Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben, Kultur
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: In: Boehlke, E. (Hrsg.): Integrationsgespräche Bd. 5: »Individuelle Biografieforschung als Entwicklungschance für Menschen mit Intelligenzminderung«, Edition G.I.B. (2008)
Copyright: © Gerhard Westermann, Tobias Buchner 2008

Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann

Dieser Artikel ist über die Erarbeitung der Lebensgeschichte von Gerhard Westermann. Er ist in drei Bereiche unterteilt. Zuerst berichten Gerhard Westermann und Tobias Buchner über die Hintergründe und die Entstehung des Projekts, während dem die Lebensgeschichte erarbeitet wurde. Der zweite Abschnitt enthält eine gekürzte Fassung von Gerhard Westermanns Lebensgeschichte. Einen Teil dieser Fassung hat Gerhard Westermann auch bei der Fachtagung in Berlin vorgetragen. Den dritten Teil hat Tobias Buchner in Absprache mit Gerhard Westermann geschrieben. Darin beschreibt er die theoretischen Ansätze des Projekts und Einzelheiten über den genauen Ablauf der Arbeit. Der erste Teil ist in einfacher Sprache geschrieben. Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann ist in 16 Zoll Schrift abgedruckt. In der Lebensgeschichte sind schwierige Wörter und typische Wiener Wörter in Fußnoten erklärt. Dadurch sollen auch Menschen mit Lernschwierigkeiten an den Ergebnissen des Projekts teilhaben können.

1. Das Projekt „ Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“ (Gerhard Westermann und Tobias Buchner)

Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann wurde während eines Projekts erarbeitet. Das Projekt begann im Jahr 2007 an der Universität Innsbruck. Das Projekt läuft immer noch. In dem Projekt geht es um Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie erarbeiten mit der Unterstützung von Tobias Buchner ihre Lebensgeschichte. In der Lebensgeschichte berichten Personen aus ihrer Sicht über ihr Leben. Von der Geburt, über die Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Und auch über ihr Leben jetzt. Dabei können die Personen sagen, was für sie im Leben besonders wichtig war und ist. Sie können von Ereignissen berichten, die sie erlebt haben. Alle Menschen, die an dem Projekt teilgenommen haben, haben eines gemeinsam: Sie haben eine lange Zeit ihres Lebens in Großeinrichtungen und Psychiatrien verbracht. Daher handelt ein großer Teil der Lebensgeschichten auch von ihren Erfahrungen in diesen Einrichtungen. Aber die Lebensgeschichten beinhalten noch mehr. Zum Beispiel auch die Zeit und das Leben nach der Psychiatrie oder den Großeinrichtungen. Das Leben draußen. Was sie für Erfahrungen in ihren neuen Wohnungen machen. Und in ihrer Nachbarschaft. Welche Herausforderungen das neue Leben mit sich bringt. Welche Arbeit sie haben. In den Lebensgeschichten kommen also Menschen mit Lernschwierigkeiten zu sehr vielen Themen zur Sprache. Das war auch ein Grund dafür, warum das Projekt gestartet wurde: Ich dachte, dass es sehr wichtig ist, das Menschen mit Lernschwierigkeiten ihre Erlebnisse selbst schildern. Das ihr Leben in den Großeinrichtungen und Psychiatrien und die Zeit danach unter ihrem Blickwinkel betrachtet wird. Bisher war es nicht so. In den meisten Fällen wurden für Forschungen zu dieser Thematik BetreuerInnen und ÄrztInnen befragt. Dem Blickwinkel von Menschen mit Lernschwierigkeiten wurde wenig Beachtung geschenkt. Gerhard Westermann hat viele Jahre seines Lebens in einer Psychiatrie in Wien gelebt. Er war der erste Teilnehmer des Projekts. Gerhard Westermann und Tobias Buchner haben sich mehrmals getroffen, um die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann zu erarbeiten. Gerhard Westermann hat dabei bestimmt, welche Erfahrungen von ihm aufgeschrieben werden sollen und welche nicht. Er hat so mit der Unterstützung von Tobias Buchner seine Lebensgeschichte selbst erstellt.

2. Meine Lebensgeschichte (Gerhard Westermann)

Kindheit

Ich wurde im 1973 in Wien geboren und bin bei meinen Eltern aufgewachsen. An meine ersten Lebensjahre erinnere ich mich nur sehr verschwommen. Meine Eltern haben sich häufig heftig gestritten und ich habe meistens daneben gestanden und nicht gewusst, was ich tun soll. Meine erste klare Erinnerung aus meiner Kindheit stellt ein für mich schwieriges Ereignis dar. Ich war etwa fünf bis sechs Jahre alt, also noch ein kleines Kind. Ich habe in unserer Wohnung gespielt. Ich bin in der Wohnung rumgeklettert, war neugierig und wollte aus dem Fenster raus schauen. Das Fenster war offen. Plötzlich habe ich das Gleichgewicht verloren und konnte mich auch nicht mehr festhalten. Ich bin aus dem Fenster geflogen. Ich stürzte einige Stockwerke tief und fiel auf ein Auto, das vor dem Haus geparkt war. Später erfuhr ich, dass der Aufprall einen ziemlichen Lärm gemacht hatte, Leute hatten es gehört, mich gesehen und dann die Rettung[1] und die Polizei gerufen. Ich hab von all dem nichts mitbekommen, weil ich ohnmächtig war. Mehrere Stunden lang war ich ohnmächtig. Ein Krankenwagen brachte mich ins alte AKH[2], dort haben sie mich dann operiert. Stundenlang operiert. Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Ich wusste nicht mal mehr, dass ich Gerhard Westermann heiße. Alle haben mich angeredet: „Wie heißen Sie?“ Aber ich konnte mich nicht erinnern. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe in dem Moment so viel Angst bekommen, das ich angefangen habe zu zittern. Es folgten dann noch weitere Operationen, etliche Male haben sie mich operiert. Die Operationen hat noch der Professor Rett gemacht, so weit ich mich erinnern kann. Ich hatte etliche Blutergüsse im Kopf, den ganzen Kopf voller Blutergüsse! Sie haben mir eine Platte auf der linken Seite meines Schädels reingesetzt, die spüre ich jetzt noch. Wenn mir jemand da drauf fasst, schmerzt es immer noch ziemlich. Nach der Zeit im Krankenhaus musste ich eine zeitlang einen Sturzhelm tragen. Einen Plastikhelm hab ich tragen müssen. Das waren harte Zeiten. Das ich den Fenstersturz überlebt habe, habe ich meinem Glücksengel zu verdanken. Ich habe einen Glücksengel gehabt. Ich bin aus dem zweiten oder dritten Stock gefallen, es war sehr hoch. Normaler Weise kann man so einen Sturz nicht überleben. Da kann ich mich wohl beim Herrgott bedanken. Ich konnte nicht mehr zu Hause wohnen bleiben. Ich bin auf den Rosenhügel[3] gekommen.

Auf dem Rosenhügel

Auf dem Rosenhügel habe ich mit anderen Kindern in einem Kinderpavillon gelebt. Auf dem Gelände der Anstalt war auch eine Schule, die ich besucht habe. Dort haben wir rechnen und schreiben gelernt. Ich hab die Schwestern nicht mit Schwester angeredet, weil mir das nicht getaugt hat. Stattdessen habe ich „Tante“ gesagt. Die Schwestern haben mich „Schlumpfi“ genannt. Mit den anderen Kindern gab´s manchmal auch Streit. Nach der Schule haben sie mich gehänselt, mich provoziert und gesagt: „Gerhard ist das Mutterkind“. Die Schule konnte aber von der MA 12[4] nicht mehr bezahlt werden und so wurde ich übersiedelt. Ich kam in die Psychiatrie, auf die „Baumgartner Höhe“.

Psychiatrisches Krankenhaus „Baumgartner Höhe“, Pavillon 15

Meine ersten Jahre auf der Baumgartner Höhe musste ich im Pavillon 15 leben. Der 15er Pavillon war die extremste Horrorgeschichte. Ich wurde nieder gespritzt und ruhig gestellt. Das war überhaupt das Ziel der Betreuer dort: Mich ruhig stellen. Die haben mir so viele Spritzen gegeben, dass ich mich nicht mehr erlebt habe. Sie haben mir immer mehr Medikamente gegeben. Ich kann mich an die Namen der Medikamente noch genau erinnern: Psychopax. Die gab´s als Tabletten und auch in Form von Tropfen. Und Truxal, die 50 mg Tabletten. Ich habe nur starke Medikamente bekommen. Und nicht nur einmal, sondern die ganze Zeit über, regelmäßig musste ich die Medikamente nehmen. Manchmal wurde ich auch in die Zwangsjacke gesteckt und ins Gitterbett geschmissen. Davon habe ich blaue Flecken bekommen. In der Zwangsjacke stecken war furchtbar: Ich hab mich nicht bewegen können. Es war ein Gefühl, als ob ich ersticken würde. Ich habe kaum noch Luft bekommen. Das war das Schlimmste, was ich auf dieser Welt erlebt habe. Teilweise habe ich mich so schwach gefühlt. Ich konnte nichts gegen die ganzen Sachen machen, ich konnte mich nicht wehren. Und nicht nur mir ging´s so. Die haben uns alle nieder gespritzt. In die Zwangsjacke gesteckt und nieder gespritzt. Betreut wurden wir von Krankenschwestern. Die Schwestern waren streng und sehr unfreundlich. Wir durften nie zur Mädchengruppe gehen: Die Schwestern haben es uns verboten und gesagt, dass wir auf der Männergruppe bleiben müssen. Beim Baden haben sie uns manchmal an den Haaren aus der Badewanne gerissen, weil wir schnell fertig werden sollten. Viel zu tun gab es oben nicht. Wir haben fern geschaut und manchmal auch Spiele gespielt. Ich bin aber manchmal auch ausgebüchst. Einige Male bin ich über den Zaun des Psychiatriegeländes geklettert und zu meiner Großmutter gefahren. Die Polizei hat mich dann immer gesucht und auch wieder eingefangen. Die Polizisten wollten immer, dass ich zurück ins Heim geh. Aber ich gehör doch nicht ins Heim rein! Die Jahre im 15er Pavillon waren keine gute Zeit. Die Zeit in der Psychiatrie bleibt mir auch heute noch im Kopf. Ich denke noch oft daran.

Der Pavillon 17

Irgendwann hab ich in einen neuen Pavillon, den 17er Pavillon übersiedeln müssen. Dort hat es etliche Zimmer gegeben und wir wurden in verschiedene Wohngruppen eingeteilt. Die Betreuer hatten alles bunt angemalt. Die Zimmer waren jetzt nicht mehr so wie im Pavillon 15. Die bunte Farbe hat mir aber nicht getaugt[5] .Es gab die Wohngruppen 10,11 und 12. Die Einteilung zu den Wohngruppen hing davon ab, ob jemand mehrfachbehindert war oder nicht. Ich hatte ein eigenes Zimmer in einer Wohngruppe im Erdgeschoss. Eines Tages bekam ich eine schlechte Nachricht: Mein Opa war gestorben. Ich war sehr verzweifelt und traurig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fasste den Plan, zu fliehen. Ich stahl die Gitterschlüssel für die Gitter vor meinem Fenster von einem Betreuer. In einer Nacht bin ich dann ausgebrochen. Ich habe einen Kasten[6] vor die Tür gestellt, dass niemand ins Zimmer konnte. Dann bin ich aus dem Fenster geklettert. Als ich das Psychiatriegelände verlassen hatte, suchte ich einen Platz zum schlafen. Ich fand ein Haus. Ich brach durch ein Kellerfenster in das Haus ein. In dem Raum gab es leider kein Licht, so musste ich im Dunkeln rumtapsen. Ich schlief schließlich auf dem Boden ein. Am nächsten Morgen wurde ich von einer Katze geweckt, die mir um die Beine schlich. Ich fühlte mich wie gerädert und beschloss, auf die Psychiatrie zurück zu kehren. Die Polizei hatte mich mittlerweile wieder gesucht. Aber sie hatte mich nicht gefunden. Alle vom Personal haben mich zur Sau gemacht und die ganze Zeit mit mir geschimpft. Sie gaben mir dann noch mehr Medikamente weil sie wollten, dass ich ruhiger werde. Damit ich nicht mehr ausbrechen konnte, haben sie die Gitterschlüssel besser verwahrt. Nachts haben sie mich in meinem Zimmer eingeschlossen. Ich hatte im 17er Pavillon drei Betreuer mit denen ich mich gut verstanden habe: Den Dengel-Gerhard, den Gattinger Markus und den Günther. Nach einiger Zeit wurde dann geplant, dass wir aus der Psychiatrie rauskommen. Da ging dann so ein blödes Gequatsche los: Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit dem Leiter des Pavillons. Ich wollte eine Gemeindebauwohnung, eine Wohnung für mich alleine. Der Leiter meinte aber, ich würde in eine Wohngemeinschaft gehören. Ich hab mich dann aber durchgesetzt und habe doch eine Wohnung in einem Gemeindebau von der Gemeinde Wien bekommen.

Das Leben nach der Psychiatrie: Die erste Wohnung

1993 bin ich dann endlich raus gekommen. Ich bin zu einem Verein gekommen, der Menschen mit Behinderung betreut. Das Büro des Vereins war im 16. Wiener Gemeindebezirk. Mein erster Betreuer war der Ferdinand, er hat mich auf Zack gebracht. Danach hatte ich eine Betreuerin, aus Vorarlberg. Die hat einen guten Charakter gehabt. Mit ihr habe ich mich gut verstanden, der Kontakt zu ihr war gut. Ich bekam also meine erste Gemeindebauwohnung. In ihr lebte ich und an sechs Tagen in der Woche besuchten mich Betreuer. Die Wohnung war im sechsten Bezirk. Insgesamt habe ich dort fast zehn Jahre gewohnt. Ich war sehr stolz, dass ich mich durchgesetzt hatte auf der Psychiatrie. Dass ich nicht in eine WG[7] gekommen war sondern endlich meine eigene Wohnung hatte. Ich freute mich wahnsinnig, in meine eigene Wohnung einzuziehen. Meine Betreuer nannten sie „Trainingswohnung“. Es gab aber zu Beginn auch gleich ein Ärger. Ein Bewohner meiner Stiege hatte sich bei anderen Nachbarn darüber beschwert, dass „ein Behinderter im Haus einzieht“. Das machte mich rasend und kränkte mich sehr. Was sollte das? Im gleichen Gemeindebau, auf der 1er Stiege wohnte doch schon eine Frau, die eine behinderte Tochter mit Namen Henriette hatte. Während der Zeit in meiner ersten Wohnung gab es in meinem Leben gute Zeiten und schlechte Zeiten. Gut war vor allem meine Bekanntschaft mit den Zeilingers. Die Zeilingers waren ein Ehepaar, dass in dem gleichen Gemeindebau wohnte wie ich: Annemarie und Peter Zeilinger. Mit Zeilingers verbrachte ich damals viel Zeit, ich habe sie oft besucht. Wir haben zusammen gegessen. Peter kochte und wir haben zusammen gegessen. Wir haben Ausflüge in den Lainzer Tiergarten gemacht. Und sind in Restaurants gegangen. Wir sind zusammen spazieren gegangen, haben Tauben gefüttert. Und ich lernte einen Freund kennen: Peter Rück. Er war ein guter Freund, er war ein leiwander[8] Kerl. Wir waren in Gasthäusern zusammen. Sein Zwillingsbruder Thomas war auch oft dabei. Auch er war ein guter Freund. Peter war auch ein Klient von GIN. Er ist immer noch mein Freund. Die schlechten Zeiten hängen mit den Jugendlichen aus dem Park und von der Straße zusammen. Ich habe lange Zeit versucht, mich mit den Jugendlichen aus der Nachbarschaft anzufreunden. Das hat aber leider nicht geklappt, im Gegenteil. Es fing schon nicht gut an: Eines Tages wollte ich in einen Park in meiner Nachbarschaft gehen und mit den anderen Jugendlichen Basketball spielen. Die haben mich aber nicht gelassen, sondern haben mich stattdessen beleidigt. „Du Behinderter, du Missgeburt!“. Ich habe versucht mit ihnen zu diskutieren. Ich habe gemeint, dass der Park für alle da sei und nicht nur für sie. Und dass sie aufhören sollten, mich zu beleidigen. Das hat aber nicht funktioniert, sie haben mich weiter beleidigt. Als ich dann alleine auf einen Korb spielen wollte, haben sie mir den Ball weggeschossen. Ich habe dann auch Angst bekommen. Und jedes Mal wenn ich Angst bekomme, fange ich an zu stottern. Ich war schließlich total entnervt und habe gerufen: „Okay, ich geb´s zu: Ich bin behindert! Aber ich kann ja auch nix dafür, dass ich behindert bin!“ Daraufhin haben die Jugendlichen im Park aber nicht aufgehört, sondern einfach weiter gemacht. Sie haben mich weiter als „Hurensohn“ und „Scheißgeburt“ bezeichnet. Irgendwann habe ich dann einen riesigen Zorn auf die Jugendlichen gehabt, ich wollte mich gegen diese Ungerechtigkeiten wehren. Aber ich hatte keine Chance, egal was ich gesagt habe. Ich habe dann die Polizei gerufen, ich wusste mir anders nicht zu helfen. Die Polizei kam dann ein paar Mal und hat mit den Jugendlichen versucht zu reden. Das hat aber nichts geändert an ihrem Verhalten. Ich habe aber nicht aufgegeben. Schließlich gab es noch Martin, er wohnte mit seiner Mutter zusammen und war damals etwa 15 Jahre alt. Mit ihm habe ich mich zunächst gut verstanden, aber nach einiger Zeit ging es mir einfach schlecht, und ich fing während Plaudereien mit ihm zu stottern. Er hat mich dann ausgelacht und nicht mehr Ernst genommen. Ich war sehr enttäuscht. Ich fühlte mich nach den ganzen Streitigkeiten und Konflikten mit den Jugendlichen aus der Nachbarschaft so schwach. So hilflos. Ich hatte schließlich immer wieder versucht, mich mit ihnen anzufreunden, aber sie haben mir nie richtig eine Chance gegeben. Und außerdem war es ja auch eine schwierige Zeit für mich. Ich hatte immer noch die schlimmen Erinnerungen in der Psychiatrie und musste mich erstmal in meiner neuen Umgebung zurecht finden. Es gab also eine Menge Stress zu dieser Zeit für mich. Ich habe überlegt wie ich mich besser wehren könnte, ob ich vielleicht noch öfter die Polizei rufen sollte. Oder ob ich einen Selbstverteidigungskurs machen sollte. Oder ob ich einfach alle Frechheiten und Beleidigungen überhören sollte, so tun sollte als wäre nichts passiert. Nach einiger Zeit hatte mich meine Situation nervlich ganz schön zermürbt. Irgendwann hat es mir gereicht. Ich hab mir mit meiner Betreuerin Regine Rauch eine neue Wohnung gesucht. Wir haben viel gesucht, viele Wohnungen angeschaut, aber keine hat mir gefallen. Endlich haben wir dann meine jetzige Wohnung gefunden. Ich habe sie mir angeschaut, der Mann vom Wiener Wohnen war auch sehr nett. Ich habe mir die Zimmer angeschaut, die waren in Ordnung und die Größe der Wohnung fand ich auch ausreichend: 28,2 Quadratmeter. Dann habe ich das Fenster aufgemacht und rausgeschaut. Draußen war alles grün! Das hat mir gleich gut gefallen, die vielen Bäume und Pflanzen vor dem Fenster. Die Ruhe. Kein Straßenlärm, keine aggressiven Schüler. Herrlich!

Die Wohnung im 16. Bezirk

Ich wohne jetzt schon seit fünf Jahren in der Wohnung im 16. Bezirk. In meiner neuen Umgebung fühle ich mich sehr wohl. Ich habe nette Leute um mich herum. Eine davon ist die Susi, sie ist eine Nachbarin von mir. Mit der kann ich über alle Probleme reden. Da geh ich einfach hoch zu ihr und wir können über alles plaudern. Die Gespräche helfen mir auch sehr, wenn es mir nicht so gut geht. Ich gehe dann hoch zu ihr und erzähle ihr von meinen Gedanken: Dass das Leben für mich manchmal sehr schwierig ist, dass ich mich manchmal vor Problemen einfach nicht mehr auskenne. Susi beruhigt mich dann, zeigt mir zum Beispiel, dass ich genügend Freunde habe, und so weiter. In der neuen Wohnung kann ich machen was ich will. Ich bin auch selbstständiger geworden. Ich kann kochen wann ich will, kann machen was ich will. Zumindest wenn ich alleine bin. Wenn die Betreuer da sind, muss ich schon Sachen machen, auf die ich eigentlich keine Lust habe. Zum Beispiel aufräumen, abwaschen, und so weiter. In meiner Freizeit gehe ich gerne joggen oder trainiere Karate. Seit einiger Zeit habe ich wieder begonnen, Schlagzeug zu spielen. Ich hatte schon früher Stunden gehabt, hatte aber wieder aufgehört. Das Schlagzeug spielen macht mir jetzt wieder sehr viel Spaß. Ich hatte auch schon einige Auftritte. Zum Beispiel beim Straßenfest meiner alten Werkstatt, der Schneiderei. Das war super. Nach meinem Auftritt habe ich einen ganzen Strauß Rosen bekommen. Und in diesem Jahr hatte ich auch einen Auftritt mit der „Beautiful-Kantine-Band“ beim 15-jährigen Jubiläum des Vereins GIN.

Meine Arbeit

Ich habe jetzt eine neue Arbeit, mit der ich sehr zufrieden bin. Ich bin in einer Werkstatt. Dort muss ich verschiedene Sachen abzählen und einsackerln[9]. Zum Beispiel Klemmschienen oder Büroordner. Die abgezählten und eingesackerlten Sachen schichten wir dann in einen Karton. Wenn der voll ist, wird er zugeklebt. Es wird ein Aufkleber mit der richtigen Adresse draufgepickt und er wird dann an eine Firma geschickt. Eigentlich wollte ich lange Zeit nicht arbeiten gehen. Es war nicht leicht mit dem Arbeiten. Aber die Betreuer haben gegen mich geredet. Ich hab´s dann irgendwann eingesehen, dass Arbeiten für mich wichtig ist: Ich bin unter Leuten. Und ich kann Geld verdienen, dass ich ausgeben kann. Ich verdiene 38€ im Monat, damit bin ich wirklich zufrieden. Ich habe in meinem Leben schon viele Arbeiten gehabt: Ich habe Teppiche gewebt in meiner ersten Werkstat im fünften Bezirk. Ich habe auch in einer Gärtnerei gearbeitet. Da haben wir Pflanzen und Gemüse eingesetzt und noch viele andere Sachen. Das hat mir aber auch nicht getaugt. Danach war ich in der Schneiderei, da hab ich gestickt. Ich habe aufgehört, weil mir die Augen so schmerzten. Ich habe mir dann ein paar andere Werkstätten angeschaut und „geschnuppert“. Schließlich fand ich meinen jetzigen Arbeitsplatz. Ich machte die Probezeit und wurde von meinem Chef genommen. Von der neuen Werkstatt, wo ich jetzt arbeite, bin ich sehr begeistert. Im Moment bin ich relativ froh, dass ich die schlechten Zeiten hinter mir hab und es keinen Wickel[10] mehr gibt. Es gibt keine Streitereien mehr, keine Schüler und Jugendlichen, die mich beleidigen.



[1] die Rettung rufen = einen Krankenwagen rufen

[2] AKH = Allgemeines Krankenhaus

[3] Der „Rosenhügel“ ist ein Krankenhaus in Wien

[4] MA 12 = Die Abteilung der Stadt Wien, die zu dieser Zeit Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen finanzierte/bezahlte.

[5] getaugt = gefallen

[6] Kasten = Schrank

[7] WG = Wohngemeinschaft

[8] leiwand = typisch Wiener Aisdruck, bedeutet so viel wie „super“

[9] einsackerln = eintüten

[10] Wickel = Streit

3. Theoretische Hintergründe, Entstehungszusammenhänge und Erarbeitung der Lebensgeschichte von Gerhard Westermann

In diesem Abschnitt wird zunächst eine kurze Skizzierung des Projekts „Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext der Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“ vorgenommen, gefolgt von Ausführungen zu der grundlegenden Forschungshaltung des Inclusive Research. Der anschließende Abschnitt dieses Artikels fokussiert auf eine prominente bzw. in inklusiven Forschungssettings häufig verwendete Methode, dem Life History Research nach Dorothy Atkinson (ATKINSON 1997). Dabei werden sowohl theoretische als auch praktische Aspekte besagter Methodik erörtert, zudem wird ihre Anwendung im Rahmen des oben benannten Forschungsprojektes dargestellt/vorgestellt.

Das Projekt „Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“ startete als Dissertationsprojekt an der Universität Innsbruck im Jahr 2007. Die Idee zu dem Projekt entstand während meiner beruflichen Laufbahn in der Wiener Behindertenhilfe. So lernte ich während meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter einer Wiener Trägerorganisation zum ersten Mal bewusst Menschen mit Lernschwierigkeiten kennen, welche Teile ihres Lebens in Großeinrichtungen und Psychiatrien verbracht hatten. Die meisten von ihnen waren in den 1990er Jahren im Zuge des Wiener Enthospitalisierungsprogramms ausgegliedert worden und lebten nun in eigenen Wohnungen oder Wohngemeinschaften. Während meiner Arbeit führte ich viele Gespräche mit verschiedenen Mitgliedern dieser Personengruppe. Ein immer wiederkehrender Inhalt dieser Konversationen stellten die von den Betroffenen gemachten Erfahrungen und Erlebnisse während ihrer Zeit in verschiedenen Wiener Großeinrichtungen und Psychiatrien dar. Die Zustände in diesen Anstalten waren nach den Aussagen meiner GesprächspartnerInnen -betroffene Augen-und Zeitzeugen -von Fremdbestimmung sowie struktureller als auch direkter physischer Gewalt geprägt. Nach jahrelanger Ausgrenzung und Verwahrung wurden die betroffenen Personen ausgegliedert: Eine einschneidende Zäsur in ihre Biographien und der Beginn von neuen Herausforderungen, die zu bewältigen waren bzw. sind. Durch die Gespräche entstand ein erstes Interesse zur Konzeption für ein Forschungsprojekt zur Thematik. Eine vertiefende Analyse der vorhanden wissenschaftlichen Literatur zur Deinstitutionalisierung in Österreich zeigte, dass der Blickwinkel der Betroffenen selbst zu diesem Prozess bisher kaum abgebildet wurde[11] (vgl. BUCHNER 2008).

Im Rahmen von empirischen Forschungsarbeiten wurde in den meisten Fällen lediglich das Betreuungspersonal (z.B. BERNHARD ET AL. 1991, NEUBAUER/THEUNISSEN 1999, BERGER ET AL. 2006) befragt. Einen weiteren populären Zugang zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik stellen die zahlreichen Erfahrungsberichte von ExpertInnen dar: In den Ausgliederungsprozess involvierte Professionelle berichteten und reflektierten die von ihnen begleiteten bzw. durchgeführten Deinstitutionalisierungsprojekte. Auch diese Weise der Annäherung an besagtes Thema ermöglicht, wie auch die zuvor angeführten empirischen Arbeiten, lediglich die Abbildung der Perspektive von ProfessionistInnen und WissenschaftlerInnen. Die Erlebnisse und Erfahrungen der Betroffenen, aus ihrem Blickwinkel geschildert, blieben im Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten bisher unberücksichtigt.

Die Grundintention des Projekts war es daher, entgegen der bisher praktizierten Vorgehensweise Menschen mit Lernschwierigkeiten mit Institutionalisierungs und Deinstitutionalisierungserfahrungen ausführlich Platz zu geben, über ihre Erfahrungen und Sichtweisen zur Thematik zu berichten. Dabei sollten Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht bloß als Forschungsobjekte fungieren, sondern als ForschungspartnerInnen aktiv am Forschungsprozess teilnehmen. Um diesem Anspruch nachzukommen, liegt dem Projekt ein inklusiver Forschungsansatz zu Grunde. Zudem wurden und werden und wird sich ausschließlich Forschungsmethoden herangezogen, welche den dafür notwendigen ethischen Kriterien nachkommen.

3.a.) Inklusive Forschung

Forschung im Bereich von Menschen mit Lernschwierigkeiten war und ist -von wenigen Ausnahmen abgesehen -ein Forschen über anstatt ein Forschen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Dies stellte Kiernan 1999 für den angloamerikanischen Sprachraum fest (KIERNAN 1999), in noch dramatischerem Ausmaß trifft diese Tatsache auch für den deutschsprachigen Raum zu (vgl. BUCHNER/KOENIG 2007). Diesem Status Quo wird in den englischsprachigen Ländern seit Beginn der 1990er Jahre entgegen gearbeitet. So wurden hier eine große Anzahl von Arbeiten publiziert, welche sich bemühen, den subjektiven Blickwinkel von Menschen mit Lernschwierigkeiten abzubilden und Menschen mit Lernschwierigkeiten aktiv in den Forschungsprozess mit ein zu beziehen (z.B. JOHNSON/TRAUSTADOTTIR 2000, POTTS/FIDO 2004, REDMOND 2005, BROOKS/DAVIES 2007, GATES/WAIGHT 2007). Diese Bewegung, welche sich unter den Schlagwörtern des Emancipatory-, Participatory-und Inclusive Research subsumieren lässt, kann auf eine gewisse historische Tradition zurückblicken: Vereinzelt bemühten sich schon seit Ende der 1960er Jahre WissenschaftlerInnen, die Sichtweisen von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erforschen und festzuhalten (EDGERTON 1967; BOGDAN/TAYLOR 1976, SIGELMAN ET AL. 1981). Als ihre Triebfedern sind die Disability Studies, die Normalisierungsbewegung, die Self-Advocacy-Bewegung und die Bürgerrechtsbewegungen zu identifizieren (WALMSLEY/JOHNSON 2003). WaLMSLEY und JOHNSON definieren inklusive Forschung in ihrem Standardwerk „Inclusive Research with people with Learning Disabilities“ folgender Maßen (WALMSLEY/JOHNSON 2003, 64):

Das Thema sollte von Interesse und Bedeutung für Menschen mit Lernschwierigkeiten sein

Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten in einer kollaborativen Art und Weise in den Forschungsprozess involviert sein

Nichtbehinderte ForscherInnen sollten auf der Seite von Menschen mit Lernschwierigkeiten stehen

Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten Kontrollmöglichkeiten über Forschungsprozess und –ergebnisse haben.

Inklusive Forschungen haben sich bisher einem breiten Spektrum an Methoden bedient. Dabei spielte und spielt die autobiographische Forschung in Form des Life History Research eine besonders prominente Rolle, die nun im Folgenden dargestellt wird.

3.b.) Life History Research

Dorothy ATKINSON adaptierte in einem Projekt Anfang der 1990er Jahre (ATKINSON 1997, 2) den Ansatz des Life History Research auf den Bereich der Forschung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Dabei wurden Elemente der Oral History mit Bestandteilen der Biographieforschung kombiniert und in einen inklusiven Forschungsansatz integriert (ebenda). Ziel des Life History Research ist es, individuelle Biographien bzw. Lebensgeschichten unter der Kontrolle der Personen mit Lernschwierigkeiten zu erstellen. Life History Research kann nach Atkinson als wesentliches methodisches Element der Bewegung des “inclusive research” gesehen werden: “it is part of the dramatic move towards a more participative and inclusive research approach. Indeed it could be said to be the ultimate expression of such an approach“(ATKINSON ET AL. 2000, 158). Besagter Ansatz hat sich im angloamerikanischen Raum bereits in verschiedenen Projekten als geeignete Methode zur Forschung mit Menschen mit Institutionalisierungs-als auch Deinstitutionalisierungserfahrungen erwiesen (z.B. COOPER 2000, 2003; ALLEN/TRAUSTADOTTIR/SPINA 2005 und HUNTER/MIRFIN-VEITCH 2005). Lebensgeschichten können nach ATKINSON in inklusiven Settings sowohl auf einer „one-toone basis“, also im Rahmen von Einzelgesprächen zwischen dem/der unterstützenden Forschenden und der Person, deren Lebensgeschichte geschrieben werden soll (ATKINSON 1997, 2001; ATKINSON/JACKSON/WALMSLEY 2003), als auch im Zuge von Gruppendiskussionen (siehe hierzu ATKINSON 1997) erarbeitet werden. Die für dieses Forschungsprojekt vorgesehene Erstellung der Lebensgeschichten von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext der Deinstitutionalisierung orientiert sich an der ersteren angesprochenen Variante, der Erarbeitung von Lebensgeschichten auf der Basis von Einzelgesprächen. Dabei orientiert sich der Ablauf an der Vorgehensweise von ATKINSON, welche die Methode anhand der Erarbeitung der Lebensgeschichte von Mabel COOPER (ATKINSON 1997) ausführlich darstellt: Demnach trafen sich ATKINSON und COOPER zu Gesprächen in gewissen Abständen in Coopers Appartement. Während der Gespräche stellte die Wissenschaftlerin Fragen, hörte aufmerksam zu und nahm die Konversationen auf Audiokassette auf. Nach den Treffen transkribierte Atkinson das Audiomaterial, ordnete einige Elemente und fügte sie zu einem kohärenten Narrativ zusammen. Das Ergebnis der Transkription wurde zu Beginn der nächsten Session Mabel Cooper vorgelesen, welche dabei Anweisungen gab, bestimmte Stellen nochmals zu korrigieren bzw. umzuschreiben oder ganz zu streichen. Die einzelnen Narrative wurden letztlich gemeinsam chronologisiert und zu „Mabel Cooper´s Life Story“ (COOPER 1997) zusammengefügt. Der zuvor beschriebene Ablauf erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein äußerst komplexer. So kommen dem unterstützenden Forscher/der unterstützenden Forscherin mehrere Aufgaben zu. Er/sie muss nicht nur das Erzählen fördern, sondern auch aktiv zuhören, die Geschichte aufschreiben und in Absprache mit der Person, die ihre Geschichte erzählt, strukturieren und editieren. Dieses Aufgabenverständnis heben auch ATKINSON, JACKSON und WALMSLEY hervor: „...the ghost writer, or scribe, or interviewer-has two jobs to do: facilitate the telling of the story and to listen attentively to its telling (to be its ‘audience’); and, later, to be its compiler and its writer (though not its owner).“ (ATKINSON/JACKSON/WALMSLEY 2003, 7). Das Produkt der Forschung, die gemeinsam erarbeitete Lebensgeschichte, gehört in jedem Fall der betroffenen Person mit Lernschwierigkeiten: Sie hat das Besitzrecht und bestimmt darüber, ob die Lebensgeschichte als privates Dokument unter Verschluss bei ihr bleibt oder ob, wie und wo die Lebensgeschichte eventuell publiziert wird.

3.c) Die Erarbeitung der Lebensgeschichte von Gerhard Westermann im Rahmen des Projekts „Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“

Ich lernte Gerhard Westermann im Jahr 2002 im Rahmen meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter in einem integrativen Café der Trägerorganisation GIN kennen. Gerhard Westermann war mit einem Nutzer des Wohnverbundes befreundet, in dem ich tätig war. Unsere Bekanntschaft hielt über die Jahre und ich berichtete ihm in der Vorbereitungsphase des Projekts „ Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“ über Inhalte, Vorgehensweise und Anlage der geplanten Forschungen. Gerhard Westermann zeigte spontan Interesse an dem Projekt teilzunehmen. Es folgten drei Gespräche, in denen wir die Methodik als auch Hintergründe des Projekts besprachen. Am Abschluss dieser Gespräche stand die Erstellung und beidseitige Unterzeichnung eines Vertrags, in welchem festgelegt war, dass Gerhard Westermann alleine über die Inhalte der Lebensgeschichte, das Setting und die Anzahl der Treffen bestimmte. Vertraglich war zudem festgelegt, dass Gerhard Westermann jederzeit aus dem Projekt aussteigen konnte und alle Ergebnisse/Produkte/Daten ihm gehören. Des Weiteren verpflichtete ich mich zu absolutem Stillschweigen nach außen. Insgesamt fanden 18 Treffen statt. Nach einigen Gesprächen hatte sich ein gewisser Ablauf in der Vorgehensweise zwischen uns entwickelt: Wir verbrachten zu Beginn einige Augenblicke damit über allgemeine Themen, aktuelle Befindlichkeiten und Neuigkeiten zu reden. Diese Phase wurde von uns beiden als sehr angenehm empfunden, wir konnten uns wieder auf einander einstellen und eine entspannte, angenehme Gesprächsatmosphäre entwickeln. Danach folgte als Einstieg in die eigentliche „Arbeitsphase“ ein kurzes Resümieren des bisherigen Forschungsverlaufs. Wir besprachen, wieweit wir mit der Erarbeitung der Lebensgeschichte bisher gekommen waren, ob Gerhard Westermann nach wie vor zufrieden mit dem Verlauf des Projekts ist und wie er sich dabei fühlt. Anschließend wurde das Transkribt des letzten Treffens durchgegangen. Ich las die Verschriftlichung des Interviews laut vor, Gerhard Westermann las in einem bezüglich der Schriftgröße entsprechend aufbereiteten Exemplar des Transkribts mit. In Folge besprachen wir gemeinsam, welche Auszüge für die Lebensgeschichte verwendet und welche Themen eventuell noch intensiver behandelt bzw. vertieft werden sollten. Die nächste Phase des Treffens bestand aus einem Interview, indem die zuvor zur Vertiefung vorgeschlagenen Themen behandelt wurden und zudem Herr Westermann weitere, bisher nicht genannte Aspekte seiner Biographie einbrachte.

Nach dem Interview beendeten wir entweder das Treffen, besprachen den Zeitpunkt des nächsten Termins und verabschiedeten uns. Nach manchen Treffen unternahmen wir anschließend noch gemeinsam weitere Aktivitäten. So verbrachten wir einen Abend damit, in Gerhard Westermanns Wohnung gemeinsam zu kochen und zu essen, einige Treffen ließen wir in Herrn Westermanns Stammkaffeehaus ausklingen. Auf diese Weise lernten wir uns besser kennen und konnten zudem das Treffen entspannt ausklingen lassen. Das konkrete Schreiben bzw. Ausformulieren der Lebensgeschichte erfolgte zum einen zwischen den einzelnen Treffen durch mich in meiner Tätigkeit als Schreibassistent: Die von Herrn Westermann aus den Transkripten ausgewählten Themen/Passagen ordnete ich chronologisch und fügte sie zu einem kohärenten Narrativ in Form der Lebensgeschichte zusammen. Dabei verwendete ich größtenteils direkte Zitate aus den Transkripten. Einige Sätze editierte ich minimal; zum Beispiel strich ich Doppelt-Nennungen, Bindewörter („ähm“, „ah“, etc.) oder unterteilte besonders lange Sätze in kürzere. Die von mir erstellte Version wurden in einem gewisser Maßen kontinuierlichen Prozess von Herrn Westermann überarbeitet und korrigiert: In einem Abstand von jeweils drei Treffen lektorierte Gerhard Westermann zu Beginn unserer Zusammenkünfte den aktuellen Stand der Lebensgeschichte: Er erhielt ein Exemplar des Updates und ich las die Lebensgeschichte laut vor. Nach jedem Satz gab Gerhard Westermann entweder seine Zustimmung oder teilte seine Änderungswünsche mit: Einzelne Begrifflichkeiten, Satzteile oder ganze Sätze wurden umformuliert. Manche Sätze und Abschnitte wurden gestrichen, wenn sie nicht Bestandteil der erarbeiteten Form der Lebensgeschichte sein sollten. Die beschriebene Vorgehensweise beim Erstellen der Lebensgeschichte sollte zum einen die forschungsethischen Prämissen erfüllen, wonach der Forschungsprozess von Herrn Westermann kontrolliert werden und für ihn transparent ablaufen sollte. Zum anderen sollte die Möglichkeit zur ausführlichen Selbstrepräsentation gegeben werden um den Blickwinkel eines Betroffenen nach seinen Vorstellungen und Wünschen abzubilden.

Zum Abschluss ist bezüglich der Forschung anhand des Life History Research anzumerken, dass diese Methode einen intensiven Forschungsprozess erfordert. Dabei ist mit „intensiv“ nicht nur ein, verglichen mit anderen Methoden oder Zugängen, weitaus höherer zeitlicher Aufwand gemeint. Es ist auch bezogen auf die Beziehung zwischen mir und Herrn Westermann, welche durch ein ausführliches Kennen lernen und die beschriebenen gemeinsamen Aktivitäten entstand. Diese Beziehung, durch die sich Herr Westermann ernst genommen fühlte und in deren Rahmen zwischen uns ein gegenseitiges Vertrauen entstand, war eine wesentliche Voraussetzung für ein Gelingen der Forschung. Die Erstellung der Lebensgeschichte erforderte zudem ein permanentes Reflektieren des Forschungsprozesses, besonders meiner Tätigkeit und meiner Vorgehensweise. So lernte ich, meine spezifischen Interessen und Ansichten zurück zu halten. Schließlich bestimmte Herr Westermann über Inhalte, Art und Weise der Darstellung, das Tempo bei der Erstellung als auch über eine etwaige Verwendung des Endprodukts, der verschriftlichten Form seiner Lebensgeschichte.



[11] lediglich eine Einzelfallstudie (KREILINGER 2002) bemühte sich, die Thematik unter dem Blickwinkel einer betroffenen Person zu beforschen

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Quelle

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bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 29.07.2015

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