Was ist Selbstbestimmung und was nicht

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: "Fact Sheet: Summary of Self-Determination" Der Text ist erschienen bei National Resource Center on Supported Living and Choise, Syracuse University, 805 South Crouse Avenue, Syracuse, NY 13244-2280, http://soeweb.syr.edu/thechp/; Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Rachael Zubai-Ruggieri - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at
Copyright: © Michael Kennedy, Lori Lewin 2004

Was ist Selbstbestimmung und was nicht:

  • Selbstbestimmung ist kein Modell oder Programm mit einer vorgegebenen Speisekarte, die Dienstleistungen oder einen festgelegten Weg, liefert.

  • Selbstbestimmung ist ein Prozess, der von Person zu Person verschieden ist. Er hängt davon ab, was jede Person für notwendig und wünschenswert erachtet, um ein befriedigendes und für sich selbst sinnvolles Leben schaffen zu können. Menschen mit Behinderung müssen nicht mehr länger Dienstleistungen erhalten, die nach traditionellen Modellen vorgegeben werden. Sie sind "frei" a la carte zu wählen. Das schließt mit ein, dass die Dienstleistungen, die sie wünschen, auf genau die Art angeboten werden, die ihre Bedürfnisse trifft.

  • Selbstbestimmung ist beides: Personenzentriert und personengeleitet. Sie anerkennt das Recht von Menschen mit Behinderung für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen. Selbstbestimmung heißt, dass das Individuum und nicht der Dienstleistungsanbieter entscheidet, wo und mit wem es leben will, welche Form der Dienstleistung es wünscht und wer diese zur Verfügung stellt, wie es seine Zeit verbringen will. Das schließt berufliche und schulische Möglichkeiten mit ein oder wie der behinderte Mensch seine Beziehung zur Gemeinschaft gestalten will. Das kann die Teilnahme an Gemeindeveranstaltungen und Bürgergruppen meinen, oder wie Beziehungen mit anderen in der Gemeinde entwickelt und aufrecht erhalten werden.

Die Prinzipien der Selbstbestimmung:

  • Freiheit: Sie ermöglicht den Einzelnen gemeinsam mit von ihnen frei gewählten Familienmitgliedern oder Freunden ihr Leben mit der notwendigen Unterstützung auf einzigartige Weise zu planen und nicht ein fertiges Programm einkaufen zu müssen.

  • Autorität: Sie ermöglicht einer Person mit Behinderung (wenn notwendig gemeinsam mit einem sozialen Unterstützungsnetzwerk oder -kreis) eine bestimmte Menge Geld selbstverantwortlich zu kontrollieren, um damit Dienstleistungen erwerben zu können.

  • Autonomie: Damit ist der eigenverantwortliche Umgang mit jenen Ressourcen und jenem Personal gemeint, die das Individuum mit Behinderung darin unterstützen ein Leben in der Gemeinschaft zu leben, das reich an Integration ist.

  • Verantwortung bedeutet eine anerkannte Rolle in der Gemeinde einzunehmen. Diese Rolle schließt entlohnte Arbeit, Mitgliedschaft bei Organisationen, persönliche Entwicklung und generell die Sorge um andere in der Gemeinschaft mit ein. Darüber hinaus bedeutet es die Verantwortung für die Ausgabe von öffentlichen Geldern zu tragen und sie so einzusetzten, dass sie das Leben von Menschen mit Behinderung bereichern.

Werte, die durch Selbstbestimmung unterstützt werden.

  • Respekt: In der Natur von Selbstbestimmung liegt, Personen mit Behinderung als wertvolle, fähige Menschen zu erleben, die es sich verdienen, mit Respekt behandelt zu werden. Respekt ist mehr als Freundlichkeit und Lippenbekenntnis. Es bedeutet den individuellen Wert einer Person anzuerkennen, seine Stärken oder Fähigkeiten zu sehen, ihm die Beachtung zu garantieren, die wir uns wünschen und ihn wertzuschätzen.

  • Wahlmöglichkeiten: Wahlmöglichkeiten sind von zentraler Bedeutung für Selbstbestimmung. Meist haben Menschen mit Behinderung nur sehr begrenzte Wahlmöglichkeiten. Sie können sehr oft nicht einmal die wichtigen Aspekte ihres Lebens frei wählen. Beispiele dafür sind: wo sie leben, mit wem und wie sie ihre Zeit verbringen und ihr Geld ausgeben und manchmal sogar was sie essen. Die Auswahl ist beschränkt. Manche Personen können zwar beschließen, wer ihre Zimmerkollegin sein soll, aber nicht ob sie eine haben wollen oder nicht. Wirkliche Wahlfreiheit heißt, von derselben Breite von Lebensstilen, Zielen und individuellen Vorlieben nehmen zu können, wie die meisten anderen Menschen auch.

  • Eigentümerschaft: Selbstbestimmung unterstützt Menschen mit Behinderung darin, Besitz über ihr Leben zu erlangen. Eigentümerschaft heißt mehr, als nur Entscheidungen zu treffen. Damit ist gemeint, dass das Individuum die totale und endgültige Autorität ist - der Boss. Den meisten Menschen wird beim Entscheidungsfindungsprozess durch einen Unterstützungskreis geholfen. Wichtig für die Selbstbestimmung ist, dass die Person mit Behinderung das endgültige Sagen hat. Eigentümerschaft erlaubt ihm die Kontrolle über sein Leben und Dienstleistungen zu haben. Er kann die, die Dienstleistungen zur Verfügung stellen, anstellen, sie anweisen oder entlassen. Das gibt ihm die Kontrolle über das Management seiner finanziellen Belange. Eigentümerschaft heißt weiters, dass das Individuum für seine Handlungen haftet. Das schließt mit ein, die Gelder sorgsam auszugeben.

  • Unterstützung: Unterstützung ist der Schlüssel, der Selbstbestimmung funktionieren lässt. Die meisten Menschen haben eine Art von Unterstützungsnetzwerk in ihrem Leben, an das sie sich wenden, wenn sie eine wichtige Entscheidung treffen oder einen wichtigen Schritt vorwärts gehen müssen. Personen mit Behinderung sind nicht anders. Wie auch immer, bevor das Prinzip Selbstbestimmung aufkam, waren die Personen, die dabei halfen Ziele festzusetzen und Pläne zu entwickeln, häufig bezahlte BetreuerInnen. Diese waren in den meisten Fällen eher zugeordnet als gewählt. Selbstbestimmung heißt, dass das Individuum jedes Mitglied seines Unterstützungskreises auswählt und einlädt. Die Mitglieder können Familienmitglieder, Freunde, Menschen aus der Gemeinschaft oder jeder, den sich die Person wünscht, sein. Am wichtigsten ist, dass es Personen sind, mit denen das Individuum eine vertrauensvolle Beziehung hat oder sie aufzubauen wünscht.

  • Möglichkeiten: Die meisten Menschen mit Behinderungen hatten nur begrenzte Möglichkeiten viele Aspekte ihres Lebens zu erfahren. Selbstbestimmung dehnt diese Möglichkeiten aus, indem den Individuen erlaubt wird und sie dazu ermutigt werden, die Möglichkeiten, die in der Gemeinschaft vorhanden sind, zu entdecken. Dass sie das Geld auf die Art ausgeben können, die sie nun wählen, ermöglicht ihnen an Veranstaltungen und Aktivitäten teilzunehmen, die vorher für sie unerreichbar waren. Wenn jemand eingeschränkte Erfahrungen hatte, kann es schwierig für andere sein, ihm oder ihr zu erlauben, Risiken einzugehen. Wie auch immer: Möglichkeiten schließen die Fähigkeit Risiken einzugehen, Fehler zu machen und dadurch zu wachsen mit ein.

Selbstbestimmung schreit nach einer Systemänderung

Wenn Selbstbestimmung erfolgreich sein soll, ist es nötig, dass die, die die Dienstleistungen bereitstellen und bezahlen, gewisse Veränderungen machen und zwar zum einen, wie sie Behinderung konstruieren und zum anderen, wie sie behinderten Personen dienen. Ohne eine Veränderung im Dienstleistungssystem kann keine Philosophie Menschen mit Behinderung darin unterstützen, selbstbestimmte Individuen zu werden. Damit Selbstbestimmung umgesetzt werden kann, muss sich das System wie folgt verändern:

  • Menschen mit Behinderung werden nicht mehr als Personen gesehen, die Begrenzungen haben, die sie von einer vollständigen Teilnahme am Leben abhalten, sondern als wertvolle Bürger, die viele Talente, Stärken und Fähigkeiten haben, mit denen sie einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten können.

  • Personen mit Behinderung sind nicht mehr nur Dienstleistungsempfänger, sondern Individuen mit Rechten und Berechtigungen.

  • Die Dienstleistungen werden nicht mehr durch die Trägervereine bestimmt, sondern die behinderten Personen bestimmen über die Art der Dienstleistungen und die Strukturen der Trägervereine unterstützen dieses Selbstbestimmungsrecht.

  • Auch die finanziellen Ressourcen werden nicht mehr durch das System Trägervereine kontrolliert, sondern von den behinderten Personen selbst.

  • Das gesamte System bewegt sich von Kontrolle hin zu Selbstermächtigung.

Ein letzter Gedanke:

Selbstbestimmung ist, worum es im Leben überhaupt geht. Ohne sie kannst du am Leben sein, aber du würdest nicht leben, du würdest nur existieren.

Quelle:

Michael Kennedy, Lori Lewin: Was ist Selbstbestimmung und was nicht.

Aus dem Englischen: "Fact Sheet: Summary of Self-Determination" Der Text ist erschienen bei National Resource Center on Supported Living and Choise, Syracuse University, 805 South Crouse Avenue, Syracuse, NY 13244-2280, http://soeweb.syr.edu/thechp

Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Rachael Zubai-Ruggieri - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at

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Stand: 16.06.2010

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