Narren - Behinderte

ein volkskundlicher Beitrag zur Geschichte Behinderter

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Artikel
Copyright: © Schönwiese 2001

Begriffliches

Narr; jemanden "narren". Jemanden irre machen an einer Sache. Etwas verwechseln, durcheinander bringen. Jemanden damit irritieren. Auch die Natur kann "verrückt spielen". Der Hopfen kann zum Beispiel einen "Narrenkopf" bilden. Der "Narrenkolben" sieht so ähnlich aus wie jenes Zepter, das Jesus bei der Verspottung als Zeichen seiner Regentschaft über das Narrenvolk in die Hand gegeben wird. Andererseits ähnelt dieser Stab jenem, den der Narr (siehe im Bild "Hans Sausack von Wurstlfeld rechts im Hintergrund) oft bei sich führt.

Abb.1: Bild von Hans Sausack von Wurstlfeld

Er benützt ihn wie ein Schwert, aber in Wahrheit ist er ein Löffel. Es ist überhaupt ein Zauberstab. Der Kasperl kann ihn als Prügel verwenden und das Krokodil erschlagen, andererseits hat er diesen Prügel nicht immer in der Hand sondern muß ihn auch am Rücken spüren. Immerhin sind die Narren ja allesamt Prügelknaben. Der Narrenprügel kann sich auch selbständig machen, wie in türkischen Geschichten rund um den kleinen Helden Keloglan berichtet wird. "Narro" hieß althochdeutsch so viel wie "verrückt". Später kam es zur Trennung zwischen "verrückt"(geistig behindert) und "närrisch". "Närrisch" ist einer, der "auf verrückt tut", der so tut, als ob er verrückt wäre. In einen alten Abbildung vom Salzburger Hans Wurst ist in dem Zusammenhang von "verstellter Dummheit" die Rede. Und wenn Sepp Löwinger stupide mit seinen Augen rollt und sagt: "Mei, bin i a Depp", dann ist er ein echter Narr, denn er zeigt ja, daß er sich verstellt und macht kein Geheimnis daraus, damit sein Publikum zum Narren zu halten. Natürlich hat die Verstellung etwas Teuflisches an sich. Nicht von ungefähr tragen Narren einen "Dippl" am Hirn, um auf die Herkunft aus der Hölle hinzuweisen. Dies ist nicht sein einziger körperlicher Defekt, der ihn als Behinderten brandmarkt. Er ist sprachgestört. Sein Auffassungsvermögen ist beschränkt. Er versteht manche Dinge nur wörtlich und bringt damit alle diejenigen durcheinander, die das "Klartext - Reden" verlernt haben. Der Narr ist eben ein Kind mit einem im Verhältnis zum Körper viel zu großen Kopf, einer, der sich noch nicht beherrschen gelernt hat. Er ist in seiner Entwicklung der Anpassung stecken geblieben. Er will und will nicht begreifen, daß "Entwicklung" Anpassung heißt. Wenn man ihm das unter die Nase hielte, könnte er mit dieser Einsicht gewiß nichts anfangen, denn er denkt in seinem beschränkten geistigen Vermögen immer nur bildhaft. Beim Wort Entwicklung fällt ihm nur ein Wollknäuel ein, den man entwickelt oder bestenfalls eine Zwiebel, der man Schalen entfernt. Weiter reicht sein Abstraktionsvermögen nicht, denn er ist völlig in seinen Bilder - Welten zu Hause und kann im Grunde genommen nicht kommunizieren, jedenfalls nicht so wie kultivierte Menschen. Er verschlingt seine Nahrung wie ein Tier und scheint nie genug zu bekommen und spricht ordinäres Zeug, bei dem einem die Schamröte ins Gesicht kommt. Trotz der ganzen langen Epoche der Aufklärung ist er resistent unaufklärbar geblieben. Er ist so etwas wie ein "Fex". Er ist von Pflanzen- und Tiernatur und gewiß kein Mensch, jedenfalls kein zivilisierter. Seiner Unkultur gemäß befleißigt er sich einer zotenhaften Sprache und ist in Fäkalisches verliebt. Er hat eine riesige Nase und schnüffelt so wie ein Hund im Unrat umher.

Leben, das sich keine "Bedeutung" gibt

Narren auf der Bühne, am Boden neben Herrschern, im Zirkus haben Geschichte. Es geht ihnen besser als den Behinderten, die so gut wie keine Geschichte haben. So gut geht es den Narren aber auch wieder nicht, denn der Preis dafür, daß sie Geschichte haben ist hoch. Narren sind keine Menschen, sondern Lachfiguren. Von den Menschen, die sie darstellen, ist oft wenig bekannt. Vielleicht gehört es sogar zum Wesen der Narrheit, daß der Mensch dahinter verborgen bleibt. Shakespeare, der Schöpfer der "weisen Narren", ist als Person unbekannt. Die Träger und Darsteller von Narrenfiguren sind zum guten Teil Melancholiker oder Zyniker und Beides vielleicht, weil sie um die Bedingung der Narrheit wissen, nämlich persönlich keine Rolle spielen zu dürfen.

Erlauben Sie mir zunächst einige Bemerkungen zur Bedeutung des Theatralischen für die Sozialgeschichtsforschung. Behinderte haben keine Geschichte, wenn sie nicht selbst ihre Geschichte aufzeichnen, um ihren Anliegen Bedeutung zu geben. Behinderte. Sie hießen einst Narren, Krüppel, Fexen, Idioten, Bauerntölpel und unterschieden sich als solche nur wenig von anderem "Volk", das weder lesen noch schreiben konnte und der Nachwelt kein Bild von sich selbst überlies.

"Kein Mensch", so schreibt Franz Grillparzer, "ist aus sich heraus bedeutend, aber er kann sich bedeutend machen, und dann ist er es." Das "Volk" hat sich lange in der Geschichte in dieser Weise bedeutend gemacht. Es war stets in den Augen derer, die sich Bedeutung gaben, Objekte ihrer Selbst- und Machtdarstellung.

Alexander der Große eroberte die Welt. Er allein? Hatte er nicht wenigstens einen Adjutanten bei sich? Columbus entdeckte Amerika. Brauchte er nicht wenigstens einen, der sein Logbuch führte? Napoleon besiegte die "österreichische Arme. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei? Mit Vergleichen dieser Art plädiert Bertolt Brecht für eine Geschichtsdarstellung, die Vergangenes nicht niederschreibt, sondern für das Gedächtnis der Nachwelt aufhebt. Er lenkte damit das Interesse von den absolutistischen Geschichtemachern auf die nicht privilegierten Minderheiten, die zusammengenommen die absolute Mehrheit der Bevölkerung sind. Die herrschende Geschichtsschreibung ist immer noch eine Geschichte der Herrschenden und ihre Widersprüche sind lediglich der Machtkampf um herrschende Meinungen.

Das Gleichnis vom "Träumer"

Da geht einer verträumt auf der Straße. Der sieht genau so aus, wie alle anderen. Plötzlich stellt sich ihm jemand so in den Weg. Er behindert ihn. Er steht an. Er geht nicht auf die Seite, macht keinen Bogen um sein Gegenüber. Er hat keinen Sinn für Rangordnung, ordnet sich weder unter, noch nimmt er den Kampf mit dem Willen dessen, der ihn behindert auf, um sich durchzusetzen. Der Behinderer rempelt den Verträumten zur Seite und geht seiner Wege.

Wenn es zur Grunderfahrung dieses einen Menschen geworden ist, daß ihm andere in den Weg treten, dann wird er sich gewiß als behindert erleben.

Und andere, die beobachten, daß dieser verträumte Mensch, dem das mit der Behinderung immer wieder passiert, werden zu dem Konsens kommen: dieser Mensch ist behindert. Sie werden nicht sagen: das ist ein verträumter Mensch, sondern werden ihm die Rolle des Opfers zuordnen. Und da wird es nun Menschen geben, die Mitleid mit ihm haben und ihn vor anderen beschützen wollen und diese anderen, denen dieser Mensch einfach im Weg herumsteht, die ihn ja gar nicht angerempelt haben wollten und die es ja gar nicht böse gemeint hätten mit dem Zur - Seite - Schieben.

Unser "Träumer" ist weder ein "Hans Guck in die Luft" noch ein Narr oder ein Behinderter. Aber so wie alle, die "nicht ganz da" sind, hat er etwas an sich, daß ihm die Behinderung immer wieder passiert, daß ihm andere den Weg verstellen.

Um sich in dieser Welt des "Verstellens" zurecht zu finden, paßt er sich an und "verstellt" sich. Für ihn ist die "Realität" etwas, was er spielen muß, etwas, was für die anderen normal sein mag, über die diese Normalen nicht nachdenken müssen, weil ihnen die "Realität" selbstverständlich ist. Diese Realität heißt: geradlinig seinen Weg gehen, rechtzeitig Kollisionen vermeiden, sich anpassen, und wenn Dinge nicht in Ordnung sind: sich zu entschuldigen oder Schuld abzuwälzen.

Normal sein, sich anpassen, kann der "Träumer" nur auf künstliche Weise und man sieht in seinen Augenwinkeln, daß er es verschmitzt tut. Es geht ihm vor allem die Fähigkeit ab, sich durch Anpassung zu schützen. Er ist das, was andere als "geborenes" Opfer bezeichnen. Er wehrt sich nicht, das heißt, er entschuldigt sich nicht. Er steht anderen nicht im Weg, aber es scheint so, als wäre es so. Und das juckt manche Passanten, ihm eine Bosheit anzutun...

Kurzum ich frage mich, was Träumer, Behinderte, Narren etc. gemeinsam haben: Die Unbekümmertheit; den - im wahrsten Sinne des Wortes - rettungslosen Glauben an die Unverletzbarkeit und das Gute. Der "heillose" Irrtum macht sie zu Opfern.

Von der Regelverletzung des Narren

Was macht einen Narr zum Narren? Er "narrt" die Menschen seiner Umgebung. Er irritiert sie. Aber was irritiert sie? Daß sich der Narr verstellt. Er tut so, als ob er dümmer wäre als er offensichtlich ist. Getarnt bzw. geschützt durch die Narrenkappe darf er bösartig sein, ins Schwarze treffen, Tabus durchbrechen und ungestraft Regeln verletzen. Er ist ja "nur" ein Narr, den man nicht ernst nehmen braucht. Ein Autor in einem Theaterstück sagt durch den Narren hindurch unangenehme Wahrheiten. Er bedient sich der Narrenfigur, um selbst unangreifbar zu sein. Der "Narr" auf der Bühne ist immer ein Behinderter, und zwar ein geistig Behinderter mit sozusagen lichten Momenten. Er zieht sich in sein Narr - Sein wie in ein Schneckenhaus zurück, nachdem er allzu frech seine Fühler über die Rampe hinaus gestreckt hat. Ganz unbedarft singt er lustige Lieder, aber die Texte dazu geraten ihm unter der Hand gleichsam zu bitterbösen Anklagen (siehe Kabarett; Couplets etc. oder J.N. Nestroy). Der Narr wird vom Teufel geritten. Er kann sich die Wahrheit, die jeder kennt, und von der jeder weiß, daß man über sie nicht spricht, nicht verkneifen. Er ist sensibel genug, um das, was verschwiegen wird zu erkennen. Er hat es aber nie gelernt, sich zurückzuhalten. Er ist so naiv, daß er sogar noch meint, dafür gelobt zu werden, daß er die Wahrheit ausspricht. Ja, und die Leute beklatschen ihn sogar, allerdings unter der Bedingung, ihn nicht ernst nehmen zu müssen.

Der Narr hat den Schelm in den Augen. Kein Argument macht ihn unangreifbarer als der Hinweis darauf, daß alles auf der Welt nur Theater ist.

Der Narr in Christo oder warum Jesus auf einer Eselin in Jerusalem einzog

In "Ausstoßung und Verfolgung" weist René Girard ( eine historische Theorie des Sündenbocks, Fischer Zürich 1988, S.10f) auf die Fabel "Die Pest im Tierreich" von La Fontaine (19.Jhd.) hin. In ihr geht es um eine Konferenz der Tiere zur Erklärung und Bewältigung der Pest. Alle, die da in der Sache zusammen saßen berieten, wie denn das Übel aus der Welt zu schaffen sei. Man schlug vor, daß jede Gattung Vorschläge auf den Tisch legen soll. Jeder der Tierabgeordneten fühlte sich aber bemüßigt nicht Pläne für eine bessere Zukunft zu unterbreiten, sondern sich zu verteidigen. Man trage keine Schuld, sagte der Vertreter der Geier, und man habe ja die jungen Lämmer nicht umbringen wollen. Vor irgend etwas müsse man ja leben. Der Geier war im Grunde, so wie alle anderen davon überzeugt, daß es einen Schuldigen an der Pest geben müsse. So wie der Geier fand jedes Tier eine andere Entschuldigung und schob im hohen Bogen jeden Verdacht unkontrollierten Handelns ebenso von sich wie etwa Mordabsichten aus Machtgelüsten und alles, weswegen der eine oder andere ein schlechtes Gewissen hatte, das er mit Schuld koppelte. Nachdem sich also alle Tiere in dieser Weise entschuldigt hatten, kam schließlich der Esel an die Reihe. Er hatte keine Entschuldigung auf Lager. Und so wurde der Esel zum Sündenbock, dem all das aufgeladen wurde, was die anderen nicht auf sich nehmen wollten. Einer mußte es für alle tragen, der "Schwächste, der Verwundbarste", sagt La Fontaine (zit. nach aaO. S. 11). Der springende Punkt erscheint mir aber, daß er verwundbar ist, weil er die allgemeine Krise nicht aushält. Er erlebt in der allgemeinen Krise das hohe Maß an Konsensbedürfnis der Gesellschaft ebenso wie die mangelnde Bereitschaft, die Krise als Möglichkeit des Endes aller Spiegelungen und Projektionen anzunehmen. Er kämpft für diese Wahrheit. Und er weiß um den Preis.

Warum wurde der Esel zum Sündenbock? Wenn er doch ohnedies freiwillig Schuld auf sich nimmt, muß man ihn doch nicht auch noch dafür bestrafen! Doch, denn indem er auf seine Unschuld besteht, und alle Versuche zurückweist, nur ein Narr zu sein, nimmt er die Schuld anderer auf sich. Somit deckt er Zusammenhänge auf. Und das ist es, was alle anderen eben nicht wollen. Sie wollen den stillschweigenden Konsens und die Vereinbarung unter den Tisch gekehrter Aggression. Die eigentliche Schuld des Esels ist seine störrische, "bockige" Art, bei diesem Spiel der Verdrängung nicht mitzumachen. Er weckt bei seinen Tiergenossen das Gewissen auf, das diese zu Schweigen bringen wollten. Der Esel entlarvt ja die Lügen aller anderen Tiere, die sich entschuldigen und sich eine weiße Weste anziehen. Der Esel weckt das Gewissen! Er installiert vielleicht sogar erst diese Instanz! Er "ent - täuscht" und darin ist der dem Narr verwandt. Aber nicht nur ihm. Wer einmal darüber nachzudenken anfängt, warum Jesus auf einem Esel in Jerusalem einzog, wird herausfinden, daß das im Zusammenhang mit der Ent - täuschung steht, daß sein Reich "nicht von dieser Welt" ist. Wenn Behinderung etwas mit dem Leben außerhalb der vereinbarten "Realität" des "Normalen zu tun hat, dann kommen wir dem Kern der Verwandtschaft (oder sollten wir Analogie sagen?) zwischen "Narr" und "Behinderter" mit der Fabel vom Esels sehr nahe.

Anpassungsleistung oder Anpassungszwang? (Die Geschichte vom Wassertropfen).

Ich wollte nicht angepaßt sein, und deshalb galt ich als zurückgeblieben. Und das kam so, daß ich in der zweiten Volksschulklasse die Geschichte vom Kreislauf des Wassers erzählen sollte und zwar natürlich so, wie das der Lehrer vorgebetet hatte. Der Wassertropfen verdunstet über dem Meer, bildet mit vielen anderen eine Wolke, die wird aufs Land geblasen und entlädt sich als Regen, dieser versickert in der Erde und übe das Grundwasser kommt es zum Bauch und über diesen wieder ins Meer. Nun. Ich wollte keine Regentropfengeschichte nacherzählen, wo ein Tropfen wie der andere immer in einer Gruppe nach einem vorgeschriebenen Naturgesetz folgen muß. Ich wollte die Individualität eines Tropfens beschreiben. Und da ich beobachtet hatte, daß Regentropfen durchaus nicht alle im Erdreich landen und ich im Garten ein tiefes Loch grub und hier durchaus keinen unterirdischen See, das Grundwasser, entdecken konnte, hielt ich mich in meiner Beschreibung an die Beobachtung, daß Regentropfen auch direkt in den Bach fließen und mich alle den Umweg über das Grundwasser machen. Ich war ausgesprochen stolz auf meine Art der persönlichen Geschichte zum Wasserkreislauf.... Nur der Lehrer nahm meine Erzählung nicht als originell sondern als dumm, so als hätte ich die ganze Sache nicht verstanden. In seinen Augen war ich behindert. Und ich war um so trotziger, je weniger er meine Individualität zur Kenntnis nehmen wollte. Und im Trotz verkümmerten tatsächlich Anlagen zum positiven Annehmen von "normalen" Zusammenhängen.

Erlebnisse dieser Art hat wohl jeder. Sie beschreiben das Prinzip des Narren, aus der Reihe zu tanzen. Der Narr provoziert, weil er dem Schema des ewig Gleichen, dem Muster- und Klischeehaften Individualität abringen will. Er "beleidigt" damit die Ordnung und wird lieber für dumm verkauft als daß die Einwendungen Anlaß sein könnten Ordnungen hinterfragen zu müssen.

Inwiefern ist Behinderung Unterbinden von Individualität. Inwiefern ist Behinderung sogar die letzte Möglichkeit Außer - Gewöhnliches zu leben?

Behinderung als versteckte Begabung oder über die Narrheit außer sich zu sein

Narren und Kinder sagen die Wahrheit. Narren und Kinder stecken mitten in Anpassungsprozessen. Und ich sage bewußt: Sie stecken darin. Die Frage ist, ob sie aus diesem Drinstecken heil oder behindert herauskommen.

In seiner Abhandlung "Über die Marionette" hat und Heinrich von Kleist eine Parabel zum Wesen der Schauspielkunst hinterlassen. Er beschreibt in seinem Traktat den Kampf zwischen einem Bären und einem Schauspieler, der zu Bühnenzwecken das Fechten gelernt hat. Er wird aufgefordert, den Bären zu erstechen. Nach anfänglichem Zögern will der Fechter das auch. Warum gelingt es ihm aber nicht? Weil der Bär all das, was sich der Spieler an Finten und Täuschungen ausdenkt schneller begreift als der Spieler selbst. Der Bär handelt aus der "Anschauung" heraus. Er sieht in den Augen seines Gegenüber die Absicht und reagiert schneller als die Hand, der der Spieler den Befehl zur Handlung erteilt.

Aus diesen Beobachtungen heraus entwickelt H. v. Kleist seine Beschreibung von der Entwicklung des Bewußtseins. Solange ein Mensch so instinktiv reagiert wie ein Bär, sehen wir alles an ihm natürlich, graziös oder in anderer Art "selbstverständlich". Wird dieser Mensch aber darauf aufmerksam, wie er reagiert, verliert er seine Natürlichkeit. So ähnlich geht es jedem Schauspieler in der Ausbildung, der auf seine Fähigkeiten plötzlich aufmerksam wird und vor lauter Reflektierten an ihm nichts mehr natürlich ist. Er muß erst mühsam wieder zu jener Mitte zurückzufinden, an der bei Marionetten der zentrale Bindfaden angeknüpft ist.

Narren sind Persönlichkeiten mit nicht abgeschlossenen Prozessen der beschriebenen Art. Behinderungen lassen sie zu närrischen, zu irritierenden, Persönlichkeiten entwickeln, insofern Behinderungen als Irritationen wahrgenommen werden.

Hofnarr

Es hat gute Gründe, weshalb bislang die Geschichte Behinderter noch nicht geschrieben ist. Es ist zu wenig überliefert, als daß wir uns ein ausreichendes authentisches Bild von ihrem Leben in früheren Jahrhunderten machen können. Theater ist als Quelle eine Nachricht virtueller Ereignisse, die allerdings - wenn auch verschlüsselte - so dennoch für die jeweilige Zeit entlarvende Nachrichten enthält.

Zunächst ist auffallend, daß Narren und Aussenseiterfiguren häufig in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche das Bühnenleben der jeweiligen Zeit beherrschen. Was bedeutet das? Wenn sich ein Herrscher einen Hofnarren hält, von dem er erwartet, daß er im lächerlichen Gewand unangenehme Wahrheiten sagen darf, demonstriert er damit seine Macht. Er entkräftet Kritik an der Macht, indem er sie als Narrheit maskiert. Der Hofnarr entlarvt nichts, er übt auch keine Kritik, sondern der Herrscher läßt den Narr Kritik üben, um selbst als kritikfähig zu gelten. Die Kritik ist integrierter Bestandteil seiner Macht.

Der Narr darf seine Kritik nicht direkt anbringen, er muß sich närrisch stellen. Verstellungen und Verkleidungen sind Voraussetzungen der Integrierbarkeit von Kritik. Wenn diese These stimmt, dann wäre darüber nachzudenken, wo und inwiefern geistig Behinderte nicht ähnlich reagieren und im wahrsten Sinn des Wortes Narren sind. Sie verstellen sich, um verschlüsselt Wahrheiten sagen zu können. Sie "machen den Dodl", und sind damit persönlich unangreifbar.

Paulmichel und die "verstellte Dummheit".

Es gibt da eine Abbildungen des "Salzburger Hans Wurst" aus dem 18. Jahrhundert. Unter ihr steht: "Dies ist das Bildnuß der verstellten Dummheit". Die Dummheit ist verstellt! Was aber verstellt sich hier als Dummheit? Ist es Klugheit oder Mutterwitz, der hinter der dummen Verstellung durchscheint?

Der Narr benützt Dummheit, Wahnsinn, Schwerhörigkeit etc.. Er täuscht Behinderung vor, und begibt sich damit in einen geschützten Bereich. Auch die Bühne ist eine "geschützte Werkstätte". Nur unter dieser Bedingung, kann sie mit Tabus brechen.

Wenn wir an die Gedichte von Paulmichl denken, dann gestehen wir ihm zweifellos auch Klugheit und Mutterwitz zu. Nur erweist sich der Autor nicht als Narr. Er verwendet zum Durchblick auf seinen Mutterwitz keine "dumme Verstellung". Das Durchblitzen der Klugheit entsteht vielmehr im Ringen mit einer "g´scheiten Form". Der Witz entsteht als scheinbarer Fehler im Versuch der Anpassung.

In dem Punkt ist die Verwandtschaft zur Narrenstruktur sehr groß. Wenn der Kasperl Buchstaben verwechselt oder Worte allzu wörtlich nimmt und der naive Narr Sinnzusammenhänge nach seiner Art deutet haben wir hier den Narren als Behinderten, der uns herzlich lachen macht, ohne daß wir ihn auslachen..

Narrentypen

Die närrische Verstellung war zu allen Zeiten ein Mittel der Gesellschaftskritik. Und die Narren wurden um so närrischer, je größer der Druck war, den die Gesellschaft auf öffentliche Kritik ausübte. Als im Vormärz (das ist die Zeit Metternichs vor dem Revolutionsmonat März 1848) jede kritische Äußerung gegen das repressive System als revolutionär galt, war das die Zeit der Hochblüte der närrischen Figuren im "Altwiener Volkstheater".

Die Narren auf der Bühne des 19. Jahrhunderts waren (meist ländliche) Spaßmacher, deren Vorfahren in der Realität auf Jahrmärkten zu Hause waren. Sie lassen Wahrheit zum Zweck der Unterhaltung nur durchblicken. Sie spekulieren allenfalls mit dem Reiz, bis an die Grenze der Offenheit von Kritik zu gehen, überschreiten diese Grenze aber nie. Sie sind keine Weltverbesserer, die närrische Tarnung benützen, so wie

der Narrentyp "Eulenspiegel", sondern wenden sich an Publikum zur Unterhaltung, um sie über Dinge, im Schutz der Spielgemeinschaft im "Theater als Narrentempel" befreiend lachen zu lassen.

Erst in unserem Jahrhundert stellte Bert Brecht die Frage, ob der Witz des Narren nicht eine Waffe sei. Er schuf in der Figur des "braven Soldaten Schwejk" einen Narrentyp, der sich in der Zeit existentieller Gefahr dumm stellt, um zu überleben (sich "durchzuwursteln"). Sein Witz ist wie eine geballte Faust in der Hosentasche, mit der er ein Klappmesser umklammert. Er wird zustechen, sobald der Zustand existentieller Bedrohung aufgehört hat. Der Narr wird zum Bösewicht.

Der König aller Narren ist der "weise Narr", wie er in zahlreichen Stücken von Shakespeare zu finden ist. Auf ihn trifft das Sprichwort vom "Narren, der die Wahrheit sagt" am ehesten zu. Im "König Lear" etwa ist er der einzige, der sich der Narrheit der Zeit zu entziehen vermag.

Die Geschichte dieses Narrentyps, der im barocken Schauspiel überall zu finden ist, hat seine Ahnen in der "verkehrten Welt" (Narrenschiff) des umbrechenden Mittelalters, als die Entdeckung der sozialen Realität alle Vorstellungen von wohlgeordneter Hierarchie über den Haufen warf und Narren die einzigen Weisen waren, die sich bei der Umkehrung aller Werte, im Chaos zurechtfanden.

Der Narr reagiert sensibel auf Übermächtigkeit. Er hat eine Nase dafür. Er verkauft sich lieber als Narr, um nicht als Revolutionär, der er eigentlich ist, entlarvt zu werden. Er nimmt die Rolle des Narren an, weil er ohne Maske bei Leib und Leben gefährdet wäre. Nicht zufällig werden Narren etwa in der Figur des "Eulenspiegel" als Seiltänzer über den Abgründen der Aggression dargestellt. Die Verinnerlichung seiner Verstellung aber macht ihn zum Verstellten und manchmal auch zum Entstellten. Der Kasperl, einer der sich über etwas "hinwegkasperlt" hat als Bühnenfigur eine lange Nase, einen Riecher für's Überleben. Aber die Lächerlichkeit seines Aussehens bringt ihn immer wieder aus dem Bannkreis der Aggression, die er alleine schon durch sein Aussehen auslöst.

Vom Woyzeck zum Dorfdepp

Ein gänzlich anderer Geschichte der Narren auf der Bühne ist die des Dorfdeppen als lächerliche Figur. Als tragische Figur ist der "Behinderte" eine Entdeckung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie wurde für die Bühne bahnbrechend von Georg Büchner im "Woyzeck" als ein Mensch, der zum Behinderten von der Gesellschaft behindert gemacht wird, beschrieben. Georg Büchner war nicht nur ein begnadeter revolutionärer Schriftsteller, sondern auch Arzt und Diagnostiker. Er analysierte die Tat des Frauenmörders Woyzeck und stellt seiner Gewalttat den verbrecherischen Umgang einer militanten Umwelt gegenüber, die sensiblen Menschen das Rückgrat bricht, um sie dann für behindert zu erklären. Georg Büchner geht in seiner Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit so weit, daß er ihr vorwirft, eher Tiere für Intelligenzbestien, als auffällige Individuen für Menschen zu halten. "Woyzeck" ist in den Augen derer, die die Norm anbeten, ein Fex. Büchner erfand seine tragische Figur des behinderten Woyzeck nicht, sondern schrieb in seinem Stück eine Verteidigung eines "medizinischen Falles", der durch Experimente mit Sonderdiät (Narren fressen alles) in seiner Persönlichkeitsstruktur zerstört wurde, dann einen Mord beging und dafür als voll verantwortlich hingerichtet worden war. Es ist nur schwer zu fassen, daß nach einer derartig einfühlsamen Darstellung der Behinderte in Form des "Dorfdeppen" zur komischen Figur werden konnte, über die gelacht wird,

weil sie anders ist. "Anders" bedeutet nicht nur "geistig zurückgeblieben". Der Typ des Dorfdeppen beschränkt sich nicht auf den Schwachsinnigen und den durch Inzucht Behinderten, sondern auch auf Fremdlinge jeder Art.

Am Beginn des Stückes entlarvt Büchner das Problem des Behinderten als Problem der Naturwissenschaft. Er zeigt, wie Behinderte zum medizinischen Fall gemacht werden. In einem kühnen Bild stellt er dar, was die Gesellschaft von einem "normalen" Menschen hält. Er sei eine Maschine, einer der nach Dressur funktioniert. Und wer nicht funktioniert, der ist ein Fall zur Demonstration von Abartigkeit. Es ist ein düsteres Bild, das Büchner da entwirft. Es ist geradezu prophetisch im Hinblick auf die medizinische Bestialität des Nationalsozialismus

Ausrufer: "Meine Herren! Sehen Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht hat, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen. Hat ein Säbel! Mach Kompliment" Ein Marktschreier kommt auf die Bühne und erklärt, daß das Pferd, das er mitführt, weil er es zum Nicken veranlassen kann, ein dem Menschen überlegenes Wesen ist. "Zeig dein Talent"! Zeig deine viehische Vernünftigkeit! Beschäm die menschliche Sozietät! Meine Herren, dis Tier, das Sie da sehen, Schwanz am Leib, auf sei vier Hufe ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät, ist Professor an unse Universität, wo die Studente bei ihm sitze und schlage lerne. Das war einfacher verstand. ... Das hat geheiße: Mensch sei natürlich. Du bist geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr sein..

Vom Prinzip des Auslachens

Es werden auch heute noch "ländliche Lustspiele" geschrieben. In ihnen sind Italienerinnen, die kein Wort deutsch verstehen, debile Huren, Großväter senile Trotteln, etc.

Als ich unlängst bei einer Spielgruppe auf den Umstand hingewiesen habe, daß ich über eine Türkin, die als Prototyp einer manischen Diebin gezeichnet war, nicht lachen kann, weil ich das Klischee "Alle Türken sind Diebe" einfach nicht lustig finde, bekam ich die Antwort: "Worüber sollen wir sonst lachen?" Behinderte werden erfunden, damit sie ausgelacht werden können. Es hat sich dieser alltagsfaschistische Umstand in der Unkultur des "ländlichen Lustspieles" allerdings schon herumgesprochen. Verarbeitet ist er noch lange nicht. Manche Bühnen schütten das Kind mit dem Bad aus und eliminieren alle lustigen Figuren von der Bühne, ernten damit wenig Erfolg und kehren zum Auslachen zurück, weil sie den Unterschied zwischen "Auslachen" und "Lachen aus Erkenntnis" eines entlarvten Vorurteiles noch nicht begriffen haben.

Von der Wiederentdeckung des Idioten

Die heutige Diskussion um Behinderte im Volkstheater ist bestimmt von der Wiederentdeckung des "Idioten" als tragische Figur, die Mitleid erregt. "Kein Platz für Idioten" hieß ein Stück von Felix Mitterer, das vor etwa zwanzig Jahren zum Symbol für das Umdenken wurde. Es ersetzte das Auslachen des Deppen durch das Mitleid mit dem Armen. Nun, freilich ist das nur ein erster Schritt. "Mitleiden" hat nur eine verschwommene Grenze zur "Sentimentalität", so wie "Licht ins Dunkel" nur ein Trostpflaster bzw. ein Grund ist, über "blinde Flecken" hinwegzusehen.

Unabhängig davon: Felix Mitterer hat zwanzig Jahre nach der Uraufführung "Kein Platz für Idioten" neu gefaßt und siehe da, aus dem "Idioten" ist ein Narr geworden, den er mit Witz ausgestattet hat.

Ist der Dorfdodl zu heilen?

Es wird in dem Stück gezeigt, wie ein Behinderter bei liebevoller Betreuung lernfähig ist und sich zur Normalität entwickelt. Es behandelt aber nicht den springenden Punkt des unwiderruflich Andersartigen des anderen. Ein Stück über einen "Behinderten", von dem angenommen wird, daß seine Störung bei entsprechender Therapie behebbar ist, bleibt in der Utopie der Heilung hängen und entzieht sich dem Thema der Integration dessen, der in seiner Art ein Fremder bleibt.

Das "ländliche Lustspiel" ist mit seinen Auslachfiguren eine Erfindung der Zwischenkriegszeit unseres Jahrhunderts. Man könnte einwenden und sagen, daß das nichts mit Faschismus und Außenseiterfeindlichkeit zu tun habe. Vielmehr sei das Theater der Ort, der dem realen Faschismus einen Spiegel vorhalte. Theater hat nie unmittelbar etwas mit der Realität der Gesellschaft zu tun, ist aber doch ein Spiegelbild.

Das "ländliche Lustspiel" will kein realistisches Abbild der Dorfbevölkerung darstellen, in der behinderte Menschen leben, sondern verlegt das Geschehen meist zurück in die Vergangenheit, in eine soziale Realität, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Man schwärmt in diesen Stücken von Dörfern und Bauernhöfen, wo der Bauer wie ein Fürst über seine Untertanen regieren konnte. Er ist despotisch und selbstherrlich, wie einer, der sich einbildet, Ludwig der 14. zu sein. Die "keifende Alte" vermag ihn von diesem Wahn ebensowenig zu heilen wie der trottelhafte Sohn, der geistig behindert Knecht, die zügellose, fexenartige Magd, die diebische Türkin, der vom Geiz besessene Jude etc. Die in diesen Stücken beschriebene Gesellschaft ist trotz einer als Welt von Behinderten dargestellten bäuerlichen Welt eine Utopie, denn es wird niemand wegen seiner Behinderung ausgestoßen oder verfolgt. Wer will gegen so ein "Kaperltheater", das mit der Realität nichts zu tun hat, etwas einwenden? Das Problem des Typus "ländliches Lustspiel" beginnt mit der Idealisierung von "Bodenständigkeit", mit der Heroisierung des sogenannten Gesunden, an dem gemessen das Behinderte, Reduzierte, Fremde und Andersartige die Wertung des Krankhaften bekam.

Zur Geschichte der Dodlfigur (Heroisierung als Falle)

Mitten im 20. Jahrhundert wiederholte sich ein Vorgang, der analog dazu im beginnenden 16. Jahrhunderts nachweisbar ist. Über eine sehr lange Zeit im späten Mittelalter war der Bauer in der Literatur lediglich der "dumme Bauerntölpel". Es gehörte zum guten Ton, auch zu dem der Minnesänger, die Nase über den zu rümpfen, der nahe und mit der Natur lebt. Kultur sei ja etwas, was sich über sie erhebt.

Dann kam die Zeit der großen Sinnkrise, der Zusammenbruch des Glaubens an das bis dahin gültige gesellschaftlichen Ordnungsgefüge der mittelalterlichen "Ordo - Welt", in der jeder seinen Platz hatte, aber in der keiner seinen Platz im Gefüge verlassen durfte, ohne sich gegen die Hierarchie zu versündigen.

In dieser Zeit entdeckte sozusagen die "Hochkultur" seine Wurzeln und begann sie zu idealisieren. Der Bauer wurde plötzlich zum "Schäfer" und zur Inkarnation der Naturverbundenheit. Im krassen Gegensatz zur bisherigen Verhöhnung wurde er nun zur Idealfigur. Wie konnte es anders sein, daß die Bauern dieses plötzliche Loblied nach ein paar hundert Jahren Verhöhnung dankbar annahmen und ihr Recht forderten. Sie gingen ebenso in die Falle der Heroisierung ihres Standes wie in Krisenzeiten danach auch, zuletzt vor dem "Ersten Weltkrieg". Der Bauer wurde 1525 für das Einfordern seiner Rechte nicht nur bitter bestraft, sondern für seine Dummheit dann wieder - bis zur nächsten Krise - von den neuen (bzw. neuen alten) Herrschenden "vertölpelt". An den Sündenböcken entlädt sich die Rache über die Enttäuschung, daß sich die Idealisierten sich nicht als dankbar erweisen und der Projektion entsprechen. Der Bauer ist freilich nur eines der "klassischen" Opfer, die je nach gesellschaftlicher Lage, verdammt oder heilig gesprochen werden.

"Es gibt also allgemeingültige Merkmale der Opferselektion", schreibt Girard (GIRARD, René: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt (Fischer) 1992, S., 31)"... Neben kulturellen und religiösen gibt es auch rein physische Kriterien. Krankheit, geistige Umnachtung, genetische Mißbildungen, Folgen von Unglücksfällen und körperliche Behinderungen ganz allgemein sind dazu angetan, die Verfolger anzuziehen ... Das Wort 'abnormal' selbst hat, wie der Ausdruck Pest im Mittelalter, etwas von einem Tabu an sich; es ist zugleich edel und verflucht - 'sacer' in jedem möglichen Wortsinn"

Diese Umstände rund um das Wechselbad zwischen verflucht und heilig gehören mit zu jenem "kultur-übergreifenden Schema kollektiver Gewalt" im Sinne von Sündenbockbildungen in Krisenzeiten, über das Girard (aaO S 23-24) schreibt: "... jene Krisen, die Auslöser breiter kollektiver Verfolgung sind, werden von den Betroffenen stets mehr oder weniger gleich erlebt. Als stärkster Eindruck bleibt in jedem Fall das Gefühl eines radikalen Verlustes des eigentlich Sozialen zurück, der Untergang der die kulturelle Ordnung definierenden Regeln und 'Differenzen'."

Ich habe mich lange vergeblich gefragt, warum es erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Blütezeit des alltagsfaschistischen Volksstückes gekommen ist. Ich verstand unter alltagsfaschistisch zu einseitig "Außenseiterfeindlichkeit" und bin mir erst im Zusammenhang mit Sündenbocktherorien zur Anschauung gelangt, daß es ursächliche Zusammenhänge zwischen Heroisierung und Entheroisierung, zwischen Idealisierung und Vertölpelung gibt. Demnach ist das "Bauerndodlstück" (das außenseiterfeindliche "ländliche Lustspiel") eine volkskulturelle Erscheinung, die zum Bild einer wirtschaftlich aufblühenden Zeit paßt. Historisch hat sich der kulturell-krisenhafte Umbruch von der Idealisierung des Bauern im Volkstheater zur Vertölpelung in den frühen 20er Jahren ereignet.

Hanswurstverbrennung

Die Eliminierung des Hans Wurst, der prototypischen, zotenhaft-urwüchsigen Bauern war eine Forderung der Aufklärung des 18.Jahrhunderts. Das Bürgertum hatte nötig, seine Hochkultur als über den primitiven Dingen des Lebens mit der Natur stehend zu definieren. Die Poesie dürfe nicht in den Händen von Menschen liegen, die den Stall ausmisten. Und deshalb wurde die "Reinheit" in der Kultur gefordert, die nach bürgerlichen Regeln geordnet sein sollte. Das deutlichste Signal als Vorbote der großen Krisen, die in den bürgerlichen Revolutionen (bis 1848) zu Tage traten, war einmal nicht das Hohngelächter über die "tieferen" Schichten im Theater (das kam erst danach in der Vertölpelung von Vogelhändlern und anderen Leuten aus dem Volk in Der Operette) und auch nicht seine Idealisierung, sondern es kam erstmalig die Vernichtung mit ins Spiel, zwar nur eine symbolische, aber immerhin. Das Jahrhundert der Aufklärung überwand in der Realität den Sündenbockwahn des Verbrennens von Zauberern und Hexen, ohne aber weiterhin zu zündeln. Als solches Zündeln mag das Spektakel der öffentlichen Verbrennung des Hans Wurst durch die Neuberin in Danzig gedeutet werden. Die Theaterprinzipalin hatte die besten kulturellen Absichten, die Beseitigung des Zotenhaften und Ungehobelten als kulturlos. Nur, wenn auch die Verbrennung nur ein Symbol war, ist sie Gewaltakt gewesen, gerichtet gegen die, denen es weiterhin mit zunehmenden Druck systematisch verwehrt wurde, sich kulturell zu äußern. Der Höhepunkt der Volkstheater-Aufführungsverbote waren die beiden Jahrzehnte vor der französischen Revolution! Ich weise auf die Geschichte vor allem deshalb hin, weil die historische "Aufklärung" zwei Gesichter hatte. Der "kritischen Aufklärung" verdankt das moderne Volkstheater mit all seinen Volkstypen den moralischen Maßstab.

"Menschen mit Fehlern der Natur" in Krisenzeiten

Die Entlarvung der Unmoral des Lachens über Behinderte auf der Bühne ist eine Entdeckung der kritischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. G. E. Lessing (Lessing, Gottfried, Ephraim, "Hamburgische Dramaturgie, Kröner, Stuttgart 1963, u.a.: S 115) stellte in den Raum, daß Menschen mit "Fehlern der Natur", die unabänderlich sind, kein Gegenstand des Lustspieles sein dürfen. Er machte sich damit erstmalig, und zwar in seiner "Hamburgischen Dramaturgie" Gedanken über die Rolle von Behinderten auf der Bühne. Die moralische Forderung, daß niemand ausgelacht werden darf, sondern nur ein Lachen aus Erkenntnis auf der Bühne gerechtfertigt ist (im Gegensatz zur "Hetz", der Hetzjagd über Menschen mit nicht behebbaren Fehlern = Behinderte) brachte ein komplett neues Denken mit sich. An die Stelle des Lachens über den Tölpel, trat das Mitleid mit dem Armen ins Spiel.

Irritation durch Narren und Behinderte

Narren und Behinderte sind durch ihr Verhalten auffällig. Sie sind Irrende, die in den Augen derer, die ihren festen Platz in der Gesellschaft hatten, im Irrtum leben. Zumindest emotional müssen sie als irr empfunden werden, damit sie keine Provokation darstellen. Und Provokation ist für den, dessen höchstes Ziel die Anpassung ist, das, was er verdrängt. Alles, was sich der Anpassung entzieht, macht ihn aggressiv, bzw. sondert er aus. Wer nicht gerade ein "spinnerter Künstler" ist, wird es schaffen ein Haus nicht nach Norm zu bauen und mit Rücksicht auf das "Spinnerte" bei allen Instanzen und sogar von der Dorfgemeinschaft in Ruhe gelassen werden. Viele werden sagen, von so einer Behausung zu träumen. Es ist en Objekt der Sehnsucht. Allerdings tröstet man sich damit, daß der Preis sehr hoch sei, nämlich der Preis, sich als anders von allen anderen abgehoben zu haben, wodurch zweifellos ein Stück Geborgenheit verloren geht. Er wird nicht ernst genommen und vor allem nie in die Gemeinschaft aufgenommen. Er bleibt ein Fremder. Als solcher wird er ein ruhiges Leben haben, es sei denn in einer Krise. Da wird er dann plötzlich, in welcher Form auch immer, zum Sündenbock, der er potentiell schon die ganze Zeit war. Er wird nun für die Freiheit gleichsam bestraft, die man ihm die ganze Zeit über gewährt hatte.

Girard beschrieb sehr spannend die Identität vom Fremden und dem Sündenbock. Er führt aus, daß der Versuch des Fremden, sich anzupassen, den Mechanismus der Verfolgung auslöst. Solange er fremd bleibt, ist die Welt der Heimat in Ordnung. Erst sein Wunsch und sein Versuch, sich anzupassen macht ihn verdächtig. Aber es ist hier so wie mit dem Bauerntrottel in der Literatur. Die Zeit, die man ihm den Vogel zeigt, ist die lange Friedenszeit. Und der Abschnitt von der Idealisierung mit der folgenden Übertölpelung bzw. Eliminierung ist wie eine Eruption, eine revolutionäre Begleiterscheinung einer gesellschaftlichen Umbruchphase. So ist das mit der Narrenfreiheit.

Das Andersartige ist immer ein Appell zur Reflexion von Normen, zu der nicht immer die entsprechende Bereitschaft vorhanden ist. Hat eine Gesellschaft Angst vor Veränderungen, projiziert sie diese auf Irre, erklärt sie für schuldig und stempelt sie zu Opfern. Beziehungsweise gibt es immer wieder Menschen, die von sich aus auch die gesellschaftliche Rolle des Irreseins anbieten. Damit ist die Sache aber nicht abgetan. Durch die Verkörperung der Angst wird der Gegenstand der Angst zur Bedrohung und schlägt um. Die Geschichte ist voll von Beispielen des

Zusammenhanges zwischen gewaltsamen gesellschaftlichen Veränderungen und dem Auftauchen von Verrückten. Diese sind am Beginn revolutionärer Entwicklungen die ersten Opfer. Im Verlauf der Ereignisse entsteht aber so etwas wie eine Narrenkultur. Und die ist verbunden mit der Entdeckung des Närrischen als allgemein gültiger Zustand der Gesellschaft.

Etwas über Narrenhäuser und Narrenkäfige

Hierarchische Gesellschaften reagieren zu allen Zeiten ambivalent. Irritierende Individuen werden verfolgt. Zu diesem Zweck werden sie entweder isoliert oder aber auch ausgestellt. Letzterem kommt besondere Bedeutung zu, wenn wir an die Schnittstellen zwischen Narren und Behinderten denken. Die Narren suchen allerdings von sich aus das Publikum, und Behinderte werden ausgestellt.

Die Isolation von Irren als Strafe für "schädliches Verhalten" oder als Opfer ist eine bekannte Vorstellung. Man sperrt Irre in Narrenhäuser. Wer aber meint, daß Narren vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hier zulanden in Narrenhäusern versteckt worden sind, irrt sich in den Jahrhunderten. Zumindest gab es neben Narrentürmen auch Narrenhäuser, die alles andere als geschlossene Anstalten waren. Es gibt einige Nachrichten über die Narrenhäusln in Tirol aus dem 17. Jahrhundert. Verstanden wurde darunter eine Art Käfig, in dem nur ein Mensch Platz hatte, nicht zur Isolierhaft, im Gegenteil. Der Käfig wurde mitten auf dem Marktplatz aufgestellt. Ein jeder sollte den Narren in dem Käfigpranger sehen können, und wie einen seltenen Vogel betrachten, vielleicht auch verspotten, bespucken und verhöhnen dürfen. Es war eine Schande, so ein Narr zu sein. Ausgestellte Narren waren solche, die als böse und schädlich für die Gemeinschaft der Bürger galten. Es gibt ein Zeugnis aus dem Jahr 1692. Demnach war das Haller Narrenhäusl in der Nähe der Brotbank mitten im Stadtzentrum aufgestellt. Nach einer Nachricht aus Kufstein aus dem Jahr 1715 wurde eine gewisse Maria Moll wegen wiederholter Unzucht "mit aufgesetzten Strohkranz eine Stunde lang ins Narrenhäusl gesperrt." Anderen Frauen wurde aus ähnlichem Anlaß zwar das Zuchthaus erspart, aber sie wurden, mit einer Geige behängt im Narrenkäfig zur Betrachtung ausgestellt. Unter Geige verstand man ein Brett mit drei Löchern für Hals und Hände. Solche Zwingbretter gehören heute zum Arsenal erotischer Geräte. Es ist nicht weit hergeholt, wenn man das Ausstellen von Unzüchtigen im Narrenkäfig mit einer Peepshow vergleicht.

Neben dem Narrenhäusel gab es auch den Narrenesel. Das war ein Esel (!) aus Holz, auf den der Delinquent zur öffentlichen Schaustellung geschnürt worden war. Eher schon vergleichbar mit geschlossenen Anstalten waren die "Narrentürme", allerdings ohne den Anspruch, "Heilanstalten" zu sein. Dieser Umgang mit amoralischen Narren übersetzt die eigentlich als Schande gedachte Zur-Schaustellung in die Lust an der Narrheit für Zuschauer. Aus dem Pranger wurden Prangspiele, aus dem Narrenkäfig Balladen- Esels- und Narrenspiele.

Anormal ist animal

Zu betonen ist, daß mit Behinderten und Personen mit beängstigenden oder absonderlichen Fähigkeiten kein langer Prozeß gemacht worden ist. Die meisten Zauberer und Hexen wurden nicht im sogenannten finsteren Mittelalter, sondern im 17. Jahrhundert verbrannt.

Darunter waren wohl auch manche, die wegen physischen Anormalitäten als mit dem Teufel im Bunde galten. Anormalitäten mußten gar nicht einmal sehr auffällig sein. Es genügte ein Leberfleck, der als "Zeichen des Teufel" galt.

Witz, Hetz oder Gaudi

Ein Schauspieler betritt die Bühne. Er tut so als ob er behindert wäre. Nehmen wir an, seine Behinderung besteht in einem nervösen Zucken. Der Spieler kommt auf die Bühne, verzerrt sein Gesicht. Die Zuschauer lachen. Sie lachen ihn aus, weil er behindert ist. Behinderung wird an den Pranger gestellt, zur "Hetz" wie es heißt, als Hetze, Hetzjagd. Das Theater dieser unreflektierten Art ist mit der Zuschaustellung im Narrenhäusl vergleichbar. Das Publikum lacht über die Behinderung. Und dieses Auslachen ist um so schlimmer, als jeder weiß, daß der Spieler die Behinderung nur spielt. Zur Denunzierung kommt auch noch das Wissen, sich in der Gemeinschaft von Nichtbehinderten zu befinden. Wird der Behindetenrolle aber zugestanden, daß sie sich selbst mit ihrer Behinderung auseinandersetzt und die Behinderung im Umgang mit anderen mit ihren Mitteln der Kommunikationsmöglichkeiten einsetzt, kann das ebenso lustig sein, aber das Publikum lacht dann nicht den Behinderten aus, sondern es lacht aus der Freude des Selbstverständnisses im andersartigen (sprich reduzierten und behinderten) Umgang miteinander. Das Lachen ist dann keine Hetz mehr, sondern ein Akt der Befreiung, die man am Theater Katharsis nennt, die Reinigung von Leidenschaften. Was im Umgang mit dem Behinderten gehemmt (behindert) hatte, wird mit Witz aus dem Weg geräumt, weil der Behinderte zu seiner Behinderung stehen kann. Der Spieler kann die Behinderung nur glaubhaft spielen, wenn er sich als behindert erlebt. Wie soll er es aber erleben, wenn er nicht behindert ist? Er kann doch nur so tun als ob! Das ist richtig. Aber es ist ein großer Unterschied, ob er dem von ihm gespielten Behinderten ein Bewußtsein seiner Behinderung zugesteht, oder nicht, ob er ihn in seinen Beziehungen zur Umwelt darstellt oder ihn für grundsätzlich als dazu unfähig erklärt und ihn auf der Bühne ins Narrenhäusl steckt, zur allgemeinen Belustigung.

Die Attraktion dessen, was im "Narrenhäusl" zu sehen ist, besteht in der eingesperrten Zügellosigkeit. Die Gitter schützen nicht nur die Umstehenden Beobachter, sondern lassen auch quasi den Eingesperrten "austoben", der keine Hemmungen zu haben braucht, weil er ja durch die Stäbe ohnedies in seinem Aktionsradius gebremst ist.

Ist es nicht auf der Bühne auch so? Da wird gemordet, vergiftet und es ist kein Ende der Leidenschaften und der Blödelei, aber an der Rampe, der sogenannten "vierten Wand" hört das alles auf und jagt den Zuschauern "schönen Schauer" über die Bestie im Menschen ein. Dieser Vorstellung ist zwar Logik abzugewinnen aber sie ist ebenso kurzschlüssig wie die schwarze Pädagogik des Einsperrens zum Zweck des Austobens.

Auf der Bühne fallen die Schauspieler ja durchaus nicht wie Bestien übereinander her, sondern in Begleitung ihrer scheinbar ungezügelten Leidenschaften kommunizieren sie recht wohlgeformt und kultiviert (oder gezielt provokant und dabei nicht minder künstlich) meist in der Wortwahl. Und das Publikum interessiert sich denn auch hauptsächlich dafür, wie die vom Autor erfundenen Figuren mit ihren Leidenschaften umgehen, und weniger für das Austoben. Letzteres erregt das Interesse nur für ganz kurze Zeit und keinesfalls für einen ganzen Abend. Das Fesselnde ist der Prozeß der Überwindung und die Beobachtung der Art der Beherrschung. Ein Schauspieler, der einen Betrunkenen spielen soll wird unnatürlich bleiben, wenn er nur haltlos herum torkelt. Er wird erst glaubhaft, wenn er den Versuch unternimmt, seine Trunkenheit wider seinen Zustand zu beherrschen.

Die Entdeckung des Zuschauers oder zur spätmittelalterlichen Narrenkultur

Für die Menschen im Mittelalter waren Gutes und Böses, Behindertes und Nichtbehindertes, Normales und Abnormales keineswegs absolute Gegensätze. Das ist für das Begreifen der Narrenkultur des Spätmittelalters vor allem wichtig. Die Entwicklung soll mit Tiroler Beispielen im Folgenden nachvollziehbar gemacht werden. Die Narren tauchten als Folge eines kollektiven Prozesses auf, der Werthaltungen auf den Kopf stellte. Das, was bis dahin wohl geordnet erschien im Netz des wechselseitigen Umganges, stellte sich als verfänglich heraus. Man sah sich plötzlich im herrschenden System der Hierarchien von außen, nicht nur als Narr im Käfig, sondern gleichzeitig aus als Zuschauer, nicht mehr nur als Teil des wohlgeordneten Ganzen der Menge, sondern auch und das gleichzeitig als verlassener Teil, der in seine isolierte Existenz des Narrensackes geworfen worden ist.

Narrheit als Verlust der Eingebundenheit in die zuschauende Menge und als Entdeckung der Isolation des handelnden Individuum war für das mittelalterliche Ordodenken eine Zerreißprobe, ein platzender Sack.

Wo nichts verrückt werden braucht, gibt es keine Verrückten

Was heißt Ordo - Denken? Es bedeutet die Vorstellung, wonach ein jeder Einzelne in der Gesellschaft einen unverrückbaren Platz hat. Die Betonung liegt auf "unverrückbar". Wo nichts verrückt werden kann, gibt es logischer Weise keine Verrückten.

Ein jeder ist Teil einer Zunft und Bestandteil einer Hierarchie. Der Bauer - über 90 Prozent der Bevölkerung - trägt die Pyramide an den Wurzeln, an deren Spitze sitzt der Papst. Das ist aber nur die eine Vorstellung vom Denken und Fühlen in der mittelalterlichen Ordowelt.

Wichtiger noch ist das Bild, wonach keine direkte Kommunikation zwischen zwei Menschen möglich sei. Sie ist für den, der sich eingebettet in Ordnungen fühlt und der sich in der Hand Gottes weiß, keine unbedingte Notwendigkeit.

Selbst wenn Menschen in der gleichen Zunft und in der selben Stufe des Gesellschaftspyramide leben, ist ihr Umgang miteinander so sehr ritualisiert, daß Kommunikation im Sinne des Glaubens, sich mit Worten direkt über die Information hinaus verständigen zu müssen, nicht für möglich gehalten wird. In der mittelalterlichen (gradualistischen) Ordnungswelt des Glaubens ist Kommunikation als Anker des Selbstverständnisses nicht nötig. Die Zwiesprache mit Gott genügt auch als Mittel der zwischenmenschlichen Verständigung.

Daß alle Menschen gleich sein sollen ist für die in Ungleichheiten lebenden Menschen jener Zeit eine erfüllte Forderung. Solange Gott groß über allem ist, sind alle Menschen gleich (gering).

Als das Wort zum Wort wurde, verlor es seinen Sinn und die Welt wurde verkehrt

Gegen Ende des Mittelalters geriet die Ordo-Welt aus den Fugen. Und das Wort begann Wort zu werden, das jeder im Munde führen sollte und durfte. Der sogenannte Gradualismus (mittelalterliches, hierarchisches Ordnungsdenken) wurde zum Nominalismus? Zum Glauben an Gott kam der weltliche Glaube an das weltliche Wort.

Der Nominalismus glaubt an den direkten Kontakt, an die unmittelbare Verständigungsmöglichkeit über Worte (und nicht mehr nur über Bilder und Symbole und Riten) zwischen Menschen. Er glaubt an das Authentische der Sprache und zweifelt nicht an der Kluft zwischen Gesagtem und Gemeinten, zwischen Geschriebenem und dem Zwischen den Zeilen. Er verzichtet auf die vermittelnden Instanzen, die die Verschlüsselungen und Gleichnisse des sogenannten realistischen Umganges miteinander vermittelnd aufheben. Die Sprache der Bilder ging verloren und die Wortgläubigkeit verwirrte, anstatt neu zu ordnen. Die Welt der Pyramide schien auf den Kopf gestellt. Sie stellte sich als Sackgasse heraus, als Sack, der unten brüchig geworden ist. Man sackte ab und fiel auf den Boden der sozialen Realität. Man purzelte und verrenkte dabei die Glieder. Das war das Lebensgefühl, von dem der Moriskentanz am Goldenen Dachl berichtet, das Lebensgefühl der "verkehrten Welt", in der sich alles närrisch benimmt. In der das ganze Jahr Fasnacht ist.

Die Geschichtsschreibung ist behindert.

Lassen Sie mich kurz einen Bogen zurück zum Beginn dieser Abhandlung zurückschlagen: Die Geschichtsschreibung ist behindert. Ihre Schizophrenie ist ihr Glaube an Bilder, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder gar identisch sind. Doch ach, es sind nur Abbilder und keine Sinn- und Urbilder. Manisch heroisiert sie das Außergewöhnliche von Einzelnen und macht sich selbst zum Mitschlecker des Genialen. Ihre Faktenliebe hat sie blind gemacht. Und ihre Depression kommt vom Umstand, daß es keine Geschichte der Gefühle gibt.

Herkömmliche Geschichtsschreibung ist nominalistisch. Die Wiederentdeckung des Gradualistischen bedeutet Neuordnung und Vernetzung nach der Idee der Integration.

Zurück zur "Verkehrten Welt" der Doktorspiele

Narrenhäusln standen im Mittelaltrer mitten am Marktplatz, mitten unter Jahrmarktsbuden, Spielständen und Verkaufsständen. Aus der Anpreisung von Ausstellungsobjekten Waren und Dienstleistungen wurde Theater.

Über diese gelebte Marktplatzwirklichkeit gibt es ein berühmtes Tiroler Theaterstück aus dem Jahr 1391! Es ist ein Zwischenspiel zur Anreicherung eines liturgischen Osterspieles. Es handelt von einem Arzt, der die Narren der Welt heilen will, aber selbst der allergrößte Narr ist. In der sogenannten "verkehrten Welt" bildet sich der Mensch ein, mit menschlichen Mitteln, Heil und Erlösung zu erlangen. Um darzustellen, daß dieser Glaube eine Narrheit ist, und nicht zum Heil führen könne, wird der Arzt dem Spott ausgeliefert. Sein Knecht Rubin entlarvt ihn als irr und unterbricht im Beiseitesprechen den Monolog des Arztes..

Quack: "Grüß Gott euch, Herren überall.

Knecht: So sprach der Wolf im Gänsestall.

Quack: Ich komme grad aus dem Pareis/ wo auf Arznei hab allen Fleiß/ gelegt wohl manches Jahr.

Knecht: Er lügt. Nichts davon ist wahr.

Quack: Ich bin höchst persönlich Meister Ipocras

Knecht: der so gerne Gänse fraß.

Quack: Mein Gesicht ist wohlbekannt./ Ich durchfuhr schon viele Land. / Ich heilte Polen und auch Griechen.

Knecht: Und machte allesamt zu Siechen.

Quack: Will einer mir nicht glauben?

Knecht: Er bescheißt euch auch mit offnen Augen.

Quack: Diese Salben ist so schön, / daß selbst die Toten auferstehen. / Das und mehr noch kann ich schaffen.

Knecht: So hält er das Volk zum Affen.

1391. Kritik an der Schulmedizin und an der Narrheit des Glaubens an die Hilfe von Pillen und Säften. Ein Musterstück gegen die Wortgläubigkeit. Der Narr spricht anders als er denkt. Er ist schizoid. Aber die Entlarvung der wahren Interessen heilt ...die Zuschauer vor menschlichen Heilern. Das Narrenspiel von 1391 war ein Lehrstück. Es erlaubte sich im Rahmen eines frommen Spieles Frivolitäten, denn die Aussage am Schluß war moralisch genug. Es gibt nur einen, der den Menschen heilen kann, Gott in der Verabreichung von Brot und Wein als die einzige Medizin für das ewige Leben.

Narrenschifferei der mittelalterlichen Jahrmarktrealität

Das "Spiel vom Ipokras" läßt das Bild vom Jahrmarktstreiben einer mittelalterlichen Tiroler Stadt auftauchen. Auf solchen Jahrmärkten kamen viele Menschen zusammen, nicht nur Käufer und Verkäufer, Schausteller und Bittsteller, sondern auch Bettler und Behinderte.

Hier war Almosen zu bekommen. Sie traten in Gruppen auf, hatten ihre einen Zünfte und wählten ihre Könige. Von Bettlerkönigen ist einiges bekannt bis hinauf ins 20. Jahrhundert in der Form von "Karrnern". Ob auch Behinderte, die so wie Bettler vagierende waren, die von Markt zu Markt zogen, ihre Könige hatten, ist nicht bekannt. Aber Vaganten waren sie.

Die Frage ist nur, ob sie es aus eigenen Antrieb waren. Ob sie selbst aktiv in Gruppen von Stadt zu Stadt zogen, oder ob ihre Wanderungen die Folge von Massenausweisungen waren. Fucaut berichtet von "Narrenschiffen" auf die sie verladen wurden. Andererseits lassen die Nachrichten von Fahrten zu Pilger- und Heilstätten vermuten, daß es auch so etwas wie Gruppenwanderungen von Behinderten gegeben hat.

Über Narrenschiffe, das Narrenspiel des Spätmittelalters und die Narrenkultur, die die Welt als verkehrte Welt darstellt, gibt es ausreichend Literatur, vor allem was den Zusammenhang mit dem sozialen Umbruch zu Beginn der Neuzeit betrifft. So gut wie unbekannt dagegen ist die Welt des Narrentums im Tiroler Volkschauspiel des 17. Jahrhunderts.

Über die Geburt des Narren aus dem Bösen

Die Geburt des Narren aus dem Teufelsleib kann ganz wörtlich genommen werden. Der Narr wird aus dem Leib der "bösen Frau" geschnitten. Hans Sachs erzählt davon im "Narrenschneiden". Die Darstellung des Triebhaften auf der Bühne ist nur unter der Bedingung möglich gewesen, daß das Triebhafte verteufelt wird. Das Tugendhafte und Gute nahm in den Spielen breiten Raum ein, aber es war völlig fleischlos und hatte nur wenig Komödiantisches an sich. So kam es, daß das Lustvolle dem Teufelsspiel vorbehalten blieb. Das Spaßhafte wurde mit dem Teuflischen verbunden. Also? Verboten ist alles, was Freude macht, weil der Mensch sonst nicht zu zügeln sei. Das war der Beginn nicht nur der schwarzen Pädagogik, sondern auch der Beginn der närrischen Spielens. Es entkommt durch ein Schlupfloch aller Moral, es entzieht der Verbrennung des Hanswurst ebenso wie dem faschischtisch-Tendenziösen des "außenseiterfeindlichen Dodelspieles". Es überlebt alle Untiefen und entzieht sich jeder Kultivierung und vor allem erinnert es daran, daß sich alle Lüge am Ende entlarvt, alleine deshalb, weil es lustig ist, wie einer, der sich etwas vormacht, dumm dasteht, wenn seine selbst gebasteltes Netz von Irr-Tümern wie Kartenhäuser zusammenbrechen.

Hans Wurste tragt bis heute kleine Hörner, um nachzuweisen, woher sie stammen, aus der selben Wurzel wie Behinderte. Beide sind in den Augen der "Guten" stets Geburten des Bösen.

Zur Abivalenz des Narren ("Rinner Judenspiel")

Wie Ambivalent das "Närrische" im Volkstheater oft ist, dafür ist der "Dilledapp", der älteste Narr im barocken Tiroler Volksschauspiel ein markantes Beispiel. Die Narrenfigur dient zur Aufheiterung eines alles andere als lustigen Stückes. Sie deckt nicht nur auf, sondern gleichzeitig auch zu, im Fall des "Dilledapp" in besonderer Weise. Das "Andreas-von Rinn-Spiel" diente 1648, im Friedensjahr nach dem Dreißigjährigen Krieg zur Verbreitung eines erfundenen Mythos zur Verdrängung selbst verschuldeter Not. Es gab keinen äußeren Feind mehr nach dem Krieg. Dieser äußere Feind hatte lange alle Kräfte gebunden. Nun fehlte plötzlich das Gemeinsame und es brachen innere Gegensätze auf. Die verheerende wirtschaftliche Ausbeutung führte zu entsetzlicher Not. Zehntausende Knappen wurden nach dem Ausverkauf der Bergschätze arbeitslos. Die Herrschenden waren im Zugzwang. Sie hatten das Tiroler Silbergeschirr, die letzten Reichtümer des Landes an die Fugger verkauft und haben das Land rettungslos heruntergewirtschaftet. Um die Schuld an dem selbst verschuldeten Unglück von sich zu weisen, versuchten sie die Solidarisierung der Bevölkerung über einen Sündenbockmythos und verkauften ihn als Realität. So kam es politisch motiviert zum großen Volksschauspiel, dem "Rinner Judenspiel". Die Spuren dieser bösartigen Beschuldigung von "Juden" als Kindermörder sind bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Hinterfragen der ideologischen Richtung geblieben. Erst Bischof Stecher hat dem Spuk ein Ende gemacht.

In der Überzeugung, daß Volksschauspiel ein hervorragendes Instrument der kritischen Aufklärung sein kann, ist für mich die Entstehung und die Verwendung des "Rinner Judenspieles" ein Beispiel dafür, daß es sich ebenso zur Vertuschung und als Mittel des Faschismus eignet.

Als ich zum ersten Mal das "Rinner Judenspiel" analysierte, war alleine der Umstand, daß ich mich mit diesem Spiel auseinandersetzte, Grund genug für eine namhafte Tageszeitung, mich für einen Faschisten zu halten, was nicht weniger als das besagt: die Angst vor ihm, ist ein Zeichen dafür, wie wenig in Sachen Schuld gegen Außenseiter im öffentlichen Bewußtsein differenziert werden kann. (Siehe auch: Fresacher Bernhard "Anderl von Rinn", Ritualmordkult und Neuorientierung in Judenstein 1945-1995, Innsbruck 1998)

Es hieße, das Kind mit dem Bad auszuschütten, wenn nicht hingeschaut wird, wie verführerisch der Narr im "Rinner Judenspiel" eingesetzt worden ist. Ich möchte sogar so weit gehen, die komischen Zwischenspiele - und um die handelt es sich bei den Auftritten des Dilledapp in erster Linie - als ideologisch für indifferent zu halten. Ihr Gebrauch, nicht der Inhalt ist außenseiterfeindlich. Und so ist auch im ländlichen Lustspiel mit faschistischer Tendenz weniger der Text, denn der "Brauch" des verhetzenden Spielstils das eigentliche Problem der nach wie vor blühenden Kulturfeindlichkeit, die vor allem durch Bildmedien als "Volkstheater" verkaufen.

Der Ehrenbrief des Dilledapp:

Ich, gemein genannt Nimmersatt, Meister der Knödlschlucker und des Schmarozerhandwerks zu Kackenhausen ernenne hiermit zu meinen Erben meinen Sohn Dilledapp Prinz Gugelhupf von Zuckerhüttl, welicher in Lehrzeit sieben Jahr sich gefressen und gesoffen gar zum Meister aller Knödelklassen. So dieser Brief ihm Freipaß geben soll, daß er sich den Bauch schlag voll ohne dafür bezahln zu müssen bei Festen Hochzeiten und Begräbnissen. Um ihn auszuweisen geb ich weiter zu wissen, wer unter vielen seine Ahnen sind gewesen, die allsamt unter der Erd verwesen. Fürst Bierbauch, Mischlmanger zu Wasserburg. Herzog Fetter von Fettberg zu Schweinfurt. General Maulbeer zu Schreienstein. Et Cetera et cetera. Allesamt als Urvater ist bekannt, der vulgo Hans Wurst genannt.

Dilledapps Ballade von der Altweibermühle:

Neue Zeitung, mann und Fauen, euch Jungen und euch katzgrauen. Von weitem führ ich euch heran ein Mühle mit der man dann jedes Weib und jeden Mann wieder ganz jung machen kann. Das uralte wieder werden wohlgestalt, als wären s' zwanzig Jahre alt. Rosig weiß von Angesicht. Keine Runzel sieht man nicht. Gewaltig hat der Müller Zulauf. Die Mander machen sich alle auf auf jede Weis kommen sie hergfahren, nehmen Scheibtruchen und Schubkarren, drin sitzn die alten Weiber in Pelzen, die sonst nur an Stecken herumstelzen.So tragen sie s' dem Müller zua. Lassen dem weder Rast noch Ruh. Zahlen jede Menge und bitten, er soll die alten in die Mühl reinschüttn. Der Müller nimmt dann acht oder neun und legt sie erst in einen Zuber rein. Und wie die Verjüngung dann funktiert, kriegts ihr nach dem nächsten Akt vorgfiert. Denn erst such i mir ein altes Weib, damit man's demonstriert vor alle Leut. Inzwischen ist die Mühl im Lauf. Und was am End kommt, paßts guat auf. Jetzt gieß ich a starke Laugen gschwind, damit die alte Haut wird lind. Sand und Kalk reibt ab den Leib, damit nix unzermahlen bleibt. Gleich kommt sie aus der Mühl herfür, daß es a Freud is und a Zier. Da freut sich schon der alte Mann. Nur, was fangt der jetzt mit einer Jungen an? A Altweibermühl das is a Gfrett, wenn man net bald bauen hätt auch a Altmandermühl. Ich hab stark das Gefühl so kriegt man's net in'n Griff das Ewig Leben. Da muß es noch etwas anders geben, daß man den Tod überlisten tut, sonst bin ich eines tages a noch furt. Denn sterben mag i gwiß noch net. Ich find noch was. daß i drauf wett!

Eine Fabel als Anhang zum Thema "Woyzeck" (wie Wesen mit Tiernatur zu höheren Arten entwickelt werden:)

Aus dem "Staats- und Familienleben der Tiere" von Grandville (1842):"Uns ist Schlimmes widerfahren, heulten die Hunde im Krankensaale. Und ich wunderte mich sehr. Denn ihre Krankheit war, daß Menschenärzte sie heilen wollten, nach Menschenart. Und sie sagten. Ihr seid krank, weil ihr unterentwickelt seid. Und wir heilen euch, indem wir euch entwickeln helfen. Die erste bittere Pille für die Hunde war die Diät. Man müsse sich beherrschen lernen und seine Lüste zügeln. Dies sei der Anfang der Heilung. Die Entbehrung ist eine Medizin, die Träume zur Folge habe. Und Träume seien der Beginn des Denkens. Und das Denken der Beginn des Verlangens nach Schreiben und Lesen, nach Poesie und Kunst und Wissenschaft. Da sagte ich, warum beklagt ihr euch, könnt ihr nicht schon sprechen? Habt ihr mir nicht gerade ein Beispiel eurer Beredtheit gegeben? Seid ihr nicht schon in der Lage, die Krankheit eurer tierischen Unvernunft, zu beklagen. Da wurde es still im Krankensaal. Und der Wolfshund war der erste, der dann sein Maul aufriß, und drohte, mich zu zerfleischen für meine Demagogie! Und er brüllte mich an: Die Menschenärzte wollen uns zu höheren Arten entwickeln, aber sie schneiden uns dabei den Instinkt aus dem Leib. Und dies erst ist die Ursache unserer so mannigfaltigen Krankheiten. Und keine anderen Krankheiten können diese Chirurgen heilen, als die die sie an uns durch das Entfernen des Instinktes verursachen. Da sagte ich: Warum protestiert ihr nicht. Da lachte der Esel im Bette neben mir und sagte, daß Wärter gekommen seien mit langen Spritzen, um uns ruhig zu stellen. Und als sie ruhig gestellt gewesen seien, wären dann die Herrn in Arte medizinae gekommen und hätten gesagt. "Wir haben euch den Instinkt nehmen müssen, denn unsere Aufgabe ist es, zu sezieren, um zuerst alle Teile kennenzulernen, damit wir sie danach mit unserer Kunst wieder zusammenfügen zu höherer Vernunft. "Ich will nicht verschweigen, daß die Menschenärzte manch Wundersames vollbrachten. Ich habe im Krankensaale einen Esel in einer Zwangsjacke höchst kunstvolle Lieder singen hören. Er hat sich inzwischen zu einem Gesangslehrer für gestörte Nachtigallen entwickelt, die vom Virus der Gesangslosigkeit befallen waren. Seit einigen Wochen finden im Krankensaale aber keine Gespräche mehr statt. Eine Folge der strengen Diät. Seht mich nur an, ich habe nur noch Fell auf den Knochen und kann nur mehr auf Krücken gehen. Wir alle haben schreckliche Ahnungen. Unsere Anstalt nennt sich "Erste tierische Chirurgie" und sie liegt gleich neben der Verbrennungsanstalt. Das Schrecklichste ist, daß bei allem Fortschritt immer weniger eines natürlichen Todes sterben. Andere aber immer älter werden und Angst haben müssen überhaupt nicht sterben zu dürfen. Neulich sagte ich das dem Fuchs im Bette über mir und er riet mir, unser unglückliches Schicksal zum Wohle der Nachwelt aufzuzeichnen." Um es kurz zu machen. Ich habe schon einmal daran gedacht in unserem Saale eine geheime Arzneischule unter der Leitung des Hahnes Äskulap und der Schlange Hippokrates zu gründen, davon aber wieder Abstand genommen. Ich fürchte, daß es dann bei uns so kommen werde, wie bei den Chirurgen, die uns den Instinkt genommen. Und das heißt: Keiner will lernen, aber jeder will lehren und sein eigenes System auf alle anwenden.

Mit einigen Zusätzen nach der Vorlesung 13. Januar 1998.

Ekkehard Schönwiese, Dr., 1944, Dramaturg des Landesverbandes Tiroler Volksbühnen, Mitgründer des "Kulturgasthaus Bierstindl" (Klostergasse 6, A 6020 Innsbruck Innsbruck), Schauspieler, Regisseur, Bühnenautor, studierte Volkskunde und Theaterwissenschaft;

Vergleiche dazu: Ekkehard Schönwiese, "Das Volksschauspiel im nördlichen Tirol. Renaissance und Barock" Theatergeschichte Österreichs Bd. 2, 3, Wien 1975. Das wesentliche Kapitel darin beschäftigt sich mit "Erlösungsdramaturgie". Angenommen wird, daß Erlösungsspiele, Spiele die inhaltlich mit der Schöpfung beginnen und mit dem Jüngsten Gericht enden, mit Bildern des kollektiven Unbewußten arbeiten und in der Spielpraxis Individuationsprozesse begleiten. Die Abhandlung beruft sich dabei auf C.G. Jung. Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Abhandlung von Belang, als "der Mensch" nach dem Sündenfall insofern ein Behinderter ist, als er ein Bild seiner Vollkommenheit in sich trägt, von diesem aber behindert durch seine Körperlichkeit getrennt ist. Die Körperlichkeit wird als Behinderung seiner Geistigkeit dargestellt. Die Behinderung ist unwiderruflich bis zum Jüngsten Gericht. Erlösungsspiele stellen den Prozeß der spielerischen Bewältigung dieser Behinderung dar und sind in diesem Sinn Trauerarbeit.

Vergleiche dazu auch: Ekkehard Schönwiese, "Gelöbnisspiele als Trauerarbeit" in: "Hört, sehet, weint und liebt, Passionsspiel im alpenländischen Raum, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 20/90. München 1990.

Die Fasnacht- und Narrenspielkulturspiel vor und nach der Bauernrevolution von 1525: oder die Entwicklung der volkstümlichen Hans - Wurstfiguren im Volkstheater vor und nach der französischen Revolution, vgl. dazu Gerhard Scheit, "Hanswurst und der Staat", eine kleine Geschichte der Komik, von Mozart bis Thomas Bernhard, Deuticke, Wien 1995

"Andreas-von Rinn-Spiel" 1699/48; Original im Servitenkloster Innsbruck.

Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Werkausgabe edition Suhrkamp

Fresacher, Bernhard: "Anderl von Rinn", Innsbruck 1998

Büchner, Georg: Werke und Briefe Carl Hanser Verlag München Wien, 1980.

Das Narrenschiff des Sebastian Brant, reclam

Girard, René: Ausstoßung und Verfolgung", Frankfurt am Main 1992

Huizinga, Jan: "Der Herbst des Mittelalters" und "homo ludens"

Lessing, G.E.: "Hamburgische Dramaturgie", Stuttgart 1963

Paulmichl, Georg: Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder. 5. Aufl. Innsbruck 1999

Rommel, Otto: Die Alt-Wiener Volkskomödie, Wien 1952;

Schönwiese, Ekkehard: "Volksschauspielforschung zum Neudenken" in Jahrbuch des österr. Volksliedwerkes Bd. 48 , 1999

Weimann, Robert: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, Berlin Ost 1967.

Quelle:

Ekkehard Schönwiese: Narren - Behinderte

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.03.2005

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