Sexuelle Übergriffe durch Therapeutinnen an Klientinnen

Autor:in - Gisela Wolf
Themenbereiche: Therapie, Sexualität
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag zu der Fachtagung "Sexualisierte Gewalt an Frauen und Lesben in therapeutischen, beraterischen und medizinischen Strukturen" am 13.11. 2004 in Köln
Copyright: © Gisela Wolf 2004

Einleitung

Keinen Zweifel kann es daran geben, dass es sexuelle Übergriffe auch im Setting "Psychotherapeutin-Klientin" gibt. Es gibt Berichte von Klientinnen, die Übergriffe belegen und auch eine Dissertation zum Thema aus den USA (Benowitz 1991). Das Thema ist sowohl in der Gesellschaft (Stichwort: Frauen als Täterinnen) als auch in der lesbischen Gemeinschaft (so es sie denn gibt) stark tabuisiert.

Die Folge der Tabuisierung ist das Schweigen der betroffenen Frauen.

Um auf das Thema sexuelle Übergriffe durch Therapeutinnen gegenüber Klientinnen vorbereitet zu sein und hierauf auch ein offenes Ohr in der Beratungsarbeit haben zu können, habe ich mich in das Thema einzulesen versucht ("versucht" deshalb, weil hier eine große Forschungslücke klafft) und die Literatur zum Thema recherchiert. Ich habe auch über Normen innerhalb der lesbischen Community nachgedacht, die die Wahrnehmung und das Sprechen über sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie in der Konstellation weibliche Therapeutin und weibliche Klientin ausbremsen können. Das Thema verletzt Vorstellungen, die wir uns über Frauen und Lesben machen.

Leider muss ich in meinem Vortrag auch immer wieder darauf hinweisen, was wir über sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie von Therapeutinnen mit Klientinnen alles nicht wissen. Parallelen zu ziehen aus der Konstellation "Therapeut-Klientin" ist sicherlich problematisch, eröffnet aber vielleicht einen Raum für Fragestellungen und Thesen.

Definitionen

Was ist ein sexueller Übergriff in der Psychotherapie?

Das würde ich für die Konstellation "Therapeutin-Klientin" nicht anders definieren, als für die Konstellation Therapeut-KlientIn: Die Therapeutin nutzt ihre Macht, um mit der Klientin Sexualität zu haben. Diese Macht erwächst der Therapeutin aus dem spezifischen Setting der Psychotherapie. Ich werde in dem Vortrag speziell auf Situationen in der Psychotherapie eingehen. Es ist aber auch problematisch, wenn TherapeutInnen nach Beendigungeiner Psychotherapie behaupten, jetzt sei die Bahn frei für eine "gleichberechtigte" sexuelle "Beziehung" zwischen Therapeutin und Klientin. Auch nach Beendigung der Therapie können sexuelle Beziehungen zwischen TherapeutIn und KlientIn als unethisch betrachtet werden , weil die Übertragungsbeziehung sich auch nach Beendigung der Therapie nicht auflöst und das Machtungleichgewicht weiterhin besteht.

Unter sexuelle Übergriffe zähle ich sexualisierte Bemerkungen und Voyerismus der Therapeutin sowie sexuelle Handlungen, Berührungen, miteinander schlafen. Klar ist, dass es der Klientin frei steht, in der Psychotherapie sexuelle Vorstellungen zu äußern oder sich in die Therapeutin zu verlieben.

Ich verwende explizit das Wort "Übergriff" statt "Missbrauch", weil das Wort "Missbrauch" auch suggeriert, dass es einen "Gebrauch" geben könnte.

Was ist, wenn "Liebe" im Spiel ist?

Wie auch aus den Untersuchungen zu Übergriffen von Therapeuten gegenüber Klientinnen deutlich wird, wird die vermeintliche "Liebe" oft genutzt, um Sexualität in der Psychotherapie zu entschuldigen und zu rationalisieren. Angesichts der Machtverteilung in der Psychotherapie ist kann hier jedoch nicht von einer gleichberechtigten Beziehung gesprochen werden und auch das Gefühl der Liebe rechtfertigt nicht, wenn eine Therapeutin Grenzen überschreitet.

Sind Therapeutinnen, die Sex mit Klientinnen haben, lesbisch?

Therapeutinnen, die Sex. mit Klientinnen haben, definieren sich anscheinend nicht immer als Lesben. Für Sexualität in der Psychotherapie ist nicht entscheidend, welche Identität eine Therapeutin hat, sondern wie sie es mit ihrer Macht und den therapeutischen Grenzen hält. Klientinnen sind also bei einer heterosexuellen Therapeutin nicht gefeit vor einem sexuellen Übergriff durch die Therapeutin.

Wie häufig passiert es, dass eine Therapeutin gegenüber ihrer Klientin sexuell übergriffig wird?

Zu dieser wichtigen Frage gibt es kaum Daten. Es ist vermutlich auch so, dass das herrschende Frauenbild die Wahrnehmung von sexuellen Übergriffen durch Therapeutinnen an Klientinnen schwierig macht und dass auch die Ideologien der sogenannten "Homophobie" (bzw. besser: "Homosexuellenfeindlichkeit") und des Heterozentrismus auch dafür verantwortlich sind, dass hier eine erhebliche Dunkelziffer herrscht. So gibt es zu Übergriffen von Therapeutinnen an Klientinnen nur sehr wenige Daten und zu den Übergriffen von Therapeuten an Klienten abgesehen von Fallberichten nach meinen Rechercheergebnissen gar keine Daten.

Allgemeine Zahlen, die hauptsächlich sexuelle Übergriffe durch Therapeuten an Klientinnen erfassen:

Nach den Befunden einer us-amerikanischen Studie sagen ca. 6-10% der PsychiaterInnen, dass sie bereits Sexualität mit KlientInnen hatten. 88% der sexuellen Kontakte fanden zwischen einem männlichen Psychiater und einer weiblichen Klientin statt. 1/3 der männlichen Täter sind Wiederholungstäter. Im Vergleich zu PsychiaterInnen, die keine Sexualität mit KlientInnen hatten, haben die TäterInnen häufiger selbst bereits eine Psychotherapie oder Psychoanalyse gemacht.

Jeder dritte Therapeut/ jede dritte Therapeutin hat in ihrer Laufbahn KlientInnen, die einen sexuellen Übergriff durch KollegInnen erlebt haben. 65% der behandelnden PsychiaterInnen haben KlientInnen, die bereits Sexualität mit den vorhergehenden PsychiaterInnen hatten. 87% der nachbehandelnden PsychiaterInnen sehen diese vorherigen sexuellen Verhältnissse als schädlich an. Nur 8% geben diese Vorfälle jedoch an den Berufsverband (in den USA die APA) weiter (Gartrell, Herman, Olarte, Feldstein, & Localio 1987).

Fehler in der Psychotherapie mit lesbischen Klientinnen

Zunächst einmal möchte ich kurz auf Fehler in der Psychotherapie mit Lesben (und Schwulen) eingehen. Diese häufigen und sich speziell gegen lesbische Klientinnen und schwule Klienten im psychotherapeutischen Setting können die Folgen sexueller Übergriffe in der Psychotherapie verschärfen.

Sexuelle Übergriffe gegenüber KlientInnen stellen ein sehr einschneidendes Fehlverhalten von TherapeutInnen dar. Sexuellen Übergriffen gehen nach den vorliegenden Forschungsbefunden oft Grenzüberschreitungen und Fehler in der Therapie voraus.

Im Umgang mit lesbischen Klientinnen entstehen durch die heterosexistische Sozialisation in dieser Gesellschaft allgemein und durch die heterosexistische Sozialisation in psycho-"therapeutischen" Ausbildungen im besonderen spezifische Risiken für therapeutische Fehler. Besonders männliche Therapeuten von lesbischen Frauen beschäftigen sich in der Therapie oft ausgiebig mit der "Weiblichkeit" der Klientin. (donna klara 2003). Es gibt auch Einzelberichte über TherapeutInnen, die gegenüber lesbischen Klientinnen "körperlich" übergriffig wurden, vermutlich, um eine lesbische Klientin von ihrem Lebensentwurf abzubringen und sie zu heterosexualisieren (Stein-Hilbers et al. 1999). Die weit verbreiteten homophoben/ homosexuellenfeindlichen Haltungen in der Psychotherapie produzierten Fehler können die Folgen sexueller Übergriffe verstärken. So kann es das Ignorieren und Tabuisieren lesbischer Lebensweisen in therapeutischen Ausbildungen einer Klientin besonders schwer machen, Unterstützung nach einem sexuellen Übergriff bei anderen TherapeutInnen zu finden.

Von Therapeutinnen kann eine Klientin erwarten, dass sie wissen, dass sie während der Therapie keine Sexualität mit Klientinnen haben dürfen. Was wissen wir nun über die Situationen, in denen Therapeutinnen sich über diese ethische Leitlinie hinwegsetzen und ihre sexuellen Bedürfnisse gegenüber einer Klientin ausagieren?

Manche TherapeutInnen beuten ihre KlientInnen aus, überschreiten die Grenzen ihrer KlientInnen, grenzen sich selbst nicht ab und halten sich selbst für grandios und unfehlbar. Diese Haltung schützt sie gleichzeitig vor einer Wahrnehmung kritischer Punkte in ihren Therapien.

Sexuelle Ausbeutung im therapeutischen Setting kommen anscheinend überwiegend in der Konstellation männlicher Therapeut und weibliche Klientin vor. Es gibt nur wenige Daten darüber, inwieweit Therapeuten Klienten und Therapeutinnen Klientinnen gegenüber sexuell übergriffig werden. Nach der Untersuchung von Becker-Fischer, Fischer, Heyne & Jerouschek (1995) war von 60 befragten KlientInnen, die sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie erlebt hatten, eine Klientin von ihrer Therapeutin sexuell übergriffig behandelt worden und ein Klient von seinem Therapeuten. Die Dunkelziffer scheint gerade bei gleichgeschlechtlichen Übergriffen (Therapeut-Klient und Therapeutin-Klientin) hoch zu sein. Bei Übergriffen von einer Therapeutin gegenüber einer Klientin wird nach Beobachtungen von Brown (1988, in Becker-Fischer et al. 1995) die sexuelle "Beziehung" häufig auf die Zeit nach der Therapie verlegt, aber schon während der Therapie durch die Therapeutin angekündigt. Die gravierenden Folgewirkungen auf die KlientInnen sind unabhängig davon, ob es sich um eine homosexuelle oder eine heterosexuelle Konstellation handelt.

Zusammenfassung der Dissertation von Mindy Sue Benowitz (University of Minnesota, 1991):

"Sexual exploitation of female clients by female psychotherapists: Interviews with clients and a comparison to women exploited by male psychotherapists"

Methodik: In der Pilotstudie von Benowitz wurden 15 Klientinnen befragt. Die Berichte der Klientinnen erfolgten aus der Retrospektive.

Methodisches Problem: Es fehlen Daten von KlientInnen, die davon ausgehen, dass ihre sexuelle Beziehung mit ihrer Therapeutin ihnen keinen Schaden zugefügt hat. In der Studie von Benowitz wertete lediglich eine Klientin die sexuelle Beziehung der Therapeutin mit ihr als nicht-schädigend und insgesamt positiv.

Beachte: In Minnesota müssen alle PsychotherapeutInnen, die Kenntnis über sexuelle Ausbeutung von KlientInnen durch TherapeutInnen erhalten, dies dem Berufsverband mitteilen, es sei denn, sie hätten dieses Wissen in einer Therapie mit den betreffenden TherapeutInnen erlangt.

Gesellschaftlicher Hintergrund: Die Sozialisation von Frauen führt dazu, dass das tatsächliche Machtungleichgewicht zwischen einer Therapeutin und einer Klientin oft ignoriert wird. Einige Therapeutinnen gehen auf dieser Basis fälschlicherweise davon aus, dass ihre Klientinnen der Sexualität mit Therapeutinnen informiert zustimmen können und dass solche "Beziehungen" keinen Übergriff darstellen.

Ungefähr 4% (andere Studien sprechen auch von 10%) der Therapeutinnen haben Sex. mit KlientInnen, überwiegend mit Klientinnen. Therapeutinnen, die mit Klientinnen Sex haben, können sich als heterosexuell, bisexuell oder lesbisch definieren. Ungefähr 7% aller sexuellen Ausbeutungen von KlientInnen durch TherapeutInnen bestehen aus der Konstellation "Therapeutin-Klientin". Wenn Therapeutinnen selbst befragt werden, berichten sie seltener von Übergriffen, als wenn die Klientinnen direkt befragt werden.

Es gibt Hinweise darauf, dass sexuell übergriffige Therapeutinnen relativ häufig in ihrer Ausbildung zuvor ebenfalls sexuelle Übergriffe erlebt haben. Hier scheint ein Modellernen statt zu finden.

Übergriffige TherapeutInnen gehen häufiger davon aus, dass Sexualität zwischen TherapeutIn und KlientIn den KlientInnen nicht oder nur wenig schadet. Allerdings glauben auch die meisten TherapeutInnen, die Sexualität mit KlientInnen haben, dass solche "Beziehungen" für beide Seiten nicht positiv sind.

Eventuell geht eine sexuelle Ausbeutung einer Klientin durch eine Therapeutin eher in eine länger andauernde "Beziehung" über, als eine sexuelle Ausbeutung einer Klientin durch einen Therapeuten.

Vulnerabilität auf seiten der Klientin: Der Status als Klientin, sexuelle Gewalt in der Vorgeschichte, evtl. Auseinandersetzungen mit der eigenen soziosexuellen Identität im Coming-out-Prozess.

Risikofaktoren auf seiten der Therapeutinnen: evtl. hohe internalisierte Homophobie,

Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass eine Therapie ein Machtverhältnis darstellt, ggf.

persönliche Beziehungsprobleme der Therapeutinnen (dafür spricht, dass sich über die Hälfte der Therapeutinnen in der Studie von Benowitz während der "Therapie", in der sie ihre Klientin sexuell ausbeuteten, von ihrem Partner/ ihrer Partnerin trennten).

Der Verlaufsprozess sexueller Ausbeutung im psychotherapeutischen Setting:

Vor der sexuellen Ausbeutung:

  • Soziale/ persönliche Kontakte mit der Therapeutin außerhalb der Therapie (Telefonate ...), in fast 70% auch soziale Kontakte zu Bezugspersonen der Therapeutin (hier scheint auch ein Unterschied zur sexuellen Ausbeutung durch männliche Therapeuten zu liegen: Therapeuten, die ihre KlientInnen sexuell ausbeuten, schaffen zuvor keine sozialen Kontakte zwischen ihren Bezugspersonen und ihren Klientinnen).

  • Verwischen der Grenzen (über therapeutische Inhalte wird auch in informellen Situationen gesprochen, Therapeutin läd Klientin zum Essen ein, therapeutische Sitzungen werden an ungewöhnlichen Orten abgehalten, Therapeutin diskutiert ihre eigenen persönlichen Probleme mit der Klientin, so dass die Klientin die Aufmerksamkeit von sich selbst abwendet, ggf. übernimmt die Klientinnen auch Aufgaben/ Arbeiten für die Therapeutin ...)

  • Sexualisierte Kommentare der Therapeutin gegenüber der Klientin

  • Berührungen durch die Therapeutin

  • Anmache durch die Therapeutin (Flirten, Massagen ...)

Während der sexuellen Ausbeutung:

  • Meist initiieren die Therapeutinnen den sexuellen Kontakt und sie beenden ihn auch. Dies stellt auch ein Zeichen der Machtkonstellation zwischen Therapeutin und Klientin dar.

  • Nach außen stellt die Therapeutin die Beziehung am häufigsten so dar, als wären sie und die Klientin Freundinnen. Die sexuelle Beziehung wird oft verschwiegen.

  • Die Klientinnen fühlen sich zunächst ganz speziell behandelt und auch von der Therapeutin als Person akzeptiert. Sie werten die Beziehung als sehr wichtig. Auch die Therapeutinnen stellen die Beziehung gegenüber der Klientin als für sie (die Therapeutin) sehr bedeutsam dar.

  • Allerdings erlebt bereits während der Beziehung fast die Hälfte der Klientinnen konflikthafte Gefühle.

  • Meist haben Therapeutin und/ oder Klientin noch eine weitere Beziehung.

  • die Klientinnen fokussieren in der Beziehung auf die Therapeutin und achten nicht mehr auf sich selbst.

  • Vier der von Benowitz befragten Therapeutinnen waren der Ansicht, die sexuelle Beziehung sei in Ordnung, weil die Therapie beendet sei. Die anderen benannten keine Wertung der Beziehung, oder sie bezeichneten die sexuelle Beziehung als falsch oder verneinten, dass es sich um eine sexuelle Beziehung handelte.

  • Die Hälfte der Therapeutinnen behaupteten gegenüber den Klientinnen, dass die sexuelle Beziehungen für sie (die Klientinnen) hilfreich sei (für die Aufarbeitung vergangener Kindheits-Erfahrungen, für ihr Coming-out ...). Manche Therapeutinnen versuchten auch, die Beziehung auch mittels feministischer Theorie zu rechtfertigen.

Folgeschäden der sexuellen Ausbeutung:

  • über 90% der KlientInnen, die von TherapeutInnen sexuell ausgebeutet werden, erleiden Folgeschäden (Schwierigkeiten, Ärger auszudrücken, Verwirrung, Unsicherheit hinsichtlich der sexuellen Identität, Zunahme der internalisierten Homophobie, Amnesie und Flashbacks, verstärkte Abhängigkeit der Klientin von der Therapeutin,gesteigerte Suizidgefahr, Gefühlskonfusion, PTSD, Schuld- und Schamgefühle, Misstrauen gegenüber anderen Menschen, Wut, Beeinträchtigung der Fähigkeit, eine andere sexuelle Beziehung einzugehen und zu leben, sexuelle Probleme, Angst vor der Therapeutin, Angst der Klientin vor weiterer Therapie, Misstrauen und Vorsicht gegenüber Therapie im Allgemeinen (besonders, wenn die Klientinnen ursprünglich mit den Themen sexuelle und körperliche Gewalt in die Therapie gekommen waren, in der sie dann sexuell ausgebeutet wurden), die Aufmerksamkeit wird von den Themen abgelenkt, die für die Klientin ursprünglich Anlass waren, Therapie in Anspruch zu nehmen, die Probleme, mit denen die Klientin in Therapie gekommen ist, verschärfen sich ...) (Hier ist zu beachten, dass die Folgen der sexuellen Ausbeutung mit den Folgen der Trennung von der Therapeutin wahrscheinlich in Wechselwirkung treten. Verschärft werden diese Folgen wahrscheinlich auch durch die soziale Isolation, in die die Klientinnen nach der Trennung geraten.)

  • Es gibt Hinweise darauf, dass die Folgeschäden auch lange nach Beendigung der Therapie und der sexuellen Beziehung andauern

  • Je länger die Therapie noch nach der sexuellen Ausbeutung fortgesetzt wird, desto stärker die Folgesymptomatiken.

  • Wenn die Therapeutin die sexuelle Beziehung beendet, erleben die Klientinnen stärkere Folgeschäden, als wenn die Klientin selbst die sexuelle Beziehung beendet.

  • Insgesamt sind die Folgen, wenn eine Klientin durch eine Therapeutin ausgebeutet wird, ähnlich denen, wenn eine Klientin durch einen Therapeuten sexuell ausgebeutet wird.

  • Insgesamt scheinen die Folgen von sexueller Ausbeutung durch Therapeutinnen ähnlich wie die Folgen anderer sexueller Gewalt zu sein. Klientinnen, die vor der sexuellen Ausbeutung durch ihre Therapeutin/ ihren Therapeut sexuelle Gewalt erfahren haben, haben evtl. stärkere Folgeschäden als Klientinnen ohne vorherige Erfahrungen mit sexueller Gewalt.

  • Ambivalente Gefühle der Klientin gegenüber der Therapeutin. Diese Ambivalenz der Gefühle verstärkt auch die soziale Isolation der Klientin, weil ihre Bezugspersonen die Ambivalenz nicht verstehen können.

  • Folgen auch in der lesbischen Community: Sicherheitsverlust und Angst in Bezug auf Therapie, Angst, Therapeutinnen gegenüber Gefühle der Attraktion einzugestehen, Zweifel bei den anderen Klientinnen der betreffenden Therapeutin über ihre (der Klientinnen) Fähigkeit, Personen nach ihrer Vertrauensfähigkeit einzuschätzen, Spaltungen in der Community, weil die einzelnen Frauen Stellung beziehen in Bezug auf die Akzeptabilität der "Beziehung", ggf. verlieren Therapeutin und/ oder Klientin ihre bisherigen sozialen Netze.

  • Rückblickend werten die Klientinnen die sexuelle Beziehung zu der Therapeutin sehr negativ (60%), in einigen Aspekten negativ (6,7%), sowohl positiv als auch negativ (26,7%) und sehr positiv (6,7%). Die positiven Aspekte wurden von den Klientinnen hauptsächlich während der sexuellen Beziehung zu der Therapeutin erlebt (z.B. Steigerung ihres Selbstwertgefühls). Erst nach der Beendigung der sexuellen Beziehung gelingt es den Klientinnen, die Beziehung als ausbeuterisch zu betrachten. Beachte: die positiven Gefühle gegenüber der Beziehung tragen auch hinterher dazu bei, dass sich die Klientin schuldig fühlt.

  • Fast 50% der Klientinnen haben irgendwann von anderen oder der Therapeutin selbst erfahren, dass die Therapeutin noch mit anderen Klientinnen Sex. hatte.

  • Nach der sexuellen Beziehung zu der Therapeutin haben Klientinnen oft Angst, anderen darüber zu erzählen, weil sie befürchten, von anderen wegen der Beziehung verurteilt zu werden, weil sie sich schämen, weil ihre Therapeutin ihnen verboten hat, mit anderen darüber zu reden, aus Angst vor der Homophobie ihrer Gesprächspartnerinnen, weil sie befürchten, dass die therapeutische Community oder die lesbische Community sich gegen sie wendet, weil sie Angst haben, das berufsrechtliche Verfahren zu verlieren und dass sie noch verletzter daraus hervorgehen, weil sie befürchten, dass bei einer Beschwerde ihr Privatleben und ihre soziosexuelle Identität öffentlich wird, weil sie sich nicht genügend unterstützt sehen

  • Beachte: Ggf. erfahren die Klientinnen erneute starke Belastungen, wenn sie sich um ein berufsrechtliches Verfahren bemühen. Hier ist noch zu untersuchen, wie sich die institutionelle Homophobie in psychotherapeutischen Verbänden darauf auswirkt, wenn lesbische Klientinnen über eine sexuellen Übergriff durch ihre Therapeutin berichten.

Was kann nach einem sexuellen Übergriff durch eine Therapeutin an einer Klientin passieren?

Die beteiligte Therapeutin kann den Übergriff verharmlosen ("Liebe") oder auch die Klientin unter Druck setzen, wenn sie um ihren Ruf fürchtet. Um ihren Ruf kann sowohl eine offen lebende lesbische Therapeutin fürchten (nämlich um ihren Ruf in der "Szene"), als auch eine versteckt lebende oder heterosexuelle Therapeutin (Angst vor Outing).

Wenn ein sexueller Übergriff durch einen Psychotherapeuten/ eine Psychotherapeutin bekannt wird, erleben ihre KollegInnen oft konflikthafte Gefühle (Ängste vor Verrat, Schuldgefühle, Empörung). Sie setzen sich mit Loyalitätsfragen gegenüber dem vermutlichen Täter/ die vermutliche Täterin auseinander. Besonders schwierig ist für KollegInnen oft die Fragen, wie sie sich dazu verhalten sollen, wenn sich nach Beendigung der Psychotherapie eine Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin entwickelt.

Die Klientin/ der Klient, die über einen sexuellen Übergriff durch ihren Therapeuten/ ihre Therapeutin berichten, sehen sich oft Zweifeln seiner/ ihrer KollegInnen ausgesetzt. Die psychische Erkrankung des Klienten/ der Klientin kann dazu führen, dass ihm/ ihr weniger geglaubt wird. Hier kommt bei lesbischen Klientinnen noch die Verzerrung durch heterosexistische Wahrnehmungen durch FolgetherapeutInnen hinzu.

Manche KollegInnen verstehen Loyalität mit einem übergriffigen Kollegen/ einer übergriffigen Kollegin z.B. dahingehend, das sie die Tatsache der Sexualität zwischen TherapeutIn und KlientIn zwar zur Kenntnis nehmen, aber behaupten, diese Sexualität sei wenig schädlich für die Klientin gewesen (Regehr & Glancy 1995).

Was passiert in der Öffentlichkeit, wenn sexuelle Übergriffe von Therapeutinnen an Klientinnen bekannt werden?

Bei sexueller Gewalt in der Psychotherapie ist die Tendenz zur Beschuldigung des Opfers auch in den Reaktionen der Öffentlichkeit deutlich nachweisbar. Dem Opfer wird unterstellt, es habe die Situation vorhersehen und sich schützen können.

Fehlende Auseinandersetzung mit Frauen als Täterinnen. "In der Gesellschaft ist das Thema Frauen als Täterinnen nach wie vor stark tabuisiert. Mit Frausein wird vorrangig das Risiko einer Opferwerdung verknüpft, nicht jedoch Täterschaft". (Ohms & Müller 2004, S. 52 f.)

Es fehlt die gesellschaftliche und subkulturelle Bewertung, dass Sexualität mit Klientinnen inakzeptabel ist.

Es fehlen Sanktionierungen.

Thesen dazu, was speziell in der FrauenLesbenSzene passieren kann, wenn Sexualität einer Therapeutin mit einer Klientin bekannt wird?

(Diese Thesen habe ich in Anlehnung an die Publikation über Gewalt in lesbischen Beziehungen von Ohms und Müller (2004, S. 52 f.) entwickelt)

Das Thema ist stark tabuisiert, sowohl in der "Szene" (wenn es sich um eine offen lebende lesbische Therapeutin handelt), als auch in der Öffentlichkeit.

In der Szene könnte die Befürchtung bestehen, dass Vorurteile bestätigt werden, wenn in der Öffentlichkeit sexuelle Übergriffe lesbischer Therapeutinnen an Klientinnen thematisiert werden.

Eigenschaften, die die Therapeutin hat, können in der Subkultur positiv bewertet werden, z.B. die Vorstellung, dass die Therapeutin eine starke und selbstbewusste Frau ist, die bereits viele andere Frauen/ Lesben unterstützt hat.

Es fehlt die gesellschaftliche und subkulturelle Bewertung, dass Sexualität mit Klientinnen inakzeptabel ist und damit fehlt auch das Täterinnenbewusstsein.

Es fehlen Sanktionierungen.

Bei der Klientin könnte der sexuelle Übergriff widersprüchliche Gefühle hervorrufen. Zum einen kann der Übergriff internalisierte Homophobie verstärken, aber er kann auch zum Teil als ein Schritt in die lesbische Identität wahrgenommen werden, wenn die Klientin selbst auf dem Weg ins Coming-out war.

In der Szene herrscht das Ideal der starken Lesbe (auch der starken lesbischen Klientin!). So ist zu vermuten, dass lesbischen Klientinnen auch hier eher eine Mitschuld an dem Geschehen unterstellt werden kann.

Was ist zu tun?

PsychotherapeutInnen sollten das eigene therapeutische Verfahren immer wieder hinterfragen und sich der Risiken des Verfahrens bewusst sein. So liegt beispielsweise ein Risiko der Psychotherapie darin, dass sich in der Gegenübertragung bei der TherapeutIn gegenüber der/ dem KlientIn Liebesgefühle entwickeln können. In therapeutischen Situationen kann es also von beiden Seiten zu sexueller Attraktion kommen. Die Therapeutin/ der Therapeut können die eigene Attraktion zu einem Klienten/ einer Klientin an ihren Gefühlen (z.B. sich besonders auf die Sitzung mit dieser Klientin/ diesem Klienten freuen) und auch ihren eigenen Handlungen (z.B. sich besonders attraktiv in der Sitzung kleiden) erkennen. Sexuelle Gefühle und Gegenübertragungen haben oft die Funktion, andere Gefühle, Konflikte und Verletzlichkeiten zu verdecken, z.B. Angst vor Beendigung der Therapie. Sie sollten nicht ignoriert, sondern sorgfältig und mit Supervision analysiert werden. Therapeutische Reaktionen auf sexuelle Gefühle in der Psychotherapie sind z.B. Klärung der Bedeutung dieser Gefühle, klare Kommunikation und Grenzsetzung (Bridges 1994).

Hier sollte die Therapeutin/ der Therapeut also eine nicht-homophob geprägte Supervision aufsuchen, ihre/ seine Liebesgefühle thematisieren und sich nach der Auseinandersetzung damit darüber klar werden, ob sie/ er noch eine Therapie mit dieser Klientin/ diesem Klienten durchführen kann.

TherapeutInnen sollten an ihre KlientInnen Informationen weitergeben, mit denen sich KlientInnen vor sexueller Ausbeutung durch TherapeutInnen schützen können

KlientInnen sollten ermutigt werden, über unerwünschte Effekte wie emotionale Destabilisierung, Verschlechterung der Symptome oder des Problems, Verschlechterung von Beziehungen etc. zu berichten.

Gesamtgesellschaftlich sollte auf das Problem sexueller Ausbeutung in der Psychotherapie durch Aufklärungsarbeit und Bildungsarbeit reagiert werden. Das bedeutet insbesondere, MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in ihrer Ausbildung für das Thema zu sensibilisieren.

Es sollten Orte geschaffen werden, an denen sexuelle Übergriffe durch TherapeutInnen erzählt werden können.

Der Abbau gesellschaftlicher und auch gerade in therapeutischen Settings verbreiteter Homophobie würde auch die Schutzmöglichkeiten lesbischer und schwuler KlientInnen vor sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie verbessern

Es sollten niedrigschwellige Beschwerdeinstanzen geschaffen und finanziert werden.

Und es müssen wirksamere Möglichkeiten gefunden werden, um übergriffige TherapeutInnen zu sanktionieren.

Literatur:

Becker-Fischer, Monika/ Fischer, Gottfried/ Heyne, Claudia & Jerouschek, Günter: Forschungsbericht "Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Freiburg 1995.

Benowitz, M.S. (1991): Sexual exploitation of female clients by female psychotherapists: Interviews with clients and a comparison to women exploited by male psychotherapists. Doctoral dissertation, University of Minnesota.

Bridges, Nancy A.: Meaning and management of attraction: neglected areas of psychotherapy training and praxis. Psychotherapy, 31 (3), 1994, S. 424-433.

Christine, Christine, Bixi: Vom Eigenanteil zum Erotikanteil oder Sex auf der lesbisch-feministischen Couch. IHRSINN 5, 1992, S. 39-45.

Donna klara - Psychosoziale Frauenberatungsstelle: Lesbische Frauen in der Psychotherapie. Hintergründe, Umfrageergebnisse und Empfehlungen. Kiel 2003.

Gartrell, Nadine/ Herman, Judith, Olarte, Silvia, Feldstein, Michael & Localio, Russell: Reporting practices of psychiatrists who knew of sexual misconduct bei colleagues. American Journal of Orthopsychiatry, 57 (2), April 1987, S. 287-295.

Girshick, Lori B.: Woman-to-woman sexual violence. Boston: Northeastern University Press 2002, S. 85 ff.

Kitzinger, Celia & Perkins, Rachel: Changing Our Minds: Lesbianism Feminism and Psychology. London: Onlywomen Press. 1993.

Märtens, Michael & Petzold, Hilarion (Hg.): Therapieschäden. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. 2002.

Ohms, Constance & Müller, Karin: (2004): Macht und Ohnmacht. Gewalt in lesbischen Beziehungen. Berlin; Querverlag. 2004.

Rauchfleisch, Udo: Therapieschäden bei lesbischen, schwulen und bisexuellen Klientinnen und Klienten. In: Märtens, Michael & Petzold, Hilarion (Hg.): Therapieschäden. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. 2002, S. 282-292.

Rauchfleisch, Udo/Frossard, Jacqueline/Waser, Gottfried/Wiesendanger, Kurt & Roth, Wolfgang: Gleich und doch anders. Psychotherapie und Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen. Stuttgart: Klett-Cotta. 2002.

Regehr, Cheryl & Glancy, Graham: Sexual exploitation of Klients: Issues for colleagues. American Journal of Orthopsychiatry 65 (2), April 1995, S. 194-202.

Streit (Feministische Rechtszeitschrift)1/ 1996, S. 20-22.

Stein-Hilbers, Marlene (Projektleitung)/ Holzbecher, Monika/ Klodwig, Bernadette/ Kroder, Uta/ Soine, Stefanie/ Goldammer, Almuth & Noack, Inka (Projektmitarbeiterinnen). (Hg.: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen): Gewalt gegen lesbische Frauen: Studie über Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen. Düsseldorf 1999.

Wiesendanger, Kurt: Schwule und Lesben in Psychotherapie, Seelsorge und Beratung. Ein Wegweiser. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 2001.

Wolf, Gisela: Erfahrungen und gesundheitliche Entwicklungen lesbischer Frauen im Coming-out-Prozess. Herbolzheim: Centaurus. 2004.

Was ist zu tun?

PsychotherapeutInnen

  • TherapeutInnen sollten das eigene therapeutische Verfahren immer wieder hinterfragen und sich der Risiken des Verfahrens bewusst sein

  • Sexuelle Gefühle und Gegenübertragungen sollten sorgfältig und mit Supervision analysiert werden. Therapeutische Reaktionen auf sexuelle Gefühle in der Psychotherapie sind z.B. Klärung der Bedeutung dieser Gefühle, klare Kommunikation und Grenzsetzung

  • TherapeutInnen sollten an ihre KlientInnen Informationen weitergeben, mit denen sich KlientInnen vor sexueller Ausbeutung durch TherapeutInnen schützen können

KlientInnen

  • KlientInnen sollten ermutigt werden, über unerwünschte Effekte wie emotionale Destabilisierung, Verschlechterung der Symptome oder des Problems, Verschlechterung von Beziehungen etc. zu berichten.

Gesamtgesellschaftlich

  • Gesamtgesellschaftlich sollte auf das Problem sexueller Ausbeutung in der Psychotherapie durch Aufklärungsarbeit und Bildungsarbeit reagiert werden. Das bedeutet insbesondere, MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in ihrer Ausbildung für das Thema zu sensibilisieren.

  • Es sollten Orte geschaffen werden, an denen sexuelle Übergriffe durch TherapeutInnen erzählt werden können.

  • Der Abbau gesellschaftlicher und auch gerade in therapeutischen Settings verbreiteter Homophobie würde auch die Schutzmöglichkeiten lesbischer und schwuler KlientInnen vor sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie verbessern.

  • Es sollten Beschwerdeinstanzen geschaffen und finanziert werden!

  • Es müssen wirksamere Möglichkeiten gefunden werden, um übergriffige TherapeutInnen zu sanktionieren.

Kontakt

Gisela Wolf

Email: woelfinnen@web.de

Quelle

Gisela Wolf: Sexuelle Übergriffe durch Therapeutinnen an Klientinnen.

Vortrag zu der Fachtagung "Sexualisierte Gewalt an Frauen und Lesben in therapeutischen, beraterischen und medizinischen Strukturen" am 13.11. 2004 in Köln

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.12.2011

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