Sonderschullehrer in Integrationsklassen

Autor:in - Hans Wocken
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 185-198
Copyright: © Curio Verlag 1988

1. Einleitung

Eine Besonderheit des Hamburger Schulversuchs "Integrationsklassen" ist die pädagogische Betreuung dieser Klassen durch drei Pädagogen: Grundschullehrer, Erzieher und Sonderschullehrer. Die Kooperation dieser pädagogischen Kompetenzen wird von allen Beteiligten nicht nur als anregend und hilfreich empfunden, sondern auch als Problem wahrgenommen. Temporäre Konflikte oder - in Einzelfällen - die Auflösung pädagogischer Teams sind der sichtbare Ausdruck für verbreitete Kommunikationsprobleme, unausgesprochene Unzufriedenheiten und schwelende Disharmonien. Eine wichtige Aufgabe des Schulversuchs besteht darin, zu erkunden, welche Probleme und Chancen mit der Kooperation verschiedener Kompetenzen verbunden sind und wie die gegebenen Ressourcen an Lehrer- und Erzieherstunden zum Wohle der Kinder und zur Zufriedenheit der Pädagogen genutzt werden könnten. Die folgenden Überlegungen dienen diesem Anliegen.

In der Regel wird die Mitarbeit der Erzieher von allen als nützlich und notwendig empfunden. Als besondere Kompetenzen bringen die Erzieher Erfahrungen mit offenen Lernangeboten, ästhetische Kreativität bei der Gestaltung der Lernumwelt, Ideenreichtum und Gestaltungsinitiative bei der Auflockerung des schulischen Lernalltags um Spiel und Feier, hilfreiche Unterstützung bei der Elternarbeit, Sensibilität für die Lernbedürfnisse und Gefühle einzelner Kinder, schließlich die Bereitschaft und Fähigkeit zu wertschätzender Zuwendung und einfühlendem Verstehen in die pädagogische Arbeit ein. Ihr sozialpädagogischer Beitrag ist - auch aufgrund der stetigen Präsenz und Verfügbarkeit der Erzieher - zu einem wertvollen und unverzichtbaren Element integrativer Pädagogik geworden.

Während die Mitarbeit von Erziehern innerhalb des Projekts durchweg positive Resonanz findet, wird die Mitwirkung von Sonderschullehrern in den gegenwärtigen Formen eher als unbefriedigend und problembehaftet erlebt. Die Aufgabenbestimmung, die konkreten Arbeitsbedingungen, die Stundenanzahl, das Selbstverständnis der Sonderpädagogen sind zu zentralen Brennpunkten des Kooperationsproblems geworden. Aus diesem Grunde beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Beschreibung und Analyse der Sonderschullehrerrolle.

Die Analyse folgt dem in Tabelle 1 skizzierten Gedankengang. Die mitgeteilten Überlegungen sind keine wissenschaftlichen Feststellungen; sie leben von persönlichen Eindrücken aus dem Schulversuch und verstehen sich als ein erster tastender Versuch, Erfahrungen zu einem neuen sonderpädagogischen Aufgabenfeld gedanklich auf den Begriff zu bringen.

Erwartungen:

1. Spezialist

2. Generalist

Situative Bedingungen:

  1. mangelnde Passung zwischen den Förderbedürfnissen und Förderkompetenzen

  2. unspezifische Förderbedürfnisse bei behinderten Kindern

  1. begrenzte Wochenstundenzahl

  2. begrenzte Grundschulkomzahl

Psychologische Folgen:

Der Kompetenzmonopolzweifel

Das Außen-vor-Gefühl

2. Das Spezialist - Generalist - Dilemma

Daß die Mitwirkung des Sonderschullehrers von vielen Beteiligten, auch von den Sonderschullehrern selbst, als Problem wahrgenommen wird, hat allenfalls am Rande und in seltenen Ausnahmefällen etwas mit den Personen zu tun, die dieses Amt bekleiden. Die Sonderschullehrer sind genauso liebenswürdige Menschen wie die Grundschullehrer oder die Erzieher auch. Die wahren Gründe für Kooperationsprobleme sind in der Regel nicht in subjektiven Eigenarten der Personen, sondern in objektiven Gegebenheiten der sozialen Rolle zu suchen. Eine Rolle ist ein Bündel sozialer Erwartungen. Das Problem der Sonderrschullehrer besteht darin, daß sie sich widersprüchlichen Erwartungen gegenübersehen, denen sie schlechterdings gleichermaßen gerecht werden können. Diese gegensätzlichen Erwartungen können als Spezialist - Generalist - Dilemma beschrieben werden.

2.1 Die Spezialisten - Erwartung

Der sachliche Grund für die Mitwirkung von Sonderpädagogen in Integrationsklassen ist einfach und einsichtig: Alle Kinder müssen ihren eigenen Möglichkeiten und dem gegenwärtigen Stand der pädagogischen Kunst entsprechend gefördert werden. Für behinderte Kinder muß demgemäß eine behindertengemäße Förderung sichergestellt werden, und dies kann am besten duch speziell für diese Aufgabe ausgebildete Pädagogen geschehen. Aus dieser Logik - eine behindertengemäße Förderung durch spezielle Behindertenpädagogen - erwächst dem Sonderschullehrer die Erwartung, als Spezialist tätig zu sein. Der Sonderschullehrer ist Fachmann für "besondere" Kinder. Als Spezialist hat er eine besondere oder unter Umständen ausschließliche Kompetenz für den pädagogischen Umgang mit behinderten Kindern. Der Sonderschullehrer gilt als der leibhaftige Garant dafür, daß die behinderten Kinder in den Integrationsklassen nicht zu kurz kommen und mindestens so gut wie üblicherweise in Sonderschulen gefördert werden.

In den Augen des Grundschullehrers und des Erziehers ist der Sonderschullehrer derjenige, der um der behinderten Kinder willen im Team dabei ist und deshalb auch in besonderer Weise für sie da ist. Eine zugespitzte, bizarre Form der Spezialisten-Erwartung ist der Wunsch, der Sonderschullehrer möge den Kollegen die Probleme mit den behinderten Kindern abnehmen oder gar die Behinderten so weit "normalisieren", daß sie keine Probleme mehr machen.

Man mag darüber streiten, ob überhaupt und inwieweit die Spezialisten-Erwartung rechtens ist. Wäre sie indes völlig unbegründet, wäre der Sonderschullehrer also in keiner Weise Spezialist, verlören der Sonderpädagoge und die Sonderpädagogik jegliche Existenzberechtigung.

2.2 Die Generalisten - Erwartung

Von Anfang an herrschte im Diskussionszusammenhang des Schulversuchs zugleich auch Einigkeit darüber, daß der Sonderschullehrer nicht nur für die behinderten Kinder in den Integrationsklassen zuständig sei. Es gab sogar erhebliche Befürchtungen, daß der Sonderschullehrer durch eine ausschließliche Betreuung der behinderten Kinder die Besonderheit der behinderten Kinder allererst offenkundig mache und damit just durch sonderpädagogisches Handeln Integration verhindere. An den Sonderschullehrer wurde daher die Erwartung gerichtet, auf alle "aussondernden" Maßnahmen und Therapien zu verzichten. Er solle sich genauso wie der Grundschullehrer und der Erzieher für alle Kinder verantwortlich fühlen und den Unterricht insgesamt zum Wohle aller Kinder sonderpädagogisch durchdringen.

Im Ergebnis steht der Sonderschullehrer in einem unlösbaren Erwartungskonflikt: Von sonderpädagogischer Warte wird ihm eine Spezialisten-Funktion zugedacht, aus integrationspädagogischer Sicht dagegen eine Generalisten-Rolle. Allzuständigkeit und volle Verantwortlichkeit für alle Kinder und für das gesamte Unterrichtskonzept auf der einen Seite und spezielle Zuständigkeit für besondere Kinder und spezielle Aufgaben auf der anderen Seite sind nicht miteinander vereinbar. Auch bei bestem Können und redlichstem Bemühen kann der Sonderschullehrer den in ihn gesetzten Erwartungen jemals genügen. Sein "Versagen" bleibt weder seinen Kooperationspartnern noch ihm selbst verborgen und löst Enttäuschung und Ernüchterung bei den Mitarbeitern, Unzufreidenheit und Verunsicherung bei ihm selbst aus.

3. Der Arbeitsplatz "Integrationsklasse"

Die Arbeitssituation eines Sonderschullehrers in einer Integrationsklasse ist in Hamburg in etlichen Fällen dadurch gekennzeichnet, daß der Sonderschullehrer zwischen zwei Institutionen hin- und herpendelt: Einen beträchtlichen Anteil ihrer Dienstverpflichtungen müssen manche Sonderschullehrer weiterhin an ihrer bisherigen Sonderschule ableisten. Zur Wahrnehmung der Unterrichts- und Kooperationsstunden an den Integrationsschulen sind dann etwa täglich einmal - jeweils in den großen Pausen - schnelle Ortswechsel mit dem PKW zu bewerkstelligen.

Die täglichen Fahrzeiten und Fahrwege stellen gewiß eine nicht unerhebliche Belastung dar. Gravierender sind indes die psychischen Folgen, die mit einer Existenz als Pendler zwischen zwei nicht widerspruchsfreien Institutionen verbunden sind: Kollegiale Heimatlosigkeit, Verlust der beruflichen Identität, Irritationen im pädagogischen Selbstverständnis, halbherziger Dienst nach Vorschrift ohne innere Beteiligung in einer Institution zugunsten eines vollen, ungeteilten Engagements für die andere Aufgabe.

In sonderpädagogischen Kreisen wird den Emigranten fortan einiges Mißtrauen entgegengebracht, ja gelegentlich werden sie als Dissidenten verdächtigt und des "Verrats" an der Sonderschule beschuldigt. Im integrationspädagogischen Lager wird der neue Kollege erst einmal vorsichtig abgetastet, ob er denn wirklich schon auf ihrer Seite steht oder womöglich immer noch ein unverbesserlicher Vertreter der Aussonderung ist. Der Zweifel an der ungewissen Loyalität paart sich mit dem Unverständnis, aus wechen unerfindlichen Gründen eigentlich Sonderschullehrer ihren Schonraum Sonderschule, in dem es für die Arbeit mit weniger Kindern bei geringerem Leistungs- und Bewährungsdruck mehr Geld gibt, verlassen wollen.

Zu diesen generellen Belastungen einer Pendlerexistenz gesellen sich situative Bedingungen, die es den Sonderschullehrern nicht gestatten, das Spezialist-Generalist-Dilemma praktisch zu lösen.

3.1 Situative Bedingungen für die Aufgabe "Generalist"

Grundlegende Voraussetzung für die Planung und Durchführung von Unterricht ist bekanntlich eine hinreichende Kenntnis der Kinder und der Klasse. Ein Lehrer muß jederzeit im Bilde sein, wo die einzelnen Kinder gerade stehen, was sie bereits können, was ihnen noch Schwierigkeiten macht, welche gruppendynamischen Prozesse sich zur Zeit abspielen und so fort. Dieser Einblick in die pädagogische Situation einer Klasse kann schwerlich kurzfristig übermittelt werden, sondern verlangt Anwesenheit vor Ort und stetige Beteiligung am pädagogischen Geschehen. Für die Aufgabe eines Generalisten fehlt dem Sonderschullehrer damit die elementarste Voraussetzung, die Zeit. Er ist im 18+2-Modell mit 5 Wochenstunden, im 11+4-Modell mit 10 Wochenstunden anwesend. Allein aufgrund des geringen Stundenanteils haben die Sonderschullehrer Mühe mitzubekommen, was in der Klasse überhaupt gespielt wird und was mit einzelnen Kindern gerade los ist. Grundschullehrer und Erzieher wissen um die aktuelle pädagogische Situation immer besser Bescheid als der hinzukommende Sonderschullehrer. Er muß sich mühen, alles mitzubekommen und immer auf dem neuesten Stand zu sein. Weil dem Sonderschullehrer der aktuelle Entwicklungsstand der Klasse aufgrund seiner unzulänglichen Präsenz nicht immer oder nicht genügend bekannt ist, kann er auch weniger gut an der Planung und Gestaltung eines integrativen Unterrichts als Generalist teilnehmen.

Auch aus einem weiteren Grund ist der Sonderschullehrer mit der Aufgabe eines Generalisten für einen integrativen Grundschulunterricht überfordert. In aller Regel haben Grundschullehrer eine durch Ausbildung und Berufserfahrung erworbene größere Kompetenz für Grundschulunterricht als Sonderschullehrer. Sonderschullehrer sind der Sache nach eher Spezialpädagogen und nicht die besseren Grundschullehrer. Die kollegiale Kooperation zwischen Grund- und Sonderschullehrern ist mit der beiderseitigen falschen Vorstellung belastet, der Sonderschullehrer sei ein Super-Grundschullehrer. Zwischen Grundschullehrern und Erziehern gibt es dagegen auch wohl deshalb weniger Reibereien, weil hier von vorneherein ausgemacht ist, wem Kompetenz und Verantwortlichkeit für Grundschulunterricht zukommen, und weil die Erzieher sich auf dem didaktischen Feld mit einer subsidiären Rolle bescheiden. Dagegen drängen Ausbildung, Status und eben auch Generalisten-Erwartungen den Sonderschullehrer dazu, mit dem Grundschullehrer um Kompetenz und Verantwortlichkeit für den Grundschulunterricht zu wetteifern. Denn wie würde der Sonderschullehrer wohl dastehen, wenn er in der Unterrichtung von Grundschulkindern es dem Grundschullehrer nicht gleichtun könnte.

Zusammenfassend: Der Sonderschullehrer hat aus zeitlichen Gründen keine Chance und aus professionellen Gründen nicht die Kompetenz, ein Generalist für einen integrativen Grundschulunterrricht zu sein. Ein Mißerfolg der Generalisten-Rolle ist nicht auszuschließen.

3.2 Situative Bedingungen für die Aufgabe "Spezialist"

Der Einsatz eines pädagogische Spezialisten ist nur sinnvoll, wenn es Kinder mit einem spezifischen Förderbedarf gibt. Was ist unter einem "spezifischen" Förderbedarf zu verstehen? Kinder mit einem spezifischen Förderbedarf haben keine umfänglichen, mehrere Lern-, Verhaltens- und Persönlichkeitsbereiche betreffenden Beeinträchtigungen, sondern lediglich mehr oder minder große Probleme in einem bestimmten, klar umgrenzten Bereich. Typische Fälle eines spezifischen Förderbedarfs sind Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwächen oder mit Sprachstörungen. Kinder mit spezifischen Förderbedürfnissen werden angemessen in kurzweiligen, aber regelmäßigen Lernzeiten durch Spezialpädagogen gefördert, und zwar nur in dem problematischen Lern-, Verhaltens- und Persönlichkeitsbereich. Bei spezifischen Förderbedürfnissen sind spezifische, "gezielte" Interventionen eine notwendige und auch hinreichende pädagogische Maßnahme. Das heißt: Die Förder- oder Therapiestunden kommen zum üblichen Unterrichts- und Tagesablauf eines Kindes hinzu, eine weitergehende Änderung des pädagogischen Alltags ist im allgemeinen nicht erforderlich.

Die wesentlichen Merkmale eines spezifischen Förderbedarfs sind also 1. partielle, nicht umfängliche Beeinträchtigungen, die 2. in kurzweiligen, nicht langdauernden Förderzeiten angemessen und hinreichend therapiert werden können. Kinder mit spezifischen Förderbedürfnissen sind das geeignete Betätigungs- und Bewährungsfeld für Spezialisten, die nun durch "gezielte" Maßnahmen ihre besondere Kompetenz unter Beweis stellen können.

Die Realität von Integrationsklassen hält für Sonderschullehrer einige Schwierigkeiten bereit, der Spezialisten-Erwartung nachzukommen. Auch in Integrationsklassen gibt es - in unterschiedlicher Anzahl und sowohl bei den behinderten wie bei den nichtbehinderten Kindern - Kinder mit spezifischen Förderbedürfnissen im Sinne partieller Beeinträchtigungen mit kurzweiliger Förder- oder Therapieindikation. Da Integrationsklassen die Kinder so aufnehmen, wie sie nun mal sind, und im Grundsatz kein Kind zurückweisen, sind die vorfindlichen Förderbedürfnisse in ihrer Art ungemein vielfältig. Alle Formen von Persönlichkeitsstörungen, von Entwicklungsabweichungen, von abweichendem Lern-, Leistungs- und Sozialverhalten können der Möglichkeit nach auch in Integrationsklassen vertreten sein. Das Problem besteht nun darin, für jene spezifischen Förderbedürfnisse, die in einer Integrationsklasse real versammelt sind, genau jenen Sonderschullehrer ausfindig zu machen, der in einer Person die just passende Palette an spezifischen Förderkompetenzen in sich vereinigt. Eine Passung von Förderbedarf und Förderkompetenz dürfte aber eher die Ausnahme sein. Entweder gibt es Sonderschullehrer mit Förderkompetenzen, die in dieser Klasse eigentlich gar nicht gefragt sind, oder es gibt Klassen mit spezifischen Förderbedürfnissen, für die der zuhandene Sonderschullehrer die erforderlichen Förderkompetenzen gerade nicht in seinem Repertoire hat.

Eine unzureichende Passung von Förderbedarf und Förderkompetenz ist in pädagogischen Feldern nichts Außergewöhnliches. Es gibt sie etwa in Grundschulklassen, in denen ein musikalischer Lehrer sich mit unmusikalischen Kindern abplagt, oder in Sonderschulklassen, in denen verhaltensgestörte Kinder einen Sonderschullehrer mit den Fachrichtungen Lern- und Sprachbehindertenpädagogik haben. In Integrationsklassen werden unzureichende Passungen zwischen spezifischen Förderbedürfnissen und spezifischen Förderkompetenzen jedoch zu einem Problem - für den Sonderschullehrer. Kann er etwas, was man hier und jetzt nicht braucht, wird er als nutzloser Fachmann belächelt; kann er aber etwas nicht, was man gerade hier dringend bräuchte, wird sein Expertentum in Zweifel gezogen. Es sind beinahe Glücksfälle, wenn Sonderschullehrer in Integrationsklassen die passenden Spezialkompetenzen verfügbar haben und damit der Spezialisten-Erwartung vollauf gerecht werden können.

Auch die behinderten Kinder eröffnen den Sonderschullehrern wenig Chancen, Spezialistentum zu demonstrieren. Das kennzeichnende Merkmal behinderter Kionder ist nämlich gerade nicht ein spezifischer Förderbedarf im ausgeführten Sinne. Kinder mit Behinderungen brauchen zwar alle mehr oder minder besondere pädagogische Hilfen, aber diese besonderen Hilfen brauchen sie nicht nur gelegentlich und vorübergehend, sondern häufiger und länger, nicht etwa nur in einigen, sondern in zahlreichen Lernsituationen, und nicht nur bei schulischen Leistungsanforderungen, sondern bei vielfältigen Lernanlässen.

Konkret: Einem geistigbehinderten Kind ist ja "mit einem bißchen Therapie" jeden Tag keineswegs ausreichend geholfen, weil es auch außerhalb etwaiger Therapiezeiten und außerhalb sonderpädagogisch begleiteter Unterrichtsstunden besonderer Hilfen bedarf. Auch im übrigen, im sonderschullehrerlosen Unterricht sind bei geistigbehinderten Kindern weiterhin sonderpädagogische Maßnahmen erforderlich, die dann notwendigerweise vom Grundschullehrer und vom Erzieher geleistet werden müssen, und - so sei hinzugefügt - über weite Strecken auch von ihnen geleistet werden können und geleistet werden.

Verallgemeinernd ließe sich sagen: Kinder mit Behinderungen sind pädagogisch nicht durch einen partiellen und spezifischen Förderbedarf, sondern durch eine unspezifische, ganzheitlich andere Qualität ihrer Bildungsbedürfnisse charakterisiert; sie brauchen daher eigentlich weniger einen pädagogischen Spezialisten, sondern vielmehr eine besondere Pädagogik.

Weil also behinderte Kinder eben nicht Kinder mit einem spezifischen Förderbedarf sind, ist auch die Spezialisten-Erwartung eine bedenkliche Zumutung für Sonderschullehrer. Sonderpädagogen können und dürfen für behinderte Kinder nicht nur Spezialisten sein, weil in der pädagogischen Förderung behinderter Kinder spezifische Interventionen selten notwendig sind, vielfach unangebracht und gelegentlich sogar falsch sein können, mit Sicherheit aber nicht ausreichend sind.

Zusammenfassend: Der Arbeitsplatz Integrationsklasse bereitet aufgrund der Struktur der vorfindlichen Förderbedürfnisse dem Sonderschullehrer nicht unerhebliche Schwierigkeiten, eine Spezialisten-Rolle einzunehmen. Einerseits kann eine befriedigende Passung von spezifischen Förderbedürfnissen der Kinder und spezifischen Förderkompetenzen der Sonderschullehrer nicht gewährleistet werden, andererseits erfordern die unspezifischen, ganzheitlich anderen Förderbedürfnisse der behinderten Kinder keine zeitlich befristeten und inhaltlich begrenzten pädagogischen Interventionen durch einen Spezialisten, sondern eine durchgängige Besonderung der pädagogischen Förderung, die auch in Abwesenheit des Sonderschullehrers vom Grundschullehrer und dem Erzieher geleistet werden muß, kann und wird. Integrationsklassen geben dem Sonderschullehrer damit wenig Gelegenheit, sich als unentbehrlicher, exclusiver Fachmann für besondere pädagogische Problemlagen darzustellen. Die Spezialisten-Erwartung ist folglich nur bedingt gerechtfertigt und erfüllbar.

4. Psychische Folgen

Die Folgen, die sich aus dem grundlegenden Spezialist-Generalist-Dilemma und den erschwerenden situativen Bedingungen der Alltagsrealität von Integrationsklassen für den Bewußtseinshaushalt und die Gefühlslage der Sonderschullehrer wie auch ihrer Kollegen ergeben, sind mehrfach angeklungen und sollen nun gebündelt zur Sprache kommen.

4.1 Das Außen - vor - Gefühl

Dieses Gefühl ist aufgrund der geringen Präsenz der Sonderschullehrer besonders im 18+2 Modell anzutreffen. Es äußert sich bei den Sonderschullehrern typischerweise als "Überflieger-Gefühl" (eine Sonderschullehrerin). Die Sonderschullehrer wissen nie ganz genau, was in den Klassen gespielt wird, und haben Mühe auf dem laufenden zu sein. Die Grundbefindlichkeit des Sonderschullehrers ist von einem diffusen Unbehagen und einer allgemeinen Unzufriedenheit gekennzeichnet, daß sie sich nicht so in die pädagogische Arbeit einbringen können, wie sie es selbst gerne möchten und die Kollegen es von ihnen erwarten. Sie fühlen sich - wie man an der Waterkant zu sagen pflegt - "außen vor" und sind sich der bestätigenden Anerkennung durch die Kollegen nicht sicher.

Der Grundschullehrer und der Erzieher erleben den Alltag ohne Sonderschullehrer vielfach so, daß sie auch ohne ihn auskommen. Ob der Sonderschullehrer nun dabei ist oder nicht, im wesentlichen bewältigen sie als stetig präsente Pädagogen auch alleine den pädagogischen Alltag von Integrationsklassen. Den Sonderschullehrer erleben sie als eine Art Besucher, der häufig mal reinschaut, ohne auf spürbare Weise unersetzliche Beiträge zum Schul- und Unterrichtsleben zu leisten. Bei den Stammkollegen äußert sich das Außen-vor-Gefühl gelegentlich in Fragen wie: "Was tut der eigentlich?" oder: "Brauchen wir den überhaupt?"

Das Außen-vor-Gefühl ist für den Sonderschullehrer sehr belastend. Er sieht sich einem ständigen Druck ausgesetzt, seine Notwendigkeit und Wichtigkeit sich selbst und seinen Kollegen unter Beweis zu stellen. Da diesem Bemühen aufgrund situativer Erschwerungen kein voller Erfolg beschieden sein kann, ist dauerhafter Frust auf beiden Seiten eine mögliche Folge.

Besonders schmerzlich ist das Außen-vor-Gefühl auf der Beziehungsebene. Die Kontakte des Sonderschullehrers zu den Kindern, den Kollegen und den Eltern sind zeitlich begrenzt. Sie selbst möchten aber vollauf integriert sein; sie möchten trotz knapper Zeit gute Beziehungen zu den Kindern, Eltern und Kollegen haben und darin den Kollegen aus dem Team nicht nachstehen. Hier tut sich ein weites Feld für unselige emotionale Konkurrenzen zwischen den drei Pädagogen auf.

4.2 Der Kompetenzmonopolzweifel

Dem besonderen Förderbedarf behinderter Kinder wird in Integrationsklassen durch mehr Zuwendung, durch veränderte Aufgabenstellung, durch freie Wahl von Lernorten, -inhalten, -partnern und -wegen, und durch anderes mehr entsprochen; insgesamt durch Maßnahmen, die nicht unbedingt einen pädagogischen Spezialisten erfordern. Um die sonderpädagogische Förderung der behinderten Kinder machen sich alle Pädagogen gleichermaßen verdient. Im Alltag integrativer Pädagogik mangelt es an Aufgaben, die einerseits unabweisbar gemacht werden müssen und die andererseits eine ausschließliche Sache von Spezialisten sind. Das Fördermonopol, das die sonderpädagogische Wissenschaften und Institutionen für sich und ihren Berufsstand in Anspruch nehmen, kann in der Praxis integrativer Arbeit nicht zweifelsfrei deutlich gemacht werden.

Daß es auch ohne Sonderschullehrer gehen muß und ganz gut geht - das ist eine einfache, nicht negierbare Realität. Aus diesem Kernerlebnis erwächst ein tiefsitzender Kompetenzmonopolzweifel, der alle Pädagogen des Integrationsteams gleichermaßen beschleicht: "Sonderschullehrer kochen auch nur mit Wasser!"

Der Kompetenzmonopolzweifel hat bei Grundschullehrern und Erziehern nach einer Phase der Desillusionierung durchaus heilsame Effekte: Sie verlieren die Angst vor einem allgewaltigen Supermann, die Angst, von einem übermächtigen Supervisor ständig kontrolliert zu werden, und sie entwickeln realistische Vorstellungen von ihrem Kollegen.

Die Sonderschullehrer sind vom Kompetenzmonopolzweifel jedoch existenzieller betroffen. Wie sie mit dem nagenden Zweifel an ihrer professionellen Rolle fertig werden, ist bislang unklar. Mögliche Verarbeitungsformen sind entweder der bewußte Verzicht auf eine Generalistenfunktion und die Übernahme einer schlichten Mitarbeiterrolle, oder - als Reaktionsbildung: "Jetzt erst recht!" erhöhtes Engagement, um den drohenden Prestigeverlust zu vermeiden und den Nachweis besonderer Kompetenz doch noch zu erbringen.

Quelle:

Hans Wocken: Sonderschullehrer in Integrationsklassen

Erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 185-198

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.09.2006

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