Reflexive Didaktik - Annäherung an eine Schule für alle

Autor:in - Kerstin Ziemen
Themenbereiche: Rezension
Schlagwörter: Schule, Didaktik
Textsorte: Rezension
Copyright: © Kerstin Ziemen 2008

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Kerstin Ziemen

Titel: Reflexive Didaktik - Annäherung an eine Schule für alle

Infos: Verlag ATHENA, ISBN 978-3-89896-333-6, 244 Seiten

Themenbereich: Schule

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Martina Schlüter

Beim Lesen dieses Buches wurde mir wieder sehr deutlich vor Augen geführt, wie weit das Schulsystem in Deutschland von einer "Annäherung an eine Schule für alle" entfernt ist. Vor allem der erste Teil "Integration/Inklusion - Demokratie - Didaktik" mit seinen vier Beiträgen arbeitet dies heraus: Deutschland präferiert ein selektierendes Schulsystem, dessen Ziel eine weitgehende Homogenisierung von Lerngruppen ist. Die Anerkennung des Anderen wie auch die Achtung vor dem Anderen, die von Jantzen wie auch Reich betont werden, werden vernachlässigt .Leistungsbewertung führt zum Herausziehen des Lerngegenstandes hin zu einer äußeren Messlatte und hat eher selektiven Charakter, so Siebert in seinen Ausführungen. Er fordert im Weiteren, dass Konzeptionen von gemeinsamem Unterricht nicht nur eine Veränderung der Pädagogik bezwecken müssen, sondern auch auf die Strukturen einwirken sollen, die eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen oder verhindern. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen soll willkommen geheißen werden, Barrieren für das Lernen und die Teilhabe aller Menschen müssen abgebaut werden, so resümieren Boban und Hinz.

Im zweiten Teil geht es in den beiden Beiträgen vorwiegend um neurowissenschaftliche Begründungen einer "Annäherung an eine Schule für alle": Das Verhalten eines lebendigen Organismus wird weder monokausal von innen noch von außen gesteuert. Das Verhalten steuert sich selbst, indem es Eigenverhalten bildet. Diese Form der Selbststeuerung sollte der zentrale Gegenstand der Didaktik sein. Zimpel verweist damit auf die "Emergenz des Neuen" in Iterationen als mathematisch-physikalisches Erklärungsprinzip des Eigenverhaltens. Münch betont mit Hüther, dass das menschliche Gehirn im Grundsatz eine zeitlebens programmierbare Konstruktion ist, was in didaktischer Hinsicht bedeutet, dass die Lernbiografie in Abhängigkeit von psychologischen und sozialen Erfahrungen grundsätzlich entwicklungsoffen ist. Lernen ist nicht nur bewusstes und intentionales Lernen, sondern auch Entwicklung, wenn Ausdifferenzierungen neuronaler Netzwerke und synaptische Verschaltungen stattfinden. Lernen ist also nicht vermeidbar und Kinder lernen immer.

Der dritte Teil "Sozialer Raum der Möglichkeiten - Kompensation - Didaktik zeigt mit seinen fünf Beiträgen offene Fragen der "Annäherung an eine Schule für alle" auf: Die "kulturhistorische Schule" (Wygotski, Leontjew, Luria) stellt in diesem Teil, wie aber auch bereits in einigen Beiträgen vorher, ein bedeutsames Theoriefundament dar. Offene Fragen sind u.a: Inwiefern werden kompensatorische Prozesse in der Entwicklung geistig behinderter Kinder und ihrer Didaktik berücksichtigt? (Jödecke) Ziemen fragt nach einer Umsetzung von Differenzierung in didaktischen Prozessen, die das Verhältnis von Individuation und Gemeinsamkeit klärt und Kompensation bzw. Überkompensation berücksichtigt. Hoffmann setzt sich insbesondere mit dem Lernen am "gemeinsamen Gegenstand" auseinander, der in ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen auftreten kann und sich dementsprechend im Verlaufe von Entwicklungsprozessen auseinandersetzen kann. Wunsch transferiert das Unterrichtskonzept des "Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten (A → K)" auf Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen und skizziert eine Unterrichtsreihe aus der Biologie mit durchgeführter Evaluation. Kriegel bezieht sich in seinen Ausführungen auf die "historischen Wurzeln" und arbeitet auf der Basis der Erkenntnisse von Itard, Seguin und Montessori vor allem die Bedeutung von biologisch-physiologischen Konzepten für die Integration heraus.

Der Buchtitel "Reflexive Didaktik" wird den aufgezeichneten Inhalten in vollem Umfang gerecht. Kritische Fragen zur "Annäherung an eine Schule für alle" werden tiefgehend analysiert, bedürfen aber einer Weiterführung. Dieses Buch ist für diejenigen zu empfehlen, die bereit sind, sich intensiv mit dieser Thematik zu konfrontieren und darauf aufbauend in Theorie und Praxis einer Schule für alle konstruktiv näher zu kommen.

Quelle:

Rezensiert von Martina Schlüter

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 17.03.2009

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