Minispectacula - Elementares Musiktheater in der integrativen Arbeit mit Familien

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 50, Dezember 1992. Herausgegeben von: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst "Mozarteum" in Salzburg, "Orff-Institut" und Orff-Schulwerk Forum Salzburg; Frohnburgweg 55, A-5020 Salzburg. Schriftleitung: Rudolf Nykrin und Hermann Regner
Copyright: © Manuela Widmer, Michel Widmer 1992

Minispectacula - Elementares Musiktheater in der integrativen Arbeit mit Familien

Seit 1988 veranstaltet die Volkshochschule München einmal jährlich einen einwöchigen Workshop zum Thema Elementares Musiktheater, der im Haus Buchenried am Starnberger See stattfindet. Im ersten Jahr wurde dieser Kurs von Wilhelm Keller und seinen beiden Töchtern Judith Keller und Manuela Widmer im Rahmen der ersten Münchner Biennale für »Neues Musik Theater« geleitet. Seit 1989 leitet das Team Judith Keller, Manuela und Michel Widmer die Veranstaltungen, die für Einzelpersonen und Familien, für Behinderte und Nichtbehinderte ausgeschrieben werden.

Bereits 1975 legte Keller sein leider bisher viel zu wenig beachtetes Konzept seiner Minispectacula vor, die er zu deutsch »Kleinstschauhörspiele« nennt[1].

Elementares Musiktheater ist eine Spielform, die aus dem Reichtum aller Ausdrucksformen schöpft; MUWOTA-Spiele können wir sie auch nach Wilhelm Keller nennen, der damit sprachspielerisch deutlich macht, daß es sich um eine Spielform handelt, in der Musik, Wort und Tanz gleichberechtigt im szenischen Spiel zusammenwirken sollen.

Die Darstellung des Gestaltungsmaterials, das Wilhelm Keller in seinem Buch sehr ausführlich beschreibt, soll hier in gekürzter Form, mit Beispielen aus unserer praktischen Arbeit für die VHS München veranschaulicht werden und den Lesern einen Anreiz geben, sich vielleicht auch in seinem Arbeitsfeld intensiver mit den Möglichkeiten des Elementaren Musiktheaters zu befassen[2].

Das Elementare Musiktheater kann als eine musikdidaktische wie auch pädagogische Innovation für die Arbeit mit Musik, Tanz und Spiel in der integrativen Arbeit mit Familiengruppen angesehen werden. Die folgenden Grundprinzipien einer solchen Arbeit mögen das verdeutlichen:

  • Gemeinsame Aktivitäten (z. B. ein Lied zur Einleitung, das instrumentale gemeinsame Zwischenspiel, der Tanz zum Abschluß) wechseln ab mit Aufgaben für Kleingruppen und für Einzelne (behinderte und nichtbehinderte Erwachsene und Kinder).

  • eine Ausgewogenheit zwischen Singen und Sprechen, dem Spiel auf Instrumenten und der Darstellung durch Bewegung und Tanz wird angestrebt und schafft so die Basis für viele verschiedene Rollen und Aufgaben. So werden Spielsituationen angeboten, in denen Entfaltungs- und Begegnungsräume entstehen, die die Mitgestaltung und Mitplanung durch die Teilnehmer geradezu herausfordern.

  • Die Spielsituationen ermöglichen Tätigkeiten und Aufgaben für alle beteiligten Personen, für schon mit den Medien erfahrene ebenso, wie auch für bisher unerfahrene Personen; für kleine, große, begabte und weniger begabte Menschen mit und ohne Behinderung.

  • Die geeignete Rolle und Aufgabe für jeden Teilnehmer kann sich durch das Spiel und den Austausch darüber - auch schon mit den Allerkleinsten - allmählich entwickeln. Dies bedeutet für den Anleiter aber, daß nicht ein fertiges Stück mit ausnotierten Liedern, Texten und Instrumentalstücken vorliegt, sondern daß ein geeigneter Stoff mit entsprechenden pädagogischen Hilfen gemeinsam gestaltet wird. Dies waren in der hier beschriebenen Art Bilderbuchgeschichten, die den beteiligten Personen schon durch die Ausschreibung bekannt gemacht wurden.

  • Die einzelnen Elemente und Gestaltungen des gesamten Spieles werden in Kleingruppen unterschiedlichster Zusammensetzung, alters- oder themenspezifisch, entwickelt. Z. B. erarbeiten wir mit den kleineren Kindern einen Kampftanz der jungen Stiere oder eine Trommelmusik als instrumentale Ouvertüre mit den älteren. Diese Ergebnisse werden dann im Plenum vorgestellt, evtl. weiterentwickelt oder verändert in den Ablauf des gemeinsamen Spiels eingepaßt. Im Plenum werden auch Gestaltungen mit der ganzen Gruppe entwickelt.

  • Die Übernahme einer Rolle, einer Aufgabe bedeutet die Übernahme von Verantwortung für das gemeinsame Spiel. Der Anleiter kann sich so nach und nach immer mehr zurückziehen und sich im besten Fall für den Verlauf des Spiels sogar schrittweise überflüssig machen!

  • Alle Auftritte und Abgänge im Rahmen unseres Spiels erfolgen aus dem Kreis oder Halbkreis (wenn vor Publikum gespielt wird). Auch die gerade nicht Spielenden bleiben im Spiel immer sicht- und hörbar, sie sind so meist nur für überschaubare Zeiträume Wartende, bis sie wieder mitspielen.

An den MINISPECTACULA-Wochen nehmen jeweils ca. vierzig Personen teil. Dies sind zum Teil Elternpaare, wie auch alleinerziehende Mütter mit ihren behinderten und nichtbehinderten Kindern, so wie einzelne junge behinderte Erwachsene. Einer der Väter ist ein körperbehinderter Rollstuhlfahrer. Die Versorgung mit einer geschulten Person für die alltäglichen Hilfestellungen für die körperlich Schwerstbehinderten und eine Kinder-Betreuung zur Entlastung der Erwachsenen zu bestimmten Tageszeiten wurde durch die VHS München bereitgestellt. Für viele Teilnehmer waren aktives Musizieren, das szenische und auch gemeinsame Spiel mit fremden Familien ungewohnt. Im Gegensatz zum sonstigen Familienalltag, der von der Sorge um die schulische und körperliche Entwicklung und das Erlernen von Normen und bestimmten Verhaltensweisen der Kinder geprägt ist, sind Eltern und Kinder in der Spielsituation immer wieder voneinander unabhängig und trotzdem zusammen gewesen. Dies kann die Eltern zum Teil von der Last der ständigen Verantwortung für das Tun ihrer Kinder befreien und ihnen einen neuen Blickwinkel für das Verhalten und die Entwicklung ihrer Kinder und ihrer eigenen Familienbeziehungen ermöglichen. Eltern und Kinder können ihre verschiedenen Möglichkeiten wechselseitig erleben:

  • die Erwachsenen die unbekümmerte und intuitive Spielfreude, Bewegungslust und Phantasietätigkeit der Kinder und

  • die Kinder die ausdauernde, ordnende und koordinierende Kraft der Erwachsenen

  • und sich somit gegenseitig positiv anregen. Hier nun die Darstellung des Gestaltungsmaterials mit Beispielen aus unserer Arbeit mit den Bilderbuchgeschichten Ferdinand der Stier, König Hupf I und Wo die wilden Kerle wohnen[3]:

  • Das singende Erzählen entspricht dem Rezitativ, das man aus der Oper oder aber auch aus der Kirche kennt. Das mag zunächst etwas befremden, aber rasch ist erklärt, warum wir diese Form der Sprachbehandlung im Elementaren Musiktheater antreffen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, daß es einem Laien der Schauspielkunst schwer fällt, ungekünstelt einen Text zu deklamieren. Meist schleicht sich ein unnatürlicher, leiernder Tonfall ein; der Atem stockt einem an den unmöglichsten Stellen bis hin zum regelrechten Stottern. Erwachsene wie Kinder haben mit dem freien Sprechen eingelernter Texte dieselben Schwierigkeiten. Wählt man nun aber das Singende Erzählen, so erhält man eine Sicherheit, die sich aus dem Material begründet: Auf einem Hauptrezitationston kann man bleiben, bis man in seinem Text auf ein Wort stößt, das von besonderer Wichtigkeit ist. Nun kann man mit verschiedenen Tönen dieses besondere Wort »verzieren« und kehrt dann wieder auf seinen Hauptrezitationston zurück:

»Es war einmal ein Kööönig, der lebte in einem groooßen Land«.

Durch Dehnung eines Wortes (siehe oben) und auch durch Koloraturen, wie sie z. B. die Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte so besonders kunstvoll verzierend in ihrer berühmten Rachearie sing, kann man sein singendes Erzählen gestalten. Singend kann man niemals leiern; singend fließt der Atem ungestörter; der gesungene Ton, der sich aus dem Rufen ableiten läßt, trägt weiter, der Spieler (Sänger) wird besser verstanden. Das singende Erzählen wird immer von Solisten durchgeführt; allenfalls kann die Gruppe im Chor wiederholen, was ein singender Solist vorerzählt hat. Das Rezitieren ist dort sinnvoll, wo der Text berichtenden Charakter hat. Sprechrhythmus und Sprechtempo bleiben bestimmend.

  • Lieder sind vertraute Formen des Singens. Es sind musikalisch geschlossene Formen, die einen zumeist gereimten Text und lyrischen Inhalt voraussetzen. Lieder können im Rahmen eines Spiels von der ganzen Gruppe gemeinsam gesungen werden. Es können bekannte Lieder im Rahmen einer Geschichte Verwendung finden, deren Text man gegebenenfalls nur etwas verändert oder man gibt die Melodie der ersten Liedzeile vor und läßt den zweiten Teil der Melodie und den Text neu erfinden. Es können auch völlig neue Lieder getextet und vertont werden. Wenn man allerdings Lied an Lied reiht, verläßt man unsere Spielform des Elementaren Musiktheaters in Richtung Singspiel. Die Ausgewogenheit aller Gestaltungselemente auch beim Einsatz der Stimme - soll unser Spiel prägen.

  • Sprechen - Die Einschaltung reiner Sprechstellen ist sehr sorgfältig zu planen, um die oben erwähnte Überforderung beim freien Sprechen zu vermeiden. Dennoch sind verschiedene Arten der rhythmisch gebundenen wie auch der rhythmisch freien Sprachgestaltung denkbar. Rhythmisierte Texte lassen sich im Chor sehr ausdrucksstark und dynamisch sprechen:

Wilhelm Keller schlägt folgenden Text vor (Keller 1975, S. 48), den die »Manager aus Madrid« begeistert ausrufen können, wenn sie meinen, endlich den richtigen Stier für ihren Stierkampf in Madrid gefunden zu haben:

Das ist der schnellste Stier,

Das ist der stärkste Stier:

Ferdinand der Fürchterliche,

Den nehmen wir!

An anderer Stelle raunen sich die Zuschauer in des Arena ehrfürchtig zu, was für ein Stier da nun bald zu erwarten sei: »Ferdinand der Schreckliche!« Dieser Ausruf verbreitet sich nicht rhythmisch, alle sprechen in der Aufregung durcheinander - aber eine Form soll das Spiel ja dennoch haben. Also gilt die Verabredung, daß alle Beteiligten den Ausruf genau dreimal verkünden dürfen - danach hören sie nur noch zu. So endet die aufgeregte Raunerei ganz von selbst.

  • Tanz- und Bewegungsgestaltung - Im Elementaren Musiktheater bewegt sich jeder Spieler tänzerisch und gestaltet seine Gebärden als rhythmische Charakterisierung (auch »Stilisierung« genannt) typischer Bewegungselemente. Man stelle sich einen König vor, der vor einer wichtigen Entscheidung steht. Die schwere Verantwortung läßt seine Schritte schleppend langsam und zögernd werden (dabei kann ein Musiker die Schritte durch passende dumpfe Trommelschläge noch unterstützen); aber nach jeweils vier Schritten bleibt er stehen und macht eine Geste des Nachdenkens (den jüngeren, wie auch den älteren Teilnehmern wird dazu eine Menge einfallen, wenn man sie ausprobieren läßt). Diese Folge wird wiederholt, dadurch entsteht wiederum eine Form und die verlangte Stilisierung der Situation.

  • Musikalische Gestaltung - Das musikalische Element kommt am stärksten in Einleitungen, Ausleitungen, Zwischenspielen und in der Charakterisierung wortloser Szenen zur Geltung - sowie bei allen Formen der Bewegungsbegleitung (siehe oben). Das Orff-Instrumentarium wie auch selbstgebaute Instrumente und klingende Materialien können im Spiel Verwendung finden. Bei der Ausgestaltung des bekannten Bilderbuches von Maurice Sendak »Wo die wilden Kerle wohnen« haben wir ausschließlich selbstgebaute »wilde« Instrumente für die Musik verwendet.

  • Masken, Kostüme und Bühnenbild - sind Elemente, die natürlich nicht fehlen dürfen. Allerdings kann man sich in unserer Spielform mit Andeutungen bescheiden, da das Hauptaugenmerk zunächst auf der Ausschöpfung aller möglichen musikalischen, sprachlichen und tänzerischen Ausdrucksformen liegt. Dann aber sind der Phantasie und den handwerklichen Talenten keine Grenzen gesetzt.

Es wäre wünschenswert, solch eine familienunterstützende und integrative Arbeit, in der ein lustvoller, sinnlicher und anregungsreicher familiärer Lebenszusammenhang gefördert wird, nicht nur als kurzzeitpädagogische Maßnahme durchzuführen. Sie sollte langfristig in einen nachbarschaftsbezogenen Rahmen wie z. B. der Stadtteil- und Gemeinwesensarbeit gestellt werden. Dann könnte Kindern und Erwachsenen mehr Gelegenheit zur Entwicklung von gemeinsamen Lebens- und Lernprozessen an die Hand gegeben werden. Dies wäre auch ein Beitrag zur Abschaffung künstlich geschaffener Ghettos für Kinder, Erwachsene und Behinderte aller Altersstufen in unserer Gesellschaft.

Quelle:

Manuela und Michel Widmer: Minispectacula - Elementares Musiktheater in der integrativen Arbeit mit Familien

erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 50, Dezember 1992. Herausgegeben von: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst "Mozarteum" in Salzburg, "Orff-Institut" und Orff-Schulwerk Forum Salzburg; Frohnburgweg 55, A-5020 Salzburg. Schriftleitung: Rudolf Nykrin und Hermann Regner

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.08.2006



[1] Keller, Wilhelm: Ludi musici 4 - minispectacula. Salzbutg/Boppard (Fidula) 1975

[2] Beachten Sie bitte auch das Fortbildungsangebot der Deutschen Orff-Schulwerk-Gesellschaft zum MINISPECTACULA

[3] Leaf, Munro: Ferdinand. Zürich (Diogenes)

Heine, Helme: König Hupf der I, München/Salzburg (Neugebauer)

Sendak, Maurice: Wo die wilden Kerle wohnen. Zürich (Diogenes)

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