Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann

Schlagwörter: Erfahrungsbericht, Psychiatrie
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: In: Boehlke, E. (Hrsg.): Integrationsgespräche Bd. 5: »Individuelle Biografieforschung als Entwicklungschance für Menschen mit Intelligenzminderung«, Edition G.I.B. (2008)
Copyright: © Gerhard Westermann, Tobias Buchner 2008

Kommentar:

In diesem Text gibt es ein paar schwierige Wörter

Bei diesen Wörtern steht eine kleine Zahl dabei.

Zum Beispiel: Rettung[1]

Diese Wörter werden dann am Ende von jeder Seite erklärt.

Das sieht dann so aus:

die Rettung rufen = einen Krankenwagen rufen

Das sind Fußnoten. Man erkennt sie daran, dass die Schrift kleiner ist.

Tanja Huchler für bidok, am 20.07.2009



[1] die Rettung rufen = einen Krankenwagen rufen

Kindheit

Ich wurde im 1973 in Wien geboren und bin bei meinen Eltern aufgewachsen.

An meine ersten Lebensjahre erinnere ich mich nur sehr verschwommen.

Meine Eltern haben sich häufig heftig gestritten und ich habe meistens daneben gestanden und nicht gewusst, was ich tun soll.

Meine erste klare Erinnerung aus meiner Kindheit stellt ein für mich schwieriges Ereignis dar.

Ich war etwa fünf bis sechs Jahre alt, also noch ein kleines Kind.

Ich habe in unserer Wohnung gespielt.

Ich bin in der Wohnung rumgeklettert, war neugierig und wollte aus dem Fenster raus schauen.

Das Fenster war offen.

Plötzlich habe ich das Gleichgewicht verloren und konnte mich auch nicht mehr festhalten.

Ich bin aus dem Fenster geflogen.

Ich stürzte einige Stockwerke tief und fiel auf ein Auto, das vor dem Haus geparkt war.

Später erfuhr ich, dass der Aufprall einen ziemlichen Lärm gemacht hatte, Leute hatten es gehört, mich gesehen und dann die Rettung[2] und die Polizei gerufen.

Ich hab von all dem nichts mitbekommen, weil ich ohnmächtig war.

Mehrere Stunden lang war ich ohnmächtig.

Ein Krankenwagen brachte mich ins alte AKH[3], dort haben sie mich dann operiert.

Stundenlang operiert.

Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich an nichts mehr erinnern.

Ich wusste nicht mal mehr, dass ich Gerhard Westermann heiße.

Alle haben mich angeredet: „Wie heißen Sie?“

Aber ich konnte mich nicht erinnern.

Das hat mir Angst gemacht.

Ich habe in dem Moment so viel Angst bekommen, das ich angefangen habe zu zittern.

Es folgten dann noch weitere Operationen, etliche Male haben sie mich operiert.

Die Operationen hat noch der Professor Rett gemacht, so weit ich mich erinnern kann.

Ich hatte etliche Blutergüsse im Kopf, den ganzen Kopf voller Blutergüsse!

Sie haben mir eine Platte auf der linken Seite meines Schädels reingesetzt, die spüre ich jetzt noch.

Wenn mir jemand da drauf fasst, schmerzt es immer noch ziemlich.

Nach der Zeit im Krankenhaus musste ich eine zeitlang einen Sturzhelm tragen.

Einen Plastikhelm hab ich tragen müssen.

Das waren harte Zeiten.

Das ich den Fenstersturz überlebt habe, habe ich meinem Glücksengel zu verdanken.

Ich habe einen Glücksengel gehabt.

Ich bin aus dem zweiten oder dritten Stock gefallen, es war sehr hoch.

Normaler Weise kann man so einen Sturz nicht überleben.

Da kann ich mich wohl beim Herrgott bedanken.

Ich konnte dann nicht mehr zu Hause wohnen bleiben.

Ich bin auf den Rosenhügel[4] kommen.



[2] die Rettung rufen = einen Krankenwagen rufen

[3] AKH = Allgemeines Krankenhaus

[4] Der „Rosenhügel“ ist ein Krankenhaus in Wien

Auf dem Rosenhügel

Auf dem Rosenhügel habe ich mit anderen Kindern in einem Kinderpavillon gelebt.

Auf dem Gelände der Anstalt war auch eine Schule, die ich besucht habe.

Dort haben wir rechnen und schreiben gelernt.

Ich hab die Schwestern nicht mit Schwester angeredet, weil mir das nicht getaugt hat.

Stattdessen habe ich „Tante“ gesagt.

Die Schwestern haben mich „Schlumpfi“ genannt.

Mit den anderen Kindern gab´s manchmal auch Streit.

Nach der Schule haben sie mich gehänselt, mich provoziert und gesagt: „Gerhard ist das Mutterkind“.

Die Schule konnte aber von der MA 12[5] nicht mehr bezahlt werden und so wurde ich übersiedelt.

Ich kam in die Psychiatrie, auf die „Baumgartner Höhe“.



[5] MA 12 = Die Abteilung der Stadt Wien, die zu dieser Zeit Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen finanzierte/bezahlte.

Psychiatrisches Krankenhaus „Baumgartner Höhe“, Pavillon 15

Meine ersten Jahre auf der Baumgartner Höhe musste ich im Pavillon 15 leben.

Der 15er Pavillon war die extremste Horrorgeschichte.

Ich wurde nieder gespritzt und ruhig gestellt.

Das war überhaupt das Ziel der Betreuer dort: Mich ruhig stellen.

Die haben mir so viele Spritzen gegeben, dass ich mich nicht mehr erlebt habe.

Sie haben mir immer mehr Medikamente gegeben.

Ich kann mich an die Namen der Medikamente noch genau erinnern: Psychopax.

Die gab´s als Tabletten und auch in Form von Tropfen.

Und Truxal, die 50 mg Tabletten.

Ich habe nur starke Medikamente bekommen.

Und nicht nur einmal, sondern die ganze Zeit über, regelmäßig musste ich die Medikamente nehmen.

Manchmal wurde ich auch in die Zwangsjacke gesteckt und ins Gitterbett geschmissen.

Davon habe ich blaue Flecken bekommen.

In der Zwangsjacke stecken war furchtbar: Ich hab mich nicht bewegen können.

Es war ein Gefühl, als ob ich ersticken würde.

Ich habe kaum noch Luft bekommen.

Das war das Schlimmste, was ich auf dieser Welt erlebt habe.

Teilweise habe ich mich so schwach gefühlt.

Ich konnte nichts gegen die ganzen Sachen machen, ich konnte mich nicht wehren.

Und nicht nur mir ging´s so.

Die haben uns alle nieder gespritzt.

In die Zwangsjacke gesteckt und nieder gespritzt.

Betreut wurden wir von Krankenschwestern.

Die Schwestern waren streng und sehr unfreundlich.

Wir durften nie zur Mädchengruppe gehen: Die Schwestern haben es uns verboten und gesagt, dass wir auf der Männergruppe bleiben müssen.

Beim Baden haben sie uns manchmal an den Haaren aus der Badewanne gerissen, weil wir schnell fertig werden sollten.

Viel zu tun gab es oben nicht.

Wir haben fern geschaut und manchmal auch Spiele gespielt.

Ich bin aber manchmal auch ausgebüchst.

Einige Male bin ich über den Zaun des Psychiatriegeländes geklettert und zu meiner Großmutter gefahren.

Die Polizei hat mich dann immer gesucht und auch wieder eingefangen.

Die Polizisten wollten immer, dass ich zurück ins Heim geh.

Aber ich gehör doch nicht ins Heim rein!

Die Jahre im 15er Pavillon waren keine gute Zeit.

Die Zeit in der Psychiatrie bleibt mir auch heute noch im Kopf.

Ich denke noch oft daran.

Der Pavillon 17

Irgendwann hab ich in einen neuen Pavillon, den 17er Pavillon übersiedeln müssen.

Dort hat es etliche Zimmer gegeben und wir wurden in verschiedene Wohngruppen eingeteilt.

Die Betreuer hatten alles bunt angemalt.

Die Zimmer waren jetzt nicht mehr so wie im Pavillon 15.

Die bunte Farbe hat mir aber nicht getaugt[6].

Es gab die Wohngruppen 10,11 und 12.

Die Einteilung zu den Wohngruppen hing davon ab, ob jemand mehrfachbehindert war oder nicht.

Ich hatte ein eigenes Zimmer in einer Wohngruppe im Erdgeschoss.

Eines Tages bekam ich eine schlechte Nachricht: Mein Opa war gestorben.

Ich war sehr verzweifelt und traurig.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich fasste den Plan, zu fliehen.

Ich stahl die Gitterschlüssel für die Gitter vor meinem Fenster von einem Betreuer.

In einer Nacht bin ich dann ausgebrochen.

Ich habe einen Kasten[7] vor die Tür gestellt, dass niemand ins Zimmer konnte.

Dann bin ich aus dem Fenster geklettert.

Als ich das Psychiatriegelände verlassen hatte, suchte ich einen Platz zum schlafen.

Ich fand ein Haus.

Ich brach durch ein Kellerfenster in das Haus ein.

In dem Raum gab es leider kein Licht, so musste ich im Dunkeln rumtapsen.

Ich schlief schließlich auf dem Boden ein.

Am nächsten Morgen wurde ich von einer Katze geweckt, die mir um die Beine schlich.

Ich fühlte mich wie gerädert und beschloss, auf die Psychiatrie zurück zu kehren.

Die Polizei hatte mich mittlerweile wieder gesucht.

Aber sie hatte mich nicht gefunden.

Alle vom Personal haben mich zur Sau gemacht und die ganze Zeit mit mir geschimpft.

Sie gaben mir dann noch mehr Medikamente weil sie wollten, dass ich ruhiger werde.

Damit ich nicht mehr ausbrechen konnte, haben sie die Gitterschlüssel besser verwahrt.

Nachts haben sie mich in meinem Zimmer eingeschlossen.

Ich hatte im 17er Pavillon drei Betreuer mit denen ich mich gut verstanden habe: Den Dengel-Gerhard, den Gattinger Markus und den Günther.

Nach einiger Zeit wurde dann geplant, dass wir aus der Psychiatrie rauskommen.

Da ging dann so ein blödes Gequatsche los: Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit dem Leiter des Pavillons.

Ich wollte eine Gemeindebauwohnung, eine Wohnung für mich alleine.

Der Leiter meinte aber, ich würde in eine Wohngemeinschaft gehören.

Ich hab mich dann aber durchgesetzt und habe doch eine Wohnung in einem Gemeindebau von der Gemeinde Wien bekommen.



[6] getaugt = gefallen

[7] Kasten = Schrank

Das Leben nach der Psychiatrie: Die erste Wohnung

1993 bin ich dann endlich raus gekommen.

Ich bin zu einem Verein gekommen, der Menschen mit Behinderung betreut.

Das Büro des Vereins war im 16. Wiener Gemeindebezirk.

Mein erster Betreuer war der Ferdinand, er hat mich auf Zack gebracht.

Danach hatte ich eine Betreuerin, aus Vorarlberg.

Die hat einen guten Charakter gehabt.

Mit ihr habe ich mich gut verstanden, der Kontakt zu ihr war gut.

Ich bekam also meine erste Gemeindebauwohnung.

In ihr lebte ich und an sechs Tagen in der Woche besuchten mich Betreuer.

Die Wohnung war im sechsten Bezirk. Insgesamt habe ich dort fast zehn Jahre gewohnt.

Ich war sehr stolz, dass ich mich durchgesetzt hatte auf der Psychiatrie.

Dass ich nicht in eine WG[8] gekommen war sondern endlich meine eigene Wohnung hatte.

Ich freute mich wahnsinnig, in meine eigene Wohnung einzuziehen.

Meine Betreuer nannten sie „Trainingswohnung“.

Es gab aber zu Beginn auch gleich ein Ärger.

Ein Bewohner meiner Stiege hatte sich bei anderen Nachbarn darüber beschwert, dass „ein Behinderter im Haus einzieht“.

Das machte mich rasend und kränkte mich sehr.

Was sollte das?

Im gleichen Gemeindebau, auf der 1er Stiege wohnte doch schon eine Frau, die eine behinderte Tochter mit Namen Henriette hatte.

Während der Zeit in meiner ersten Wohnung gab es in meinem Leben gute Zeiten und schlechte Zeiten.

Gut war vor allem meine Bekanntschaft mit den Zeilingers.

Die Zeilingers waren ein Ehepaar, dass in dem gleichen Gemeindebau wohnte wie ich: Annemarie und Peter Zeilinger.

Mit Zeilingers verbrachte ich damals viel Zeit, ich habe sie oft besucht.

Wir haben zusammen gegessen.

Peter kochte und wir haben zusammen gegessen.

Wir haben Ausflüge in den Lainzer Tiergarten gemacht.

Und sind in Restaurants gegangen.

Wir sind zusammen spazieren gegangen, haben Tauben gefüttert.

Und ich lernte einen Freund kennen: Peter Rück.

Er war ein guter Freund, er war ein leiwander[9] Kerl.

Wir waren in Gasthäusern zusammen.

Sein Zwillingsbruder Thomas war auch oft dabei.

Auch er war ein guter Freund.

Peter war auch ein Klient von GIN.

Er ist immer noch mein Freund.

Die schlechten Zeiten hängen mit den Jugendlichen aus dem Park und von der Straße zusammen.

Ich habe lange Zeit versucht, mich mit den Jugendlichen aus der Nachbarschaft anzufreunden.

Das hat aber leider nicht geklappt, im Gegenteil.

Es fing schon nicht gut an: Eines Tages wollte ich in einen Park in meiner Nachbarschaft gehen und mit den anderen Jugendlichen Basketball spielen.

Die haben mich aber nicht gelassen, sondern haben mich stattdessen beleidigt.

„Du Behinderter, du Missgeburt!“.

Ich habe versucht mit ihnen zu diskutieren.

Ich habe gemeint, dass der Park für alle da sei und nicht nur für sie.

Und dass sie aufhören sollten, mich zu beleidigen.

Das hat aber nicht funktioniert, sie haben mich weiter beleidigt.

Als ich dann alleine auf einen Korb spielen wollte, haben sie mir den Ball weggeschossen.

Ich habe dann auch Angst bekommen.

Und jedes Mal wenn ich Angst bekomme, fange ich an zu stottern.

Ich war schließlich total entnervt und habe gerufen:

„Okay, ich geb´s zu: Ich bin behindert! Aber ich kann ja auch nix dafür, dass ich behindert bin!“

Daraufhin haben die Jugendlichen im Park aber nicht aufgehört, sondern einfach weiter gemacht.

Sie haben mich weiter als „Hurensohn“ und „Scheißgeburt“ bezeichnet.

Irgendwann habe ich dann einen riesigen Zorn auf die Jugendlichen gehabt, ich wollte mich gegen diese Ungerechtigkeiten wehren.

Aber ich hatte keine Chance, egal was ich gesagt habe.

Ich habe dann die Polizei gerufen, ich wusste mir anders nicht zu helfen.

Die Polizei kam dann ein paar Mal und hat mit den Jugendlichen versucht zu reden.

Das hat aber nichts geändert an ihrem Verhalten.

Ich habe aber nicht aufgegeben.

Schließlich gab es noch Martin, er wohnte mit seiner Mutter zusammen und war damals etwa 15 Jahre alt.

Mit ihm habe ich mich zunächst gut verstanden, aber nach einiger Zeit ging es mir einfach schlecht, und ich fing während Plaudereien mit ihm zu stottern.

Er hat mich dann ausgelacht und nicht mehr Ernst genommen.

Ich war sehr enttäuscht.

Ich fühlte mich nach den ganzen Streitigkeiten und Konflikten mit den Jugendlichen aus der Nachbarschaft so schwach.

So hilflos.

Ich hatte schließlich immer wieder versucht, mich mit ihnen anzufreunden, aber sie haben mir nie richtig eine Chance gegeben.

Und außerdem war es ja auch eine schwierige Zeit für mich.

Ich hatte immer noch die schlimmen Erinnerungen in der Psychiatrie und musste mich erstmal in meiner neuen Umgebung zurecht finden.

Es gab also eine Menge Stress zu dieser Zeit für mich.

Ich habe überlegt wie ich mich besser wehren könnte, ob ich vielleicht noch öfter die Polizei rufen sollte.

Oder ob ich einen Selbstverteidigungskurs machen sollte.

Oder ob ich einfach alle Frechheiten und Beleidigungen überhören sollte, so tun sollte als wäre nichts passiert.

Nach einiger Zeit hatte mich meine Situation nervlich ganz schön zermürbt.

Irgendwann hat es mir gereicht.

Ich hab mir mit meiner Betreuerin Regine Rauch eine neue Wohnung gesucht.

Wir haben viel gesucht, viele Wohnungen angeschaut, aber keine hat mir gefallen.

Endlich haben wir dann meine jetzige Wohnung gefunden.

Ich habe sie mir angeschaut, der Mann vom Wiener Wohnen war auch sehr nett.

Ich habe mir die Zimmer angeschaut, die waren in Ordnung und die Größe der Wohnung fand ich auch ausreichend: 28,2 Quadratmeter.

Dann habe ich das Fenster aufgemacht und rausgeschaut.

Draußen war alles grün!

Das hat mir gleich gut gefallen, die vielen Bäume und Pflanzen vor dem Fenster.

Die Ruhe.

Kein Straßenlärm, keine aggressiven Schüler. Herrlich!



[8] WG = Wohngemeinschaft

[9] leiwand = typisch Wiener Aisdruck, bedeutet so viel wie „super“

Die Wohnung im 16. Bezirk

Ich wohne jetzt schon seit fünf Jahren in der Wohnung im 16. Bezirk.

In meiner neuen Umgebung fühle ich mich sehr wohl.

Ich habe nette Leute um mich herum.

Eine davon ist die Susi, sie ist eine Nachbarin von mir.

Mit der kann ich über alle Probleme reden.

Da geh ich einfach hoch zu ihr und wir können über alles plaudern.

Die Gespräche helfen mir auch sehr, wenn es mir nicht so gut geht.

Ich gehe dann hoch zu ihr und erzähle ihr von meinen Gedanken: Dass das Leben für mich manchmal sehr schwierig ist, dass ich mich manchmal vor Problemen einfach nicht mehr auskenne.

Susi beruhigt mich dann, zeigt mir zum Beispiel, dass ich genügend Freunde habe, und so weiter.

In der neuen Wohnung kann ich machen was ich will.

Ich bin auch selbstständiger geworden.

Ich kann kochen wann ich will, kann machen was ich will.

Zumindest wenn ich alleine bin.

Wenn die Betreuer da sind, muss ich schon Sachen machen, auf die ich eigentlich keine Lust habe.

Zum Beispiel aufräumen, abwaschen, und so weiter.

In meiner Freizeit gehe ich gerne joggen oder trainiere Karate.

Seit einiger Zeit habe ich wieder begonnen, Schlagzeug zu spielen.

Ich hatte schon früher Stunden gehabt, hatte aber wieder aufgehört.

Das Schlagzeug spielen macht mir jetzt wieder sehr viel Spaß.

Ich hatte auch schon einige Auftritte.

Zum Beispiel beim Straßenfest meiner alten Werkstatt, der Schneiderei.

Das war super.

Nach meinem Auftritt habe ich einen ganzen Strauß Rosen bekommen.

Und in diesem Jahr hatte ich auch einen Auftritt mit der „Beautiful-Kantine-Band“ beim 15-jährigen Jubiläum des Vereins GIN.

Meine Arbeit

Ich habe jetzt eine neue Arbeit, mit der ich sehr zufrieden bin.

Ich bin in einer Werkstatt.

Dort muss ich verschiedene Sachen abzählen und einsackerln[10].

Zum Beispiel Klemmschienen oder Büroordner.

Die abgezählten und eingesackerlten Sachen schichten wir dann in einen Karton.

Wenn der voll ist, wird er zugeklebt.

Es wird ein Aufkleber mit der richtigen Adresse draufgepickt und er wird dann an eine Firma geschickt.

Eigentlich wollte ich lange Zeit nicht arbeiten gehen.

Es war nicht leicht mit dem Arbeiten.

Aber die Betreuer haben gegen mich geredet.

Ich hab´s dann irgendwann eingesehen, dass Arbeiten für mich wichtig ist: Ich bin unter Leuten.

Und ich kann Geld verdienen, dass ich ausgeben kann.

Ich verdiene 38€ im Monat, damit bin ich wirklich zufrieden.

Ich habe in meinem Leben schon viele Arbeiten gehabt: Ich habe Teppiche gewebt in meiner ersten Werkstat im fünften Bezirk.

Ich habe auch in einer Gärtnerei gearbeitet.

Da haben wir Pflanzen und Gemüse eingesetzt und noch viele andere Sachen.

Das hat mir aber auch nicht getaugt.

Danach war ich in der Schneiderei, da hab ich gestickt.

Ich habe aufgehört, weil mir die Augen so schmerzten.

Ich habe mir dann ein paar andere Werkstätten angeschaut und „geschnuppert“.

Schließlich fand ich meinen jetzigen Arbeitsplatz.

Ich machte die Probezeit und wurde von meinem Chef genommen.

Von der neuen Werkstatt, wo ich jetzt arbeite, bin ich sehr begeistert.

Im Moment bin ich relativ froh, dass ich die schlechten Zeiten hinter mir hab und es keinen Wickel10 mehr gibt.

Es gibt keine Streitereien mehr, keine Schüler und Jugendlichen, die mich beleidigen.

Quelle

Gerard Westermann, Tobias Buchner: Die Lebensgeschichte von Gerhard Westermann

© Gerhard Westermann, Tobias Buchner 2008

bidok - Volltextbibliothek: Erst-/Wieder-/Neuveröffentlichung im Internet

Stand: 27.07.2015



[10] einsackerln = eintüten

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