Kriterien der Aufnahme behinderter Schüler

Autor:in - Hans Wocken
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 87-99
Copyright: © Curio Verlag 1988

Kriterien der Aufnahme behinderter Schüler

Das Thema "Kriterien der Aufnahme behinderter Schüler" versetzt in Alarmbereitschaft. Dürfen etwa nicht alle behinderten Schüler aufgenommen werden? Müssen Schüler mit Behinderungen bestimmte Eingangsvoraussetzungen erfüllen, damit sie in Integrationsklassen aufgenommen werden können? Und wenn es schon bestimmte Kriterien für die Aufnahme behinderter Kinder geben soll, wer hat dann das Recht, diese Kriterien zu formulieren? Wer darf sich hinstellen und entscheiden: "Du wirst in eine Integrationsklasse aufgenommen und Du nicht"?

Die eigene Position ist in dem Grundverständnis vom Auftrag aller Erziehung grundgelegt. Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik ist es, alle Kinder, so wie sie sind, zu fördern und zu erziehen. Für diese Auffassung vom Auftrag der Allgemeinen Pädagogik kann MARTIN BUBER als Gewährsmann herangezogen werden. In seinen "Reden über Erziehung" macht BUBER auf den Wesensunterschied zwischen pädagogischer Liebe und erotischer Liebe aufmerksam. Erotische Liebe ist Liebe aus Zuneigung, aus Sympathie, aufgrund freier Wahl. Pädagogische Liebe hingegen ist nicht Liebe aufgrund persönlicher Vorlieben und subjektiver Empfindungen, sondern wendet sich unterschiedslos und vorbehaltlos allen Kinder ohne Ansehen ihrer Person zu. Pädagogische Liebe ist nicht wählerisch und stellt keine Vorbedingungen. Der wahre Erzieher wählt seine Kinder nicht aus, sondern nimmt sie an, so wie sie nun mal sind. Wörtlich sagt BUBER: "Da betritt er (der Lehrer, H. W.) den Schulraum zum ersten Mal. Da sieht er sie in den Bänken hocken, wahllos durcheinandergewürfelt. Mißratene und wohlbeschaffene Gestalten, tierische Gesichter, nichtige und edle, wahllos durcheinander. Wie ein Bild der Menschenwelt, so vielfältig, so widersprüchlich und so unzulänglich. Sein Blick, der Blick des Erziehers nimmt sie alle an und nimmt sie alle auf."

Diese Worte umschreiben den Auftrag der Allgemeinen Pädagogik, ausnahmslos alle Kinder ohne Musterung ihrer Person aufzunehmen und anzunehmen. Meine Grundposition zum Thema "Kriterien der Aufnahme" ist also die Überzeugung, daß grundsätzlich alle Kinder integrationsfähig sind. Es gibt nicht zwei Klassen behinderter Kinder, integrationsfähige und nichtintegrationsfähige.

Können nun mit dieser Feststellung die Überlegungen zum Kriterien-Problem bereits beendet werden? Gibt es also gar keine Kriterien? Darf es überhaupt irgendwelche Kriterien geben? Wird in nichtaussondernden Schulen ein spezielles Aufnahmeverfahren damit gänzlich überflüssig, wenn man sagt, daß alle Kinder integrationsfähig sind? Auch wenn alle Kinder generell als integrationsfähig angesehen werden, brauchen integrative Schulen gleichwohl ein besonderes Aufnahmeverfahren. Dies sei in aller Kürze begründet.

Integrationsfähigkeit ist nicht nur eine Eigenschaft von Kindern, Integrationsfähigkeit ist auch eine Eigenschaft von Schulen. Richtig verstanden ist Integrationsfähigkeit eine Eigenschaft, die weder allein den Kindern noch allein den Schulen zukommt, sondern vielmehr ein Verhältnisbegriff, ein Begriff, der etwas aussagt über die Passung von Kind und Schule. Die rechte Passung von Kind und Schule läßt sich an dem Bild einer Waage verdeutlichen. Auf der einen Seite der Waage gibt es in integrierenden Schulen Kinder, die einen qualitativ anderen oder quantitativ höheren Förderbedarf haben als die Kinder, die wir als nichtbehindert ansehen. Kinder mit Behinderungen sind Kinder mit besonderen Förderbedürfnissen. Auf der anderen Waagschale befinden sich die besonderen Förderressourcen, die erweiterten Fördermöglichkeiten der integrierenden Schule. Diese beiden Seiten der Waage müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, damit von Integrationsfähigkeit gesprochen werden kann. Der Förderbedarf aller Kinder, die in einer Lerngruppe sind, muß übereinstimmen mit dem schulischen Angebot an Förderressourcen. Es muß eine Passung hergestellt werden zwischen dem, was die Kinder gebrauchen, und dem, was die Schulen an Fördermöglichkeiten anbieten kann. Integrationsfähigkeit drückt sich aus in einer Balance von Förderbedarfen der Kinder und Förderressourcen der Schule. Bei der Aufnahme eines sprachbehinderten Kindes etwa ist Integrationsfähigkeit nur dann gegeben, wenn auch die aufnehmende Schule die passende Förderressource, also sprachheilpädagogische Förderung anbieten kann.

Die zentrale Aufgabe des Aufnahmeverfahrens integrativer Schulen besteht nun darin, diese Balance zwischen den Förderbedarfen der Kinder und den Förderressourcen der Schule zu prüfen und herzustellen. Denn Integrationsfähigkeit ist ja keineswegs von vorneherein, quasi natürlich gegeben, sondern eine praktische Aufgabe, die Jahr für Jahr im Aufnahmeverfahren stets aufs neue bewältigt werden muß. Die Passung von Kind und Schule kann nicht schon im voraus bedacht werden, weil man vor der Anmeldung der Schulanfänger noch gar nicht wissen kann, welche Kinder mit Behinderungen auf die Schule zukommen werden. In Aufnahmeverfahren nichtaussondernder Schulen geht es also darum, die unterschiedlichen Förderbedarfe der angemeldeten behinderten Kinder zu ermitteln; zugleich muß nachgefragt werden, ob denn die Schule auch die notwendigen Förderressourcen bereitstellen kann.

Die Passung von Förderbedarfen und Förderressourcen kann man in einer einfachen Gleichung ausdrücken:

Integrationsfähigkeit = Förderressourcen - Förderbedarf.

Sind beide Anteile ausgewogen, so ist Integrationsfähigkeit gegeben. Haben wir mehr Förderangebote zur Verfügung als nötig, so könnte man von Verschwendung sprechen. Wenn aber der Förderbedarf größer ist als die Förderressourcen, wenn das Resultat der Gleichung ein Minus hat, dann müssen wir von einer Integration abraten.

Die zentrale Aufgabe des Aufnahmeverfahrens ist es also, eine befriedigende Passung zwischen den Förderbedarfen der Kinder einer Lerngruppe und den verfügbaren Förderressourcen der Schule herzustellen. Auf ein derartiges Aufnahmeverfahren können auch nichtaussondernde Schulen nicht verzichten. Auch integrative Schulen müssen sich vergewissern, welche Kinder auf sie zukommen und was für diese Kinder bereitstehen muß, damit sie ihren Möglichkkeiten entsprechend gefördert werden können.

Vor diesem Hintergrund sind nun die einzelnen Kriterien zu benennen, die für die Herstellung einer solchen Balance zwischen Förderbedarfen und Förderessourcen Geltung beanspruchen können. Die folgenden Kriterien sind nicht nach Wichtigkeit geordnet, sondern in loser Reihenfolge aufgezählt.

1. Kriterium: Freiwilligkeit

Alle Integrationsklassen und -schulen in der Bundesrepublik sind im schulgesetzlichen Sinne Schulversuche. Ihre Einrichtung ist nicht durch eine allgemeine gesetzliche Regelung des öffentlichen Schulwesens, sondern durch eine Ausnahmeregelung ermöglicht worden. Aus schulrechtlichen Gründen ist daher die Freiwilligkeit der beteiligten Eltern ein grundlegendes Kriterium für die Aufnahme aller Kinder mit und ohne Behinderungen. Kein Kind, ob behindert oder nichtbehindert, darf gegen den Willen der Eltern in eine Integrationsklasse aufgenommen werden. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist keineswegs unumstritten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollte dem Prinzip der Freiwilligkeit jedoch eine hohe Bedeutung zuerkannt werden, weil es der Integrationsreform eine höhere Akzeptanz sichert als eine gesetzlich verfügte Reformmaßnahme.

2. Kriterium: Regionalität

Das Prinzip der Regionalität ergibt sich aus dem Nachbarschaftsgedanken integrativer Schulen. Alle Kinder eines Schuleinzugsgebietes sollen ihre Schule "um die Ecke" besuchen können. Das Regionalitätsprinzip ist besonders von GEORG FEUSER betont worden. Nach meinem Dafürhalten ist Regionalität zwar ein wünschenswertes Kriterium, nicht aber ein unbedingt notwendiges. Die Blindenstudienanstalt in Marburg, die von Studierenden aus der ganzen Bundesrepublik besucht wird, ist ein Beispiel dafür, daß Regionalität in verschiedenen Lebensaltern ein unterschiedliches Gewicht hat. Im Elementarbereich ist Regionalität unverzichtbar, im Primarbereich in hohem Maße wünschenswert, in der Sekundarstufe jedoch verliert dieses Kriterium an Bedeutung.

Die relative Gültigkeit des Regionalitätsprinzips mag an einem weiteren Beispiel deutlich werden. Das Werner-Otto-Institut in Hamburg ist eine integrierte vorschulische Einrichtung. Das Werner-Otto-Institut liegt aber nicht im Schuleinzugsgebiet der nächsten integrativen Grundschule. Würde man nun das Regionalitätsprinzip strikt beachten, dann könnte die im Vorschulbereich begonnene integrative Erziehung nicht in der Grundschule fortgesetzt werden. Das Anliegen integrativer Erziehung, gewachsene soziale Alltagsbeziehungen von Kindern nicht zu zerreißen, ist wichtiger als eine pedantische Beachtung zufälliger Grenzen von Schulbezirken. Das Regionalitätsprinzip meint also in seinem Kern nicht das ökologische Wohnumfeld von Kindern, sondern ihr alltägliches soziales Beziehungsumfeld. Wo immer Freundschaften zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern bestehen, sollte es auch eine Gelegenheit zu einem gemeinsamen Schulbesuch geben.

3. Kriterium: Integrationsbedarf

Es gibt nur wenige Integrationsklassen und -schulen, gemessen an der Nachfrage allemal zu wenig. In Integrationsklassen können darüberhinaus nur wenige behinderte Kinder aufgenommen werden. Die Plätze sind also rar und knapp. Zudem sind diese Plätze ohne Frage kostspieliger als die üblichen Schulplätze für Grundschulkinder. Daher muß wohl zur Recht gefordert werden, daß eine ausdrückliche Begründung vorgelegt wird, warum in einer integrativen Grundschulklasse mehrere Pädagogen unterrichten und diese Klasse weniger Schüler hat als gemeinhin üblich. Die Legitimation für die erhöhten Ressourcen von Integrationsklassen ist der besondere Förderbedarf der Schüler mit Behinderungen. Dieser besondere Förderbedarf muß im Aufnahmeverfahren transparent gemacht werden. Die Zuweisung von erhöhten Förderessourcen setzt die Diagnose von Kindern mit Behinderungen voraus.

Dem Kriterium Integrationsbedarf kommt noch eine weitere inhaltliche Bedeutung zu. Integrative Schulen machen regelhaft die Erfahrung, daß mehr Eltern behinderter Kinder um Aufnahme in eine Integrationsklasse nachsuchen als Plätze vorhanden sind. Es können bei weitem nicht alle Schüler mit Behinderungen aufgenommen werden, die angemeldet werden. Eine Entscheidungshilfe in dieser unerfreulichen Situation kann die Perspektive sein, ob ein behindertes Kind langfristig von Aussonderung bedroht ist oder ob es möglicherweise nach einer zeitlich befristeten Förderung in einer Sonderschule wieder reintegriert und dann die allgemeinen Schulen besuchen kann. Letzteres gilt etwa für sprachbehinderte Kinder. Die Sonderschule für Sprachbehinderte ist ihrem Selbstverständnis nach eine Durchgangsschule, die ihre Schüler nach einer zeitlich begrenzten Förderung in einer Sondereinrichtung wiederum der allgemeinen Schule zuweist. Schüler mit Sprachbehinderungen sind also nicht von einer lang andauernden Aussonderung bedroht. Folglich ist der Integrationsbedarf sprachbehinderter Schüler nicht von jener Dringlichkeit wie etwa der Integrationsbedarf geistigbehinderter Schüler, die unter den gegenwärtigen Umständen mit Sicherheit niemals eine allgemeine Schule besuchen können, wenn es nicht Integrationsklassen gäbe. Auch für jene behinderten Kinder, die in der allgemeinen Schule verbleiben können, wenn eine zusätzliche sonderpädagogische Förderung innerhalb der Schule oder am Nachmittag angeboten werden kann und hinreichend erscheint, sollte nicht bevorzugt ein Integrationsplatz angeboten werden. Der langfristige Integrationsbedarf behinderter Schüler kann also ein Hilfskriterium bei der Entscheidungsfindung über die auszuwählenden Schüler sein.

4. Kriterium: Förderkompetenzen

Bei der Aufnahme behinderter Kinder in der Regelschule ist weiterhin das vorhandene Angebot besonderer Förderkompetenzen, also die Verfügbarkeit professioneller Fördermöglichkeiten zu prüfen. Wir können in integrative Klassen keine behinderten Kinder aufnehmen, ohne uns gleichzeitig darum zu sorgen, ob für die besonderen Förderbedarfe dieser Kinder auch qualifizierte Pädagogen mit den entsprechenden Förderkompetenzen zur Verfügung gestellt werden können. Im Aufnahmeverfahren sind bei der Diagnose von Behinderungen zugleich die erforderlichen Förderangebote als jene Voraussetzungen zu beschreiben, unter denen dieses Kind integrationsfähig ist. Wenn im Aufnahmeverfahren etwa Sprachtherapie als besonderer Förderbedarf eines Schülers festgestellt worden ist, dann muß zugleich gefragt werden, ob diese Sprachtherapie im Rahmen der Schule angeboten werden kann oder gegebenenfalls auch außerschulisch gewährleistet werden kann.

5. Kriterium: Ökologische und materielle Förderressourcen

Neben den personellen Förderressourcen, von denen eben die Rede war, sind auch die räumlichen und materiellen Förderressourcen zu bedenken. Mit ökologischen Ressourcen ist schlicht gemeint, daß ein Schulhaus unter baulichen Gesichtspunkten für die Aufnahme behinderter Kinder geeignet sein muß. So müssen etwa bei Rollstuhlkindern rollstuhlgerechte Toiletten vorhanden sein. Wenn ein schwerstbehindertes "Liegekind" regelmäßig gewickelt werden muß, dann sollte das nicht einfach im üblichen Klassenraum geschehen; für die tägliche Körperpflege wäre ein eigener Gruppenraum erforderlich. Die behindertengerechte Einrichtung von Schulen kann unter Umständen viel Geld kosten, so daß die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel aufkommt. Wenn die erforderlichen ökologischen Ressourcen nicht verfügbar sind, ist auch die postulierte Balance zwischen Förderbedarfen und Förderressourcen nicht gegeben.

Ähnliches gilt für die mediale Ausstattung integrativer Schulen. Alle Lehr- und Lernmedien, die üblicherweise für die sonderpädagogische Förderung eines behinderten Kindes benötigt werden, müssen grundsätzlich auch in der Integrationsklasse, in die das Kind aufgenommen wird, verfügbar sein.

6. Kriterium: Soziale Förderressourcen

Das sechste Kriterium ist nicht einfach zu definieren und wird hier mit dem Arbeitsbegriff "soziale Förderressourcen" bezeichnet. Mit sozialen Förderressourcen ist die Zusammensetzung einer integrativen Lerngruppe gemeint. Es kann nicht einfach dem Zufall überlassen bleiben und es ist auch keineswegs beliebig, wieviele und welche behinderten und nichtbehinderten Kinder zusammen eine Lerngruppe bilden. Es ist möglicherweise auch nicht gleichgültig, welche Behinderungsarten in einer integrativen Lerngruppe zusammen sind. Das Prinzip der Regionalität überläßt diese sozialen Bedingungen weitgehend dem Zufall. Jene Kinder, die im Umkreis der Schule wohnen, finden sich auch zu einer Klassengemeinschaft zusammen. Vermutlich sind jedoch unter dem Gesichtspunkt einer vorteilhaften Gruppenbildung gewisse Korrekturen des Regionalitätsprinzips vonnöten.

Wie sieht eine optimal zusammengesetzte integrative Lerngruppe aus? Welche Behinderungsarten passen gut zusammen? Sollen bewußt Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen in einer Lerngruppe zusammengefaßt werden oder ist eher die Beschränkung auf eine bestimmte Behinderungsart empfehlenswert?

Die vorliegenden Erfahrungen reichen noch nicht aus, um auf die gestellten Fragen begründete oder gar wissenschaftlich abgesicherte Antworten geben zu können. Meine eigene vorläufige Position läßt sich etwa so beschreiben: Eine Integrationsgruppe ist im Idealfall ein getreues Abbild der sozialen Umgebung einer Schule. Sie besteht aus einer gut gemischten, vielfältigen Gruppe von Kindern mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Das bedeutet im einzelnen:

  • Die Gruppe der nichtbehinderten Kinder ist repräsentativ für den Einzugsbereich einer Schule. Sie weicht in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht wesentlich anderen Klassen der Schule ab. Insbesondere ist eine unverhältnismäßige Häufung von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen zu vermeiden.

  • Die behinderten Kinder in einer Integrationsklasse sollen unterschiedlich und verschiedenartig behindert sein. Eine unverhältnismäßige Häufung gleicher Behinderungsarten und -grade ist zu vermeiden.

Die günstigste Gruppierung scheint eine vielfältige Lerngruppe zu sein. Eine vielfältige und gemischte Lerngruppe, in den Worten von MARTIN BUBER, "wahllos durcheinander gewürfelt". Der vielfältigen, heterogenen Lerngruppe kommt ein höheres Anregungspotential zu als homogenen Schülergruppierungen. In der Bibel heißt es: "Wie kann ein Blinder einen Blinden führen?" Ein Körperbehinderter kann einen Blinden führen. Bei unterschiedlichen Behinderungsarten, Fähigkeiten und Begabungen ist eine wechseitige Lernanregung und Ergänzung eher möglich. Integrationsklassen sind gewollte und bejahte Heterogenität.

Der Grundsatz der Vielfältigkeit bedarf indes einer korrigierenden Einschränkung. Das Anregungspotential vielfältiger Lerngruppen hat gewiß auch Grenzen. Im Verlauf der Grundschulzeit geht die "Leistungsschere" immer weiter auseinander. Mit der wachsenden Verschiedenheit sind auch Probleme verbunden. Das Erleben des Andersseins wirft für die behinderten Kinder Probleme im Selbstwerterleben und in der Lernmotivation auf. In einer integrativen Lerngruppe sollten die Kinder daher nicht nur verschieden sein, es muß auch ein hinreichendes Maß an Ähnlichkeiten zwischen den Kindern geben. Jedes Kind sollte in seiner psychischen Nachbarschaft ein Kind finden, das ein bißchen so ist wie es selbst. Es sollten auch gleich betroffene oder ähnlich behinderte Kinder in einer Klasse oder wenigstens an der gleichen Schule sein. Gleichbetroffenheit ist vermutlich besonders für hör- und sehbehinderte Kinder wichtig. Hör- und sehbehinderte Kinder brauchen für ihre Identitätsfindung andere Kinder, die etwa so sind wie sie selbst. Für Kinder mit Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen scheint hingegen die Anwesenheit gleichbetroffener Mitschüler nicht erforderlich und nicht förderlich zu sein. Im allgemeinen jedoch gilt: Wenn ein behindertes Kind kein anderes Kind in seiner psychischen Entwicklungsnachbarschaft findet, funktioniert vermutlich das grundlegende Lernprinzip integrativer Gruppen nicht mehr, das Modellernen. Wenn ein Kind erlebt, daß alle anderen Mitschüler ihm haushoch überlegen sind, und wesentlich anders sind als es selbst, dann fühlt es keine inneren Antriebe mehr, seinen Vorbildern nachzueifern und sie nachzuahmen. Von den gänzlich anderen Kindern geht dann kein Lernansporn, kein Entwicklungsanreiz mehr aus. Für ein geistigbehindertes Kind ist es wahrscheinlich wenig sinnvoll, wenn zwischen seinem Entwicklungsniveau und dem Entwicklungsstand der Mitschüler keine weiteren Abstufungen vorhanden sind, wenn es keinerlei Brücken mehr gibt. Für viele behinderte Kinder ist es deshalb eher entwicklungsförderlich, wenn in der gleichen Lerngruppe noch andere Kinder da sind, die ähnlich Lernstrukturen und Lebensprobleme haben wie sie selbst.

Quelle:

Hans Wocken: Kriterien der Aufnahme behinderter Schüler

Erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 87-99

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Stand: 12.05.2006

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