Es geht nicht um eine Eingliederung durch Ausgliederung, wie sie derzeit durch Schaffung immer neuer Sonderinstitutionen betrieben wird, und auch nicht darum, Behinderte in vollkommen unveränderte "normale" Lebensbereiche zu integrieren.

Es geht tendenziell um die Verbesserung der wichtigsten Lebensbereiche zugunsten aller Menschen - und damit auch automatisch aller Behinderten; Voraussetzung für eine Integration Behinderter ist ja ein stärkeres Eingehen auf die intellektuellen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten jedes Einzelnen. So ist z.B. eine Schule, die eine Integration Behinderter fördert, auch für Nichtbehinderte eine bessere Schule.

Die Forderung nach Integration hat nach unserer Auffassung also nichts mit Sonderforderungen für Behinderte zu tun. Es geht vielmehr um die Frage nach der Lebensqualität und den demokratischen Strukturen der gesamten Gesellschaft, in der wir leben.

Inhaltsverzeichnis:

1. Integration Behinderter in den Vorschulbereich

2. Integration Behinderter in den Schulbereich

3. Integration Behinderter ins Arbeitsleben

4. Abbau baulicher Barrieren

5. Verkehrsmittel

6. Wohnorganisation

7. Therapeutische und medizinische Versorgung

8. Sexualberatung

1. Integration Behinderter im Vorschulbereich

Die Voraussetzungen dafür wären: Behinderte sollen prinzipiell in alle Kindergärten aufgenommen werden; kleinere Gruppengrößen und mehr Personal; maximal ein Drittel Behinderte in einer Gruppe; Therapie im Kindergarten, in Zusammenarbeit mit mobilen und ambulanten Therapieeinrichtungen, und zwar sollen in öffentlichen Kindergärten integrierte Gruppen eingeführt werden bei gleichzeitiger schrittweiser Auflösung der Sonderkindergärten. Das Kindergartenpersonal soll sich im Rahmen der Aus- und Weiterbildung mit integrationsfreundlichen pädagogischen Konzepten, wie Montessori und Weldorf, auseinandersetzen müssen.

2. Integration Behinderter im Schulbereich

In den Schulen sollen Bedingungen geschaffen werden, die auch behinderten Kindern die Möglichkeit geben, am Unterricht teilzunehmen. Dies erfordert den Abbau baulicher Barrieren und die Einführung neuer pädagogischer Konzepte, die an der Individualisierung des Unterrichts orientiert sind. Soziales und kognitives Lernen muß zum Nutzen der Behinderten und Nichtbehinderten miteinander verbunden werden (Montessori, Freinet, Waldorf).

Der Schwerpunkt der "Sonderpädagogik" soll nicht auf dem weiteren Ausbau der Sonderschulen und Sonderschuleinrichtungen, sondern auf der schrittweisen Integration der Behinderten in die Regelschulen liegen.

Da der Grad der beruflichen und sozialen Integration beim behinderten Menschen besonders von seinen Bildungsmöglichkeiten abhängt, fordern wir die praktische Durchsetzung der Chancengleichheit im obigen Sinn. In diese Forderung schließen wir auch ausdrücklich die berufsbildenden Schulen bis zu den Universitäten ein.

3. Integration Behinderter ins Arbeitsleben

In berufsbildenden Schulen und in der Lehrausbildung soll grundsätzlich die Integration Behinderter angestrebt werden. Das bedeutet, daß Behinderte in ihrer Ausbildung nicht weiter auf "Standardberufe" reduziert werden dürfen. Ergänzt werden muß eine derartig verbesserte Berufsausbildung durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dabei ist vor allem auf die Einhaltung des Invalideneinstellungsgesetzes durch öffentliche Stellen zu achten. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil ca. 70% der österreichischen Wirtschaft direkt oder indirekt verstaatlicht sind.

Die Schaffung von "Geschützten Werkstätten" ist keine Lösung des Problems. Statt dessen sollen neue Arten von geschützten Arbeitsplätzen geschaffen werden:

Ein Behinderter könnte z.B. besser in einen "normalen Arbeitsprozeß" integriert werden, wenn statt Teilprodukten am Fließband in Arbeitsgruppen ganze Produkte hergestellt würden und der Behinderte, entsprechend seine Fähigkeiten und ohne besonderen Leistungsdruck, an der Arbeit teilnehmen könnte. Forderungen dieser Art beziehen sich auf eine Verbesserung der Qualität der Arbeit überhaupt und müßten angesichts der Tatsache, daß Behinderte nur zu oft direktes Abfall- und Unfallprodukt dieser Arbeitswelt sind, eine selbstverständliche gewerkschaftliche Forderung sein.

Kurzfristige Forderungen:

  1. Erhöhung der Ausgleichstaxe auf den branchenüblichen Kollektivvertragslohn.

  2. Unbedingte Einstellungspflicht des öffentlichen Dienstes und der mehrheitlich im öffentlichen Besitz befindlichen Betriebe entsprechend dem Invalideneinstellungsgesetz (Vorbildfunktion für die Privatwirtschaft).

  3. Einstufung behinderter Arbeitnehmer entsprechend ihrer Qualifikation (was derzeit durchaus keine Selbstverständlichkeit ist).

  4. Schulung der Invalidenvertrauensleute.

  5. Kontrolle der Beschäftigungstherapieeinrichtungen durch das Arbeitsinspektorat.

  6. Abschaffung der gesetzlich diskriminierenden Bestimmungen im öffentlichen Dienst bei der (Nicht-)Pragmatisierung behinderter Arbeitnehmer.

Mittelfristige Forderungen:

  1. Ausbau des Invalideneinstellungsgesetzes zu einem umfassenden "Bundesbehindertenrecht".

  2. Auflösung der Überschneidung von Arbeitsämtern und Invalidenämtern im Behindertenbereich: Schaffung mobiler Berufs- und Sozialberatungsdienste nach den Prinzipien dezentralisierter Gemeinwesenarbeit.

  3. Bessere Aus- und Weiterbildung der in dem unter Pkt. 2 angeführten Bereich Tätigen, speziell der Berufsberater.

  4. Kollektivvertragsentlohnung für alle Behinderten in den derzeit bestehenden Sondereinrichtungen, soweit sie Arbeit verrichten.

  5. Begrenzung von Arbeits- und Beschäftigungstherapie auf zielorientierte therapeutische Tätigkeit; Abkehr von jahrelangen Scheintherapien unter Ausnutzung der Arbeitskraft Behinderter.

  6. Information über Einsatzmöglichkeiten, Hilfsmittel und gesetzliche Bestimmungen im Rahmen der Gewerkschaftsschulen und -schulungen.

4. Abbau baulicher Barrieren

Eine der Grundvoraussetzungen für die Integration ist der Abbau technischer Barrieren in allen Lebensbereichen.

Konkret zu fordern ist daher die sofortige Aufnahme der ÖNORM B 1600 in die jeweilige Bauverordnung der Länder. Besonders für öffentliche und öffentlich zugängliche Gebäude (Kaffeehäuser, Banken, Kultureinrichtungen, Schulen, Gasthäuser usw.) muß die Anwendung der ÖNORM B 1600 verpflichtend sein.

Kurzfristige Forderungen:

  1. Abflachung der Gehsteige bei Fußgängerübergängen.

  2. Einführung akustischer Signalanlagen bei geregelten Kreuzungen.

  3. Behindertengerechte Gestaltung öffentlicher Fernsprecher.

  4. Behindertengerechte Ausgestaltung öffentlicher WC-Anlagen.

  5. Behindertengerechter Bau von Unter- und Überführungen.

  6. Abschaffung von Drehkreuzen und -türen.

  7. Aufnahme der Inhalte der ÖNORM B 1600 in die Lehrpläne der HTL, sowie in die Ausbildung der Zivilingenieure und Wohnbaukünstler.

  8. Behindertengerechte Kennzeichnung in allen öffentlichen Bereichen.

  9. Gesetzliche Verpflichtung für die Einplanung von 10% behindertengerechten Wohnungen bei öffentlich geförderten Wohnbauten. Diese Wohnungen sind auf das gesamte Wohnbauvolumen gleichmäßig zu verteilen.

  10. Bei Wohnbauten Einplanung von Räumlichkeiten für einen örtlich ansässigen Pflege- und Servicedienst.

  11. Wohnbauförderung bei Rollstuhlfahrern soll an keine Quadratmeter-Zahl gebunden sein.

  12. Volle Finanzierung der behindertengerechten Adaptierung des gesamten Wohnbereiches.

  13. Keine weiteren Neubauten von Alters- und Behindertenheimen.

  14. Öffentliche Förderung zur Gründung von Wohngemeinschaften von Behinderten und Nichtbehinderten.

Langfristige Forderung:

  • Behindertengerechte Adaptierung der öffentlichen Gebäude.

5. Verkehrsmittel

Der Behinderte darf bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht benachteiligt werden.

Kurzfristige Forderungen:

  1. Ausstattung der öffentlichen Verkehrsmittel mit Halterungen (Griffe, Halterungen für Rollstuhlfahrer etc.) und Verbreiterung der Türen und Standflächen.

  2. Behindertengerechte WC's bei der ÖBB.

  3. Anschaffung behindertengerechter Transportmittel (z.B. City-Busse, Behindertentaxis) und deren jederzeitige Benutzung zu Tarifen der öffentlichen Verkehrsmittel als Übergangslösung bis zur Erfüllung der langfristigen Forderung.

  4. Anbringung von Außenlautsprechern (Verständigung für Blinde) an öffentlichen Verkehrsmitteln.

  5. Ausstattung der S-Bahnen in Wien mit Tonbändern zur Stationsangabe.

  6. Anbringung von tastbaren Hinweistafeln bei Umsteigestellen, Auf- und Abgängen.

  7. Akustische Kennzeichnung der Druckknöpfe zum Aus- und Einstieg.

Langfristige Forderung:

  • Planung und Einführung vollkommen behindertengerechter Verkehrsmittel bei neuen Generationen von Bussen, Straßenbahnen etc.

6. Wohnorganisation

Initiierung und öffentliche Unterstützung von

  1. Service-Häusern: Diesen Häusern liegt ein Konzept der Mischung von Alten und Jungen, Behinderten und Nichtbehinderten zugrunde, wobei im Hausbereich spezielle Dienstleistungen - Essen, Pflege, kulturelle und therapeutische Möglichkeiten - angeboten werden sollen. Maximal ein Drittel der Wohnungen soll an Behinderte vergeben werden.

  2. Behindertengerechte Wohnungen: Diese Wohnungen sollen in "normale" Wohnbereiche eingestreut sein und über ein Service-Center oder soziales Zentrum, das Dienstleistungen organisiert, verfügen.

  3. Wohngemeinschaften: Behinderte und Nichtbehinderte sollen zusammenleben, wobei jedes Mitglied den Beitrag an die Gemeinschaft leistet, der seinen Möglichkeiten entspricht; so könnten die Nichtbehinderten etwa die Pflegearbeiten übernehmen.

  4. Hauspflegedienste: Die bestehenden Hauspflegedienste sollen - um eine Abhängigkeit von wohltätigen Helfern zu vermeiden - ausgebaut werden. Zivildiener sollen auch für einzelne Behinderte eingesetzt werden.

7. Therapeutische und medizinische Versorgung

Einführung von regionalen Gesundheits- und Sozialambulatorien als Alternative zu großen zentralen Therapiestationen (Krankenhäusern, Sondereinrichtungen).

Einführung von mobilen Beratungsdiensten, mobiler Ergo- und Physikotherapie.

8. Sexualberatung

Der Behinderte wird von und durch die Gesellschaft zur Asexualität verurteilt. Das in der Gesellschaft gestörte Verhältnis zur Sexualität (Fortpflanzungsakt, menschlicher Körper als Reizobjekt, Sexualität als Tauschwert) wirkt sich bei Behinderten besonders negativ aus.

Forderung: Einrichtung eines regional organisierten Sozialberatungsdienstes, der Sexualberatung und direkte Sexualhilfe leistet.

Quelle:

Alternativgruppen: Forderungskatalog der Alternativgruppen von Behinderten und Nichtbehinderten Österreichs.

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 391 - 400

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.08.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation