Der (etwas?) andere Alltag von Müttern schwerstbehinderter Kinder

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000. Thema: Über die Grenzen schauen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/2000)
Copyright: © Dorothea Wolf-Stiegemeyer 2000

Der (etwas?) andere Alltag von Müttern schwerstbehinderter Kinder

Im Sommer 1999 führte ich eine Befragung durch, die sich mit der Lebenssituation und den erwünschten Hilfen zur Erhöhung der Lebensqualität von Müttern schwerstbehinderter Kinder (N=62) beschäftigte.

Ein ganz wichtiger und belastender Moment im Leben dieser Mütter ist die fehlende Information der Umwelt über die Situation im Zusammenleben mit einem besonderen Kind. Sehr betroffen waren viele Mütter über das fehlende Verständnis sowie die fehlende Achtung und Wertschätzung ihrer Lebensleistung, ihrer Person und der Person ihres Kindes.

Die Gespräche und der Schriftverkehr mit den betroffenen Frauen ließen eine Vielzahl von Einzelschicksalen deutlich werden, die nur schwer in zu verallgemeinernde Thesen zu fassen sind.

Trotzdem möchte ich im Folgenden die Belastungs- und Lebenssituation von Müttern besonderer Kinder möglichst komprimiert zusammenfassen, um einen Überblick zu ermöglichen und auf den schwierigen Alltag der Mütter besonderer Kinder aufmerksam zu machen!

Einleben in die neue Familiensituation

Durch die besondere Situation ihres Kindes wird die Frau nicht nur zur Mutter, sondern zur Mutter eines mit Schwerstbehinderung lebenden Kindes. Sie muss sich nunmehr nicht nur in die Mutterrolle hineinfinden, sondern sich auch noch mit der Behinderung und deren Bedeutung für ihr Leben auseinandersetzen. Die Mutter, selber meist aufgewachsen in einem Sozialgefüge mit Ausblendung und/oder Ächtung von Behinderung, besonders schwerster Behinderung, steht jetzt vor der zunächst unlösbar scheinenden Aufgabe der Zusammenführung ihrer eigenen Einstellung (oft Ablehnung) zu Behinderungen und der sozial und intrapersonal so erwünschten Liebe zu diesem Kind. Es gilt die Ambivalenz von Ablehnung der Behinderung und Liebe/Annahme des Kindes auszuhalten und letztlich in Einklang zu bringen. Die besondere Schwierigkeit liegt darin, dass sich die Ursache zur Ablehnung (= die Behinderung) und der Grund zu lieben (= das eigene Kind) in dieser einen Person untrennbar manifestiert haben.

"Der Weg, den ein Kind mit geistiger Behinderung bei seiner Entwicklung geht, wird häufig für Kind und Eltern auch beschwerlich sein." (Bundesvereinigung Lebenshilfe 1997, 14) Und dieser Weg liegt jetzt - in Ziel, Richtung und Länge noch völlig unklar - regelrecht Angst einflößend vor ihnen.

Stellenbeschreibung und Aufgabengebiet des Berufsbildes: "Mutter eines mit Schwerstbehinderung lebenden Kindes"

Mutter eines besonderen Kindes zu sein ist eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe. "Familien mit behinderten Kindern sind ganz besonderen Anforderungen durch notwendige Hilfe- und Pflegeleistungen ausgesetzt, zugleich stellen sie sich diesen Aufgaben aber auch in hohem Maße und kommen den an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen nach." (Wacker, 1995, 33)

Die meisten Nicht-Betroffenen können sich oft nicht einmal in Ansätzen vorstellen, welches Ausmaß diese Aufgabe hat. Sie ist nicht nur ein Full-time-Job, sondern geht sowohl zeitlich wie auch inhaltlich darüber hinaus. Es bedeutet ständige Rufbereitschaft, Tag- und Nachtdienst; während der Krankheitszeiten des Kindes sowie am Wochenende und in den Ferien, wenn viele andere Menschen Erholungszeiten haben, besteht ein 24-Stunden-Arbeitstag. Lediglich außerhäusliche Betreuungszeiten, wie z.B. Kindergarten, Schule und Werkstatt, bieten eine Erholungspause.

Im Folgenden möchte ich einige der Aufgaben der Mütter besonderer Kinder aufführen; wobei man sich darüber im Klaren sein muss, dass die Bedürfnisse des besonderen Kindes im Mittelpunkt stehen und den Tages- und Nachtablauf über Jahre und teilweise Jahrzehnte strukturieren.

Die Mutter ist verantwortlich für die Erfüllung der Grundbedürfnisse ihres mit Schwerstbehinderung lebenden Kindes. Hierzu zählt die Ernährung mit der oft speziellen Zubereitung sowie der zeitaufwendigen und zeitabhängigen Essensgabe. Neben dem An- und Auskleiden und dem bedarfsgerechten Wickeln gehören Waschen, Baden, Zähne putzen und Intimpflege zum Alltag und sind oft kräftezehrend und mit hohem Zeitaufwand verbunden. Auch Arztbesuche und die medizinische Versorgung, z.B. Absaugen der Trachyalkanüle und Wundversorgung, bzw. -prophylaxe gehören zum Aufgabenbereich der Mutter. Allein das Kind für außerhäusliche Unternehmungen zurecht zu machen, erfordert hohen Zeitaufwand und muss des öfteren gegen den Willen des Kindes durchgeführt werden.

Allgemein soll die Mutter für das körperliche und seelische Wohlergehen des Kindes sorgen und auch seine Fähigkeiten weitestgehend fördern, sowie dem Kind Möglichkeiten zur Entwicklung seiner Persönlichkeit anbieten. Wünschenswert ist das "Verstehen ungewöhnlicher Signale und das Eingehen auf neue, meist intime Kommunikationsweisen" (Rebmann 1996, 181).

Zum Wohle des Kindes erfolgt oft eine Informations- und Kompetenzerweiterung bezüglich des "Behinderungsbildes" und der Bedürfnisse des Kindes (sowohl durch Literatur, als auch durch Gespräche und Reflexion der bisherigen Erfahrungen mit dem Kind).

Die Fahrten zu Therapien und die Durchführung der Förderung zu Hause sind meist wieder mit hohem Zeitaufwand und Einfühlungsvermögen verbunden.

Behördengänge, Schriftverkehr, Einlesen in Literatur, Erkundigungen über zustehende Rechte und Bewilligungsstellen einziehen, sowie die Versorgung mit geeigneten Hilfsmitteln, sind ebenfalls Teile des Aufgabengebietes einer Mutter mit einem besonderen Kind.

Die nicht selten vermehrt erforderlichen Krankenhausaufenthalte unterbrechen den (halbwegs gewonnenen) Rhythmus und sind für Mutter und Kind eine große psychische Belastung. Zusätzlich muss oft der Familienalltag der Geschwisterkinder gleichzeitig organisiert werden. Die Mutter muss sich also flexibel auf neue Situationen und Anforderungen einstellen und in kürzester Zeit umorganisieren können.

Viele Mütter bemühen sich, die soziale Integration sowie Wertschätzung und Achtung der Person des besonderen Kindes durch die Umwelt zu fördern und zu unterstützen.

Auch die Organisation eines Netzwerkes zur Entlastung der Mutter aber auch mit dem Anspruch der qualifizierten Betreuung des Kindes stellt eine zusätzliche Aufgabe für die Mutter dar. Ferner bleiben die üblichen Aufgaben einer Mutter, wie: Versorgung, Erziehung, Dasein für die Geschwisterkinder, Aufrechterhaltung der Partnerschaft zum Ehemann und die Versorgung des Haushaltes.

Nicht zu vergessen und von besonderer Intensität für die Mütter sind die Verarbeitung, die Bewusstwerdung und das Aushalten von unterschiedlichsten - lang andauernden oder schnell wechselnden - oft schweren Gefühlen.

Je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird die Alltagsintegration. Aussage Frau K.: "Je größer das Kind wird, desto eingeschränkter wird man selber." Die Gratwanderung der Mutter, ihr Kind als Heranwachsenden oder Erwachsenen zu akzeptieren und seine diesbezüglichen Bedürfnisse und Rechte auf mehr Eigenverantwortung, Intimität, sexuelle Befriedigung steht dem tatsächlichen Verhalten eines Babys oder Kleinkindes mit entsprechender Versorgung gegenüber. Darf sie einem Erwachsenen die gleichen Förderangebote machen - wenn es Interesse zeigt - wie einem Kleinkind? Welche sinnvollen Tätigkeiten mit sichtbarem Erfolg kann sie ihrem Kind anbieten, sodass es sich wieder freuen und stolz auf seinen Erfolg sein kann? Leider sind hier die verschiedenen Möglichkeiten begrenzt.

Dies ist nur ein Auszug der Aufgaben, die fast alle Mütter besonderer Kinder betreffen. An dieser Stelle scheint mir die Aussage von Jonas (1994, 80) angebracht: "Ich habe es immer als Skandal empfunden, wie wenig diese Alltagsrealität der Mütter beachtet wird, wie sehr sie vielmehr mit immer neuen Anforderungen und Aufgaben überfrachtet werden."

"Immer wieder beschreiben Mütter diesen Zwang, den täglichen Pflichtkatalog zu erfüllen, als Berg oder Mauer, gegen die man nicht ankommt. Das Gefühl, alles wird zu viel, ich kann es nicht mehr bewältigen, kann plötzlich panikartig auftreten oder, wenn es chronisch wird, aushöhlend und verzehrend wirken. Die Lebensfreude schwindet, die Kräfte nehmen ab, alles färbt sich grau in grau. Routine erfüllt den Alltag und die Seele bleibt auf der Strecke." (Schulz 1999, 31)

Belastungssituation

Mütter dieser besonderen Kinder stellen oft hohe Anforderungen an sich, bzw. die Situation lässt zunächst wenig andere Möglichkeiten offen, als den täglichen Anforderungen gerecht zu werden.

"Will man den Weg einer begründeten, zielgeleiteten, dialogischen, individuell ausgerichteten und einer prinzipiell sich zukünftig selbst erübrigenden Erziehung von Menschen mit schwerster Behinderung gehen, gerät man schnell, oft allein gelassen und ohne adäquate Ausbildung, in ein Unterfangen voller Ungewissheiten, Anstrengungen, Motivations- und Sinnkrisen." (Rebmann 1996, 186)

"Mütter schwerstbehinderter Kinder fühlen sich signifikant häufiger mit der Förderung ihres Kindes überfordert, berichten öfter über Schwierigkeiten, die Behinderung ihres Kindes anzunehmen, und erleben sich häufiger als persönlich überlastet. (Sarimski, 1998, 323)

Der Begriff "Belastung" ist kein objektiv bewertbarer. Jede Mutter empfindet diese Belastung auf dem Hintergrund ihrer Biographie, ihrer persönlichen Einstellung, ihrer "Tagesform", ihres physischen und psychischen Allgemeinzustandes und natürlich immer im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden des besonderen Kindes, anders.

Wacker führt aus, "dass es generell weniger die physischen als vielmehr die psychischen Beanspruchungen sind, die sich im Belastungsempfinden der Frauen negativ niederschlagen." (ebd. 1995, 29) Hierzu gehören Sorgen bezüglich des Gesundheitszustandes des Kindes, seiner Entwicklungsmöglichkeiten, Infragestellen der eigenen Wertigkeit, unsoziales und abwertendes Verhalten der Umwelt, Zukunftssorgen und noch viele andere Belastungen, sowohl externer wie auch intrapersonaler Art.

Im Folgenden möchte ich einen Überblick über die mögliche und tatsächliche Vielfalt der Belastungen der Mütter im Zusammenleben mit ihren besonderen Kindern geben:

Verantwortung

Die Hilfsbedürftigkeit und fehlende Selbständigkeitsentwicklung der mit Schwerstbehinderung lebenden Kinder stellt die Mütter vor eine große Verantwortung. Eine Eigenverantwortung wird das Kind für sein Leben voraussichtlich nie übernehmen können. Die Mutter steht vor und innerhalb einer "permanenten Mutterschaft", die selbst bei späterer Unterbringung des erwachsenen Menschen mit Schwerstbehinderung noch die Verantwortung für sein Wohlergehen einschließt. Hierzu die Aussagen einiger Mütter: "Gesunde Kinder gehen irgendwann eigene Wege. Unser Sohn braucht ständige Hilfe." "Bei einem gesunden Kind gibt es Entwicklung, Fortschritt, Veränderung, Verbesserung, Selbständigkeit, bei einem schwerstbehinderten Kind bleibt dies aus." "Es wird sich nie von den Eltern abnabeln können. Es besteht eine "eiserne" Verbindung zwischen Vater, vor allem Mutter und schwerstbehindertem Kind."

Zeit

Diese Aufgaben im Rahmen der Verantwortung stellen einen "Eingriff in das tägliche Zeitbudget der pflegenden Person" (Wacker 1995, 25) dar, sowohl im täglichen Rahmen wie auch bezogen auf die Lebenszeit der Mutter. Es bleibt wenig Frei-Zeit, um eigene Interessen aufzubauen und zu leben. Die Zeit zur eigenen Verfügung beschränkt sich nach den Untersuchungen von Wacker (1995, 31) auf 3 Std./tägl. Da bei dieser Untersuchung Familien, in denen Menschen mit Behinderung leben, im Vordergrund standen, lässt sich bei Müttern besonderer Kinder ein noch geringeres selbstbestimmtes Zeitbudget erwarten. Wobei dieses bei eigener Berufstätigkeit oder in Krankheits- und Ferienzeiten des Kindes dann ganz entfällt.

Im Vorfeld habe ich bereits ausgeführt, dass das Zusammenleben mit einem besonderen Kind oft ein 24-Stunden-Fulltime-Job ist. Um die Situation bildhaft zu beschreiben, könnte man es auch mit mehreren Berufstätigkeiten vergleichen, die jedoch nicht im 8-Std.-Rhythmus nacheinander zu erfüllen sind, sondern die alle nebeneinander bestehen. Die Wahrnehmung und Handlung muss oft und je nach Bedarf von einer Tätigkeit auf die nächste verlagert, manchmal auch parallel organisiert werden. Diese Anforderung besteht besonders in einem Haushalt mit mehreren Geschwisterkindern. Dabei wird die Zeit zu einem ganz besonderen Gut. Es ist, als wenn durch diese oft jahre- und jahrzehntelang dauernde Situation die eigene Lebenszeit der Mütter besonderer Kinder verkürzt oder von dieser Lebenszeit etwas weggenommen würde. Die Zeit wird zu einer Art Luxusgut. Diese hohe Wertigkeit lässt viele Mütter zögern, andere Menschen z. B. ohne Bezahlung um Hilfe zu bitten, denn ein derart hohes Gut (die Zeit) wagen sie von anderen kaum einzufordern oder zu erbitten.

Emotionale Belastung

Die emotionale Belastung im Rahmen einer lebensbegleitenden Trauerarbeit ist von besonderer Bedeutung für das Leben und Erleben der Mütter. Sie befinden sich bei Diagnosestellung oft schlagartig am Anfang eines umfangreichen Trauerprozesses. Diese emotionale Belastung strömt in einer Dichte, Schwere, Intensität und Dauer auf die Mütter ein, die kaum vorstellbar und den meisten von ihnen in dieser Form unbekannt ist.

Ziel der Trauerarbeit sollte es sein, durch die Verarbeitung all der schweren Gefühle hin zu einem erfüllten Leben (mit dem besonderen Kind) zu finden. Dies ist leichter gesagt als getan, da die Gefühle immer wieder durch verschiedene Ereignisse im Leben aufgewühlt werden. Und dies ein Leben lang.

Es kann "nur" darum gehen, ein Höchstmaß bzw. eine Grundtendenz eines positiven und erfüllten Lebens zu erlangen, das möglichst stabil ist und den Müttern auch in schweren Zeiten als Basis und Sicherheit bleibt. Eine Basis, auf die sie in und nach jeder Krise zurückgreifen können.

Tages- und Nachtrhythmus

Der normale Tages- und Nachtrhythmus ist - bei allen von mir befragten Müttern - unterbrochen. Die Tage sind mit konzentrationsfordernden, oft anstrengenden Tätigkeiten ausgefüllt. Die Nachtruhe wird - über Jahre und Jahrzehnte jede Nacht - durch Bedürfnisse des Kindes unterbrochen. Dabei sind Störungen zwischen 5 und 30mal je Nacht nicht ungewöhnlich. Hinzu können noch die durch die psychische Überlastung entstandenen eigenen Schlafstörungen kommen. Die Auswirkungen auf das "Wohlbefinden" der Mütter dürften auch für Nicht-Betroffene nachvollziehbar sein.

Normaler Wochenrhythmus

Der normale Wochenrhythmus, mit 5 Arbeitstagen und dem Erholungswochenende, besteht nicht. Vielmehr ist die Woche bereits sehr arbeitsintensiv. Am Wochenende erhöht sich die Verantwortung noch, da das Kind nicht in Institutionen (Kindergarten, Schule, Werkstatt) untergebracht ist. Statt Erholung bedeutet das Wochenende Arbeitsintensivierung.

Jahresrhythmus

Der normale Jahresrhythmus ist ebenfalls unterbrochen, bzw. verändert. Ferienzeiten des Kindes können zu "Höchstbelastungen" fast ohne jeden Freiraum werden. Feiertage bedeuten 24-Stunden-Versorgung des Kindes. Feiertage wie Weihnachten und Ostern können oft aufgrund innerer Anspannung nicht mehr richtig erlebt werden. Der auch im Jahresrhythmus bestehende Wechsel von Arbeits- und Erholungszeiten wird kaum möglich.

Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen

"Die tägliche Erziehungsarbeit und Hausarbeit der Mütter findet in der Wohnung statt, die damit für die Mütter gleichzeitig Arbeitsplatz, Erholungsstätte, Schlafstätte, Ort für Genuss und Vergnügen ist. ... Abgrenzungen werden dadurch schwieriger bis unmöglich, da alles ineinanderfließt." (Jonas 1994, 51)

Durch diese fehlende Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen gerät die Mutter in ihrer häuslichen Umgebung in eine Art "Arbeitsstrudel". Einige Mütter der Befragung sprachen auch von einer Art Gefängnis oder Käfig, in dem sie leben müssten.

So erfährt die Mutter ihr soziales Umfeld hauptsächlich innerhalb ihrer häuslichen Umgebung. Bestätigungen von außen sind geringer, Kommunikation begrenzter und insgesamt besteht immer die Gefahr der sozialen Isolation. In der Befragung zeigten sich jedoch bei der Mehrheit der Mütter deutliche Tendenzen hin zu einer - zumindest teilweisen - aktiven Hinwendung über die häuslichen Grenzen hinweg.

Erleben im Ablauf des Lebenszyklus

Die normalen Erfahrungen im Ablauf ihres Lebenszyklus sind aufgrund der Dauerverantwortung und des eingeschränkten Zeitbudgets verändert. Haben Frauen nach einigen Jahren Kindererziehung durch das Selbständigwerden ihrer Kinder wieder mehr Freiräume zur eigenen Lebensgestaltung und Zeiten zur Selbstverwirklichung, so können die Mütter besonderer Kinder dieses nur durch eine umfassende Organisation und ein gut funktionierendes Netzwerk in Ansätzen realisieren.

Autonomie

Innerhalb dieser Lebenssituation sind die Möglichkeiten auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eingeschränkt. Ein Problem besteht jedoch noch im Vorfeld der teilweisen Durchsetzung: Aufgrund ihrer besonderen Verpflichtung gegenüber dem Kind haben viele Mütter Schwierigkeiten, sich dieses Recht überhaupt zuzugestehen. Auch der Einfluss der sozialen Erwartung an eine "gute Mutter" kann diese Rechte auf mehr Eigenständigkeit der Mütter von mit Schwerstbehinderung lebenden Kindern in Frage stellen.

Innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung besteht eine besondere Form der Abhängigkeit. Die Kinder sind abhängig von den Müttern. Die Mütter sind in ihrem Tagesablauf abhängig von den Bedürfnissen und Vorgaben der besonderen Kinder. Keiner der beiden ist autonom.

In den letzten Jahrzehnten haben Frauen allgemein immer stärker versucht, ihre eigene Individualität zu entwickeln und nicht mehr nur Frau des Ehemannes und Mutter der Kinder zu sein. Das Streben nach Ich-Entwicklung wurde im Rahmen der Emanzipation immer selbstverständlicher. Es scheint so, als wenn in den Frauen ein Entwicklungsimpuls lebt. (vgl. Wais 1993, 247)

Durch die schon geschilderte besondere Situation der Mütter von Kindern, die mit Schwerstbehinderung leben, ist die Autonomie dieser Frauen auf ein Minimum geschrumpft (vgl. auch Jonas 1994, 1997 und Seifert 1990). Die weitere biographische Entwicklung scheint durch die Rolle "Mutter eines mit Schwerstbehinderung lebenden Kindes" vorgegeben.

Mit der fehlenden Selbstbestimmung geht eine Form der Fremdbestimmung einher. Fremdbestimmung kann u.a. durch das Schicksal (z.B. der Behinderung des Kindes / auftretender Krankheiten / lebensbedrohlicher Zustände), durch das Kind selber, durch Ärzte und Therapeuten, durch die sozialen Rollenerwartungen und auch durch internalisierte Rollenvorstellungen, die nicht der Frau als Person entsprechen, erlebt werden.

Gerade in Bezug auf das Schicksal besteht oft eine Ratlosigkeit, empfundene Sinnlosigkeit und Tendenz zur Resignation oder zu "kräftezehrendem Kampf".

Von den Müttern der Befragung wurden oft theologische, esoterische, anthroposophische und/oder biographische Ansätze herangezogen, um einen Sinn in ihrer Aufgabe zu erkennen. Durch die zumindest partielle Sinnfindung wird die Situation überschaubarer und verständlicher. Ein Mindestmaß an Kontrolle über das eigene Zeitkonto und über die Durchsetzung eigener Interessen führt zu einem Mehr an Lebensqualität.

Jede Autonomiebestrebung der Mutter ist mit Organisation und Kraftaufwand verbunden. In fast allen Gesprächen mit den betroffenen Müttern zeigte sich ein deutliches Bewusstsein für ihre eigene Situation. Auch die Mütter älterer Kinder (> 20 Jahre) reflektierten ihre Vergangenheit und die Situation mit ihrem besonderen Kind unter Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse als Frau. Jedoch haben die "jungen" Mütter anscheinend den Vorteil, ihre gegenwärtige Situation zu durchdenken und ihr Interesse an Veränderung deutlich zu machen, während die "älteren Mütter" in der biographisch vergleichbaren Lebensspanne - vermutlich aufgrund der damaligen sozialen Gegebenheiten und Erwartungen - wenig Möglichkeiten hatten, sich individuelle Bedürfnisse zuzugestehen und ggfls. durchzusetzen. Dies bedeutet nicht, dass die Frauen der heutigen Mütter-Generation ihre Autonomie bereits erlangt haben. Es besteht jedoch mehr Bewusstheit und auch der Wunsch und der Wille, in dieser komplexen Beziehung zum Kind auch eigene Wege finden zu können. Dies sind sicherlich Auswirkungen der Emanzipationsbewegung der letzten Jahrzehnte und auch der größeren Offenheit gegenüber Menschen mit Behinderung.

Bei den Müttern meiner Befragung, die unter 45 Jahren waren, scheinen sich eigene Energien in die Richtung zu bewegen, dass sie aus der Isolation und dem Identitätsvakuum herauskommen. Äußerungen hin zu "Egoismus" werden oft genannt. Wobei dieser Egoismus wohl nur eine "Miniausgabe" der eigentlichen Bedeutung von Egoismus sein kann. Im Leben dieser Mütter hat Egoismus eigentlich nur die Bedeutung, dass sie sich Kleinigkeiten herausnehmen, die sich Menschen in regulären Lebenssituationen täglich und in größerem Umfang zugestehen. Hierzu einige Beispiele, die die Mütter der Befragung als "Egoismus" deklarierten: Frau H.: "Auch wenn unsere Tochter abends "meckert" und mein Mann nicht so gerne auf sie aufpasst, gehe ich trotzdem zum Sport."

Frau S.: "Wenn ich morgens einen Termin eingeplant habe und H. zeigt eine leichte Erkältung, so gebe ich ihn trotzdem zur Schule. Früher hätte ich ihn zu Hause behalten und meinen Termin abgesagt. Jetzt geht H. zur Schule, wenn es ihm einigermaßen geht."

Familienleben

Das Familienleben ist geprägt durch die Bedürfnisse des Kindes. Die Mutter, die ja nicht nur Verantwortung für ihr besonderes Kind, sondern auch für die Erziehung und das Wohlergehen der Geschwisterkinder trägt, kommt dabei in die Bedrängnis, Zeiten für und Unternehmungen mit der Familie zu ermöglichen, die auch in "normalen" Familien üblich sind.

Es besteht auch die Gefahr, dass ein Familienleben wegen der Konzentration auf das besondere Kind kaum noch stattfindet. Auffälligkeiten (z.B. Schulprobleme) der Geschwisterkinder können für die Mütter besonders bedrückend sein, da sie sich für die gute, "sozial erwünschte" Erziehung verantwortlich fühlen. Nicht selten obliegt dem Geschwisterkind auch eine (unbewusste) Aufgabe der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Anerkennung. Da alle Familienmitglieder durch die Behinderung des besonderen Kindes in einer sozial auffälligen Familie leben, wird jedes Abweichen eines Familienmitgliedes von der Norm diese Familie noch auffälliger machen.

Geschwisterkinder können innerhalb der Familie auch eine auflockernde Funktion haben: Frau M. "Geschwisterkinder sind im Familienleben äußerst wichtig und eine große Hilfe wegen ihrer unkomplizierten, offenen und bisweilen etwas rücksichtslosen Art im Umgang mit dem Behinderten."

Partnerschaft

Durch die hohe physische und psychische Beanspruchung der Mutter besteht auch die Gefahr, dass die Behinderung sich zwischen die Partner schiebt. Fehlende gemeinsame Zeiten, belastete Gespräche, durch seelische und körperliche Erschöpfung verursachtes sexuelles Desinteresse und unterschiedlicher Umgang mit der Trauer, sind nur einige Punkte, die die Ehe belasten können. Frau H.: "Es bleibt keine Zeit für sich als Partner. Ins Bett und bloß schnell einschlafen, wer weiß wie oft und wie lange er heute Nacht macht."

Viele Mütter der Befragung betonten, wie wichtig hier die Unterstützung professioneller und sozialer Netzwerke ist, damit "auch die Partnerschaft noch eine Chance hat." Frau P.: "Ich wünsche mir eine Eheberatung, mit Hintergrundwissen über die Situation im Zusammenleben mit einem schwerstbehinderten Kind."

Finanzielle und rechtliche Situation

Oft ist die ökonomische Situation von Familien mit besonderen Kindern schlechter als in vergleichbaren Familien mit gesunden Kindern. Die Frau ist durch die ständige Pflege und durch immer wieder auftretende Krankheitszeiten des Kindes oft nicht in der Lage, einer - die Familie finanziell unterstützenden - regelmäßigen Berufstätigkeit nachzugehen. Trotz staatlicher Unterstützung entstehen zusätzliche finanzielle Belastungen für die behindertengerechte Wohnung, für Hilfsmittel, höhere Kosten für die Betreuung des Kindes, etc. Die gesetzlich eingeräumten Rechte im Rahmen der Eingliederungshilfe, des Schwerbehindertengesetzes, des Steuerrechts, etc. müssen erfragt und Leistungen beantragt werden. Die Belastung für die Mütter besteht in der Erfahrung, dass die Rechte "erkämpft" werden müssen und dass es große Beurteilungs- und Ermessensspielräume gibt, die diese bestehenden Rechte immer wieder in Frage stellen. Die wenigsten beantragten Hilfen werden zügig und ohne erstmalige Ablehnung gewährt. Das sich anschließende Widerspruchs- und Klageverfahren stellt die Rechte der mit Behinderung lebenden Menschen in Frage. Da die Mütter für ihre Kinder handeln, machen sie viele "ablehnende" Erfahrungen. Mehrere Mütter sprachen in diesem Zusammenhang von einem "kräftezehrenden und entwürdigenden Kampf".

Soziale Stellung der Mütter besonderer Kinder

Aus all den Beschreibungen der Mütter innerhalb der Befragung wurde deutlich, dass ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Wohlbefindens dieser Frauen und den Reaktionen und Hilfen der Umwelt besteht.

Jedoch ist die soziale Stellung der Mutter aufgrund ihrer Aufgabe und ihrer Eingebundenheit verändert. Ihr Ansehen kann sich ebenfalls verändert haben. Ihre eigene Einstellung zu ihrer Wertigkeit innerhalb der Gesellschaft kann belastet sein. Ihr wird oft nicht die Anerkennung entgegengebracht, die ihrer verantwortungsvollen Aufgabe gerecht wird.

Die Mutter als Therapeutin

Die Mutter befindet sich in ihrer Funktion als "Therapeutin" in einem Erfolgs- und Erwartungsdruck. Ihre Beziehung zum Kind kann durch Fremdbestimmung verändert sein, sie selber sich als kompetente Mutter in Frage stellen oder durch die Therapien überfordert sein.

Die Mütter berichteten sowohl von positiven wie auch negativen Erfahrungen mit den Therapeuten ihres Kindes. Gleichzeitig war für einige Mütter "die Krankengymnastin auch als Kontaktperson wichtig." "Die Therapeuten sind fast die einzigen, die mit behinderten Kindern erfahren sind." Einige Frauen berichteten von hilfreichen Erfahrungen mit Sozial- oder Heilpädagogen und Therapeuten, von denen sie sich verstanden, ernst genommen und anerkannt fühlten. Gerade dieses "Verstanden-Werden" und "Selber-Sprechen-Können" war für die Mütter neben der guten Förderung des Kindes besonders wichtig in der Zusammenarbeit mit den Fachkräften.

Zukunftsunsicherheit

Sorgen um die Zukunftsaussichten des Kindes und die eigene Zukunftsperspektive verstärken die alltägliche Belastung.

Die eigenen Zukunftsaussichten sind eng verbunden mit der Zukunftsperspektive für das mit Schwerstbehinderung lebende Kind und damit wiederum stark von den gesellschaftlichen Vorgaben abhängig.

Die Mehrheit der an der Befragung beteiligten Mütter wünschten sich für ihre besonderen Kinder eine qualifizierte und ortsnahe Unterbringung im Rahmen des betreuten Wohnens. Diese Wünsche lassen sich in Zeiten der Abwälzung der Kosten vom Sozialhilfeträger (Eingliederungshilfe) auf die Pflegekasse - und somit dem Versuch der Pflichtunterbringung von Menschen mit Schwerstbehinderung in Pflegeheimen - nur ansatzweise erfüllen. Dementsprechend sehen viele Mütter auch nur geringe Perspektiven, ihre Verantwortung in der Zukunft abgeben zu können.

Für die Mütter hat eine schlechte Zukunftsperspektive Auswirkungen auf die Selbstbestimmung, das Selbstwertgefühl und das Lebensvertrauen und damit auf die Lebensqualität. Ich möchte hier einige Wünsche der Mütter für ihre Zukunft aufführen: "spontane Aktivitäten", "Anerkennung", "Kraft", "Zuversicht", "Gesundheit", "Selbstbestimmtes Leben", "Reisen", "Abnahme der Belastung", "Berufstätigkeit".

Eine Mutter schrieb: "Ich habe mit persönlichen Wünschen abgeschlossen."

Zwei Mütter formulierten in Großbuchstaben ihren Wunsch für die Zukunft: "FREIHEIT!"

Lebensqualität

Durch all diese o.a. dargestellten möglichen und tatsächlichen Belastungsmomente im Leben von Müttern besonderer Kinder wird deutlich, dass die Lebensqualität dieser Frauen eine andere geworden ist:

  • ihre Handlungsmöglichkeiten sind eingeschränkt

  • zwischenmenschliche Beziehungen durch Zeit- und Sozialfaktoren erschwert

  • Selbstachtung, Selbstsicherheit und Selbstanerkennung werden durch diese besondere Aufgabe tangiert

  • und auch die Lebensfreude kann aufgrund der emotionalen und physischen Belastung schwinden.

Die Gesamtsituation von Müttern besonderer Kinder ist - im Verhältnis zu Müttern "gesunder" Kinder - eindeutig als eine meist um ein vielfaches belastetere zu betrachten. Dies kann - als "gesunde" und konsequente Reaktion des Körpers - auch zu Krankheiten führen.

"Von den Personen, die eine Krankheit oder chronische Erkrankung angeben, führen dies im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpflege allerdings weit über die Hälfte (57,1%) direkt auf die Pflegesituation zurück." (Wacker 1995, 28) "Höhere Raten psychosomatischer Erkrankungen, aber auch psychischer Probleme und sozialer Desintegration" (Beck 1998, 208) sind mögliche Folgen.

Die bisherige Darstellung der Lebenssituation von Müttern besonderer Kinder stellt nur einen kurzen Einblick dar. Die tatsächliche Situation ist individuell verschieden und das Ausmaß im Unterschied zu Familien mit "gesunden" Kindern lässt sich wohl nie endgültig darstellen. Die o.a. Ausführungen versuchen in Kurzform auf das außergewöhnliche Leben der Mütter mit ihren besonderen Kindern aufmerksam zu machen.

Abschließend möchte ich hier noch auf die Veränderungen aufmerksam machen, die die Mütter in ihrer persönlichen Entwicklung erleben und durchleben und in vielen Gesprächen recht deutlich und teilweise bewusst artikuliert wurden.

Chancen der persönlichen Entwicklung

Jede Veränderung im Leben ist mit neuen Erfahrungen und einem Lernprozess verbunden. Gleichzeitig natürlich auch oft mit Gefühlen wie Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit, aber auch Hoffnung, Mut und Zuversicht.

Da die Erlebnisse und Emotionen im Zusammenleben mit dem besonderen Kind meist einen recht intensiven Charakter aufweisen, werden die Veränderungen und Entwicklungen der Mütter meist auch in Verbindung mit schmerzlichen Erfahrungen durchlebt. Sowohl die Emotionen wie auch die Veränderungen sind keine oberflächlichen. Vielmehr gehen sie oft "tief hinein" und können grundlegend neue Persönlichkeitsmerkmale entwickeln helfen und/oder offenlegen.

Etwas Grundlegendes, das mir alle Mütter mitteilten, ist die "Verlagerung der Wertvorstellungen in andere Bereiche" (Miller 1997, 55). "Sie bemerken eine positive Verschiebung in den Werten und den Beziehungen zu anderen Menschen, nachdem sie ihre Prioritäten neu setzen mussten." (ebd., 124)

Viele Mütter haben gelernt, geduldiger, ruhiger, ausdauernder und gelassener zu sein.

Manche lernen nach außen hin stärker für die Rechte und das Wohlbefinden ihres Kindes aufzutreten und sich auch kämpferisch für das Wohlergehen ihres Kindes einzusetzen. Dabei entwickeln sie durchaus auch eine gewisse Hartnäckigkeit.

Im Laufe der Jahre haben sie gelernt, von einer Autoritätshörigkeit gegenüber Fachleuten abzukommen und kritisch und kompetent deren Aussagen zu reflektieren.

Trotz vieler Krisen kommen die meisten immer wieder in Situationen, in denen sie sich mit ihren Lebensbedingungen aussöhnen.

Viele Mütter besonderer Kinder haben gelernt, ihre schweren Gefühle zu durchleben und zu erleben und dabei eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Die eigenen emotionalen Erfahrungen wie z.B. Neid müssen verarbeitet werden, damit sie sich nicht intensivieren und die Mütter sich ganz aus dem Sozialgefüge ausschließen.

Durch ihre besondere Situation sind sie offener für neue Ideen geworden.

Trotz vieler Krisen (oder gerade deshalb) wenden einige positives Denken an. Manche wenden sich theologischen, anthroposophischen oder esoterischen Denkansätzen zu und hinterfragen ihr So-Sein (teilweise ohne es zu beklagen).

"Die Bemühung und der Versuch, den guten, wesentlichen Kern eines jeden Menschen zu suchen und lieben zu lernen", und dass "erst die Vielfalt und Andersartigkeit von Natur und Mensch das Leben so reich und lebenswert" (Schulz 1999, 20) macht, wird als Bereicherung empfunden.

Genügsamkeit und Bescheidenheit sind neue Erfahrungen. Es geht nicht mehr um die Erfüllung großer Wünsche, sondern um das Erreichen, Erleben und Durchleben kleiner beglückender Ziele. Nichts wird mehr als selbstverständlich hingenommen.

Die Mutter eines besonderen Kindes lernt zu dienen. Dies ist eine besondere Fähigkeit, die trotz der Liebe zum Kind viel Selbstlosigkeit und Stärke erfordert. Die Erkenntnis, dass "Energie und Kraft nicht ewig reichen" (ebd., 20) muss ausgehalten werden und erfordert oft Umdenken und neue Organisation.

Der Erwerb neuer Kompetenzen und Fähigkeiten, neuer Einsichten und Erfahrungen, neuer Stärken und Talente kann als Bereicherung für das eigene Leben erfahren werden.

Es entwickelt sich auch ein allgemeines Feingefühl für Ungerechtigkeiten (und zwar nicht nur auf die eigene Situation bezogen). "Wir sind sensibel geworden für die vielfältigen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft und stark, uns für Verbesserungen ihrer Situation zu engagieren." (Seifert 1997, 248)

Trotz eigener Intensiv-Belastung können sie auch anderen Menschen durch ihre Erfahrung helfen. Solidarität wird bewusster wahrgenommen und gelebt.

Manche Mutter ist "Meister im Zeitmanagement" (Miller 1997, 78). Die Augenblicke der Freude und der Entspannung gewinnen eine besondere Bedeutung; da sie nicht selbstverständlich sind, werden sie so wertvoll.

Der wohl größte und schwierigste Prozess - wie sich aus den Gesprächen ergab - ist, dass die Mütter von Kindern mit Schwerstbehinderung lernen müssen, für sich selber zu sorgen.

"Die stärkere Bezogenheit auf Beziehungen, auf das Zwischenmenschliche, kann ein Leitmotiv in die Frauenbiographie bringen, das Beschränkung oder Bescheidung heißt - allerdings auch Selbstverleugnung, und dann kommt etwas Ungesundes auf. ... Sie lebt oft mehr im anderen als in sich." (Wais 1993, 248) "Individualisierende Schritte" (ebd. 249) sind erforderlich.

Das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" bedeutet für viele Mütter erst einmal, sich selber lieben zu lernen und sich selber wichtig zu nehmen. Aus der Selbstverleugnung und Opferhaltung gilt es herauszukommen und zu sich selber zu stehen. Dies beinhaltet auch ehrliche Selbsterkenntnis, Grenzen zu setzen, zu lernen für sich selber zu sorgen und die Schuldgefühle auszuhalten.

Wenn ich in Gedanken die Gespräche und den Schriftverkehr mit den betroffenen Müttern durchgehe, bleibt eine Hochachtung vor der Stärke dieser Frauen. Fast jede versuchte auf ihre Art, die tatsächlichen und emotionalen Belastungen "in den Griff" zu bekommen.

Kobi (1999, 23) stellt die Frage: "Was machen, wenn nichts mehr zu machen ist?"

Vor dieser Frage stehen Mütter besonderer Kinder immer wieder. Liebe und Vertrauen, Hoffnung und Mut sind Stärken und Eigenschaften, die diese Mütter benötigen und vielfältig leben. Auch wenn diese Stärken nicht konstant bestehen bleiben und gerade in Krisenzeiten in "Vergessenheit geraten", so tauchen sie doch auch immer wieder auf.

Fußnoten

Innerhalb der Befragung wurden auch Mütter erwachsener Menschen mit Schwerstbehinderung berücksichtigt, da der Ausdruck Kinder hier nicht altersspezifisch, sondern in bezug auf die familiäre Beziehung verwendet wird.

Bei allen in der Auswertung berücksichtigten Müttern bestand zum Zeitpunkt der Befragung bei ihren Kindern eine Diagnose der "Schwersten geistigen Behinderung" oder "Schwerstmehrfachbehinderung" sowie zusätzlich die Einstufung in die Pflegestufe III.

Die Autorin

Dorothea Wolf-Stiegemeyer

geb. 1960, Dipl.-Verwaltungswirtin, Dipl.-Heilpädagogin

Am Halbrink 5

D-49326 Melle

Literatur

Beck, I.: (1998): Gefährdungen des Wohlbefindens schwer behinderter Menschen; In: Zeitschrift für Heilpädagogik 49 (5), 206-215

Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.) (1997): "Was können wir jetzt tun?", Marburg

Jonas, M. (1994): Behinderte Kinder - behinderte Mütter? Fankfurt am Main, Sept.1994

Jonas, M. (1997): Trauer und Autonomie bei Müttern schwerstbehinderter Kinder, Mainz 1997

Kobi, E. E. (1999): Geistigbehindertenpädagogik: Vom pädagogischen Umgang mit Unveränderbarkeit; In: Geistige Behinderung 1/99; 21-29

Miller, N. B. (1997): Mein Kind ist fast ganz normal; Stuttgart 1997

Rebmann, (1996): Rituale in der Erziehung von Menschen mit schwerster Mehrfach-Behinderung; In: Behindertenpädagogik 35 (1996) 2

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Quelle:

Dorothea Wolf-Stiegemeyer: Der (etwas?) andere Alltag von Müttern schwerstbehinderter Kinder

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.08.2005

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