Das geistig behinderte Kind, der Blick und das Fremde. Wie antwortet man auf die geistige Behinderung eines Kindes?

Autor:in - Benjamin Weber
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit an der Universität Bremen; Diplomstudiengang Erziehungswissenschaft/Behindertenpädagogik; Betreuer: Dr. Martin Herz; Zweitgutachter: Swantje Köbsell
Copyright: © Benjamin Weber 2008

0 Einleitung

Ein geistig behindertes Kind wird erblickt. Die Eltern, mögliche Geschwister, Großeltern, Freunde der Familie, Fremde, die ihm zufällig begegnen, alle können und werden es erblicken.

Wir alle werden erblickt, immer und immer wieder und wir alle erblicken andere - oft ohne erkennbare Reaktion. Doch ist etwas nicht der Norm entsprechend, so verfängt sich der Blick, man schaut hin, nimmt wahr und wendet denn Blick eine Sekunde später ab als normal. Wie blickt man auf ein geistig behindertes Kind? Verändert sich der Blick? Wird er gestört? Was schwingt unterschwellig mit? Und wie können sich eventuelle Veränderungen der Blicke auf die Psyche des geistig behinderten Kindes auswirken?

Der Blick meint mehr als den bloß visuellen Akt des Sehens. "Ohne Zweifel ist das Sichrichten zweier Augen auf mich, was am häufigsten einen Blick offenbart. Aber er würde ebensogut gelegentlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräusches von Schritten, eines halb offenstehenden Fensterladens, der leichten Bewegung einer Gardine gegeben sein."[1] Die Analyse des Blicks des Schriftstellers und Philosophen Jean Paul Sartre bringt den Blick und den Anderen in ein wesenhaftes Verhältnis. Sie sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Durch meinen Blick erkenne ich den Anderen als menschliches Subjekt und gehe eine Verbindung zu ihm ein. Und wenn ich durch den Blick den Anderen als Subjekt erkenne, bedeutet dies zugleich, dass ich für das andere Subjekt erkennbar sein muss. Blicken und erblickt werden zu können, bedingt sich gegenseitig. Der Blick setzt mich mithin den Blicken Anderer aus. Die Möglichkeit erblickt werden zu können und das Wissen um diese Möglichkeit, bedeutet nichts weniger als meine für Andere wahrnehmbare Gegenständlichkeit. Diese macht mich angreifbar und beschränkt meine Freiheit. Etwas Anderes tritt von Außen an mich heran, das nicht meiner Macht unterliegt und mich doch beeinflusst. Werde ich überraschend ertappt, wie ich in der Nase bohre, werde ich mich schämen. Ich schäme mich nicht bewusst oder freiwillig. Mein Erröten kann ich nicht steuern. Durch den Blick des Anderen tritt etwas Fremdes an mich heran, das ich bemerken und doch nicht benennen und kontrollieren kann. Der Blick von Außen berührt mich im Innersten und kann dadurch mein Verhalten ändern.

Auf den ersten Blick scheint die Trennung zwischen Blickendem und Erblicktem ein einfache zu sein. Es gibt denjenigen, der blickt und denjenigen, der erblickt wird. Die Frage, warum der Erblickte erblickt wird, wird dabei aber nicht beantwortet. Ist das Verhältnis ein kontingentes? Oder weist es auf weitere Verstrickungen hin?

Die erwähnte Trennung ist bei genauerer Betrachtung weitaus vertrackter. Blicke ich jemanden an, scheint es etwas zu geben, das meinen Blick hält und fesselt. Ich kann nicht anders, als hinzublicken. Der Erblickte spricht mich an, ganz still und versteckt. Ich verstehe nicht, was er mir zu sagen hätte und reagiere doch. Ich schaue hin. Werde ich dabei ertappt, kann sich wiederum ein Gefühl der Scham einstellen. Wer kennt es nicht: Man blickt jemanden heimlich an, der Andere bemerkt es und blickt zurück, man wendet sich schnell ab und versucht dadurch zu vertuschen, dass man hingesehen hat.

Die Möglichkeit ertappt werden zu können[2], bringt die Grenzen zwischen Erblicktem und Blickendem ins Schwanken. Wenn die Scham durch den Blick des Anderen verursacht wird, blickt der Erblickte, durch die Möglichkeit von ihm ertappt zu werden, immer schon zurück. Der Blick heftet also dem erblickten Objekt schon an, wenn ich es erblicke. Der Erblickte wird zu einem Spiegel, der zurückblickt, alsbald ich ihn erblicke. Die Verbindung zwischen Erblicktem und Blickendem ist eine ineinander verflochtene, ohne dass jedoch der Eine auf den Anderen zurückzuführen wäre, da es ohne den Anderen, der mich erblickt, so etwas wie Scham nicht geben könnte.

Ein ähnlich gelagertes Problem findet sich im Phänomen des Fremdschämens. Ich schäme mich für jemand anderen, ohne genau zu wissen warum. Derjenige, für den ich mich schäme, spricht mich an, berührt und affiziert mich. Er hält mir einen Spiegel der Möglichkeiten vor, in denen ich erkenne, wie ich mich lächerlich machen könnte. Ich fühle mit und oft auch anstelle des Anderen. Dass er sich schämt, ist keine Voraussetzung dafür, dass ich mich für ihn schämen könnte. Mein Gefühl der Scham kann unabhängig vom Gefühl des Anderen in mir entstehen, wenn ich ihn erblicke. Er kann mir als Spiegel dienen, hinter dem er als konkrete Person zurücktreten kann, ohne dass er dadurch seine Fähigkeit des Spiegelns verlöre.

Ich schäme mich nicht für jeden, den ich erblicke. Ich erblicke nicht jeden, der mir über den Weg läuft. Doch sobald ich jemanden erblicke, mich für jemanden schäme, ist die eigentümliche Verbindung zwischen mir und dem Anderen schon da. Wie kommt es zu dieser Beziehung und warum spricht mich dieser Andere an?

Das Fremde und Ungewöhnliche zieht die Blicke ebenso an wie das Eigene und Vertraute. Denkt man an die so genannten Freakshows im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen, um nur drei Beispiele zu geben, Kleinwüchsige, körperlich stark behinderte Menschen und Menschen die unter Hypertrichose leiden, ausgestellt wurden, hat man ein besonders anschauliches Beispiel für den Reiz des Ungewöhnlichen. Ein eindringliches Beispiel für die Macht des Eigenen zeigt sich im Problem des Doppelgängers, das literarisch oft verarbeitet wurde. Der Schriftsteller Fjodor Dostojewski beschreibt z.B. in seiner Erzählung "Der Doppelgänger" die erste bewusste Begegnung zwischen dem Protagonisten und seinem unbekannten Doppelgänger mit folgenden Worten: "Der Unbekannte saß vor ihm, auch er im Mantel und mit Hut, auf seinem Bett, lächelte obenhin und nickte ihm mit leicht zusammengekniffenen Augen freundschaftlich zu. Herr Goljadkin wollte aufschreien, protestieren, vermochte es aber nicht. Die Haare standen ihm zu Berge, er sank, bewußtlos vor Schrecken, auf einen Stuhl."[3] Das Eigene und das Fremde, Ungewöhnliche sind die beiden Eckpunkte, die die Blicke anderer anziehen. Und wie in der Beziehung zwischen Blickendem und Erblicktem ist auch hier eine klar bestimmte Trennung bei genauerem Hinsehen nicht möglich. Beides spricht uns an und zieht die Blicke auf sich. Das Eigene im Außen zu erfahren, befremdet, wie auch das Fremde, indem es uns anspricht, uns im Bereich des Eigenen berührt.

Ein offensichtlich geistig behindertes Kind entspricht nicht der Normalität, wie diese auch immer beschaffen sein mag. Euphemistisch betrachtet, ist es etwas Besonders. Es mag zwar regelmäßig vorkommen, dass man einem geistig behinderten Kind begegnet. Doch solange man nicht selbst eines hat, betrifft es immer nur Andere. Diese Besonderung macht es zu etwas Ungewöhnlichem, das, wie alles Ungewöhnliche, die Blicke auf sich zieht. Wenn nun Blickender und Erblickter miteinander verflochten sind, stellt sich in diesem Fall die Frage, wie die Behinderung des erblickten Kindes mit den Blicken der Anderen zusammenhängt. Die alte Frage des Behindert-Seins oder des Behindert-Werdens spielt auch in dieser Frage eine nicht unerhebliche Rolle. Erkenne ich durch den Blick, das geistig behinderte Kind als Subjekt an? Wird der Blick womöglich zu stark, wenn er mit einer Behinderung konfrontiert wird? Überwiegen in diesem Fall die objektivierenden Züge des Blicks? Wie hängt der Blick mit der Sprache zusammen und wie die Sprache mit dem Blick? Kann der Erblickte zu einem Bild gerinnen, das den subjektivierenden Blick hemmt und unterminiert?

In einem ersten Schritt sollen die Geschichten von Narziss, Echo und Medusa erläutert werden, die einige Grundmotive der zu behandelnden Problematik anschaulich machen. Anschließend wird das Spiegelstadium von Lacan vorgestellt, das das spiegelnde Moment des Narzissmus in den Vordergrund stellt und schon in dieser Bildhaftigkeit erste Züge der Sprache erkennt. Daraufhin wird anhand der Beiträge dreier Psychoanalytikerinnen, die mit geistig behinderten Kindern gearbeitet haben, der Versuch unternommen, das Spiegelstadium mit dem Problem der geistigen Behinderung zu verbinden. Es wird sich zeigen, dass das Fremde, Namenlose, nicht Verstehbare, sich aller Rationalität entziehende den Blick beeinträchtigt und trübt. Dieses Fremde, soviel sei schon angemerkt, wird als ein wesentliches Merkmal der geistigen Behinderung begriffen werden, das in der Entwicklung geistig behinderter Kinder eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wie kann man einem geistig behinderten Kind die Fragen: "Wer bin ich?", "Bin ich das?", beantworten, wenn man es nicht zu verstehen glaubt, wenn man es einem fremd und unter Umständen auch unangenehm ist?

Das Problem des Antwortens auf die Geburt eines geistig behinderten Kindes beschreibt der japanische Schriftsteller Kenzaburo Oe in seinem Buch "Eine persönliche Erfahrung". Dieser Roman trägt autobiographische Züge, da Oe und seine Frau einen geistig behinderten Sohn haben. Zitiert sei ein Passage, in der der Vater, Bird, seinen Sohn das zweite Mal im Krankenhaus besucht und die Hoffnung hegt, er möge doch gestorben sein. Diese Passage beschreibt sehr einprägsam die Nöte des Vaters, der mit der Behinderung seines Sohnes konfrontiert wird und kann als Blaupause für spätere theoretische Entwicklungen gelesen werden.

"Ohne auf Birds Frage eigentlich geantwortet zu haben, verfiel der Arzt in Schweigen. Bird starrte ihm ins Gesicht und wartete darauf, daß er weiterspräche. Und dann plötzlich hatte er das ganz bestimmte Gefühl, daß er von einem beschämenden Verlangen besessen war. Als er am Schalterfenster in der Verwaltung davon erfahren hatte, daß das Kind noch am Leben sei, war dieses heiße Verlangen in der Düsternis seines Kopfes aufgetaucht wie ein Schwarm gräßlicher schwarze Reiszirpen, und während es sich mit ungeheurer Kraft verfielfachte, hatte es allmählich seinen wesentlichen Sinn deutlich gemacht. Von neuem drängte die Frage an die Oberfläche seines Bewußtseins, überlegte Bird: Wie wäre es denn möglich für mich und meine Frau, daß wir weiterleben und dieses pflanzenhafte Wesen, dieses Monster von einem Kind umklammert uns bis an unser Ende? Um jeden Preis muß ich diesem Ungeheuer endgültig entfliehen - ah, was wird dann aus meiner Afrikareise? Und als würde das Monster von einem Kind ihm durch die gläserne Trennwand nachgelaufen kommen, bereitete er sich in seinem Inneren, getrieben von der Leidenschaft der Selbstverteidigung, auf den Kampf vor. Gleichzeitig aber, beschämt den Egoismus spürend, von dem er wie von Spülwürmern befallen war, brach ihm der Schweiß aus am ganzen Körper, rötete sich sein Gesicht. Das eine Ohr wurde ihm taub, nur noch das Rauschen des Blutes hörte er dort. Auch seine Augen, als hätte eine unsichtbare und doch gewaltige Faust sie getroffen, begannen sich mit Blut zu füllen. Und während er vor wachsenden Schamgefühl immer mehr errötete und Tränen im aufstiegen, wünschte er sich: ah, meinen Traum von der Afrikareise möchte ich verteidigen, möchte mich der Last dieses Monster-Babys entledigen können. Freilich, um das auszusprechen und dem Arzt zu klagen, drückte das Schamgefühl, das Bird erfasst hatte, allzu schwer. Verzweifelt senkte er sein Gesicht, das jetzt rot war wie eine Tomate." [4]



[1] Sartre, J.-P., 1987: S. 344

[2] Sartre beschreibt die ständig währende Unsicherheit ertappt werden zu können, wenn man durchs Schlüsselloch späht (Vgl. Sartre, 1987: S. 345-348)

[3] Dostojewski, F., 1980: S. 210

[4] Oe, K., 1994: S. 114f.

1 Mythologische Betrachtungen

1.1 Der Mythos um Narziss und Echo

Narziss, Narzisse, Narzissmus, alles Begriffe, die in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen sind. Man spricht von der mythologischen Gestalt Narziss, aus dessen Tod die Narzisse hervorging, die Blume der Unterwelt, die Blume des Todes. Narzissmus gilt als ein psychoanalytischer Schlüsselbegriff, der maßgeblich von Sigmund Freud, dem Gründer der Psychoanalyse, geprägt wurde und bei diesem erstmals 1910 erscheint.[5] Eingeführt wurde dieser Begriff jedoch schon 1887 von dem Pädagogen und Psychologen Alfred Binet. 1898 benutzt ihn der Mediziner und Sexualforscher Havelock Ellis, "um ein perverses Verhalten zu bezeichnen, das er in Beziehung zu dem Mythos von Narkissos setzt." [6] 1899 wird der Begriff von dem Kriminologen Paul Näcke in einem Kommentar zu Ellis Artikel ins Deutsche eingeführt.

Es soll jetzt der Mythos von Narziss vorgestellt werden. In diesem Mythos finden sich viele Motive, die auch in den folgenden Ausführungen von zentraler Bedeutung sein werden. Vor allem hinsichtlich des Spiegelstadiums, das weiter unten vorgestellt wird, bietet die Geschichte um Narziss und Echo ein anschauliches Beispiel.[7]

Narkissos ist der Sohn des Flussgottes Kephissos und der Nymphe Leiriope; er ist das Ergebnis einer inzestuösen Gewalttat: Kephissos ist der Vater von Leiriope und hat diese vergewaltigt. Nachdem Narkissos geboren wurde, besucht seine Mutter den Seher Teresias, um in Erfahrung zu bringen, ob ihrem Sohn ein langes Leben gewährt sei. Dieser antwortet: "Wird er selbst sich nicht schauen"[8] und deutet damit schon das Ende von Narkissos an. Narkissos wächst heran und ist schon in seiner Jünglingszeit von so unvergleichlicher Schönheit, dass viele Mädchen und Jünglinge ihn begehren, die er aber voller Stolz und Hochmut alle zurückweist. Als er eines Tages mit seinen Freunden auf der Jagd ist, verirrt er sich im Wald. Die Nymphe Echo, die damals "noch Leib, nicht Stimme nur"[9] war, erblickt ihn und folgt seinen Spuren. "Und seine Nähe läßt, je mehr sie ihm folgt, sie erglühen."[10]

Narkissos sucht seine Freunde und ruft nach ihnen. Die verfluchte Echo, die Worte nur noch wiederholen kann, folgt Narkissos unauffällig und wiederholt die Enden seiner Ausrufe. Narkissos ist verwirrt und fordert die sich versteckende Echo auf: "So laß uns Hier vereinen!"[11] Und Echo wiederholt die Worte "uns vereinen", tritt aus ihrem Versteck hervor und eilt in Richtung Narkissos, um ihn zu umarmen. Doch Narkissos weist mit den Worten: "Eher möchte ich sterben, als daß ich würde dein Eigen!"[12], auch Echo zurück, woraufhin diese sich enttäuscht im Wald zurückzieht.

Der Rest der Geschichte dürfte bekannt sein. Narkissos ruht sich an einer Lichtung mit angrenzender Quelle aus. Während er in dieser seinen Durst stillen möchte, erblickt er sein Spiegelbild im Wasser und verliebt sich in dieses. Er kann sich von seinem Spiegelbild nicht lösen, selbst nachdem er erkannt hat, dass es sein eigenes Abbild ist, in das er sich verliebt hat und stirbt schließlich. Das Spiegelbild entwickelt eine solche Stärke, dass er sich nicht mehr davon befreien kann und sogar den Tod vorzieht, statt sich von seinem geliebten Bild zu trennen.

Die Welt um ihn herum scheint zu verschwinden, nachdem sich die Beziehung zwischen Narkissos und seinem Spiegelbild gebildet hat. Narkissos erblickt seine eigene Großartigkeit und ist von dieser derart eingenommen, dass es nur noch ihn und sein Abbild gibt. Diese Beziehung verläuft nicht durchgängig friedlich. Nachdem er erkannt hat, dass die geliebte Gestalt im Wasser sein eigenes Abbild ist, verzweifelt er kurzzeitig und schlägt sich wutentbrannt auf die Brust. Und doch wendet er sich wieder seinem Bild zu. Er weiß zwar ob des Truges dieser Liebe und kann sich doch nicht davon lösen. Das Bild ist zu stark, nimmt ihn auch weiterhin gefangen. Es gibt keinen Dritten, der die innige Beziehung von Narkissos und seinem Spiegelbild entwirren könnte.

Trotz ihres Zornes folgt Echo Narkissos weiterhin, nachdem dieser sie verstoßen hat und als sie Narkissos sieht, wie er auf sich einschlägt und sich doch wieder seinem Spiegelbild zuwendet, trauert sie um ihn. Sie wiederholt die verzweifelten Aussprüche Narkissos und auch die Töne der Schläge, die er sich in seiner Verzweiflung wieder und wieder zuführt. Sie könnte der Dritte sein, der die schicksalsschwere, auf den Tod angelegte Beziehung erweitert. Doch Narkissos hört sie nicht. Er überlässt sich stattdessen seiner Verzweiflung, sein Spiegelbild nicht ergreifen zu können. Das Spiegelbild von Narkissos ist so stark, dass dieser sich davon nicht freimachen kann. Er sieht sich das erste Mal und was er sieht, ist seine eigene Schönheit, seine eigen Vollkommenheit, die auf ihn einen derart starken Eindruck macht, dass alles andere zu verschwinden scheint. Als Echo ihm seine letzten Worte nachspricht, scheint er diese gar nicht mehr zu hören. Die Welt, die Anderen können nicht mehr durch das erblickte Bild im Wasser dringen, es gibt nichts anderes mehr, als dieses Bild. Nicht mal der eigene Körper ist noch von Interesse. Von einer Beziehung zwischen Narkissos und seinem Spiegelbild kann man eigentlich nicht mehr sprechen. Es gibt nur noch das Bild, das Spiegelbild. Die Welt zentriert sich auf dieses Bild und verschwindet hinter ihm. Die Magie des Bildes, lässt nichts anderes mehr gelten als eben dieses Bild. Letztlich stirbt Narkissos und mit seinen Tode verschwindet selbst sein Leib und an seiner statt, erblüht eine Narzisse.

1.2 Der Mythos der Medusa

Im Mythos von Perseus und Medusa spielt der Spiegel ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch die Verbindung zwischen dem Grauen, dem Schrecken und der daraus folgenden Erstarrung, die später noch eine wichtige Rolle spielen wird, findet darin ein schönes Beispiel. Die duale Beziehung, die Narziss in den Tode führte, wird im Mythos von Perseus und Medusa durch einen vermittelnden Spiegel erweitert, der nicht nur diese Beziehung aufbricht, sondern auch das Grauen zu ertragen hilft. Das Motiv des Spiegels, des Vermittlers oder des Dritten, wird im Verlaufe der Ausführungen klarer zu Tage treten. Die Ausführungen zu Medusa und Perseus sollen als anschauliches Beispiel dienen.

Perseus ist der Sohn von Zeus und Danae. Er wird mit seiner Mutter von seinem Großvater in einen Kasten eingeschlossen und ins Meer geworfen, weil jener eines Orakelspruchs wegen glaubt, dass "ein Enkel ihm Leben und Thron rauben"[13] werde. Doch durch den Schutz von Zeus überleben sie die Stürme des Meeres und schwimmen bei der Insel Seriphos an Land. Sie werden von einem der dort herrschenden Brüder an Land gezogen und von den beiden Brüdern, Diktys und Polydektes, liebevoll aufgenommen. Polydektes nimmt Danae zur Frau und nimmt sich auch der Erziehung Perseus an. Als Perseus herangewachsen ist, soll er seinem Stiefvater nach ausziehen und etwas Großes vollbringen. Sie einigen sich darauf, dass Perseus der Medusa das Haupt abschlagen soll. Medusa ist eine der drei Gorgonen und die einzige der dreien, die sterblich ist. Sie ist so hässlich und schrecklich anzusehen, dass jeder, der sie ansieht, augenblicklich in Stein verwandelt wird. Durch verschiedenartige Listen gelingt es Perseus zu der Behausung der Medusa zu gelangen. Auf dem Wege dorthin hat er "die Bilder von Menschen und Tieren gesehen, die durch den Anblick der Medusa in Steine verwandelt gewesen."[14] Er kann Medusa mithin nicht direkt von Angesicht zu Angesicht anblicken und bedient sich abermals einer List. Mit seinem Schild spiegelt er Medusa und kann auf diese Weise ihren Kopf lokalisieren, ohne dass er sie direkt anblicken müsste. Sodann schneidet er ihr, während sie schläft, den Kopf ab und entkommt auf demselben Weg, wie er gekommen war.

1.3 Die Rolle des Vermittlers

Perseus muss, um seine Aufgabe zu erfüllen, den Umweg der Spiegelung gehen. Es ist nicht möglich, die Medusa direkt, von Angesicht zu Angesicht anzublicken. Er geht also den Umweg über den Spiegel und hat erst dadurch die Möglichkeit einen Blick, sei er auch gespiegelt, auf die Medusa zu werfen, ohne selbst zu Stein zu erstarren. Narkissos hingegen sieht sich selbst in einen Spiegel, ist sich dieser Spiegelung aber, zumindest zu Beginn, nicht bewusst. Er besieht sein eigenes Antlitz und entflammt daraufhin in wilder und wahnhafter Liebe. Einmal stellt der Spiegel eine Notwendigkeit dar, das andere Mal ist er eine Quelle der Gefahren und Risiken.

Wenn man die beiden Spiegelungsprozesse betrachtet, wird man eine fundamentale Differenz bemerken: Perseus benutzt den Spiegel als Mittler, der eine Verbindung zwischen ihm und der Medusa herstellt, ohne die es unmöglich gewesen wäre, ihr das Haupt abzuschlagen. Erst über das Dritte des Spiegels war es ihm möglich, zu ihr in Kontakt zu treten[15]. Dem Grauen der direkten Begegnung wird ein Spiegel unterlegt, der dieses Grauen zu ertragen hilft. Die unmittelbare Nähe der direkten Beziehung wird durch den vermittelnden, Distanz schaffenden Spiegel unmöglich gemacht. Dadurch wird der Rest der Welt nicht ausgeblendet. Im Gegensatz zu Narkissos wird die Welt nicht zum erblickten Bild. Vielmehr erscheint das Gesicht der Medusa auf dem Hintergrund der Welt und lässt es so kleiner, weniger schrecklich erscheinen. Dem Schrecken wird seine Größe, seine Vollkommenheit genommen; er wird auf ein Normalmaß zurückgefahren, das auszuhalten ist. Das emotionale Moment des Schreckens wird abgeschwächt und auf diese Weise kann Perseus der Erstarrung entgehen.

Diese Funktion des Mittlers und des Dritten hat die Spiegelung bei Narkissos nicht. Er betrachtet sein Gesicht nicht über den Spiegel, nein, er blickt sich durch die Spiegelung sozusagen ins erwünschte Gesicht. Er betrachtet kein Bild seiner selbst, sondern erblickt das Ideal seiner selbst. Es ist eine ausschließlich imaginäre[16] Erfahrung, die die Welt zu einer fiktiven Zweiheit schmelzen lässt, die eigentlich eine Einheit darstellt und alles andere verleugnet. Es ist kein Dritter da, der diese tödliche und zutiefst ambivalente Beziehung sprengen könnte oder genauer: Der Dritte wird erst abgewehrt und später nicht mehr wahrgenommen. Verzweifelte Liebe und wahnsinnige Aggressionen sind in ein und derselben Erfahrung begründet. Narkissos verweigert jedes Dritte, das ihn zur überlebenswichtigen Distanz zu sich selbst bringen könnte, will nicht anerkennen, dass die reine Selbstbezüglichkeit in der Katastrophe enden muss, dass der Andere für das eigene Selbst überlebensnotwendig ist. Er blickt der verkleideten Medusa seiner selbst direkt ins Gesicht, erstarrt und versteinert und verschwindet mit dem Bild seiner selbst.



[5] Vgl. Laplanche, Pontalis, 1972: S. 317ff

[6] Roudinesco, E., 2004: S. 707f.

[7] Es gibt mehrere Fassungen dieses Mythos. Die hier vorgestellte orientiert sich an den Metamorphosen von Ovid. In der Fassung von Ovid finden sich die für diese Arbeit so zentralen Motive am prägnantesten dargestellt.

[8] Ovid, 1997: Drittes Buch, Z. 348

[9] Ovid, 1997: Drittes Buch, Z. 359

[10] Ebd., Z. 372

[11] Ebd., Z. 385f.

[12] Ebd., Z. 391

[13] Schwab, G., 1981: S. 37

[14] Ovid, 1997: Buch 4, Z. 780f.

[15] Der Mythos um Medusa und Perseus hat aber noch einen anderen interessanten Gesichtspunkt. Medusa stellt in ihrem so fremdartigen Wesen eine derart bedrohliche Fremdheit dar, dass es unmöglich wird, ihr geradewegs ins Gesicht zu sehen, ohne dabei zu erstarren. Doch dazu weiter unten.

[16] Das Imaginäre soll eine Beziehung charakterisieren, die dem Ideal der reinen Zweierbeziehung anhängt und jedes Dritte, das diese Beziehung erweitern könnte, abwehrt. Genaueres dazu weiter unten.

2 Das Spiegelstadium

Narziss erblickt sich im Spiegel, verliebt sich in sein Spiegelbild, braucht eine Weile bis er erkennt, wen er anblickt, verzweifelt ob der Unmöglichkeit seines Begehrens und stirbt zuletzt daran. Dieser Mythos ist für die Psychoanalyse von herausragender Bedeutung. Bei Freud erscheint er erstmals 1910 und wird 1914 in der Studie "Zur Einführung des Narzißmus" begrifflich genauer eingeführt. Er unterscheidet dort zwischen dem primären und dem sekundären Narzissmus: Ersterer "bezeichnet einen frühen Zustand, in dem sich das Kind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt. Der sekundäre Narzißmus bezeichnet eine Rückwendung der von ihren Objektbeziehungen zurückgezogenen Libido."[17]

Eine seiner schillerndsten und einflussreichsten Darstellung findet der Narzissmus in dem vom Psychoanalytiker Jaques Lacan beschriebenen Spiegelstadium. Dieser "gehört zu dessen meistzitierten Texten...und wird immer wieder als Einstieg in die Lacan-Interpretation gewählt."[18]

Exkurs: Das Imaginäre, das Symbolische, Das Reale

Bevor das Spiegelstadium beschrieben wird, sollen im Folgenden kurz die Begriffe des Symbolischen, des Realen und des Imaginären erläutert werden, die "den methodologischen Kern von Lacans Psychoanalyse und...gewissermaßen einen Kompaß" [19] für das Lacan Verständnis - und damit auch für das Spiegelstadium - darstellen. Vor allem auf die Begriffe des Imaginären und des Symbolischen wird im Laufe der Ausführungen immer wieder zurückzukommen sein, da sie für das weiter unten diskutierte Problem des Fremden von heuristischen Wert sind.

Das Imaginäre: Das Imaginäre ist das Bildhafte, Vorstellende anhand dessen sich das Ich bildet und formt. Hier findet eine erste Identifikation mit dem gespiegelten Bild des eigenen Körpers statt. Dadurch dass das Bild im Außen situiert ist, kommt es zu Täuschungen, ersten Entfremdungen und Verkennungen. Das Spiegelstadium beschreibt exemplarisch die Bildung des Ich anhand des Spiegelbildes. Diese Ich-Bildung ist die Grundlage der imaginären Ordnung. "Oft ist das Imaginäre dem Narzißtischen synonym. Es ist das Reich der Projektion, der Liebe und der Aggressivität, wie sie sich in der Zweierbeziehung, einer Duell-Beziehung...manifestieren." [20] Es ist das illusionäre Reich der Ganzheit, Synthese und Autonomie [21] . Hier hat das Moi, das gespiegelte Ich, das Ideal-Ich, auf das man sich hinentwickelt, seinen Ort, wie auch der kleine andere, der nach Lacan, nicht der Andere ist, "sondern eine Spiegelung und eine Projektion des" Ichs, er ist "der Ähnliche und das Spiegelbild". [22] Das Moi wird von Lacan dem Je des Sprechaktes entgegengestellt und meint vor allem ein wesentlich bildhaftes Ich, das seiner Spiegelungen wegen ein wesentlich illusionäres bleibt.

Das Symbolische: Das Symbolische ist "im wesentlichen eine linguistische Dimension." [23] Doch ist es nicht einfach mit der Sprache gleichzusetzen, da die Sprache nach Lacan mehr als nur eine symbolische Dimension hat. Im Symbolischen hat das Je, das Sprecher-Ich, das Subjekt seinen Ort. Die symbolische Dimension der Sprache liegt im Bereich der Signifikanten, der das lautliche Element der sprachlichen Zeichen im Gegensatz zu seiner Bedeutung, dem Signifikat charakterisiert. Das Symbolische ist gekennzeichnet durch bestimmte Gesetze und Ordnungen, die das unbewusste und soziale Leben des Menschen strukturieren und gewissermaßen erst bedeuten. Damit stellt Lacan im Gegensatz zu dem Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, von dem Lacan diese Terminologie übernimmt, den Signifikanten über das Signifikat. Das Symbolische geht der Bedeutung voraus. Das Symbolische erweitert die schicksalhafte, auf den Tod angelegte, imaginäre Beziehung zwischen dem Ich und dem Spiegel-Ich zu einer triadischen und lässt auf diese Weise ein echte Interaktion und Kommunikation erst möglich werden. "Es stellt dem Menschen und seinen Einbildungen gegenüber (zunächst) das ganz und gar Andere dar, da es das Gesetz, die Grenze und die Unterscheidung gebietet." [24] Indem Lacan das Symbolische dem Bereich der radikalen Andersheit, dem großen Anderen zuordnet und behauptet, dass das Symbolische im Ort des Anderen seinen Platz hätte, verwirft er die bis dato gemeine Vorstellung, dass Sprache ein bewusster Prozess sei. Vielmehr postuliert er, dass der Diskurs des Anderen, das rein Symbolische dem Unbewussten angehört. Da das Symbolische mit seiner sprachliche Komponente das Reich des Signifikanten markiert (während das Signifikat zu der Ordnung des Imaginären zu rechnen ist) und diese Signifikanten immer nur negativ und daher unabschließbar zu bestimmen sind, ist es auch der Ort des für das Subjekt konstitutiven Mangels und Spalts. Das Subjekt als sprachlich bedingtes kann keine letzte Erfüllung finden, da die die Diskrepanz zwischen Signifikat und Signifikant nicht aufhebbar ist. Das Ich des Ausgesagten kann mit dem Ich der Aussage niemals endgültig dargestellt werden, die unabschließbare Differenz zwischen den Signifikanten muss immer einen Rest an noch nicht Gesagtem offen lassen, der als Mangel und Spalt bezeichnet wird.

Das Reale: Das Reale ist die am schwierigsten zu fassende Konzeption. Es ist das, was weder symbolisch noch imaginär ist. Hier platziert Lacan "die psychische Realität, das heißt den unbewussten Wunsch und seine entsprechenden Phantasmen, aber auch einen "Rest": Eine begehrende, für jedes subjektive Denken unfassbare Realität." [25] Das Reale lässt sich nur negativ bestimmen, es ist das, was weder imaginär noch symbolisch ist, was "unmöglich imaginiert oder in die symbolische Ordnung integriert werden kann" [26] Das Reale ist immer an seinem Platz und dennoch unerreichbar, was ihm nach Lacan seine "wesentlich traumatische Eigenschaft" [27] verleiht. Das Reale findet sich nicht jenseits des Symbolischen und Imaginären, sondern auf ewig diesseits davon. Es ist auf immer unerreichbar, gewissermaßen vorzeitig im Sinne des Zeitlichen. Dadurch ist es unbestimmbar und unbezwingbar. Es ist gewissermaßen die Ursache des Begehrens, dessen Ur in seiner Vorzeitigkeit nicht zu befriedigen ist. Da es im Wesen unbestimmt bleiben muss, kann man eigentlich auch nicht darüber reden, der Begriff ist daher immer schon paradox, da ich damit etwas bezeichne, was eigentlich nicht zu bezeichnen ist.

Das Spiegelstadium meint zumindest beim späteren Lacan kein rein entwicklungspsychologisches Moment. Vielmehr soll es einen "grundlegenden Aspekt der Struktur der Subjektivität"[28] darstellen, der den Menschen ein Leben lang begleiten wird und nicht entwicklungspsychologisch überwunden werden kann. Lacan schreibt dazu: "Was ist das Spiegelstadium? Es ist der Moment, in dem das Kind sein eigenes Bild erkennt. Doch ist das Spiegelstadium alles andere als nur die Konnotation eines Phänomens, das sich in der Entwicklung des Kindes darstellt. Es beleuchtet den konflikthaften Charakter der Zweierbeziehung."[29] Es geht in diesem Stadium[30] um die Entwicklung des Ichs, das sich anhand seines Bildes formiert und dem darauf folgenden Einbrechen des Symbolischen in die imaginäre Zweierbeziehung, welches das Ich immer schon in Frage stellt.

Lacan geht in der Entwicklung des Spiegelstadiums von einer Beobachtung des Psychologen und Philosophen J. Baldwins aus. Dieser hat entdeckt, dass Kinder im Alter von 6-18 Monaten "angesichts ihres Spiegelbildes, das sie wahrnehmen, eine "jubilatorische Geschäftigkeit"[31] zeigen. "Die jubilatorische Reaktion drückt aus, daß das Kind sich selber im Medium des anderen, des Spiegels erfährt."[32]

Das Kind nimmt seinen Körper in einem Spiegel wahr - diese Erfahrung ist nicht notwendig an einen realen Spiegel und ein reales Spiegelbild gekoppelt, es kann ebenso sehr die Spiegelung im imitierenden Verhalten der Mutter, des Vaters oder sonstigen Bezugspersonen darstellen - und fängt an ob der erblickten Vollkommenheit zu jubilieren. Es spielt mit seinem Spiegelbild, probiert verschiedene Bewegungen und Regungen aus und schaut, wie diese sich im anderen des Spiegels simultan wiederholen und duplizieren. Es erkennt, dass es sein Abbild ist, das es erfährt, das es spiegelt. Zum ersten Mal nimmt es sich in seiner vermeintlichen Gänze wahr, freut sich seiner Vollkommenheit und Totalität. Doch dieses Bild ist ein vorzeitiges, das nicht mit der erlebten Realität des Kindes übereinstimmt.

Das Ich ist mithin ein stark körperlich geprägtes, was sich auch in der räumlichen Bedeutung des französischen Wortes "le stade", das nicht nur mit Stadium, sondern auch mit Stadion übersetzt werden kann, andeutet. Sei es, dass es "klassisch" anhand des gespiegelten Körperbilds formiert wird, sei es, dass es sich aufgrund von gespiegelten Empfindungen entwickelt, die Konstitution des Ich läuft vermittelt über den Körper oder genauer: ein körperloses Ich ist undenkbar.

Das Gegenstück zum vollkommenen Ich des Spiegelbildes wird von Lacan das "zerstückelte[n] Bild des Körper"[33] genannt, das gewissermaßen die Antwort auf die Vorzeitigkeit der erblickten Vollkommenheit darstellt. Es weist ebenfalls auf die körperliche Dimension des Ichs und damit auf die umso bedrohlichere Komponente einer missglückenden Ich-Formierung hin: Mit dem Tod des Ich ist nicht nur das Ich als solches bedroht, sondern auch der damit verbundene Körper; stirbt das Ich, stirbt auch der Körper.

Die oben erwähnte Erfahrung der Vollkommenheit des Ich ist gekoppelt an das Außen des Spiegels, geht den Umweg über die Alterität seiner selbst. Das Bild des Ichs ist ein Gespiegeltes, nie alles spiegelnd, perspektivisch schon immer verzerrt. Die Form des Spiegels, des Gegenübers, das dem Kind seine Empfindungen spiegelt, ist immer schon Teil des Spiegelprozesses. So etwas wie eine objektive, freie Spiegelung ist unmöglich; der andere, der Spiegelnde, ist immer Teil der Spiegelung, er beeinflusst das Spiegelbild, kann es wiederum formen und verzerren. Darüber hinaus hat er eine weitere, wichtige Funktion für das Erkennen des Kindes. Die jubilatorische Erkenntnis des Kindes steht anfangs noch auf wackligen Füßen. Das Kind "erlebt die Ambivalenz dieser Ich-Bild-Beziehung und wendet sich zur Mutter als Zeugin dieses Prozesses, um die Identifizierung zu stabilisieren."[34] Es braucht nicht nur das Außen des Spiegels, sondern auch den Dritten, der das Erkennen des Kindes stützt und stabilisiert.

Konfrontiert mit dem eigenen Bild, bemerkt das Kind das erste Mal eine Art der Vollkommenheit, die es aus seiner Abhängigkeit von den Erwachsenen antizipatorisch entfernt. Bisher lag sein Wohlbefinden, die Befriedigung seiner Bedürfnisse in den Händen der Erwachsenen. Es konnte zwar seinen Unmut, sein Bedürfnis kundtun, selber befriedigen konnte es sie nicht. Die Nahrungsaufnahme ist gekoppelt an die Bereitschaft der Mutter, ihm die Brust oder die Flasche zu geben. Dies liegt in der Verantwortung der Erwachsenen, der Mutter, des Vaters, den Angehörigen, usw. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein hat diesbezüglich auch von der Spaltung der Mutter-Imago gesprochen: Es gibt eine "gute", gebende Mutter und eine "böse", strafende, versagende Mutter.[35] Das Wohlbefinden des Kindes liegt nicht in seiner eigenen Hand, es ist auf die Umwelt, die es noch nicht also solche wahrnimmt, angewiesen und kann nur seine Bedürfnisse äußern. Diese Abhängigkeiten sind es, die sich nachträglich in den Bildern des zerstückelten Körpers manifestieren, von denen Lacan spricht. Es ist keine ursprüngliche Zerstückeltheit, die durch das Bild kompensiert werden könnte, vielmehr ist die Zerstückeltheit selbst ein Bild, das erst nachträglich entworfen wird, sich "regelmäßig in Träumen" zeigt und das der "Visionär Hieronymus Bosch in seiner Malerei für immer festgehalten hat."[36] "Es wird somit eine Vorgeschichte einer Unvollständigkeit entworfen, die sich erst aus der von ihr abhebenden Illusion einer imaginierten Ganzheit erzählen läßt."[37] Durch das gespiegelte Bild wird das Kind erst zum Ich, kann sich als Ich daher davor auch nicht als zerstückeltes empfinden. Es mag eine Empfindung seiner Unzulänglichkeiten und Abhängigkeiten gehabt haben, die Bilder des zerstückelten Körpers bleiben jedoch Bilder, die sich erst im Nachhinein bilden und sich auf ein Vorgängiges beziehen.[38]

Wenn das Kind sich als Ich mit einem eigenen Körper und daher getrennt von anderen wahrnimmt, bedeutet das gleichzeitig mehr als das alleinige Wahrnehmen seiner selbst. Wenn es sich getrennt von der Umwelt wahrnehmen kann, bedeutet das auch, dass die Wahrnehmung der Umwelt damit einhergeht. Das Spiegelstadium strukturiert neben dem Ich notwendigerweise ebenfalls seine Umwelt. Mit der Identifizierung des eigenen Körpers, des eigenen Ichs, kommt es zu einer zunehmenden Differenzierung zwischen dem Ich und den Anderen und damit auch der Objekte. "Im Spiegelstadium wird ein Identifikationsmechanismus im Subjekt in Gang gesetzt, der von nun an jeden Akt der Wahrnehmung in Mitleidenschaft zieht."[39] Die Erkenntnis der Umwelt ist mithin beeinflusst von den ersten spiegelbildlichen Identifizierungen meiner selbst. Infolge dessen kann es auch im Nachhinein so etwas wie eine objektive Erkenntnis, so etwas wie Objektivität streng genommen nicht geben. Alles ist geprägt von Bildern und Vorstellungen, das Imaginäre spielt immer mit, jedes Erkennen ist notwendigerweise auch ein Verkennen.

Das Kind konzipiert sein "Ich nach dem Bilde des Bildes"[40], ist in seiner Ich-Bildung auf etwas außerhalb seiner selbst liegendes angewiesen. Dieser Aspekt ist von zentraler Bedeutung. Das Ich ist nicht etwas aus sich selbst kommendes, das nur darauf gewartet hätte, geweckt zu werden, vielmehr benötigt es die Hilfe des Außen, der Alterität, um sich zu formieren, zu bilden. Eine andere Möglichkeit der Ich-Bildung bietet sich nicht. Es muss notwendig den Weg über außen gehen, der "Ort des anderen ist gegenüber der eigenen Psyche keineswegs sekundär, sondern primär."[41] Das Bild des Ichs, mit dem es sich konfrontiert sieht, ist in seiner Vollkommenheit das Ideal-Ich, auf das sich das Ich bezieht, auf das es sich asymptotisch hinentwickelt. Mit den sich gleichzeitig bildenden Bildern des zerstückelten Körpers, die, wie auch das Ideal-Ich imaginäre Illusionen darstellen und die das Gegenstück zu dem ganzheitlichen und erträumten Ich bilden, kommt es zu einer ursprünglichen Zwietracht[42], die das Ich von nun an permanent mehr oder weniger stark durchlaufen wird. Die Entfremdung, die sich durch die imaginäre Identifizierung ergibt, ist daher eine doppelte: Einerseits liegt sie in der Tatsache begründet, dass sich das Ich auf das Spiegelbild im Außen hin entwirft, andererseits kommt es von diesem Moment an zu einer unbewusst empfundenen Unzulänglichkeit des Ich; das Ideal-Ich, das man in seinem Spiegelbild zu erkennen glaubt, wird von Beginn an mit der empfundenen Unzulänglichkeit und Abhängigkeit, die a) real vorhanden sind und b) sich einstellen müssen, sobald man sich ohne ein Außen nicht entwickeln, oder besser: nicht bilden kann, konterkariert. Das Ich ist von Beginn an einer unaufhörlichen Spannung unterworfen, deren illusionäre Erlösung in der Vollkommenheit des Ich und auch der Vollkommenheit eines Wir der Liebe liegt. Der Glaube an die eigene Vollkommenheit mildert den Mangel der eigenen Unzulänglichkeit ab und ist doch gleichermaßen auch der Grund des immer wiederkehrenden Mangels. Die antizipierte, orthopädische Funktion des ganzheitlichen Ichs, die "die ganz mentale Entwicklung des Subjektes bestimmen"[43] wird, wird immer schon untergraben von der dem Imaginären inhärenten Entfremdung.

Wenn in den bisherigen Ausführungen zumeist von der Ich-Bildung des Kindes gesprochen wurde, muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass mit dem Spiegelstadium kein rein entwicklungspsychologisches Moment bezeichnet werden soll. Die frühen Texte Lacans zu diesem Thema mögen zwar diesen Eindruck vermitteln, vor allem, wenn er eine konkrete Zeitspanne für den Eintritt in dieses Stadium nennt; doch vor allem in späteren Ausführungen wird klar, dass das Spiegelstadium vor allem ein strukturelles Moment der menschlichen Psyche darstellen soll. Es "hat weder mit einem wirklichen Stadium zu tun noch mit einem wirklichen Spiegel. Es wird zu einer psychischen, ja ontologischen Operation, durch die sich das menschliche Wesen in einer Identifizierung mit seinesgleichen konstituiert."[44] Das imaginäre Ich mit seinen Träumen der Ganzheit, der Vollkommenheit, die sich hartnäckig halten und sich z.B. auch in den zahlreichen ganzheitlichen Versprechen und Segnungen der Werbung, der Therapien, der Esoterik zeigen, die romantische Idee eine Beziehung, in der das Ich und das Du des Partners zu einem großen Wir verschmilzt, all die Träume, die sich um das Ich herum zentrieren, sie begleiten uns Zeit unseres Lebens. Sie werden immer ein Moment unsere Psyche darstellen, ein Moment, das das Begehren nach Unversehrtheit zu einem unaufhebbaren werden lässt und erst im Tode sein gewaltsames Ende finden wird.

2.1 Die Entfremdung und ihr aggressives Potential

Das Kind erfährt in seinem Spiegelbild die Einheit seines Körpers, glaubt sich für einen Moment vollkommen, mächtig und ganzheitlich und wird doch durch dieses perfekte Spiegelbild mit seiner eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert. Die Perfektion des vollkommenen Körpers geht einher mit den Bildern des zerstückelten Körpers, die einen Gegenpol darstellen, der nichts mit einer tatsächlich erlebten Fragmentierung des eigenen Körpers zu tun hat, sondern vielmehr ebenfalls imaginäre und daher illusionäre Bilder sind. Diese mögen ihren Grund in der erlebten Abhängigkeit und Ohnmächtigkeit haben, trotzdem bleiben die Fragmentierungen, die Zerstückelungen an Träume, Bilder und Vorstellungen gebunden, die ihren Ursprung im Imaginären haben. Die sich konterkarierenden Bilder und Vorstellungen führen zu einer unaufhebbaren Spannung, die im Mythos von Narziss treffend beschrieben worden ist. Unstillbare Liebe und Hass wechseln sich ab und haben in ein und demselben Prozess ihren Ursprung. Verzweifelten Umarmungen und Küssen folgen Schläge, die gegen sich selbst gerichtet sind. Liebe und Hass, bedingungslose Zuneigung und Aggressivität sind nicht voneinander zu trennen, das eine ist ohne das andere nicht zu haben oder genauer: Das eine ist nur um den Preis des Anderen zu haben.

Fragen, die sich stellen, sind nun, woher diese Ambivalenz, diese Widersprüchlichkeit kommen, worin sie ihren Grund, ihre Ursache haben mögen? Gibt es ein Entrinnen aus diesen inneren Spannungen? Ist man von Beginn an in einen Krieg mit sich selbst versetzt, aus dem man nicht entkommen kann? Der zum Tode führen muss?

Narziss sah sich selbst und ging daran zugrunde. Das Kind erfährt sich spiegelnd selbst und ist anfangs begeistert und jubiliert. Doch bald stellt sich die Kehrseite der Begeisterung ein, Bilder und Träume eines fragmentierten Körpers folgen. Der "bloße Anblick der vollständigen Form des menschlichen Körpers verschafft dem Subjekt eine imaginäre Beherrschung seines Körpers, die gegenüber dem der realen Beherrschung verfrüht ist."[45] Die ursprüngliche Identifikation ist nichts, das aus dem Kinde selber kommen würde; stattdessen ist es das Außen, die Umwelt, anhand derer die Spiegelungen erst möglich werden. Das Spiegelbild tritt ihm von außen her entgegen, die erste Erfahrung seiner selbst ist mithin eine entfremdende, die mit der erlebten, eigenen Realität nicht übereinstimmt. Und wie bei Narziss wird sich schon bald das Wissen darum einstellen, dass dieses Draußen immer Draußen bleiben wird. Jede "imaginäre Beziehung produziert sich in einer Art Du oder Ich zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Das heißt - Bist Du´s, dann bin ich nicht. Bin ich´s, dann bist Du´s, der nicht ist."[46] Eine Annäherung an das eigene Spiegelbild ist möglich, doch ein Eintreten in den Spiegel, eine Verschmelzung mit dem Spiegel wäre nur um den Preis des Bildes möglich. Narziss versucht sein Ebenbild zu umarmen und es verschwindet. Bei aller Nähe wird immer ein Rest an Distanz übrig bleiben. Dieser unüberbrückbare Rest an Distanz führt zu einer "Rivalität gegenüber seinem eigenen Selbst"[47], die nur mit einer Identifizierung mit dem eigenen Bild zu lösen ist. Doch diese ist, wie gezeigt, nur zeitweise und imaginär möglich und führt zwangsläufig in die aggressiven Fragen des Ich oder Du. Die Identifizierung kann kurzzeitige Linderung schaffen, doch die Kehrseite des Ich-oder-du lauert schon, schleicht sich an und wird sie wieder in Frage stellen. Das Ich ist immer schon ein Akt der Verkennung, es flüstert einem eine Traumwelt der Allmacht, der unbegrenzten Möglichkeiten ins Ohr, treibt an, ist Quelle der unablässigen Suche nach dem eigenen, dem ureigenen, in sich geschlossenen Ich. Doch die Realität, die erlebte und beschränkte Realität, lässt sich nicht so einfach verbannen. Der andere, der Teil des Spiegelprozesses ist, ist in seiner spiegelnden Funktion nicht der Andere, sondern Teil des Ich. Dennoch ist er für die Spiegelung notwendig. Das entdeckte Ich ist immer auch Teil des anderen, der die Entdeckung des Ich mitbedingt. "Ein aggressives Moment stellt sich ein, in welchem das eine immer wieder zum Objekt des anderen degradiert zu werden droht."[48]

Dieser Kampf zwischen dem Ideal und dem unbewussten Wissen der Unerreichbarkeit desselben, ist wie bei Narziss gesehen ein Kampf auf Leben und Tod, ein Kampf, der nicht gewonnen werden kann, der schon im vorneherein zum Tode bestimmt ist und zwischen Liebe und Aggression schwankt. Der Narzissmus zeichnet sich durch diese inhärente Ambivalenz aus, die ein Wechselspiel zwischen Macht und Ohnmacht kennzeichnet und letztlich, wie bei Narziss dargestellt, in den Tod durch Verzweiflung führt. Doch diese duale, tödliche Beziehung, die streng genommen gar keine duale ist, kann durch einen Dritten aufgebrochen werden. Wie schon ausgeführt spielt die Mutter eine nicht unerhebliche Rolle. Die Ambivalenz der Ich-Bild-Beziehung wird von dem Kind erlebt und verunsichert dieses, daher wendet es sich an die Mutter, um die Bestätigung zu bekommen, dass das erblickte Bild wirklich das eigene ist, um so die Identifizierung zu stabilisieren.

Wenn das Kind das eigene Spiegelbild wahrnimmt, merkt es auch, dass es im Außen lokalisierbar und daher auch für andere sichtbar ist. Gleichzeitig braucht es für die Vergewisserung dieser Erkenntnis einen Dritten[49], der stabilisierend wirkt. Es kommt hier zu einer doppelten Funktion des Blicks des Dritten: Wenn das Kind bemerkt, dass es gesehen werden kann, wird es sich fragen, wie es gesehen wird. Es möchte gefallen, möchte sich mit den Augen der Mutter, des Vater sehen, möchte begehrt werden und ist daher eingeschlossen in das Begehren des Anderen. Gleichzeitig braucht es diese Blicke, die es begehrt um die Identifizierung zu sichern. Der Blick des Dritten trägt mithin zur Sicherung bei und ist gleichzeitig immanenter Teil des Identifikationsprozesses. Und "welche Mutter möchte nicht ein ganz besonderes Kind haben und es auch zeigen? Für welche Mutter sind ihre Kinder nicht die schönsten?"[50] Die Mutter dient auch als Spiegel, das heißt ihr Begehren nach einem schönen, perfekten Kind, ihr mütterliches Begehren hinsichtlich dieses Kindes, ist immer schon Teil der Spiegelung, verzerrt und bricht das Spiegelbild. Das ideale Kind, das sich die Mutter wünscht, das die Mutter vielleicht auch zu haben glaubt[51], ist Teil des Spiegelbildes, das das Kind erblickt.

Der Spiegel bekommt eine Funktion, die mehr ist als die bloße Selbstspiegelung. Der Andere ist Teil der Spiegelungen, er spiegelt verbunden mit seinen eigenen Erwartungen, mit seinem eigenen Begehren. Die Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen ist im Imaginären immer eine fiktive, kann nur künstlich aufrecht gehalten werden. Der Andere ist Teil des Ich, wie auch das Ich Teil des Anderen ist. Die unaufhörlichen dialektischen Prozesse zwischen dem erlebten Ich und dem Ideal-Ich des Spiegels sind genau genommen immer schon eingebunden in intersubjektive Prozesse (ohne dass es dabei ein wirkliches Subjekt gäbe.). Der Andere ist immer in Gefahr, ein imaginärer Teil des Selbst zu sein, wie auch das Ich immer in Gefahr ist, aufgrund seiner imaginierten Ähnlichkeit mit dem Anderen seine eigene Identität zu verlieren. Die Spiegelung erweist sich diesbezüglich als Doppelung. "Das Imaginäre ist die Ordnung der Spiegelbilder, der Identifizierungen und der wechselhaften Abhängigkeiten. Es ist die Dimension des Erlebens, in der das Individuum nicht einfach versucht, den Anderen zu beschwichtigen, sondern dessen Andersartigkeit aufzulösen, indem es sein Gegenstück wird."[52]

Indem das Kind aber den Blick des Dritten, des großen Anderen zur Stabilisierung seiner ersten Identifikationen benötigt, ihn fragend anzugucken scheint, um sicher zu gehen, dass das erblickte, erfahrene Bild das eigene Ebenbild ist, kommt es in diesem Moment zu mehr als einer bloßen Bestätigung. Die Frage ist schon ein Vorbote des Symbolischen, das die tödliche imaginäre Beziehung aufbricht. Sie ist zwar nicht verbal gestellt, doch die dahinter liegende Frage: "Bin ich das wirklich?", ist symbolischer Natur. Der Dritte führt mit seiner Antwort, sofern er sie zu geben bereit ist, das Symbolische ein, das die schicksalsträchtigen Spiegelungen und Doppelungen spaltet und erweitert. Er lässt das Imaginäre damit nicht verschwinden, doch er erweitert die imaginäre Dyade zu einer Triade und verhindert so, dass das Ich im Anblick seines Abbildes erstarrt, wie es denjenigen ging, die Medusa direkt anschauten. Er ist der Vermittler, der die dauernden Spiegelungen und deren aggressives Potential abschwächt, die antizipierte Identifizierung mit dem Spiegelbild aber auch unmöglich machen wird. Der Traum zu bleiben, was man ist und zu verharren, wird davon subversiv unterlaufen und gestört. Das Spiegelstadium ist daher mehr als die bloße Einführung des Registers des Imaginären in die menschliche Psyche, es ist die "Teilungsregel zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen".[53]

Das Imaginäre, das in der Beschreibung des Spiegelstadiums so anschaulich dargestellt werden kann, kann nie alleine auftreten. Es hängt immer schon mit dem Symbolischen zusammen und tritt immer mit diesem verschränkt auf. Das bloß Imaginäre ist ein Konstrukt, wie es auch das bloß Symbolische ist. Man kann das mangelnde Symbolische abwehren und verdrängen, eliminieren kann man es nicht. Sie treten zusammen auf und sind meiner Meinung nach auch nicht zu werten. Lacan wertet das Symbolische dagegen höher, als das Imaginäre: "Das Ich (moi) des moderne Menschen hat, wie wir anderswo dargelegt haben, in der schönen Seele als einer dialektischen Sackgasse seine Form angenommen. Die schöne Seele erkennt nicht ihre eigene raison d´être in der Unordnung, die sie der Welt vorhält."[54] Das Imaginäre Ich wird als eine dialektische Sackgasse bezeichnet, die erst durch das Symbolische menschlich wird: "Der Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat."[55] Wenn Lacan das Symbolische höher stellt als das Imaginäre, dann vergisst er, dass die Betonung auf das Symbolische zwar die Vergegenständlichung, gegen die er Zeit seines Lebens anschrieb, verhindern mag. Doch das gegenstandslose Subjekt, das Subjekt ohne Ich wäre genauso wenig ein subjektiver Mensch, wie das rein imaginäre Ich, das Ich ohne Subjekt. Das reine Subjekt, wäre ein Subjekt ohne Identifizierung, über das man nichts mehr aussagen könnte; ein emotionsloses Subjekt, dessen Signifikanten der Resonanzboden der Signifikate fehlen würde; ohne das emotionale Moment der Ich-Identifizierung käme es zu keiner Kontaktaufnahme mit dem Anderen. Das Ich verschwände und wäre dann genauso wenig Mensch, wie das vergegenständlichte Objekt des Imaginären. Ohne das Imaginäre könnte der Mensch dem Menschen nicht mehr Spiegel sein, er wäre verschwunden in den unabschließbaren Weiten der Signifikantenkette. Das Symbolische entfremdet in seiner Unabschließbarkeit ebenso wie das Imaginäre. Die beiden Entfremdungen mögen verschiedene Qualitäten von Entfremdung darstellen. Die imaginäre Entfremdung führt zu Aggressionen, die sich sowohl gegen die eigene Person, als auch gegen den Anderen richten können. Wie hingegen die Entfremdung durch das Symbolische wirkt, ist eine andere Frage, die auch für den weiteren Verlauf dieser Arbeit von Interesse ist. Wie und warum antwortet man auf die symbolische Entfremdung und vor allem: Wie sind die beiden Entfremdungen miteinander verknüpft?



[17] Laplanche, Pontalis, 1972: S. 320f.

[18] Bedorf, T., 2003: S. 205

[19] Braun, 2007: S. 17

[20] Ebd.: S.18

[21] Vgl. Evans, 2002: S.146

[22] Ebd.: S. 39

[23] Evans, 2002: S.299

[24] Braun, 2007: S 18

[25] Roudinesco, 2004: S. 846

[26] Evans, 2002: S. 251

[27] Ebd. :S. 251

[28] Evans, D., 2002: S. 277

[29] Lacan, J., 2007: S.16

[30] Der deutsche Begriff ist in dieser Hinsicht etwas verwirrend. Das französische Wort "le stade" hat neben dem zeitlichen Aspekt des Stadiums auch noch den räumlichen des Stadions. D.h. es geht von vorneherein um mehr als die zeitliche Entwicklungslogik, es ist immer schon ein räumliches Moment mitzudenken, das sich auch in der Distanz von Bild und Spiegelbild zeigt.

[31] Lacan, 1973: S. 63

[32] Widmer, 1990: S. 29

[33] Lacan, 1996: S. 67.

[34] Bedorf, T., 2002: S. 222

Wenn weiter unten auch weiterhin von der Mutter gesprochen wird, so ist das einerseits der Begrifflichkeit Lacans geschuldet, der das Geschlecht nicht ausschließlich biologisch denkt und andererseits ist es eine Vereinfachung der Sprache. Der Begriff Mutter kann also immer auch mit dem Vater, oder einer sonstigen primären Bezugsperson des Säuglings ausgetauscht werden.

[35] Vg.. Klein, 1971: S. 40

[36] Lacan, 1973: S. 67

[37] Bedorf, 2003: S. 215

[38] Ob Bilder eines zerstückelten Körpers tatsächlich schon bei Kleinkindern zu finden sind, scheint mir zweifelhaft. Liest man das Spiegelstadium aber als strukturelles Moment der menschlichen Psyche, ist diese Frage auch nicht weiter entscheidend. Wichtiger sind dann die von Lacan herangezogenen Träume oder bildlichen Zeugnisse eines Hieronymus Bosch, die das Ich, das Ideal-Ich als ständig bedroht erscheinen lassen. Der zerstückelte Körper dient als Metapher, um die Dialektik der Ich-Bildung zu veranschaulichen.

[39] Bowie, 2007: S. 39

[40] Borch-Jacobsen, 1999: S. 58

[41] Widmer, 1990: S. 34

[42] Vgl. Lacan, 1973: S. 66

[43] Lacan, 1973: S. 67

[44] Roudinesco, 2004: S. 965

[45] Lacan, 1990: S. 105

[46] Lacan, 1991: S. 216

[47] Evans, 2002: S. 278

[48] Widmer, 1990: S. 34

[49] Der Dritte ist ein doppeldeutiger Begriff. Einerseits ist es in dem beschriebenen Fall die Mutter, die das scheinbar dyadische Verhältnis von Ich und Spiegel-Ich und damit die Ich-Identifizierung stabilisiert. Andererseits ist er auch derjenige, der die ödipale Beziehung zwischen Mutter und Kind aufbricht, aufbrechen muss. Lacan spricht diesbezüglich vom Name-des-Vaters, der die "gesetzgebende und verbietende Funktion des symbolischen Vaters" (Evans, 2002: S. 197) meint. Durch das Dritte tritt das Symbolische in die imaginäre Beziehung ein. Für die Subjektbildung ist es daher unbedingt notwendig, da das Subjekt nach Lacan das der Sprache unterworfene ist und Sprache eine symbolische Dimension aufweist und gleichzeitig die auf den Tod angelegte Zweierbeziehung zwischen Ich und Spiegel-Ich lockert. Der Dritte, der Name-des-Vaters ist nicht an den realen Vater gebunden, kann daher auch von der leiblichen Mutter symbolisiert werden.

[50] Widmer, 1990: S. 33

[51] Freud sprach diesbezüglich von "his majesty the baby" (Freud, 1946 (zehnter Band): S. 157)

[52] Bowie, 2007: S. 90

[53] Lacan, 1994: S.12

[54] Lacan, 1996: S. 123

[55] Ebd.: S. 117

3 Die Behinderung und das Spiegelstadium

Das Spiegelstadium beschreibt sehr anschaulich die imaginären Verstrickungen, in die der Mensch Zeit seines Lebens verwoben bleiben wird. Bezüglich der Behindertenpädagogik stellt sich die Frage, welchen heuristischen Wert das Konzept des Spiegelstadiums haben könnte? Wie gehen Spiegelungsprozesse vor sich, wenn das Kind nicht das erwünschte ist, wenn es behindert ist, den Erwartungen so gar nicht entsprechen will? Der Blick des Dritten, die verklärenden Brechungen des elterlichen Begehrens, die Spiegelung der eigenen Großartigkeit und Totalität, sie alle sind die Bildfläche auf denen das Kind sein Ich gespiegelt finden wird. Was passiert nun, wenn eben diese Prozesse von einer Behinderung gestört werden? Was findet das Kind in solchen Fällen vor? Sieht es noch immer seine vollkommene Unabhängigkeit und Gänze? Oder sieht es stattdessen ein Gegenteil, ein von Anfang an unerwünschtes, gebrochenes und unvollkommenes Ich?

3.1 Das Phantasma und das behinderte Kind

Die Psychoanalytikerin Maud Mannoni war eine Schülerin Jacques Lacans, dessen Theorie eines ihrer Hauptwerkzeuge wurde. Mannoni war eine der ersten PsychoanalytikerInnen, die mit geistig zurückgebliebenen Kindern, von ihr als debile Kinder bezeichnet, gearbeitet hat. 1964 erschien ihr Buch "l'Enfant arriéré et sa mère", in dem sie ihr Erfahrungen mit debilen Kindern aus psychoanalytischer Sicht schildert. Mannoni hat versucht, der damaligen Unterscheidung zwischen einer echten und einer Pseudodebilität entgegenzutreten. "Sobald sich eine Analyse wirklich engagiert, wird die Unterscheidung «echter » oder «Pseudo»-Debiler hinfällig. Die entscheidende Frage ist dann, auf welche Weise die Debilität vom Patienten und seiner Familie erlebt wird."[56]

Mannoni geht davon aus, dass man das Kind zurückweist, wenn man nur das Symptom, in den beschriebenen Fällen die Debilität, behandeln will. Mannoni hat gezeigt, wie die Krankheit des Kindes, sei sie auch organischer Natur, beim Anderen eine bestimmte Funktion gewinnt. Sie interessiert sich weniger für das Symptom (zumeist etwaige Kapazitätsmängel), als vielmehr für die Bedeutung, die Geschichte, die sich hinter dem Symptom verbergen. In den von ihr beschrieben Fällen zeigt sich immer wieder, dass der anfängliche Glaube an die organischen Faktoren der Debilität zu oft als Entschuldigung gedient hat und dass hinter der Debilität eine Familiengeschichte steckt, mit der das Kind besetzt wird und die es daran hindert, seine eigenen Wünsche auszusprechen und seine eigene Geschichte zu schreiben.

Laut Mannoni hat eine werdende Mutter immer bestimmte Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich ihres zukünftigen Kindes. Aber das geborene Kind wird diesen Vorstellungen und Wünschen nie vollends entsprechen, so dass bei der Mutter eine erste, wenn auch unbewusste Enttäuschung vorhanden sein wird. In der Folgezeit müsste die Kompensation dieser Enttäuschungen erfolgen, um die Mutter zu einer glücklichen zu machen. Die Projektionen der Mutter hinsichtlich ihres Kindes müssen nach und nach zurückgenommen werden. "Während die Rücknahme der Projektionen sich bei den anderen Müttern [nicht behinderter Kinder; B.W.] prozeßhaft entwickeln kann, bleibt den Müttern der behinderten Kinder nicht die Zeit für diesen Prozeß, sondern ereignet sich unmittelbar, direkt und vollständig über die Diagnose der Behinderung."[57] Der Schock der Behinderung erschwert die Kompensation, macht diese manchmal unmöglich, was bestimmte Auswirkungen sowohl auf das Kind als auch auf die Mutter hat. Mannoni spricht diesbezüglich von den Phantasmen der Mutter, die untersucht werden müssen, um deren Bedeutung für die Krankheit des Kindes zu entziffern. Wenn ein organischer Faktor im Spiel ist, was bei den von ihr beschriebenen Fällen längst nicht immer der Fall ist, muss sich das Kind also nicht nur mit diesem auseinandersetzen, sondern auch mit der Art und Weise, wie dieser von der Mutter phantasmatisch besetzt wird.

Das Phantasma gleicht einem Bild und hat eine Schutzfunktion inne. Es ist ein Abwehrmechanismus, ein erstarrtes Bild, das eine traumatische Erfahrung zu vermeiden, bzw. abzuwehren hilft. Im Phantasma zeigt sich die ganze Gefahr des Imaginären, es ist bewegungslos und strikt objekthaft. "Das Phantasma ergibt sich aus der einfrierenden Funktion des Unbewußten - die irritierende Vorstellung mußte abgekühlt und durch eine das Ich nicht so stark in Bedrängnis führende ersetzt werden."[58] Gleichzeitig verhilft es in seiner schützenden Funktion, den Mangel des Subjekts[59] besser zu ertragen, indem es Bilder und Vorstellungen produziert, die, ähnlich dem vollkommenen Ich des Spiegels, kurzzeitig Linderung verschaffen. Das Phantasma kann aber nicht mit dem Imaginären gleichgesetzt werden, da es eine Bedeutungs-, ein Sinnstruktur für das Subjekt aufweist und somit symbolische Züge und einen symbolischen Ort aufweist.

Die Debilität wird nicht als allein organische Tatsache begriffen, stattdessen wird danach gefragt, welch einen Sinn ein mental Debiler für eine Familie haben kann, welche Bedeutung die Debilität für das Kind selbst hat und wie diese von der Familie, bzw. bestimmten Familienmitgliedern phantasmatisch beeinflusst wird.

Die Erwartung des Kindes wird, wie schon erwähnt, in den Gedanken der werdenden Mutter einen bestimmten Platz einnehmen. Laut Mannoni ist das vor allem die Entschädigung oder die Wiederholung der eigenen Kindheit; sie spricht davon, dass das Kind einen Platz in den "verlorenen Träumen" der Mutter einnehmen wird, "es soll das wiedergutmachen, was in der Geschichte der Mutter gefehlt hat, es soll das fortführen, worauf sie verzichten musste."[60] Es kommt zu einer Art Regression der Mutter auf die frühkindliche Erlebniswelt, die notwendig ist, damit die Mutter sich genügend in das Kind einfühlen kann. Die mimetische Kompetenz der Mutter, die eine wichtige Spiegelfunktion für das Kind aufweist, zeigt ebenfalls phantasmatische Züge, die für das Kind und dessen Spiegelbild von zentraler Bedeutung sind. "His Majesty the baby", das Bild von dem vollkommenen Kind, das auf dieses zurückwirkt, ist Teil des phantasmatischen Prozesses, der zur Ich-Formierung beiträgt und dem Kind ermöglicht sich zu entwickeln. "Erst wenn die Mutter sich gezwungen sieht, ihre Fantasien als unbewusste zu fixieren...machen sie das Kind zum Objekt."[61]

Der Mangel der Mutter, der ewig währen muss und wird, soll in diesem Sinne vom Kind kompensiert werden. Kommt das Kind nun mit einem organischen Defekt auf die Welt, wird der Kontrast zu den eigenen Erwartungen besonders groß sein und der Stachel der Enttäuschung besonders tief sitzen. Wo das erwartete Kind einen Platz in den verlorenen Träumen eingenommen hat, sieht die Mutter sich nun mit einem realen Wesen konfrontiert, das durch seine offensichtliche Behinderung womöglich Traumata und frühere Versagungen wieder aufleben lässt. Was als Problematik im Unbewussten der Mutter gegärt hat[62], die unbewusst erlebte Unvollkommenheit wird in dem Anblick des behinderten Kindes sozusagen real, was bewirkt, dass diese früheren Erfahrungen nicht mehr symbolisiert und verarbeitet werden, da sie der Mutter nun als scheinbare Realität gegenüberstehen. Die Identifikation mit dem Kind, die die Mutter für ihren Mangel entschädigt und ihr ebenfalls ein Gefühl der Vollständigkeit gibt, der "schöpferische Neubeginn, die Wandlung, die neuen Lebensmöglichkeiten werden durch die Behinderung blockiert, die vermeintlichen Idealqualitäten des Kindes gehen verloren."[63] Der zerstückelte Körper, der ein Produkt des Imaginären ist, wird scheinbar real und kann auf diese Weise nach außen projiziert werden. "Das reale Bild leibhaftiger Krankheit wird auf die Mutter wie ein Schock wirken: wo ein imaginäres Kind einen leeren Raum in ihren Phantasievorstellungen ausfüllt, sieht sie sich nun einen realen Wesen gegenüber, das durch seine Gebrechen...Traumata und frühere Versagungen wieder aufleben läßt."[64] Die Beziehung der Mutter zu dem behinderten Kind wird geprägt von den Phantasmen, die sich aufgrund der Enttäuschung darüber aufbauen, "daß das Kind nicht den Traum des besseren Lebens wird erfüllen können... Das Kind wird dann [...] zum Projektionsobjekt, in welchen alles Versagen, alle phantasierte Minderwertigkeit etc. untergebracht werden, so daß das Kind seinen eigenen Lebenswunsch nurmehr gefiltert durch die enge Wahrnehmungsperspektive dieser Phantasmen zur Geltung bringen kann."[65]

Das Kind und die Mutter erleben sich nach der Geburt als eins, leben in einer scheinbaren Dyade, die aber irgendwann von einem Dritten aufgebrochen werden muss, um dem Kind die Erfahrung zu ermöglichen, seine eigene Geschichte zu leben. Ist das Kind nun geistig behindert zur Welt gekommen und sieht die Mutter in dieser Behinderung ihre eigenen schlechten Erfahrungen oder Traumata realisiert, erfordert es mehr Anstrengung, um diese dyadische Beziehung aufzulösen, da das Kind aus der Geschichte der Mutter das hervorbringt, was darin nie symbolisiert und verarbeitet wurde und somit für die Mutter eine ganz bestimmte, der Abwehr dienenden Bedeutung gewinnt. Denkt man an Aussagen wie "ganz die Mutter" oder "er ist dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten" dann kann man sich vorstellen, wie die Mutter (oder der Vater[66]) solche Sprüche unbewusst wahrnehmen muss.

In der Tat zeigt Mannoni auf, dass sich im überwiegenden Teil der Fälle, in denen sie ein debiles Kind analysierte, sich eines der beiden Elternteile aus der Erziehung des Kindes weitgehend zurückgehalten hat. Der Dritte, der diese dyadische Beziehung aufbrechen müsste, war nicht da, und so wird das Kind daran gehindert, sich als autonomes Subjekt wahrzunehmen und bleibt stattdessen ein Pflegeobjekt und in der illusionären, phantasmatischen Welt der Mutter eingeschlossen und wird durch diese in bestimmter Art und Weise geprägt. Das Phantasma ist "das Negativ des Dritten, Negativ der symbolische Dimension"[67], darauf bedacht, das Dritte abzuwehren und dem Kind so keine eigene Sprache zu ermöglichen, was aber auch bedeutet, das es immer schon ein symbolische Dimension geben muss, die abgewehrt werden soll. Das Ziel der psychoanalytischen Behandlung liegt laut Mannoni in diesen Fällen daher darin, dem Kind dazu zu verhelfen, seine eigene Geschichte zu leben, sich selbst als Subjekt wahrzunehmen, seine eigenen Wünsche zu äußern und zu einem eigenen Sprechen zu finden. "Genesen kann für ihn [einen geistig behinderten Jungen; B.W.] nichts anderes heißen, als sich selbst als Subjekt wieder zu gewinnen und nicht entfremdet im Schrecken zu verharren."[68] Der Wunsch des zurückgebliebenen Kindes wird überlagert vom Phantasma der Mutter und erhält stattdessen "die Funktion, das zu verdecken, "was als Seinsmangel bei der Mutter empfunden wird" (Mannoni 1972, S. 134)."[69] Das Kind kann sich daher in der Mutter-Kind Beziehung nicht als eigenständiges, mit eigenen Wünschen ausgestattetes Wesen wahrnehmen, da die Phantasmen und unbewussten Erwartungen der Mutter diese Autonomiestrebungen ständig zu überdecken suchen. Mannoni schreibt dazu: "Wir haben gesehen, wie in bestimmten Augenblicken das zurückgebliebene Kind und seine Mutter als einheitlicher Leib erscheinen. Der Wunsch des einen vermischt sich mit dem Wunsch des Anderen, so daß scheinbar beide eine einzige, gleiche Geschichte leben." Die Symptome des Kindes "sind oft nichts anderes als die zum Sprechen gebrachte Angst der Mutter."[70]

3.2 Das Phantasma der Behinderung

Bei den Fällen die Mannoni beschreibt, versucht sie immer wieder zu zeigen, dass die dyadische Mutter-Kind Beziehung nicht durch einen Dritten aufgebrochen worden ist.[71] Dieser Dritte ist in den von ihr beschriebenen Fällen zumeist nicht da oder wird durch das Phantasma abgewehrt. Dem Kind wird auf diese Weise der "normale" Prozess im Spiegelstadium verwehrt. Es mag vielleicht in den Spiegel blicken und sich darin auch erkennen, doch die Frage: Bin ich das? wird von der Mutter nicht mit dem bestätigenden Blick, dem Blick des Dritten beantwortet, den das Kind bräuchte, um zu dauerhaft zu realisieren, dass es sich selbst im Spiegel erblickt.

Mannoni beschreibt die Behinderung als Teil einer Familiengeschichte. Das Phantasma wird als individuelle Problematik eines der Familienangehörigen beschrieben (manchmal auch von mehreren Familienangehörigen) mit der das behinderte Kind in Verbindung tritt. Dies ist zugleich einer der Angriffspunkte, denen sie sich ausgesetzt hat und die ihr Buch provokant erschienen ließen. "Mannonis Buch hat auch in der deutschsprachigen Sonderpädagogik einige Aufmerksamkeit erfahren. Jedoch schien die Rezeption vor allem durch Ratlosigkeit bzw. einem Befremden geprägt gewesen zu sein."[72] Mannoni selbst spricht in ihrem Vorwort zur Ausgabe von "leidenschaftlichen Reaktionen unterschiedlicher Art"[73], die ihr Buch ausgelöst habe und führt diese vor allem darauf zurück, dass man ihr oft den Vorwurf machte, sie würde die Mutter für die Krankheit ihres Kindes verantwortlich machen. Einige dieser Kontroversen sind wohl dem etwas irreführenden Titel zu verdanken. Wie in einer Anmerkung weiter oben erwähnt sind Begriffe wie "weiblich" und "männlich" bei Lacan als psychologische Kategorien zu denken, die nicht an das biologische Geschlecht gekoppelt sind. Es muss nicht die tatsächliche Mutter sein, die das Kind mit ihren Wünschen besetzt, sondern dies kann ebenso gut der Vater (oder beide zugleich) sein. In ihrem Buch beschreibt sie mehrere Fälle, in denen der Vater sein Kind mit seinen Phantasmen besetzt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Behinderung in Mannonis Buch als innerfamiliäre, phantasmatisch besetzte Geschichte dargestellt wird, die erst mit einer genaueren Kenntnis von Lacans Theorie zu einem gesellschaftlichen Problem wird.[74]

An diesem Punkt hat sich die deutsche Psychoanalytikerin Dietmut Niedecken angeknüpft, die Mannoni immer wieder lobenswert erwähnt und ihr zugesteht, dass sie bei genauem Lesen "solche Schuldzuweisungen nicht unternimmt", aber auch dahingehend Kritik äußert, dass die "Konzentration ihres Blickes auf individuelle Beziehungen, ohne Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes... Schuldzuweisungen Tür und Tor öffnet"[75]. Sie versucht daher, das individuelle Phantasma mit einem gesellschaftlichen und kulturellen Phantasma in Verbindung zu setzten. Dadurch hofft sie, der Gefahr der individuellen Schuldzuschreibung zu entgehen.

Für Niedecken gibt es die geistige Behinderung als substantielles, naturhaftes Ereignis nicht. "Geistig behindert kann niemand geboren werden...Wie jede geistige Entwicklung, so konstituiert sich auch die geistig behinderte erst in der Auseinandersetzung zwischen dem Säugling in seinen spezifischen Möglichkeiten und Begrenzungen und seiner Mutter (mit- oder allein erziehende Väter einbegriffen), und in diese Auseinandersetzung geht formbildend ein auch die Haltung der die Mutter und das Kind umgebenden, sie haltenden oder alleinlassenden Umwelt."[76] Die These Niedeckens lautet, dass geistige Behinderung ein Produkt der verschiednen Interaktionsformen zwischen dem geistig behinderten Kind und seiner Umwelt ist. Diese Interaktionsformen sind nach Niedecken beschädigt[77], da sie von den kulturellen und gesellschaftlichen Phantasmen überlagert werden. Niedecken beschreibt zwar auch die gestörten Mutter-Kind Beziehungen, doch sieht sie deren Ursprung "bei kollektiven gesellschaftlich vorstrukturierten "Phantasmen"."[78]

Das gesellschaftliche Phantasma, das auf das individuelle Phantasma der Mutter-Kind Beziehung rückwirkt, zeigt sich auch schon bei Mannoni, wenn sie von der abwehrenden Funktion der Diagnose spricht, die die "Krankheit...zur Institution"[79] werden lässt. Laut Niedecken findet man bei genaueren Nachfragen bei fast allen Eltern geistig behinderter Kinder Fragen folgender Art: Warum ausgerechnet sie ein behindertes Kind bekommen haben? Was sie falsch machten? Wofür sie bestraft werden? Sie werden sich Schuld an der Behinderung ihres Kindes zuschreiben. Alle diese Phänomene mögen irrational sein; liest man jedoch Fallgeschichten von Eltern behinderter Kinder, so tauchen sie in aller Regelmäßigkeit auf. Die Diagnose ist daher ein Mittel, die Eltern von diesen Schuldgefühlen zu entlasten. Findet sich ein organischer Schaden, erklärt dieser (scheinbar) die Behinderung und entlastet die Eltern durch diese rationale Erklärung, die auf nachvollziehbare, medizinische Gründe rekurriert, von den irrationalen und mystischen Schuldgefühlen.

Die Diagnose ist aber ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite entlastet sie die Eltern von den individuell erlebten Schuldgefühlen, während sie auf der anderen Seite das dahinter liegende, gesellschaftliche Problem verdeckt: die Schuldzuweisung. Der organische Schaden stellt quasi die Entschuldigung dar, während die erfolglose Diagnostizierung - oder unsichere Diagnosen, die z.B. die Psyche betreffen - mit einer von den Eltern empfundenen Schuld verbunden ist. Außerdem macht die Diagnose die Eltern von den diagnostizierenden Fachleuten abhängig, da mit ihnen die Schuldentlastung verbunden wird, die daher immer fremdbestimmt und labil bleiben muss.[80] "Der Januskopf der Diagnostik"[81] ist also nicht nur bezogen auf die Problematik des Für und Wider diagnostischer Verfahren, wie z.B. der Pränataldiagnostik, ambivalenter Natur. Auch die Sicherheit und Entlastung, die in einer Studie des Sonderpädagogen Lenhard[82] als positiv für die psychosoziale Situation der Eltern gedeutet werden, ist ambivalent. Interessant ist vor allem der Janus, "der die Tore bewacht, die vom zivilisierten Leben des Bürgers in das Gebiet der Feinde führen."[83] Die Diagnose entlastet von der empfundenen Schuld der Eltern an der Behinderung ihres Kindes und kann den Eltern "ein Martyrium von Schuldzuweisungen, Anklagen, Selbstanklagen und Schuldgefühlen"[84] ersparen, doch die eigentlich interessante Frage wird dadurch verbannt: Woher kommen diese Schuldgefühle? Und vor allem: Was haben sie für eine Funktion?

Die Tore des zivilisierten Lebens werden durch die Diagnose wieder geschlossen und der unbestimmte Feind wird ausgesperrt. Die bis dato störende Unbestimmbarkeit der kindlichen Situation wird erklärt, gewissermaßen als natürlich deklariert und verbunden mit zukünftigen Aussichten über die Entwicklung des Kindes. "Die allgemeine Annahme, der organische Defekt sei als unabänderliches Schicksal Ursache der sich entwickelnden geistigen Behinderung, stellt Diagnose und Prognose in einen unmittelbaren Zusammenhang."[85]

Die Vorstellungen, die sich mit der diagnostizierten Behinderung verbinden, beginnen ihre Wirkung zu entfalten. Was der französische Philosoph Michel Foucault über das Gutachten aussagt, lässt sich auch auf die Diagnose, das diagnostische Gutachten übertragen, ersetzt man nur die Wörter Tat und Delikt, durch eine bestimmte geistige Behinderung: "Das Gutachten macht es möglich, von der Tat auf das Verhalten zu schließen, vom Delikt auf die Seinsweise, und die Seinsweise als nichts anderes als das Delikt erscheinen zu lassen, aber in gewisser in einem Zustand der Allgemeinheit innerhalb des Verhaltens des Individuums."[86] Das sture und ewig lächelnde Kind mit Down-Syndrom, der eigensinnige, in sich gekehrte, widerständige Autist sind Paradebeispiele für Bilder, unter deren Einfluss die Entwicklung fortan stehen wird, auch wenn diese Bilder individuelle Abweichungen aufweisen werden. Die Prognose kann den Weg auf ungebührende Weise festlegen, sie ist eine Art Korsett, das eine echte, freie Kommunikation zwischen dem Kind und den Eltern erschwert. Das scheint das Risiko der Förderung zu sein: Man redet nicht mehr einfach nur mit dem Kind, spielt nicht einfach nur mit ihm, geht nicht einfach nur mit ihm schwimmen oder reiten, vielmehr steht alles unter dem Aspekt der Förderung und der Therapie. Hier ist Niedecken zuzustimmen, die davon spricht, dass durch "und durch geförderte Kinder...in erschreckendem Ausmaß den Eindruck willenloser Marionetten" machen und "automatenhaft geforderte Leistungen" absolvieren.[87] Die Diagnose verbindet sich mit Anleitungen und Verhaltensanweisungen, wie die Entwicklungsstörung des geistig behinderten Kindes am besten abgeschwächt werden könnte; das Risiko die Kommunikation mit dem Kind auf diese Weise zu einer künstlichen, befangenen werden zu lassen, scheint nicht von der Hand zu weisen sein. In dem Prozess des Diagnostizierens/Prognostizierens, der auf der einen Seite schuldentlastend wirkt, schwingt immer schon das Potential für neue Schuldgefühle mit. Verfolgt man die Vorschläge und Anweisungen bezüglich des Kindes nicht, die ja immer dem Wohle des Kindes dienen sollen, sind weitere Schuldgefühle denkbar: Die Frage, ob man denn alles Mögliche für sein Kind getan hat, wird virulent und die Beziehung zum Kind weiter belasten. Dennoch soll die Diagnose nicht verdammt werden. Sie hat eine schuldentlastende Wirkung, die für die Eltern hilfreich sein kann und vor allem bietet sie Modelle, mit denen, aller objektivierenden Tendenzen zum Trotz, ein Verständnis geschaffen werden kann, das dem Kind und den Eltern helfen kann. Es sollte nur immer bedacht werden, dass eine Diagnose ein zweischneidiges Schwert ist; dass aus dem Versuch des Klassifizierens und Diagnostizierens ein Zuviel der Klassifikation und Diagnose werden kann, das dem Kind die Luft zum Atmen nehmen kann.

Das Aussperren des Feindes ist nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden desselben. Hinter der Türe lauert er weiter, blickt durchs Schlüsselloch und wartet nur darauf, dass die Türe einen Spalt geöffnet wird, um dann die zweifelhafte Sicherheit der zivilisierten Bürger wieder zu stören. Die Diagnose bleibt laut Niedecken daher auch immer ein labile, schwache, die immer aufs Neue bestätigt werden soll. Einerseits ist damit die Hoffnung verbunden, der diagnostizierende Arzt habe sich getäuscht und das Kind kann doch noch geheilt werden, andererseits sind die Schuldgefühle mit der Diagnose eben nicht ein für allemal besiegt. Sie gären weiter im Unbewussten vor sich hin, klopfen immer wieder an die Tür und warten nur darauf, dass diese nur einen kleinen Spalt geöffnet wird.

Es stellt sich die Frage, was hinter diesen Schuldgefühlen liegt, wer und was sie auslöst und was sie bedeuten? Nach Niedecken sind elterliche Schuldgefühle immer verbunden mit Tötungsfantasien der Eltern gegenüber ihrem behinderten Kind. Diese finden sich ihrer Aussage nach bei allen Eltern, wenn man nur genau genug nachfrage.[88] Man fantasiert den Tod des behinderten Kindes, schämt sich dieser Fantasien und versucht verzweifelt sie abzuwehren. Diese Fantasien sind laut Niedecken kollektiven Ursprungs, sie spricht von eine gesellschaftlich Mordauftrag, mit dem die Mütter beladen wird: "Die Umwelt lädt die kollektiven Mordfantasien in solchen Inszenierungen. Es ist der Hass eines ganzen Volke, der zu unsäglichen Verbrechen geführt hat, den sie jetzt allein tragen sollen, und das können sie nicht. So wachsen die Schuldgefühle... ins Unermessliche."[89] Der gesellschaftliche Mordauftrag zeigt sich subtil in den alltäglichen Reaktionen und Blicken, die behinderte Menschen und deren Angehörige ertragen müssen. Sie werden angeblickt, weil sie anders sind, werden therapeutisiert, weil sie für die Umwelt sonst nicht tragbar scheinen, ihr Verhalten wird modifiziert, damit sie sich besser anpassen können. "So gründet also die Institution »Geistigbehindertsein« auf die Abschiebung kollektiver Tötungstendenzen auf einzelne...»Das Unglück der Behinderung muss beseitigt werden! Niemand macht sich Gedanken darüber, ob wir das Kind nicht verunsichern, wenn wir ihm das Gefühl geben, man wolle es anders, als es ist.«"[90] Ständig werden geistig behinderte Kinder mit ihrer Minderwertigkeit konfrontiert, die bekämpft werden will. Die pränatale Diagnostik dient dazu, behindertes Leben so früh als möglich zu erkennen, damit den Eltern die Möglichkeit gegeben werden kann, ihr Kind, sofern es eine zu erwartende Behinderung aufweist, noch abtreiben zu können. Der Philosoph Peter Singer bringt den Euthanasiegedanken wieder ins Spiel[91] und wenn Mütter ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringen, muss sich ein nicht unerheblicher Anteil von ihnen mit Vorwürfen von Verwandten, Freunden und Bekannten auseinandersetzen.[92]

Behinderung ist mit bestimmten Bildern und Vorstellungen beladen, die weitestgehend negativer Natur sind. Vor die Wahl gestellt, ein behindertes Kind zu bekommen, sagt wohl beinahe jeder intuitiv nein und die Vorstellung, dass ein schwerst mehrfach behindertes Kind ein zufriedenes, ja glückliches Leben führen könnte, ist keine weit verbreitete. All diese Vorstellungen hinsichtlich behinderter Menschen wirken auf den konkreten Fall der Mutter zurück, die ein behindertes Kind zur Welt gebracht hat. Die gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen vermischen sich mit den individuellen der Mutter und um die Scham vor sich selbst zu verdecken, um die Tötungsphantasie weiter ins Unbewusste zu verlagern, bedient man sich unbewusst der Phantasmen, die die Kinder objektivieren. Geistige Behinderung erscheint dann nach Niedecken als "Produkt eines Sozialisationsvorgangs zwischen dem Kind mit spezifisch beeinträchtigten körperlichen Voraussetzungen und einer dazu in spezifisch pathogener Weise sich verhaltenden Umwelt." [93]

Die geistige Behinderung wird zu einer Institution, die ihren Ausgang in der frühkindlichen Mutter-Kind Beziehung hat. Die Mutter schämt sich ihrer eigenen, gesellschaftlich bedingten Tötungsphantasien und wehrt sie ab. In der Folge mag es vorkommen, dass sie sich deswegen um so mehr um ihr Kind kümmert, da sie von schlechten Gewissen gequält wird. "Das Kind mit einem Gebrechen - auch möchte ich hinzufügen, mit einem von der Mutter befürchteten oder fantasierten Gebrechen zwingt die Mutter dazu, sich mit ihren Fantasien auf es neu einzustellen. Anders als ein gesundes Kind, das an ihrer Stelle einen Mangel kompensieren kann, fordert es von ihr, so scheint es ihr zumindest, dass sie für es handelt und entscheidet."[94] Die abgewehrten Phantasien des Todes, des Todeswunsches werden im Unbewussten fixiert und mit den antwortenden, bildhaften Phantasmen überlagert, die auf das Kind einwirken und es prägen. Die aggressiven Tötungsfantasien werden abgewehrt. "Die Geschichte zeigt jedoch, daß die Versuche, die menschliche Aggression zu meistern, immer wieder scheitern."[95] Das Kind muss sich den Phantasmen zumindest teilweise anpassen, da es auf die Mutter, die Liebe und Bindung der Mutter angewiesen ist, da es sich in den Bildern und Vorstellungen der Mutter gespiegelt sieht und keine andere Möglichkeit hat, als sich daran zu orientieren.

Das Phantasma verbindet die Mutter, das behinderte Kind und die Gesellschaft in schier unauflöslicher Weise miteinander und verhindert das weitere Walten der Fantasie[96], die der Bewegung, des Spiels bedarf; der "Spielraum der Fantasie"[97] wird durch die Starre des Phantasmas eingeschränkt; die reale fantasierende Person des Kindes, wird phantasmatisch überdeckt. Die für die Ich-Bildung so wichtigen Bilder werden zu mehr als Bildern, sie werden zu einem großen Bild. "Es ist ein lebendes Gemälde"[98], erstarrt und nahezu unabänderbar, die reine Vergangenheit, an der, einmal geschrieben, gemalt, nicht wieder gerüttelt werden soll. Es dient dazu "den Mangel am Sein der Mutter auszugleichen; es ist dazu bestimmt, für sie zu leben und nicht für sich selbst."[99] Aus Schutz vor den eigenen, gesellschaftlich produzierten Ängsten engt das Phantasma das Kind in seinen Entwicklungsmöglichkeiten ein und lässt die Interaktion zu einer reduzierten, imaginären werden. Sie wird aufs Zweidimensionale reduziert: "Die Dimension des Symbolischen ist außer Kraft gesetzt"[100]. Die Angst vor den eigenen Fantasien, den Tötungsfantasien wird von den Phantasmen abgewehrt oder genauer: Die Phantasmen sind das Ergebnis dieser Fantasien, die Schuldgefühle, Scham und Unbehagen hinterlassen. Das mimetische Einfühlungsvermögen wird von der Angst der Ungewissheit erschüttert, die entsteht, wenn die Diskrepanz zwischen dem erwünschten und dem realen Kind eine zu große Kluft hinterlässt. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sich in das Kind hinein zu versetzen, geht verloren, das Kind ist zu anders, zu fremd, man findet keine Namen, keine Worte, um zu erklären, was mit dem Kind los ist. Die für das Kind so wichtigen Interaktionen mit der Mutter, die Bindungserfahrungen entgleisen, Wut, Hass und Zorn entstehen, Schuldgefühle machen sich breit und um die rasende "Fahrt in Panik"[101] aufzuhalten, gibt das Phantasma eine vorläufige Antwort; es "bringt die zusammengebrochen Strukturen ihrer (der Mutter; B.W.) gewohnten Erlebniswelt in ein neues, stabilisierendes System"[102], das den Preis hat, statisch und entfremdend zu sein.

Die Angst, das Grauen, das Phantasma des lebensunwerten Lebens[103] sind die stillen, versteckten Begleiter der geistig behinderten Kinder. Bei ihrem Anblick zeigen sie sich und beschämt wendet man sich wieder ab. Das eigene Grauen und die damit verbundenen Schuldgefühle müssen vor der Tür gehalten werden. Die "diagnosestellende Instanz"[104] soll von dieser Schuld freisprechen, einen organischen Faktor ausfindig machen, der beweisen soll, dass die Eltern keine Schuld an den Abartigkeiten ihres Kindes tragen. Die Diagnose und das dahinter liegende Bild der Behinderung liefern "ein stabiles System von Erklärungsschemata und mitgelieferten Verhaltensanweisungen, in denen die schlimmen Gefühle einen Ausdruck finden, ohne bewusst werden zu müssen."[105] Sie ist ein Teil des Phantasmas und trägt paradoxerweise in ihrer schuldentlastenden Wirkung dazu bei, dass die Schuldgefühle, ohne die keine Entlastung möglich wäre, weiterhin bestehen bleiben, wenn auch versteckt in den unbewussten Gefilden der psychischen Landkarte. Was der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim über Zeremonien geschrieben hat, kann auch auf diese Erklärungsschemata der Diagnose/Prognose umgemünzt werden. "Zeremonien entwickeln sich um das, was »Tabu«, was nicht berührt werden soll, weil es gefährlich ist."[106] Die gesellschaftlichen Phantasmen dienen so dazu, die Aggressionen bezüglich geistiger Behinderung im Unbewussten festzuschreiben, wirken auf die Individuen und machen diese dadurch von der phantasmatische Instanz abhängig. Ein Moment der Macht, des Wissen kommt ins Spiel. "In der für die Festsetzung der Herrschaft im Individuum notwendige Unbewußtmachung der Aggression liegt die treibende Kraft der gesellschaftlichen Produktion der Unbewußheit"[107]. Die Diagnosen, die verschiedenen Formen des Wissen, der Erklärungen mögen die Eltern von ihren aggressiven, unbewussten Wünschen entlasten, doch zugleich machen sie die Eltern in gewisser Hinsicht auch abhängig.

So schwierig das Phantasma zu fassen ist, scheint es sich durch eine antwortende Funktion auszuzeichnen. Es ist die Antwort auf die Fantasie, auf das Grauen und die Angst, die geistige Behinderung in uns auslöst, die Antwort auf den (konstitutiven) Mangel des Subjekts, der im geistig behinderten Kind scheinbar real geworden ist. Doch bleibt das Phantasma, wie alles Unbewusste ein schwer zu fassender, notdürftiger Begriff. Wenn das fundamentale Phantasma ein notwendiger Teil des Subjekts ist, wenn also der konstitutive Mangel des Subjekts dieses Phantasma braucht, um unter der Leere des Mangels nicht zu verschwinden und nichtig zu werden, stellt sich die Frage, inwieweit die Trennung vom fundamentalen Phantasma und weiteren Phantasmen, die die Behinderung begünstigen und zur Behinderung werden lassen, nicht ein künstliche, nur theoretische ist? Des Weiteren ist die Theorie der mütterlichen und gesellschaftlichen Phantasmen ebenfalls eine Theorie. Das theoretische Wissen um die Wirkweise der Phantasmen, die ein zentraler Punkt der vorliegenden Erläuterungen darstellt, ist ebenfalls verkürzend und objektivierend. Sie schreibt der geistigen Behinderung eine weitere Ursache ein, die zwar weniger verkennend und objektivierend wie eine nur organische sein mag, sich aber dennoch dem wissenschaftlichen Dogma der Ursache-Wirkung nicht entziehen kann. Das total verobjektivierte geistig behinderte Kind, wie man es bei Mannoni und Niedecken manches Mal zu finden scheint, wird es nicht geben. Die Einbruchstellen der Subjektivität werden sich bei genauerem Hinsehen immer zeigen.

So hilfreich die Vorstellung einer interpsychischen Funktion und Wirkweise der geistigen Behinderung auch sein mag, so scheint mir diese Vorstellung an einem zentralen Punkt vorbeizuzielen. Die Frage nach dem Warum der Tötungsabsichten, die Frage nach dem Woher und Warum des Grauens? Warum kommt es zu unbewussten Tötungsfantasien, wenn man mit einem "minderwertigen" Leben konfrontiert wird? Was löst den Gedanken an ein minderwertiges Leben aus und vor allem, was erschrickt uns daran? Was lässt uns in derartiger Weise auf Was antworten?

3.3 Das Namenlose, Fremde der Behinderung[108]

Die Geburt, die Ankündigung eines behinderten Kindes wirkt wie ein Schock auf die Eltern. Unbestimmte Schuldgefühle breiten sich aus und werden abgewehrt. Die Gesellschaft hat daran, wie Niedecken nachweist, einen nicht unerheblichen Anteil, so dass die Grenze zwischen Debilität und Pseudodebilität eine nur schwer zu ziehende ist. Welches Verhalten des geistig behinderten Kindes lässt sich auf die Behinderung zurückführen und welches ist Teil der phantasmatischen Prozesse, die sich im Mikrokosmos der Familie und dem Makrokosmos der Gesellschaft, sich gegenseitig beeinflussend, abspielen? Welchen Wert hat die Diagnose? Ist es tatsächlich ein allgemeines Merkmal von Menschen mit Down-Syndrom stur, freundlich und fröhlich zu sein? Oder sind diese allgemeinen Eigenschaften phantasmatische Bilder, Gemälde, auf die sich das Kind mit Down-Syndrom hinentwickeln muss, um sich so etwas wie eine Identität, wenn auch eine tendenziell subjektlose, zu sichern? Ist das Lächeln behinderter Menschen, das viele von ihnen so harmlos erscheinen lässt, ein wirkliches? Oder doch oft nur das "behinderte Lächeln", das als "Abwehr gegen Trauma...zu einer sekundäre Behinderung des Betroffenen und seiner lächelnden Betreuer oder Familie"[109] wird und ein erstarrtes Angepasst-Sein signalisiert, das weit davon entfernt ist, wahren Humor auszudrücken?

Schuldgefühle, die von Hass und Tötungsabsichten künden, sind Teil der behinderten Welt und ihrer Umwelt. Woher dieser Hass, woher diese Tötungsabsichten?

Die narzisstische Identifikation, die für das Kind sowie für die Mutter von so wichtiger Bedeutung ist, wird durch die Behinderung in ihren Grundfesten erschüttert. Die Mutter kann ihr Kind nicht verstehen, trifft auf etwas Unbekanntes, Fremdes, in das sie sich nicht einfühlen kann. Die genügend gute Mutter, von der der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott spricht[110], ist immer eine, die ihrem Kind dessen Gefühle und Trost spiegelt und ihm so hilft, auch unangenehme Empfindungen zu meistern. Das setzt voraus, dass sie sich mimetisch in das Kind hineinversetzten kann; werden die mimetischen Prozesse gestört, wird die Mimesis ihres Sinnes beraubt, trägt sie zur Behinderung bei, das Phantasma schiebt sich zwischen die Partner der Interaktion und lässt diese so entgleiten.[111]

Die Frage lautet nun, was diese Angst auslöst, die uns Zuflucht in Phantasmen suchen lässt, die das behinderte Kind hindern, eine eigene Geschichte zu finden, zu einem eigenständigen Subjekt zu werden? Warum ist es so schwer, einem behinderten Kind Freude und Glück zu spiegeln, ihm zu signalisieren, dass es willkommen ist, so wie es ist?

Die französische Psychoanalytikerin Simone Sausse spricht davon, dass die Behinderung vor allem Angst hervorruft, die dadurch zu erklären ist, dass sie uns mit den Grenzen des Menschlichen konfrontiert. Behinderte Kinder sind nicht wie die anderen, die gewöhnlichen, sie stören unsere Gewohnheiten und rufen Bilder nahe der Monstrosität und der Bestialität in uns hervor, die uns zutiefst schockieren.[112] "Le handicap vient donner corps à quelque chose d´irreprésentable, de l´ordre de l´horreur. Aucune représentation ne permet de donner forme à cet événement catastrophique. Ou plutôt : les représentations qui viennent à l´esprit sont tellement intolérables qu´elles sont aussitôt chassées, laissant place à ce vide de l´innommable."[113] Die Bilder der Behinderung sind derart schrecklicher Natur, weil sie uns mit etwas konfrontieren, das wir nicht kennen, für das wir keinen Namen haben, das wir nicht verstehen können. Wie im Mythos der Medusa erstarrt der Blick, wenn er der Behinderung direkt ins Gesicht blickt. Was bleibt, ist die Erstarrung oder das Wegblicken.

Die Behinderung konfrontiert mit einer Namenlosigkeit, die das Innerste anspricht, ohne dass man die Sprache verstehen würde. Das Nicht-Verstehen ruft Angst, Ohnmacht und Wut gegen diejenigen hervor, "deren Verhalten unser Bemühen um Verständnis immer wieder frustriert"[114]. Die Behinderung traumatisiert die Eltern, lässt sie erstarren und nimmt der Zeit ihre Bewegung. Es ist ein Schock, von dessen Existenz man weiß, der aber eigentlich immer nur die anderen betrifft, niemals aber einen selbst. Es ist unmöglich, sich darauf vorzubereiten; selbst die pränatale Diagnostik und das damit eventuell verbundene Wissen, dass man ein behindertes Kind zur Welt bringt, lindern den Schock nicht. Sie selbst sind schon Teil des Schocks, der Fragen auslöst wie: "Was habe ich nur gemacht, das mir das passiert?", "Bin ich Schuld an der Behinderung meines Kindes?", "Warum nur ich?". Man sucht nach Gründen für das Unerklärliche, Namenlose. "Les parents s´imaginent, en contradiction avec toute pensée rationnelle, un événement qui a causé ce handicap."[115]

Die Zeit scheint stillzustehen, unabänderlich zu sein, das Fremde, Absurde dringt in die Wahrnehmung der Eltern ein und lässt sie wie versteinert verharren. "Une autre caractéristique du choc traumatique est d´arrêter l´effet du temps. Si aucune aide n´est apportée aux parents, tout est figé ; rien ne bouge... Tous les parents expriment cette immobilisation du temps. « Rien n´est plus pareil. » Désormais, il y a un avant et un après."[116] Die Behinderung strukturiert die Zeit neu, lässt sie kurzfristig inne halten und erstarren, spaltet die Geschichte der Zeit in ein Davor und ein Danach und das Dazwischen bleibt leer und unbestimmt. Sogar etwas per se sich Bewegendes wie Sprache verliert seine Dynamik und gewinnt eine Starre und Schwere, der nur schwer zu entkommen ist: "La réalité du handicap introduit une rigidité qui fixe les mots."[117] Das Danach der Behinderung ist gekennzeichnet durch Schuldgefühle auf Seiten der Eltern, die eine abwehrende Antwort auf die unbestimmte Angst der Namenlosigkeit und des bedrohlichen Nichts ist, die durch die nicht zu verstehende Behinderung hervorgerufen werden. Das Nichts, das Negative ist in seiner Unbenennbarkeit und seiner Zeitlosigkeit ein Vorbote des Todes, der verneint, gehasst und abgewehrt wird. "Ce qu´il faut cacher à tout prix, c´est l´idée de la mort, qui suscite une telle angoisse chez les adultes".[118]

Das spiegelnde Moment des Identifikationsprozesses ist immer ein gegenseitiges. Das Kind erfährt sich gespiegelt in seiner Mutter, seiner Familie, seiner Umwelt. Und auch die Mutter identifiziert sich mit dem Kind, erträumt sich seine verlorene Geschichte zurück mit all den Verheißungen und Wünschen, die im Laufe der Zeit enttäuscht und symbolisch gebrochen wurden. Der Traum der Identität, der im Spiegelstadium seinen Anfang nimmt, ist ein menschlicher, der nicht irgendwann wie eine Stufe überwunden wird. Identifikationen, die Ideen der Kohärenz und der Ganzheit sind notwendig um die Welt zu strukturieren und erklärbar zu machen. Abschließen lässt sich dieser Prozess niemals; das "Skandalon des Fremden"[119] lässt sich nicht komplett ausschalten, bleibt immer da in den Zwischenräumen des Unerklärlichen und fordert eine Antwort, die uns tief in unserem Innersten berührt. Es rüttelt an den Grundfesten der Identität und lässt diese in luziden Momenten als ein unsicheres und zerklüftetes Konstrukt erscheinen. "On préfère ignorer la précarité de l ´identité, parce qu´on ne veut pas remettre en question cette construction si durement acquise et toujours si fragile. Tout ce qui fait chanceler l´illusion de l ´unité de la totalité de la personne est une menace, et suscite donc des défenses."[120]

Es gibt immer ein Mehr, das die Identität bedroht und zu einer instabilen werden lässt. Die Vorstellung, die Bildung einer Identität ist jedoch notwendig, da das Subjekt sonst dauernd mit dieser Unsicherheit konfrontiert wäre; Gewohnheiten, Bilder und sonstige Weisen, die der Vorstellung von Welt dienlich sind und ein Bewegen in ihr erst natürlich werden lassen, wären ansonsten nicht möglich, das Subjekt würde traumatisiert. "Ich-Identität ist also eine Kategorie des Imaginären, in der die Spaltung durch das Phantasma zugedeckt wird... Wäre dem nicht so, dann würde das Subjekt traumatisiert, denn sein Realitätskonzept, mittels dessen es sich als Ich behauptet, würde nicht mehr greifen, weil das Reale gerade das ist, was das Subjekt nicht begreifen kann".[121]

Das fundamentale Phantasma, das den konstitutiven Mangel des Subjekts zu verdecken sucht, wird durch den Anblick der Behinderung bedroht; das Fremde, nicht zu Integrierende fällt ein und legt den Finger auf die Wunde der Bruchstellen der Identität. Die eigene, mühsam erworbene und immer auf Neue zu erwerbende, brüchige Identität wird in Frage gestellt. Eine Angst macht sich breit, die abgewehrt werden will, durch Hass und Tötungsabsichten, für die man sich im nächsten Moment schämt und die man nicht akzeptieren will. Es kommt zur Bildung weiterer Phantasmen, die wiederum die angeblich unlauteren Hass- und Tötungsphantasien abwehren und dabei das Kind in seiner Subjektwerdung hindern, da sie dessen Unbestimmbarkeit, die die eigene, schmerzhafte Unbestimmbarkeit spiegelt, nicht wahrhaben will.



[56] Mannoni, 1972. S. 134

[57] Jonas, 1994: S. 69

[58] Erdheim, 1984: S. 216

[59] Nach Lacan gibt es eine Art fundamentales Phantasma, das unbewusst ist und niemals ausgelöscht werden kann; es ist dies die Antwort auf den konstitutiven Mangel des Subjekts oder genauer: "Das Subjekt ist innerhalb des Fantasmas situiert und wird durch es getragen. Das Fantasma stellt die Geschichte des Subjekts dar, das worauf die Struktur als die Wahrheit in der Geschichte an-kommt." (Lipowatz, 1986: S. 65). Im Phantasma wird dieser Spalt, dieser Mangel des Subjekts verdeckt, so dass das Subjekt sein Ich als vollkommenes begehren kann und kurzzeitig, wenn auch nur imaginär, erreichen kann. Dieses fundamentale Phantasma kann als eine Grundbedingung des Menschen gelesen werden, die mit der Vollständigkeit des Imaginären verwandt ist und das Begehren des Menschen zu einem unaufhebbaren macht.

[60] Mannoni, 1972: S. 23

[61] Niedecken, 2003: S. 79

[62] Mannoni macht in ihrem Buch darauf aufmerksam, dass sie die Mütter behinderter Kinder nicht anklagen möchte, Schuld an der Behinderung ihrer Kinder zu tragen. Ebenso macht sie deutlich, dass sie mit Kindern zu tun hat, bei denen die Therapie sozusagen als letzte Möglichkeit betrachtet wurde. Ihre Folgerungen können daher nicht eins zu eins auf jedes behinderte Kind, auf jeden behinderten Menschen übertragen werden, da sie nur mit "Fällen" arbeitete, bei denen man auf die Idee kam, es mit einer psychoanalytischen Therapie zu versuchen.

[63] Jonas, 1994: S. 70

[64] Mannoni, 1972: S. 23

[65] Niedecken, 1997: S. 378

[66] Da sich Mannoni an der Theorie Lacans orientiert, kann wohl auch hier davon ausgegangen werden, dass Begriffe wie Mutter und Vater nicht ausschließlich geschlechtlich definiert sind. Es wird im Folgenden weiterhin hauptsächlich von der Mutter die Sprache sein, was vor allem einer besseren Lesbarkeit geschuldet ist. Die Mutter kann aber gedanklich ersetzt werden durch die primäre Bezugsperson des Kindes; es kann also auch der Vater, die Pflegemutter, der -vater gemeint sein.

[67] Niedecken, 2003: S. 91

[68] Mannoni, 1972: S. 115

[69] Fröhlich, 1994: S. 157

[70] Mannoni, 1972: S. 62

[71] Nimmt man den Titel von Mannonis Buch: l'Enfant arriéré et sa mère" und interpretiert diesen vor dem Hintergrund der Lacanschen Begrifflichkeiten, gewinnt dieser einen weit über den wortwörtlichen Titel hinausgehende Bedeutung.

Das Männliche und das Weibliche sind bei Lacan psychologische Begriffe, die nicht an das Geschlecht gebunden sind. Für Lacan erhalten die körperlichen Merkmale nicht durch sich selbst ihre Bedeutung, sondern durch die Imaginierung, die durch das Symbolische vermittelt wird. Erst durch die Symbolisierung, d.h. durch die Bedeutung, die man ihr gibt, wird die Geschlechtlichkeit in die Realität eingegliedert und erst auf dieser Ebene gibt es den Idealtypus des Geschlechts, der an die Körperlichkeit gebunden ist. Als Zeichen dieses Idealtypus ist das Männliche durch den Penis charakterisiert. Dieser Penis sichert ihm die Existenz als Mann. Die Frau wiederum hat dieses offenkundige Zeichen nicht. Sie ist durch Abwesenheit des Penis charakterisiert und hat daher einen unbestimmten Aspekt. Will die Frau in diesem Sinne existieren, braucht sie ebenfalls ein phallisches Zeichen. Da ihr dieses wesensmäßig aber nicht zugehörig ist, gilt für den imaginären Bereich, dass sie nicht ganz, nicht vollständig, d.h. mangelhaft ist. Daher beinhaltet das Weibliche das konstituierende Begehren nach einem phallischen Zeichen, das ihrem Mangel Abhilfe böte.

Der imaginäre Mann hingegen wird durch die Illusion der Vollständigkeit immer um seinen Phallus bangen und so durch eine dauernde Kastrationsangst geprägt, die zu dem Mangel führt, sich seiner Geschlechtlichkeit immer im Anderen zu versichern. Auch hier ist die Illusion der Vollständigkeit nicht aus sich selbst heraus unmöglich. (Vg..: Widmer, 1990: S.91f.) Das Kind kann auf diese Weise dem Weiblichen als eine Art phallischer Ersatz "dienen", da die Mutter sich mit dem neugeborenen Kind unbewusst als Eins, also vollkommen fühlen kann. Der Mangel der Mutter wird auf diese Weise scheinbar aufgehoben. Das Begehren nach einem Dritten, in den meisten Fällen wohl der Vater, muss stark genug sein, um das Kind in die Selbständigkeit zu entlassen.

[72] Fröhlich, 1994: S. 161

[73] Mannoni, 1972: S. 9

[74] Das Phantasma hat mehr als nur eine imaginäre Komponente. Durch seine Bedeutungsstruktur weist es auch symbolische Züge auf. Dieses Symbolische deutet wiederum die gesellschaftliche Ebene des Problems Behinderung an, da es eine Art überpersonale Strukturierungsebene darstellt, die die gesamte Gesellschaft betrifft.

[75] Niedecken, 1997: S. 376

[76] Niedecken, 2003: S. 25f.

[77] Ebd. S. 25

[78] Fröhlich, 1994: S. 167

[79] Mannoni, 1972: S. 10

[80] Vgl. Niedecken, 2003 : S.44-47

Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit das Mittel der Diagnose schon die ersten Schuldgefühle beeinflusst, die die Diagnose eigentlich entschuldigen soll, oder inwieweit eine erfolglose Diagnose die Schuldgefühle unter Umständen noch verstärkt.

[81] Lenhard, W., et. al: 2005: S. 99

[82] Ebd.

[83] Rostovtzeff, 1942: S. 48

[84] Niedecken, 2003: S. 44

[85] Ebd.: S. 32

[86] Foucault, 2003: S. 33

[87] Ebd.: S. 149

[88] Vgl. Niedecken, 1997: S. 381

[89] Niedecken, 2003: S. 48

[90] Ebd.: S. 19

[91] Vgl. Singer, 1994

[92] Vg.: Lenhard et al., 2005: S. 108f.

Laut dieser Studie mussten sich 28.3 Prozent der Mütter von Kindern mit Down-Syndrom sich die Frage stellen lassen, warum denn keine pränatale Diagnostik stattfand. D.h. die Vorstellung, dass man sich für ein behindertes Kind bewusst entscheidet, wird von einem nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft nicht mehr in Betracht gezogen, bzw. wird mit einem Vorwurf bedacht.

[93] Niedecken, 2003: S. 25

[94] Ebd.: S. 78

[95] Erdheim, 1984: S. 388

[96] Die Tötungsfantasie ist zu aller erst eine Fantasie. Sie wird erst zum Problem, wenn sie abgewehrt wird, wenn sie nicht eingestanden wird. Die Fantasie bekommt den Schleier des Verbotenen und wird phantasmatisch überdeckt. Dadurch wird das weitere Walten der Fantasie erschwert. Das spielerische, schöpferische und dadurch freie Moment wird überlagert von der Macht des geronnenen Bildes des Phantasmas.

[97] Niedecken, 2003.: S. 84

[98] Mannoni, 1972: S. 65

[99] Ebd.: S. 68

[100] Niedecken, 2003: S. 90

[101] Ebd.: S. 79

[102] Ebd.: S. 79

[103] Vgl. Ebd.: S. 37

[104] Ebd.: S. 79

[105] Ebd.: S. 80

[106] Erdheim, 1984: S. 401

[107] Ebd.: S. 418

[108] In einer ersten Annäherung sollen das Fremde und das Namenlose als synonym betrachtet werden. In den folgenden Absätzen wird der Begriff des Fremden genauer untersucht. Vorgreifend lässt sich sagen, dass das Namenlose eng mit dem Fremden verbunden ist. Doch da Drängende, Störende, das schon in dem Begriff des Fremden liegt, findet sich im Namenlosen nicht. Das Fremde wird auch und vor allem durch den Namen bewirkt. Daher wird im Folgenden vermehrt vom Fremden gesprochen werden.

[109] Sinason, 2000: S. 96

[110] Vgl. Winnicott, 1973

[111] Niedecken, 2003: S. 91

[112] Sausse, 1996: S. 8

[113] Ebd.: S. 35

[114] Niedecken, 2003: S. 127

[115] Sausse, 1996: S. 110

[116] Ebd.: S. 37

[117] Ebd. : S. 25

[118] Ebd.: S. 79

[119] Waldenfels, 2002: S.186

[120] Sausse, 1996: S. 69f.

[121] Wimmer, 1988: S. 106

4 Die Namenlosigkeit und das Fremde

Wenn im Folgenden versucht werden soll, das Fremde zu skizzieren und auf einige Aspekte und Auswirkungen dieses Fremden einzugehen, dann orientiert sich dieser Versuch an der Theorie des Philosophen Bernhard Waldenfels, der das Fremde in zahlreichen Büchern behandelt und theoretisiert. Das Konzept des Fremden ist meiner Meinung dazu geeignet, den vorgestellten psychoanalytischen Untersuchungen von Mannoni, Niedecken und Sausse eine philosophische Ebene beizulegen, die vor allem dazu geeignet ist, das Phänomen der Behinderung als ein Grenzphänomen der menschlichen Erfahrung zu begreifen, das seinen Schrecken vor allem aufgrund der Erfahrungen, die es im nicht behinderten Gegenüber auslöst, gewinnt. Behinderung erfährt so eine Dimension, die über den Behinderten hinausreicht, eine allgemein menschliche ist und am Beispiel des geistig behinderten Kindes, Menschen "nur" in ihren Extremen sichtbar wird.

4.1 Das Fremde

Auf den ersten Blick ist das Fremde mit seinen sprachlichen Kombinationen und Variationen ein durch und durch alltäglicher und vertrauter Begriff. Man macht Urlaub in einem fremden Land, lernt eine Fremdsprache, ist befremdet angesichts bestimmter Kulturpraktiken, fühlt sich entfremdet, wenn man auf Gefühle und Situationen trifft, die einen aus der Bahn werfen, muss sich in einem fremden Haus erst mal zurechtfinden. Das Fremde scheint immer auf eine Sphäre des Eigenen zu verweisen, anhand derer es erst seinen Sinn findet und die als Referenzpunkt dient, die Fremdes ermöglicht. Die Fremdsprache verlöre ihren Sinn, hätte man keine Muttersprache zur Verfügung. Kulturpraktiken können nur befremden, wenn man seine eigenen, gewöhnlichen als Referenzpunkt heranzieht und das Kind, das fremdelt, ohne dass es eine schon Beziehung aufgebaut hat, ist schwer vorzustellen.

Diese alltäglichen Beispiele des Fremden müssen aber genauer untersucht werden, damit der Begriff des Fremden nicht in einer verschwommenen Alltäglichkeit seines heuristischen Wertes beraubt wird. Gibt es eine Beziehung zwischen der Fremdsprache und dem Fremdeln, die über das Wort hinaus geht? Kann das Fremde einer Fremdsprache erlernt und gefasst werden? Kann das Fremde überwunden werden? Wie kann das Fremde mit Behinderung in eine Beziehung gebracht werden, die für beide Seiten eine fruchtbare ist?

Das Fremde ist mit dem Eigenen verbunden, sei es das eigene Ich, das Heimatland, das eigene Haus oder die Muttersprache. Es geht "auf das Altbekannte, Längstvertraute"[122] zurück. Gleichzeitig ist es zumindest teilweise verbunden mit einem Anderen, das von Außen an mich herantritt. "Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt...und was in der Form von >Fremdling< und >Fremdlingin< (so noch bei Schiller) personifiziert wird. Fremd ist zweitens, was einem Anderen gehört...Als fremd erscheint drittens, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt...Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen."[123]

All diese Aspekte würden eine eigene Behandlung verdienen, da sie auf verschiedene Wirkweisen des Fremden verweisen. Es soll aber darauf verzichtet werden, all diese Aspekte separat zu behandeln. Es sind vor allem der Ort und die Art, die für den weiteren Verlauf von Interesse sind; doch auch der Besitz wird eine Rolle spielen, wenn von dem Problem der Objektivierung die Sprache sein wird.

Das Fremde, der Andere und das Eigene sind auf eigenartige Weise miteinander verbunden. Das Andere erscheint uns oftmals fremd, und darf dennoch nicht einfach mit dem Fremden gleichgesetzt werden. Der Andere, das Andere, das an mich herantritt wird im ersten Moment immer fremd sein. Man stelle sich vor, man hätte z.B. noch nie eine Frau mit Kopftuch gesehen und träfe dann unvermittelt auf eine solche. Im ersten Moment wäre man vermutlich erstaunt und würde sich die Frage stellen, was dieses merkwürdige Tuch auf dem Kopf wohl soll. Dieser Anblick ist jedoch selbstverständlich geworden, so dass sich eine Zeit lang niemand mehr gewundert hat, wenn einem eine solche Frau über den Weg lief. Merkwürdigerweise hat sich die Situation nach dem 11. September 2001 aufs Neue verändert, vor allem unmittelbar danach. Viele vermuteten hinter jedem Kopftuchträger oder arabischen Bartträger etwas Böses und Bedrohliches. Obwohl z.B. das Kopftuch für uns immer etwas anderes bleiben wird, verlor es nach einer gewissen Zeit seine befremdende Wirkung, um sie dann plötzlich wieder zu gewinnen. Das Fremde und das Andere mögen mithin für einige Augenblicke zusammenfallen, doch scheint dies eher ein kurzzeitiger Effekt zu sein, der nicht auf alles Andere zutrifft. "Man kann nur sagen, was neuartig ist, wird leicht schreckhaft und unheimlich; einiges Neuartige ist schreckhaft, durchaus nicht alles. Zum Neuen und Nichtvertrauten muß erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht."[124] Der/das Andere kann zu etwas Vertrautem werden, das nicht mehr näher beachtet wird, das selbstverständlich wird, obwohl es immer etwas Anderes bleiben wird. Das Andere zeichnet sich durch eine Vergleichbarkeit aus, die auf etwas Allgemeines hinweist. Solange man dieses vergleichende Moment nicht erkennt, wird das Andere fremd bleiben. Beginnt der Vergleich jedoch zu fruchten, wird das Andere seine geheimnisvolle Fremdheit ablegen und zum genuin Anderen werden, der jedoch immer ein Produkt des Imaginären, Bildhaften bleiben muss.[125] Das Fremde hingegen lässt sich nicht so leicht bändigen. Während das Andere einer anderen Ordnung angehört, die ihre Fremdheit verliert, sobald sie erkannt und verstanden wird - dieses Verstehen und Erklären mag ein illusionäres sein, es wird dennoch nicht seine bändigende Kraft einbüßen, solange man glaubt, es erklärt und verstanden zu haben -, scheint sich das Fremde dieser Ordnung immer schon zu entziehen. Das Problematische einer solchen Unterscheidung von Fremden und Anderem liegt sicher darin, dass nicht abzusehen ist, was Teil einer Ordnung ist, Teil einer Ordnung werden wird und niemals Teil einer Ordnung sein kann. Das Fremde und das Andere sind daher auf merkwürdige Weise miteinander verbunden, ohne dass das eine auf das andere reduzierbar wäre. Gleichzeitig verweist dieser Aspekt auf die Zeitlichkeit des Fremden; das Fremde hat seine Geschichte, seine Orte, seine Stile.

Während der/das Andere Teil einer anderen Ordnung ist, die auf den ersten Blick fremd erscheinen mag, so verliert er/es seine Fremdheit, wenn man ihn/es in eine, wenn auch neue, Ordnung (v)erklärt hat. Jede Ordnung, die sich von anderen unterscheidet, hat so auf den ersten Blick ihr eigenes Anderes. Und selbst das ursprüngliche Nichtverstehen muss nicht immer das Gefühl von Fremdheit auslösen. Während das Andere auf eine andere Ordnung verweist und daher das Gemeinsame der Ordentlichkeit aufweist, muss das Fremde ein Mehr aufweisen, das es erst zu einem Fremden macht. Waldenfels spricht diesbezüglich "von drei Steigerungsstufen der Fremdheit"[126], einer normalen, einer strukturellen und einer radikalen. Die normale Fremdheit zeige sich z.B. am anonymen Nachbarn, die strukturelle beispielsweise an einer fremden Sprache und die radikale am Beispiel des Todes, des Eros, oder des Schlafs. Die normale Fremdheit betrifft das Fremde innerhalb der eigenen Ordnung, die strukturelle alles, was außerhalb einer bestimmten Ordnung liegt, während die radikale jenseits jeder Ordnung verortet[127], oder genauer ver-nicht-ortet ist. Diese Trennung halte ich jedoch für problematisch, da sie eine neue Ordnung in das Fremde hineinschreibt, obwohl sich das Fremde durch seine Außerordentlichkeit auszeichnet. Der Begriff des Fremden müsste dann in jeder Situation dahingehend hinterfragt werden, welche Bedeutung er einnehmen soll und wie er gegenüber dem Anderen zu unterscheiden ist. Er gewänne durch diesen Akt der Kategorisierung eine Ordnungsfunktion, die neue Grenzziehungen und Trennungen erlaubt. Des Weiteren sei vorgreifend erwähnt, dass man das Fremde stattdessen auch den Registern des Psychischen, wie sie Lacan nennt, zuordnen könnte. Was auf den ersten Blick ebenfalls wie eine Kategorisierung erscheinen mag, gewinnt vor dem Hintergrund der wesentlichen Verflechtung dieser Register einen dynamischen Aspekt, der Grenzziehungen erschwert und dem Fremden zugleich verschiedene Qualitäten verleiht.[128]

Durch den Begriff des Anderen gibt es die Möglichkeit das Fremde präziser zu fassen und vor allem auf die Möglichkeiten der Bewältigung des Fremden hinzuweisen. Auch wenn der Übergang zwischen dem Anderen und dem Fremden ein fließender sein mag, scheint das Fremde in seiner radikalen Lesart, eine besondere Konnotation zu beinhalten: das Beunruhigende, das Gefühl, dass es einen im Innersten berührt, ohne dass man sagen könnte, wie, wo und warum es einen berührt; die Außerordentlichkeit des Fremden, die eine bestehende Ordnung unaufhörlich stört und diese zu Reaktionen herausfordert. Das Andere hingegen ist eine Möglichkeit der Bewältigung des Fremden. Die andere Ordnung ist Teil des Bildes der Ordnung. Der Glaube an die Ordnung und die Verortung des Anderen darin, ist ein Akt der Bewältigung des Fremden qua Rationalität und ist "charakteristisch für die abendländische Rationalität"[129], die zu erklären und zu verstehen sucht. Der Vergleich mit einer anderen Ordnung, bzw. der Versuch, das Andere in einer anderen Ordnung zu verorten, läuft anheim mit einer Erklärung und einem Prozess des Verstehens. Diese Erklärung wird aber immer verklärende Momente aufweisen, wie auch jedes Erkennen immer auch einen Akt des Verkennens darstellt. Eine Sache wirklich zu verstehen ist schon dadurch unmöglich, da Verstehen immer an Worte gebunden ist. Die unendliche Vielfalt dieser Worte, ihrer Bedeutungen und ihrer Kombinationen, die unendlich Vielfalt der Differenzen innerhalb der Worte, lassen Endgültiges, Erschöpfendes niemals zu. Dennoch kann die Beunruhigung durch das Fremde durch die vermeintliche Erklärung zum Erliegen kommen. Dies ist ein Produkt des Imaginären, das Stabilität und Ordnung herbeiführen soll. Das genuin Andere im Sinne eines vollständigen Vergleichs vor dem Hintergrund eines Allgemeinen ist daher inexistent, oder genauer: Erst durch das Imaginäre kann es zu der Idee der Allgemeinheit kommen, die das genuin Andere möglich macht. Das Andere wird auf diese Weise zu einem Gegenspieler des Fremden, den es zu bändigen und den Stachel zu ziehen[130] sucht. Das Andere muss wesentlich fremd bleiben und ist doch nicht das Fremde, es hat Aspekte der Fremdheit, die aber weniger zum Anderen selbst gehören, sondern ihren Grund in einem Zwischen haben, das auf eine Verbindung zum Eigenen hinweist. Fremd wird mit der Andere erst in seiner Verbindung mit mir; fremd wird mir der Andere erst, wenn er in dieser Verbindung die Phalanx der Ordnung und Erklärung zu stören beginnt. Was für den weiteren Verlauf daher vor allem interessiert, ist die strukturelle Fremdheit in ihrer Verbindung mit der radikalen und deren Auswirkungen auf den Prozess der Identifizierung.

4.2 Die Unzugänglichkeit des Fremden

Ordnungen gleichen einem Schilderwald, der Orientierung und Sicherheit bietet und diesem einen Schleier des Bekannten und Gewöhnlichen verleihen. Wenn ich im Straßenverkehr unterwegs bin, kann ich auf die Wegweiser, Ampeln und Schilder achten und so je nach Kenntnis und Wissen mehr oder weniger sicher und direkt das anvisierte Ziel erreichen. Das Ziel ist Teil der Ordnung und auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Fällt diese Ordnung weg, überkommt mich ein Gefühl der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Sind alle Schilder, Ampeln und Regeln erst entfernt, wird das Alltägliche empfindlich gestört. Das eigenartige solcher Situationen ist die Antwort, zu der sie auffordern. Selbst wenn ich einfach stehen bleibe und auf eine Art Fügung hoffe, entspricht diese Reaktion einem Antworten, einem Berührt-Sein, dem ich nicht entgehen kann. Das Fremde der Situation ist gekennzeichnet durch eine Abwesenheit an Orientierungshilfen, an Ordnung, die mich dennoch auf eine unbestimmte Art anspricht und zu einer Reaktion herausfordert. Es ist gebunden an die konkrete Situation, bestimmt sich "okkasionell, [ist] bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt...Ein standortloses >Fremdes überhaupt< gliche einem >links überhaupt< - ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt."[131] Das Fremde hat mithin seinen Ort, der sich durch Abwesenheit auszeichnet und in dieser Abwesenheit nur durch die Erfahrung, die er auslöst zugänglich ist. Streng genommen ist es ein Nicht-Ort, der keiner schlichten Negation entspringt, sondern vor dem "Gegensatz von Ja und Nein anzusetzen" ist. "Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo". Es "stellt kein Defizit dar wie all das, was wir zwar noch nicht kennen, was aber auf seine Erkenntnis wartet und an sich erkennbar ist. Vielmehr haben wird es mit einer Art leibhaftiger Abwesenheit zu tun."[132] Man erfährt es in der darauf antwortenden Erfahrung, die aber die Frage nicht kennen und formulieren kann. Das Fremde zeichnet sich aus, durch die von Husserl postulierte "Zugänglichkeit des original Unzugänglichen."

Das Interessante einer solchen Beschreibung des Fremden ist, dass sich damit der Versuch das Fremde zu bestimmen, als sinnlos erweist. Ebenso verhält es sich damit, von dem Fremden zu sprechen, da das Wort als Substantiv schon immer von einem konkreten Inhalt bestimmt wird, der es füllt und ihm ein Wesen verleiht. Das Fremde als Substantiv gibt es streng genommen nicht, vielmehr erscheint es nur in seiner Abwesenheit, die uns anspricht und zu einer Antwort auffordert. Das Spiegelbild von Narziß entzieht sich, sobald er danach greifen und es umfassen will. Eine eigene Substanz hat es nicht, dennoch wirkt es und erfährt eine Antwort. Wäre das Fremde eine Substanz, dann verlöre sie ihre Fremdheit, alsbald sie sich zeigen würde, alsbald man sie gefunden hätte. Doch das Fremde, das uns anspricht und uns zu einer Antwort nötigt, zeichnet sich durch die Unerreichbarkeit aus, die es für immer auf das Nicht des Nicht-Ortes, auf das Ent des Entzuges verweist.

Das Charakteristische des Fremden liegt in diesem Aspekt des Sich-entziehens. Es ist nur in dieser Weise zu erfahren und zu erkennen, jede substantielle Beschreibung ist dadurch im Vornherein zum Scheitern verurteilt. "Hier gibt es nichts, das sich entzieht, sondern es gibt Sichentziehendes nur, indem es sich entzieht."[133] Dadurch gewinnt es einen dynamischen Aspekt, der jeder Statik spottet und jedes Innehalten unmöglich macht. Es bewegt sich gewissermaßen immer weg von mir und kann daher nur nachträglich erfahren werden, oder genauer: Erst diese Nachträglichkeit der Erfahrung oder komplementär dazu, die Vorzeitigkeit des Anspruchs, lässt das Fremde fremd werden. Darüber hinaus weist der Aspekt des Entzuges auf eine zentrale Problematik hin. Indem sich etwas entzieht, entzieht es sich jemanden. Dieses Entziehen entsprich jedoch keinem Hinbewegen zu einem Anderen, zu einem anderen Ort, vielmehr verweist es auf eine ambivalente Beziehung zwischen Ent- und Bezug. "Dem Entzug wohnt die Gegenbewegung einer An-ziehung inne."[134] Das Fremde bezieht sich auf mich, indem es sich mir entzieht. Erst im Entzug ist es zu vernehmen, erst im Entzug bezieht es mich mit ein.

Das Fremde ist dahingehend nicht zu trennen von dem Eigenen, dem vermeintlich Eigenem meiner selbst. "Insofern geht der Fremdbezug dessen, wovon wir getroffen sind, Hand in Hand mit dem Selbstbezug dessen, der getroffen ist."[135] Das Fremde berührt mich und fordert eine Antwort, deren Frage nie formuliert war und sein kann: Der fremde Blick, der uns zu beobachten scheint, ohne dass wir ihn erkennen, seinen Ort ausmachen könnten, das eigentümliche Aufblicken, wenn uns etwas berührt, ohne dass wir sagen könnten warum, die Gänsehaut, die sich das ein oder andere Mal einstellt, wenn man z.B. ein bestimmtes Lied hört. Versucht man diese Gefühle auf ihren Grund hin zu befragen, versucht man die Entzückungen, das Grauen, die Unbehaglichkeit zu erklären und in Worte zu fassen, so zeigen sich häufig kreisende und redundante Versuche, das Unaussprechliche sprechen zu lassen. Gelingen wird es nicht. Man kann zwar über das Gefühl sprechen, den Auslöser konkret zu fassen, ihn beim Namen zu nennen wird nicht gelingen. Echo starb schon vor langer, langer Zeit, seither ist sie nur noch Schall, körperlos, substanzlos und doch zu vernehmen. Die Erfahrung des Fremden ist eine körperlose, die den Körper, den Leib in seinem Innersten trifft und ihn schwingen lässt. Das Phänomen "erweist sich als ein Zwischenereignis, sofern es sich zwischen zwei Orten abspielt, einem Abzugsbereich, aus dem etwas verschwindet, und einem Entzugsbereich, in den es entschwindet."[136] Das Fremde berührt mich nicht in dem Sinne, dass ich seine Kräfte physikalisch messen könnte. Das Sich des Sichentziehens verweist nicht auf ein Sich-entziehendes, das wieder nur ein Objekt wäre, in seiner Eigenbewegung messbar. Stattdessen gehört das Sich zum Ereignis des Sich-entziehens dazu, es ist mit dem Ereignis verbunden, wird erst dadurch zum Ereignis. Das Fremde ist in einer Vorzeitigkeit verortet, die das Auffinden des Ortes für immer unmöglich macht, es spricht aus Zeiten zu uns, die immer schon vergangen sind und doch in unmittelbarer Nähe zu liegen scheinen. Das Nahe und das Ferne gehen eine asymmetrische Beziehung ein, die nie eine symmetrische sein und werden kann. Die Fremderfahrung ist keine, die man sich aussuchen könnte, sie widerfährt mir, ohne dass ich dazu nein oder ja sagen könnte. Indem sie mir widerfährt scheint sie ganz nah zu sein und doch ist sie in ihrem entziehenden Aspekt immer schon in unerreichbarerer Ferne. Das "eigentliche Rätsel lieg darin, daß der Entzug einen Bezug voraussetzt, der abbricht, eine Entfernung, die aus der Nähe erwächst, ein Band, das verbindet und entbindet...So wie es keinen Mangel gibt ohne ein Wesen, das des Mangelnden bedarf und Fehlendes vermißt, so gibt es keinen Entzug ohne eine gewisse Nähe dessen, was sich entfernt. Dem gebrochenen Bezug entspricht eine Ferne in der nächsten Nähe, wie sie in der Berührung auf paradigmatische Weise zum Vorschein kommt."[137]

4.3 Das Eigene und das Fremde

Das Fremde fordert mich in seiner Unverfügbarkeit zu einer Antwort heraus, einer Forderung, der ich nicht ausweichen kann und daher unausweichlich nachkommen werde. Diese Zwangsläufigkeit der Antwort betrifft den Menschen in einem zentralen Aspekt. Der Zwang zur Antwort untergräbt die Freiheit des Ja oder Nein und infiziert den Menschen mit einem fremden Anspruch, dem nicht auszuweichen ist und der den Traum der Selbstbestimmung immer schon unterminiert.

Die Trennung zwischen Eigenem und Fremden, auf die der Begriff des Fremden hinzuweisen scheint, ist, nimmt man die merkwürdige Form der inneren Verflechtung von Anziehung und Bezug ernst, nicht länger möglich. Die Grenze wird undeutlich und damit ihrer Schärfe beraubt. Die Übergänge zwischen Fremdem und Eigenem sind fließende, die Bestimmung eines Ortes wird unscharf. Man fühlt sich an die Heisenbergsche Unschärferelation erinnert: Das Ergebnis wird umso vager und zerstreuter, je enger man es zu fassen sucht. Je genauer der Blick auf ein Phänomen gerichtet wird, desto ungenauer wird das Bild. Die Grenzen verschwimmen und werden letztlich unkenntlich. Schon eine kleine Wortspielerei weist darauf hin: Eigen, eigenartig, fremd. Die eigene Art hat daher etwas Fremdes in sich. Schon in semantischer Hinsicht findet sich eine Nähe zwischen dem Eigenen und dem Fremden, eine Nähe, die aber kein Übereinkommen auf einer höheren Stufe der Allgemeinheit bedeutet. Doch auch wenn eine exakte Trennung zwischen Eigenen und Fremden unmöglich ist, ist das Eigene und das Fremde nicht dasselbe.

Das Fremde verweist auf die Unmöglichkeit der exakten Grenzziehung. Das Eigene zeigt sich umso schärfer, je größer der Spalt der Beobachtung gefasst wird. Wenn der Blick jedoch verweilt, schärfer justiert wird, wird er von einem Nebel verhüllt, der nur noch Konturen erahnen läst. Man versucht Begriffe und Dinge gegeneinander abzuwiegen, stellt der Nacht den Tag, dem Licht den Schatten, dem Subjekt das Objekt gegenüber und gibt sich für einen ersten Moment mit dieser dualistischen Sicht zufrieden. Doch wenn man sich zur Grenze hinbegibt, wird die scheinbar so klare und einfache Trennung immer unbestimmter. Wo beginnt der Tag, wo endet er, was ist Subjekt, was Objekt? Der angebliche Antipode ist näher, als man wahrhaben möchte und dennoch gilt er als der Andere, von dem es sich abzugrenzen gilt. Indem die Trennung von Subjekt und anderem Subjekt, von Subjekt und Objekt eine theoretische ist und bleiben muss, stellt sich die Frage, wie diese beiden Begriffe in ein dynamisches Verhältnis gesetzt werden können, ohne dass sie einer künstlichen Trennung anheim fallen oder unter ein großen Allgemeines subsumiert werden..

">Subjekt< ist wie jeder Begriff ein Markierungszeichen, das abgrenzt und ausgrenzt...Was sich abgrenzt bleibt berührt und bedroht durch das, was es von sich abhält."[138] Das Subjekt als Ich der Aussage, versucht sich gegenüber den Anderen abzugrenzen, seinen Platz zu behaupten und mit dem Ich des Ausgesagten zu verschmelzen. Es markiert seinen Ort, verteidigt ihn gegen die Angriffe vom Außen. Das Außen ist daher immer schon Teil des eigenen Ortes, den man sich zuschreiben, den man besetzten möchte. Ständige Positionierungskämpfe spielen sich ab, zwischen dem eigenem Selbst und den fremden Angriffen, die auf die Labilität des eigenen Ortes, des eigenen Selbst verweisen. Das Paradoxe dieser Auseinandersetzung zeigt sich in ihrer Notwendigkeit des Findens eines Ortes, einer Bestimmung, einer Subjektivität. Schon als Begriff ist das Ich, das Sprecher-Ich, das Subjekt in seiner Begrifflichkeit ein Produkt der Differenzierung. Erst im Ensemble der begrifflichen Gegebenheiten kann es sich abgrenzend bestimmen und seinen sprachlichen Ort finden. Ein Ich ohne Sprache ist für den Menschen schwer vorzustellen und dennoch ist dieses Ich der Sprache nicht das Ich. Das Ich der Aussage versucht sich zu bezeichnen, versucht sich sprachlich auszudrücken und zu bestimmen. Doch das Ich der Aussage deckt sich niemals mit dem Ich des Ausgesagten. Das Ich von dem ich spreche ist nicht das Ich, das spricht.

Das Selbst bildet sich daher immer schon in Auseinandersetzung mit dem Anderen, der erfahren wird. Der Anspruch des Anderen ist für die Bildung des Selbst von konstitutiver Bedeutung. Erfahrung ist immer Erfahrung von etwas und das Selbst bildet sich in diesen Erfahrungsprozessen. "Das Erfahrungsgeschehen stellt sich in diesem Rahmen dar als ein Zusammenwirken mit Fremden."[139] Die Ich-Bildung wie sie Lacan beschreibt, ist ein Entfremdungsprozess; das Ich bildet sich anhand eines Bildes, das im Außen erfahrbar ist. Das Eigenartige ist jedoch, dass diese Trennung obschon ein künstliche doch einer Trennung gleicht, einer Trennung, die aber prekär, labil und angreifbar ist. Das Ich bildet sich anhand des Anderen und führt doch zu einer Idee des Ich, die in ihrer Idealität, von dem Anderen unterscheidbar ist. "Erfahrungsordnungen, in denen Erfahrungen strukturiert, typisiert, normalisiert, kurz: gefiltert und zurechtgemacht werden, bewirken einen Ausschluß von Fremdartigem, der unmittelbar in der Organisation der Erfahrung beschlossen ist."[140] Das Eigene und das Fremde sind nicht verschmolzen und auch nicht getrennt. Vielmehr sind sie ineinander verflochten von Anfang an in einem unendlichen Prozess der Differenzierung befindlich, sodass sich Eigenes und Fremdes fortan immer in Differenzierungsprozessen befinden. Jede gesicherte Trennung ist eine nur scheinbare, und je klarer die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu sein scheint, desto größer wird sich der Spalt der Beobachtung erweisen. Gleichsam weist jede scheinbar noch so klare Trennung und Ordnung auf eine Statik hin, auf ein Instantanes, das dem Geschehen jede Bewegung raubt, das die Produktivität zu einer bloßen Reproduktivität verkommen lässt und auf diese Weise die Erfahrung zu einer wiederholenden degradiert. "Ohne die Möglichkeit einer Überschreitung bestehender Ordnungen, die von einem Überfluß an Ungeordnetem in Gang gehalten wird, würde das >Subjekt< degradiert zum bloßen Untertan, der nichts mehr sagt, sondern nur noch nachsagt."[141]

Ein Zuviel der Überschreitung, der Verschiedenheit ließe das produktive Element jedoch ausufern. Jede Substantialität würde unmöglich, das Substantiv verschwände hinter dem Verb. Das Leben, die Erfahrung verlöre jede Sicherheit und Stabilität, Ordnungen brächen zusammen, alles wäre nur noch Bewegung und Fluss. Sprache verlöre ihren Sinn, da das bezeichnete Element außer Kraft gesetzt wäre.

Die Statik und der Zerfall von sinnstiftenden Ordnungen sind die Eckpunkte der Gefahr, die die Verflechtung von Eigenem und Fremden kennzeichnen, an denen das Subjekt aufhört zu existieren oder zum Objekt wird. Zieht man Lacans Theorie in Betracht, zeigt sich ein interessanter Aspekt. Das Subjekt bedarf der Ordnung, des Gesetzes um überhaupt Subjekt sein zu können. Betrachtet man das Subjekt in seiner lateinischen Bedeutung "subjectum", bedeutet es das Unterworfene. Das Subjekt muss sich der Ordnung unterwerfen um überhaupt Subjekt zu werden - Lacan weist darauf hin, dass erst das Symbolische, d.h. das Gesetz der Sprache, das Subjekt möglich macht. Lacan setzt das Andere der Sprache, dem Gesetz gleich - und hört doch auf Subjekt-Objekt zu sein, wenn die Ordnung übermächtig wird. Die Frage ist nun, worin der Unterschied liegt zwischen der objektivierenden Ordnung des Imaginären und der Ordnung des Symbolischen, die keine statische Ordnung sein kann, aber dennoch eine Ordnung darstellt. Wo das objektivierte geistig behinderte Kind gewissermaßen immer Objekt des Anderen ist, sich diesem Anderen mehr oder weniger unterwerfen muss, um überleben zu können, ist das Subjekt der symbolischen Ordnung unterworfen. Mit der schon weiter oben angemerkten Hervorhebung des Symbolischen über das Imaginäre, wertet Lacan die symbolische Ordnung höher als die imaginäre. Wenn in dieser Arbeit davon ausgegangen wird, dass das objektivierende Moment bezüglich des geistig behinderten Kindes überwiegt, mag diese Wertung gerechtfertigt sein, sie aber ins Allgemeine zu übertragen, scheint mit verfrüht. Es entsteht der Eindruck, dass man vom Objekt zum Subjekt werden müsste, der zwar der Logik des gemeinsamen Moments von Symbolischem und Imaginärem widerspricht, von dem sich Lacan aber nicht vollständig freimachen kann. Die Frage, wie man zum Objekt wird, die das menschliche Subjekt erst unterscheidbar macht, wird der Frage der Subjektivierung untergeordnet. Die Entfremdungen finden sich in beiden Bereichen. In der Unmöglichkeit den Sinn des Wortes ein für alle mal zu bestimmen, ist das Symbolische ein ewig Fremdes, während das Imaginäre als Eigenes gelesen werden kann, das aber ebenfalls eine entfremdende Wirkung hat. Das Fremde des Symbolischen wirkt in die eigene Subjektivität, während die Entfremdung durch das Imaginäre die eigene Objektivität, die eigene Vorstellung von sich selbst betrifft.

Das Fremde ist in die Ordnung meiner selbst verflochten. Doch daraus zu schließen, dass das Fremde sich in mir befände, wäre verfrüht. Es ist nicht in mir, sondern tritt von außen fragen an mich heran, und macht dadurch Eigenheit erst möglich. Eigenes bildet "sich im Zusammenhang mit Fremden"[142] heraus, doch sind deswegen Eigenes und Fremdes nicht eins; das Fremde ist nicht in uns, aber es betrifft uns, befragt uns und fordert das Eigene in der Antwort zur Differenzierung auf. Das "Ich konstituiert sich nicht als Identitätseinheit, sondern in Differenzen und Maskeraden..., Konfigurationen von Selbst und Anderem, als Chiasmus von Eigenem und Fremden."[143] Das Fremde weist in seiner Vorzeitigkeit darauf hin, "daß ich selbst nicht bei mir selbst, sondern mit dem Anspruch des Anderen beginne."[144] Die Synthese von Eigenem und Fremden kommt nicht zustande, stattdessen zeigt die Verflechtung die Dynamik von Abgrenzungs-, Neubildungs-, Umbildungs- und Modifizierungsprozessen.

4.4 Der Spalt im Subjekt

Das Fremde treibt die Subjektivierung vor sich her. Und solange die Idee des Subjekts nicht verworfen wird, kann dem Anspruch des Fremden auch nicht ausgewichen werden. Das Ich hingegen gleicht einer Idee aus Platons Himmel, die in ihrer Idealität niemals abschließend zu erreichen ist. Sie stellt sich mir gegenüber, ich kann sie sehen und mich von ihr täuschen lassen, das Ergreifen ist nicht möglich. Versteife ich mich zu sehr darauf, erstarre ich ebenfalls zu einer Art Bild, werde Objekt und finde mich im schicksalsschweren Spiegelverhältnis des Narziss. Erst durch das Andere der Sprache kommt zu dem idealen Ich noch das Subjekt hinzu und erst durch die Unmöglichkeit der endgültigen Setzung wird dieser Andere zum Fremden im spezifischen Sinne.[145] Er bleibt unverfügbar, entzieht sich, wenn ich ihn zu greifen suche und bezieht sich dabei doch auf mich. Der Prozess der Identifizierung ist daher immer schon zum´Scheitern verurteilt, wenn man die Idee einer ganzheitlichen und vollständigen Idee des Ichs zugrunde liegt. Daher auch die Trennung die z.B. Lacan zwischen dem Ich und dem Subjekt postuliert.[146] Das Ich ist das Ideal, das man zeitlebens begehrt und dennoch nie erreichen kann. Der innige Jubel der ersten Erkenntnis seiner selbst wirkt nach und schreibt sich in das Begehren ein. Man begehrt dieses vollkommene, perfekte und vor allem ganze Ich des Bildes ein Leben lang. Das Begehren ist so mehr als ein zeitweiliges Bedürfnis, das befriedigt werden könnte, es ist eine Art Triebfeder des menschlichen Lebens, die auf Antwort wartet, und ihre Frage beständig wiederholt.

Die zeitliche und räumliche Inkongruenz weist auf den Aspekt der ständigen Selbstverschiebung hin. Das Kleinkind entwickelt sich auf ein vor ihm liegendes Ideal hin, der Mensch antwortet auf ein Widerfahrnis, das immer schon vor der Antwort liegt. In diesem Sinne ist das Subjekt dauernd in Bewegung, es ist kein einheitliches Ganzes, das seinen festen Platz hätte, es wird immer wieder aufgefordert zu antworten, zu handeln und kann gar nicht anders als dieser Aufforderung zu gehorchen. Ein einheitliches, für immer und ewig gesetztes Selbstbewusstsein ist von vorne herein unmöglich. Schon in der imaginären Verfasstheit zeigt sich die Unmöglichkeit der Übereinkunft, die durch das Eindringen der Sprache noch verstärkt wird. Das Subjekt ist daher wesentlich gespalten. "Die Spaltung bezeichnet die Unmöglichkeit des Ideals eines völlig präsenten Selbst-Bewußtseins; das Subjekt kennt sich nie ganz, es ist immer von seinem eigenen Wissen abgeschnitten."[147] Ein völlig selbstbezügliches Subjekt ist unmöglich. Das Subjekt als Opponent des Objekts kann nicht gewusst und endgültig erkannt werden, ist nicht statisch und entzieht sich der abschließenden Objektivierung.

Lacan schreibt dazu: Mit "dem Terminus des Subjekts (...) will ich nicht das lebendige Substrat meinen, das das Phänomen des Subjekts braucht, auch keine Art von Substanz, auch kein Sein der Erkenntnis im Pathos (...), auch nicht fleischgewordener Logos, sondern das cartesische Subjekt, das im Augenblick auftritt, wo der Zweifel sich als Gewißheit erkennt..."[148]

Ein wichtiger Aspekt dieses Spalts liegt in der Verbindung mit dem Mangel und dem Begehren. Der Spalt wird als Mangel erlebt, den es zu schließen gilt. Ganz alltägliche Beispiele mögen das verdeutlichen: Die Krankheit, die nicht diagnostiziert werden kann, die Schlaflosigkeit, das nächtliche Unbehagen auf den Straßen einer unbekannten Stadt, die Scham. Diese Situationen gleichen Grenzsituationen, in denen sich etwas bemerkbar macht, das stärker und mächtiger als die Rationalität und das Ich ist. Es sind Erfahrungen in denen sich die Spalte und Klüfte bemerkbar machen, "in denen das Selbst sich von sich selbst entfernt."[149] Dieser Spalt, dieser Mangel im Subjekt, macht sich aber nicht dauernd bemerkbar. Er wird immer wieder notdürftig von den Vorstellungen, Bildern, Begriffen und Erklärungen zugedeckt, die man sich von sich selbst und der Welt macht. Und dennoch muss dieser Spalt, der weiter oben beschriebenen Antwortlogik wegen, ein konstitutiver für das Subjekt sein.

Ein letzter Aspekt, der hier beschrieben werden soll, hängt ebenfalls mit der zeitlichen und räumlichen Inkongruenz der Antwortlogik zusammen. Indem das Fremde uns widerfährt und wir gar nicht anders können, als darauf zu antworten, weist es in seiner Unausweichlichkeit auf das Erleiden hin. Ich bin dem Fremden gewissermaßen ausgeliefert, bin hilflos und passiv. Die Asymmetrie zwischen dem Anspruch und der Antwort lässt die Antwort deterministisch erscheinen, ich kann nicht anders als zu antworten, meine Reaktion ist immer schon Antwort, ob ich will oder nicht. Die Freiheit, mich zu einer Antwort zu entschließen, habe ich nicht, wenn das Fremde mich befragt, da auch das Schweigen einer Antwort gleicht. Ich muss antworten und in diesem Müssen steckt ein Moment des Erleidens. Betrachtet man die Begriffe Leid und Leiden zeigen sich etymologische Hinweise, die dem Leiden mehr als nur negative Konnotationen beilegen. Der Sonderpädagoge Ralf Reissel macht darauf aufmerksam, dass das Verb leiden seiner früheren Bedeutung entsprechend "mit »gehen, fahren, reisen« wiedergegeben werden" [150] kann. Auch auf den erfahrenden Aspekt des Verbs erleiden macht er aufmerksam. Des Weiteren verweist er auf das lateinische Passio und das altgriechische Pathos. Das zugrunde liegende Verb pati von Passio bedeutet dulden, erdulden, zulassen, während Pathos aus dem Verb pathein hervorgeht. Dies bedeutet u.a.: einen Eindruck empfangen, erfahren, erleben, erdulden.[151] Neben den negativen Bedeutungen, die dem Verb leiden beigelegt werden, gibt es mithin auch solche, die allein auf den passiven Aspekt der Nachzeitigkeit hinweisen. Erfahren, erleben, empfangen, erdulden sind keine per se negativen Begriffe, sondern weisen "nur" auf eine Unausweichlichkeit hin, an der nicht zu rütteln ist. Denkt man an Leidenschaft, dann kann diese Unausweichlichkeit selbst etwas Angenehmes, Schönes, Erregendes sein, obwohl damit der Zwang der Passivität einhergeht. Das aktive Element kommt in der Form der Antwort zu tragen. Dass ich Antwort gebe, steht immer schon fest, was ich als Antwort gebe, hingegen nicht.

Die Erfahrung, das Erleiden und die Antwort verweisen auf ein Zwischen, indem sich das Spiel von Eigenem und Fremdem abspielt. Indem das Subjekt kein fester, ruhender Punkt, sondern vielmehr ein vagabundierender, ruheloser und sich selbst verfehlender und vor allem antwortender Akteur ist, eröffnet sich der Raum der Intersubjektivität, der Raum "der Zwischenwelten, in denen Eigenes und Fremdes, Subjekt und Objekt nicht streng voneinander Geschieden sind."[152]

Der Spalt, oder genauer die Spalte lassen das Subjekt erst entstehen, sind bedingend und öffnen es für die Welt und für den Anderen. Sie lassen es erleiden, erfahren und öffnen den Raum des Zwischen, das Inter der Intersubjektivität. Das Neue, neugierig Machende nistet sich in diesen Spalten ein, lässt aufblicken, hinhören und Erfahrungen machen. Untersuchungen, Objektivierungen, Erklärungen folgen und sind für das gegenständliche Sein von notwendiger Bedeutung, will das Subjekt im reinen Fluss nicht verschwinden. Doch die Beunruhigung, die allem Unbekannten, Fremden innewohnt, lässt auch Abwehrprozesse zu, die den Spalt zu leugnen suchen, ihn schließen wollen, die vor dem Mangel des Spalts zu fliehen versuchen und das auf diese Weise gesetzte, vorgestellte, phantasmatische Objekt mit dem Subjekt gleichsetzen.



[122] Freud, 1970: S.244

[123] Waldenfels, 1999: S. 20

[124] Freud, 1970: S. 244

[125] Es ist jedoch zu beachten, dass der Andere, wenn er in seiner radikalen Alterität gedacht wird, erneut eine andere Bedeutung gewinnt. Ist der Andere im Sinne dieser radikalen Alterität an den Ort des Anderen gebunden, dann ergibt sich aus dieser Form der Andersheit eine strukturelle Form der Andersheit, die gewisse Bezüge zur Fremdheit erlaubt. Hier hat die Unterscheidung zwischen dem anderen und dem Anderen ihren Ursprung. Wenn daher oben vom genuin Anderen gesprochen wurde, dann müsste eigentlich, nimmt man Lacans Begrifflichkeit zu Hilfe, vom genuin anderen gesprochen werden. Dennoch wird in der Behandlung des Fremden der Andere weiter groß geschrieben, da Waldenfels, der oft zitiert werden wird, den Anderen orthographisch korrekt verwendet, und die Unterscheidung zwischen kleinem und großem Anderen nicht trifft. Es wird weiter unten zu zeigen sein, dass diese Unterscheidung aber für die Behandlung des Fremden durchaus von Bedeutung sein kann. Näheres dazu siehe vor allem im Abschnitt 5.4: Zur Problematik des Aussagens

[126] Ntourou, 2007: S. 230

[127] Vgl. Waldenfels, 1997: S. 72

[128] Auch hier sei, wie in Anmerkung 128 auf die Trennung zwischen kleinem und großem Anderen hingewiesen.

[129] Waldenfels, 1990: S. 60

[130] "Der Stachel des Fremden" ist der Titel eines Buches von Waldenfels (Waldenfels, 1990).

[131] Waldenfels, 1999: S. 23

[132] ebd., S. 26

[133] Waldenfels, 2002: S. 192

[134] Ebd.: S. 194

[135] Ebd.: S. 193

[136] Ebd.: S. 191

[137] Ebd.: S. 193f.

[138] Waldenfels, 1990: S. 72

[139] Ebd.: S. 64

[140] Ebd.: S. 64f.

[141] Ebd.: S. 71

[142] ebd.: S. 67

[143] Stinkes, 2004: S. 83

[144] Waldenfels, 1999: S. 30

[145] Lacan unterscheidet zwischen dem anderem und dem Anderem. Der kleine andere ist, ist der andere, der nicht wirklich anders ist. Er ist eine Spiegelung und Projektion des Ichs. Der große Andere hingegen weist auf die radikale Alterität hin. Diese geht weit über die imaginäre Andersheit hinaus, die ja streng genommen gar keine ist. Sie kann nicht durch Identifikationsprozesse aufgehoben werden. Lacan setzt diesen großen Anderen häufig mit dem Symbolischen gleich. Indem das Subjekt aber sprachlich bedingt ist, kann der große Andere auch als das andere Subjekt gelesen werden. An dieser Unterscheidung zwischen kleinem und großem Anderen soll von nun an festgehalten werden.

Des Weiteren ist zu beachten, dass die Unterscheidung zwischen Ich und Subjekt, die Lacan vornimmt natürlich eine theoretische ist. Einzeln und getrennt wird keiner dieser Begriffe zu fassen sein. Vielmehr sind sie ineinander verwoben und verflochten. Wenn ich von mir spreche, wenn ich mich bezeichne ist dieser Akt per se ein symbolischer. Dennoch transportiere ich in diesem symbolischen Vorgang immer auch Bilder und Vorstellungen, die wesentlich imaginär sind. Das rein Symbolische ist daher nicht möglich, es ist immer schon durchtränkt mir Vorstellungen, Bildern, Erklärungen und Gesetzen. Doch dazu weiter unten genauer.

[146] Ein Vorzug der englischen und französischen Sprache ist die Unterscheiung zwischen moi/me und je/I, auf die z.B. auch Mead Bezug nimmt.

[147] Evans, 2002: S. 276

[148] Zitiert aus Evans, 2002. S. 293

[149] Waldenfels, 2002: S. 204

[150] Reissel, 1999: S. 80

[151] Vgl, Reissel, 1999: S. 80ff. Reissel nennt natürlich auch die Bedeutungen, die mit Not, Widerwärtigkeit und Krankheit verbunden sind.

[152] Stinkes, 2004: S. 87

5 Die Behinderung und das Fremde

Mannoni, Niedecken und auch Sausse sprechen über das Namenlose, Fremde der Behinderung auf eher intuitive Weise. Der Begriff des Fremden, der paradoxerweise eigentlich begrifflich nicht zu fassen ist, wurde benutzt, ohne dass dieser Begriff näher untersucht worden wäre. Niedecken spricht schon in ihrem Titel von dem Namenlosen der geistigen Behinderung und geht auf das Problem der Namenlosigkeit immer wieder ein. Auch das Wort fremd erscheint schon in abgewandter Form, wenn sie bezüglich des Autisten vom faszinierenden Fremdling spricht.[153] Sausse dagegen ist es zu verdanken, dass sie den Begriff des Fremden verstärkt in den Vordergrund rückt, ohne diesen jedoch genauer zu befragen. Schon im ersten Kapitel ihres Buches "Le miroir brisé. L´enfant handicapé, sa famille et le psychanalyste", das leider bis heute noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde - es erschien 1996 - benennt sie das Problem der Fremderfahrung, das sie ausdrücklich mit der Namenlosigkeit und der Alterität verbindet: "C´est á cette dimension de l´identité, de l´etrangeté et de l ´alterité que nous confrontent - ou faut-il dire invitent? - les enfants handicapés."[154] Interessanterweise spricht sie auch den entfremdenden Charakter der Fixierung, der Objektivierung an. "Chacun est fixé dans un rôle qui l´aliène et l´emprisionne."[155] Und auch der Spalt, der das Subjekt leiden und mangeln lässt vergisst sie nicht zu erwähnen : "Le traumatisme (der Geburt eines geistig behinderten Kindes; B.W.) engendre au sein du psychisme une fracture ouverte qui appelle sans cesse, mais toujours en vain, á se refermer. C´est comme un interminable processus de cicatrisation."[156]

Diese vorangestellten Zitate sollen nochmals drauf hinweisen, dass das Problem des Fremden und Namenlosen in der analytischen Arbeit bekannt und erfasst ist. Der Hinweis, dass diese Begriffe theoretisch nicht genauer gefasst wurden, soll kein Vorwurf sein, sondern ist wohl eher dem Umstand zu verdanken, dass die Bücher von Niedecken, Sausse und auch Mannoni und Sinason zu großen Teilen aus Fallgeschichten bestehen, also vor allem deskriptiven Charakter haben.

5.1 Behinderung als Fremderfahrung

Die phantasmatischen Prozesse, die sich im Zuge der Geburt eines geistig behinderten Kindes abspielen, lassen sich gut mit den darauf folgenden Überlegungen bezüglich des Fremden verbinden. Das Phantasma lässt sich als eine Antwort auf das Fremde definieren, mit der uns Behinderung in ihrer Unfassbarkeit konfrontiert. Sie ist dann nicht mehr eine nur organische Gegebenheit des behinderten Menschen, sondern eine Grenzerfahrung des menschlichen Seins, die nicht nur den behinderten Menschen in seiner Singularität betrifft, sondern ein wechselseitiges Fragen und Antworten unter erschwerten, aber vielleicht auch erhellenden Bedingungen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass geistige Behinderung nicht auch organische Gegebenheiten aufweist, vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass geistige Behinderung ihren Sinn, ihre behindernde Funktion erst im Wechselspiel interaktiver Prozesse gewinnt. Die Fremderfahrung ist in der beschriebenen Lesart ein konstitutiver subjektiver Wesenszug, der durch einen Faktor wie den der geistigen Behinderung jedoch auf die Grenzen subjektiven Seins hinweist.[157] Durch diese Grenz-, oder Extremerfahrungen wird sie gefährlich, abgewehrt, oder mit einer Faszination belegt, die ihren Ursprung ebenfalls in der Unerklärlichkeit hat. Die Faszination und der Schrecken lassen sich nicht klar trennen; was faszinierend war, kann schnell auch abgewehrt werden. Niedecken schreibt beispielsweise zum autistischen Kind: "So werden autistische Kinder mit dem Glorienschein der »Verweigerung«, des »konsequenten Widerstandes« umgeben; Kinder mit der Aura des Besonderen, Unberührbaren, ja Heiligen..."[158]. Doch sobald diese Verweigerung eine dauernde, störende wird, kann sie schnell in das Gegenteil ausufern. Erfolgt die (von außen gewollte) Änderung des Verhaltens nicht, wird das ehemals faszinierende schnell störend: "Die Wahrnehmung vom faszinierenden »Fremdling« geht fast unmerklich leicht über in jene vom verhassten und »unheimlichen« Störenfried"[159]. Auch Sausse deutet auf diesen Umstand hin, wenn sie das mythische Beispiel der Aussetzung anspricht. Sie weist darauf hin, dass es im antiken Griechenland ein Gesetz gab, das den Eltern auferlegte, ihr Kind auszusetzen, wenn es den Eltern nicht gleiche. Der mythische Hintergrund liegt nun in der Verbindung von Aussetzen und Prüfung. Es ging nicht in erster Linie darum, das Kind zu töten. Wurde das ausgesetzte Kind lebend wieder gefunden, tauchte es lebend wieder auf, dann galt das als Zeichen des heldenhaften Schicksals, das ihm bestimmt sei.[160]

Das Namenlose, nicht zu Bezeichnende, der unerklärliche Rest des Fremden, der jeder menschlichen Erfahrung anhängt, wird übermächtig und nicht mehr fassbar. Auf diese Weise erschreckt, fasziniert und graut es dem Nächsten: "...l´enfant handicapé est désigné comme l´autre radicalement différent, figure de l´etrangeté ou de l´horreur."[161] Die abwehrende Antwort darauf wird zu einem Bild, das Bewegung erschwert und sich um die beiden Eckpunkt der Faszination und des Grauens windet.

Diese Bilder wirken auf den behinderten Menschen zurück, da sie ihm zumindest etwas wie Identität verleihen können und doch sind diese Bilder in ihrer Ambivalenz zugleich alles andere als stabil. Bewunderung und Hass gehen Arm in Arm nebeneinander her und müssen das Kind auf diese Weise noch mehr verwirren und auch die Bilder der Bewunderung und des Hasses variieren, sind in Bewegung und erfahren Veränderungen. Das geistig behinderte Kind ist auf die Anderen angewiesen, um zu leben, um zu überleben, um Sicherheit zu gewinnen und hat so keine anderen Möglichkeiten, als sich an die angebotenen Bilder zu halten: Auch "das Kind äfft die Mutter, äfft ihre Angst, versucht in Mimikry sich dem Fantasma gleichzumachen, weil das Fantasma der Garant der mütterlich Sicherheit ist - es verhält sich so, wie die Mutter fürchtet, zugleich aber als versichernde Bestätigung braucht: typisch behindert."[162]

Die Mutter, der Vater, die Umwelt, die Gesellschaft, ich; wir alle antworten auf das Fremde, an das die geistige Behinderung gemahnt. Wir antworten aber auch auf all das Fremde, das versteckt hinter scheinbar wohl Vertrautem lauert. Diese Möglichkeit sich zu verstecken, scheint geistige Behinderung in der heutigen Zeit nicht mehr zuzulassen. Hier tritt das Fremde uns zwar nicht direkt entgegen, da es das Fremde wie oben gezeigt, nicht gibt, aber sie scheint eine Fremderfahrung auszulösen, die demaskierend auf uns wirkt und auf die nur schwer angemessen zu antworten ist. Interessant ist, dass jede Antwort auf die Fremderfahrung in ihrem antwortenden Charakter immer schon vorläufig verdinglichenden Charakter hat. Eine Antwort ohne Substanz ist nicht möglich, auch wenn sich diese Substanz in einem nächsten Schritt schon wieder als Illusion und brüchig erweist. Der Moment der Antwort setzt die Antwort und damit auch eine gewisse vorläufige Statik. Wenn sich das geistig behinderte Kind also an das Phantasma hält, weil es das einzig Sichere zu sein scheint, dann ist diese Form der fremdbestimmten Identität streng genommen auch nur die Annahme eines Angebots. Identität ist kein gottgegebenes Persönlichkeitsmerkmal, sondern scheint die Antwort auf Angebote zu sein, die im Fall einer geistigen Behinderung deutlich eingeschränkt sind. "Im Grunde kann das geistigbehinderte Kind durch seine verschiedenen Ausdrucksmuster stets nur die absichernden Phantasmen bestätigen, indem es sich mit dem Bild von ihm identifiziert."[163] Das natürlich Fremde, Entgleitende, das ein Merkmal der Sprache, des Symbolischen ist, scheint außer Kraft gesetzt. Das "ja aber", das "es könnte auch anders sein", die Unmöglichkeit der Redundanz, die jeder echten sprachlichen Äußerung gemein ist, dieses Vage, Bewegende wird eingezwängt in Bilder, Vorstellungen und Begriffe, die sich selbst zu erklären scheinen. Das natürliche Dritte der Sprache wird seiner Vorläufigkeit beraubt und verliert so seinen vermittelnden Charakter, durch den Perseus das Grauen des Fremden aushalten konnte. Sprache wird so redundant und wiederholend. Ein kleines Beispiel hierfür: Sausse beschreibt in ihrem Buch ein Mädchen von fünf Jahren, das die Erwachsenen eines Pflegeheims jede Woche mit folgenden Worten schreiend anrufe: "Ich bin Trisomik, und du?"[164]

Sie sucht verzweifelt eine Identität und bekommt dafür nichts anderes angeboten, als das Stigma der Behinderung. Sie wiederholt diese Worte wieder und wieder und zeigt so die gefährliche, stigmatisierende Redundanz, die einer Sprache ohne Worte gleicht.[165] Ein paar Seiten weiter beschreibt Sausse einen Jungen, der seine Umwelt mit folgenden Worten anschreie: "Ich bin nicht behindert!"[166] Sausse schreibt dazu: "En réalité, Paul (der Namen des Jungen; B.W.) était un enfant très conscient de son handicap. Ne lui fallait-il pas se dessaisir d´une image qui devenait aliénante, parce qu´elle le réduisait á une unidimensionalité, toute son identité se limitant à la seule catégorie du handicap."[167] Hier sind die beiden Extreme der Zuweisung von Identität beschrieben. Auf der einen Seite, die Anpassung, die dauernd herauf gerufen und dadurch konterkariert wird. Auf der anderen Seite die Verneinung des einschränkenden Angebots, die sich in ihrer zwanghaften Redundanz ebenfall zu konterkarieren scheint.

"Um zu leben, muß man sich also weigern"[168], schreibt Mannoni, wenn sie die häufig auch aggressiven Versuche beschreibt, mit denen die Kinder sich aus der imaginären Umklammerung der Familie zu befreien suchen. Die Frage hingegen, wann eine Verneinung eine Verneinung ist, wird nicht näher behandelt. Kann die Verneinung nicht auch eine Bejahung der stillen Erwartungen der Außenwelt darstellen? Kann die Bejahung nicht auch eine versteckte und subtile Form der Verneinung meinen? Und was ist mit den unendlich großen Bereich des Dazwischen? Die von Manonni, Niedecken und Sausse beschrieben Fälle hinterlassen durch die Wucht der Darstellung häufig den Eindruck, dass das erwähnte Extrem der objektivierenden Zuweisung, die auf das Fremde, Namenlose antwortet, tatsächlich zu finden wäre. Aus theoretischer Sicht liefert es ein anschauliches Modell, das für die Erklärung individueller Verhaltensweisen geistig behinderter Kinder geeignet sein mag. Inwieweit die analysierten Kinder schon Spuren von Subjektivität aufweisen wird hingegen nicht thematisiert. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, die Subjektivität würde sich erst im Laufe der Analyse einstellen, obschon die Trennung zwischen Symbolischen und Imaginären immer nur eine theoretische sein kann. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Objektivierung kein zentrales Problem für das geistig behinderte Kind ist und die angesprochenen Extreme nicht auftreten können. Wird man die Extreme suchen, wird man sie finden. Aber könnte es nicht sein, dass in dieser Suche, die schon vorhandenen Einbruchstellen der Subjektivität übersehen werden? Werden Tendenzen dadurch vielleicht objektiviert und noch verstärkt[169]? Bleibt das Fremde nicht so stark, dass es auch die produzierten Bilder und Phantasmen immer wieder stört, so dass sich die Antwort auf dieses Fremde immer wieder neu generieren muss?

5.2 Behinderung als polyvalente, wechselseitige Fremderfahrung

Das geistige behinderte Kind löst in uns Fremderfahrungen aus, die neben der geistigen Behinderung auch die leibliche Kindlichkeit betreffen. Neben der Behinderung konfrontiert es uns mit der verloren gegangenen Zeit unserer Kindheit. Kinder spiegeln uns eine Zeit, die wir selber durchmachten, erlebten und die doch unwiderrufbar vorbei ist. Die Sonderpädagogin Ursula Stinkes schreibt bezüglich des Pädagogenverhältnisses: "Fremd sind sie, weil sie sind, was der Pädagoge nicht mehr ist und nah sind sie, weil sie sind, was er einmal war."[170] Was Stinkes über den Pädagogen schreibt, lässt sich auch über die Eltern-Kind Beziehung sagen.[171] Das Kind konfrontiert die Eltern mit einer Zeit, die sie selbst erlebt haben, an die sie sich aber emotional desto weniger erinnern, je weiter sie zurückliegt. Man mag sich zwar an bestimmte Situationen erinnern, Kindheitserinnerungen, doch die Frage, wie diese sich damals genau anfühlten, wie ich sie damals emotional erlebt habe, ist eine ganz andere. Kindheit ist ebenso wie geistige Behinderung mit Bildern und Vorstellungen verbunden, die über die Zeit hinweg variieren und bis zu einem Verschwinden der Kindheit reichen. Der Hiatus zwischen Kind und Erwachsenen liegt wohl in der Ambivalenz des erwachsenen Begehrens und des Erziehungsgedankens. Das Kind ist ein imaginärer Spiegel verdrängter Wünsche und gleichzeitig ein zu formendes Noch-Nicht. Das Verhalten des Kindes wird erklärt und dekliniert. Man denkt sich Systeme der Entwicklung aus, die auch das Unerwünschte erklären. "Ob erwünschte oder unerwünschte Veraltensweisen, immer steht ein Modell bereit, das einem die Enttäuschung erspart und das die jeweilige Interventionsstrategie strukturiert, je nach dem, ob man das psychologische, pädagogische, juristische, oder psychiatrische Register wählt."[172]

Auf das fremdelnde Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen soll nicht weiter eingegangen werden, da der Fokus hier auf der geistigen Behinderung liegt. Wichtiger erscheint mir, auf einen weiteren Punkt der Fremdheitserfahrungen einzugehen, der nicht übersehen werden sollte. Neben den Fremdheitsgefühlen in uns ist davon auszugehen, dass auch das geistige behinderte Kind mit Fremdheitsgefühlen konfrontiert wird. Wenn das geistige behinderte Kind aufgrund seiner Namenlosigkeit und Unverständlichkeit als Auslöser von Fremdheitserfahrungen des namentlichen Gegenübers betrachtet wird, dann liegt der Umkehrschluss nahe, dass das geistige behinderte Kind sowohl als Kind, als auch als geistig Behinderter den "normalen" Gegenüber nicht gänzlich verstehen und benennen kann. Die Fremdheitserfahrung muss schon fast zwangsläufig eine gegenseitige sein, wobei die Frage offen bleibt, ob ein Kind auf ähnliche Weise antwortet, wie das der Erwachsene tut. Den Fokus allein auf die Reaktionen des Nicht-Behinderten zu legen, ist ein beschränkter, einseitiger, der die wechselseitige Verflechtung von Fremdem und Eigenem missachtet. Deutlich wird dies an dem weiter oben erwähnten Beispielen des Jungen, der seiner Umwelt mit den Worten begegnet: "Ich bin nicht behindert!", und dem Mädchen, das ständig ausruft: "Ich bin Trisomik, und du?" Dies sind Zeichen einer abwehrenden Antwort der Kinder auf das Fremde, auf dessen Spuren sie in ihrer Umgebung immer wieder treffen. Die Frage des "Was bin ich?" wird mit den angebotenen Mitteln nicht befriedigend beantwortet. Im Falle des Mädchens mit Down-Syndrom scheint die redundante und anrufende Antwort mehr einer Frage zu gleichen, die die angebotene Antwort karikiert und implizit in Frage stellt. Noch direkter fällt diese Abwehr im Falle des Jungen aus, der die allgemeine Antwort der Behinderung strikt ablehnt. Die angebotenen Kategorien werden als entfremdend empfunden, und dahinter steckt das mehr oder minder explizite Wissen, dass der Begriff mehr verkennt als offen legt. "La négation provocante: «Je ne suis pas handicapé!» est une façon d´affirmer ce besoin vital de n´être pas enfermé dans une catégorie et de faire valoir que, même si on est ceci, on est aussi, et en même temps, cela."[173] Die Fremdheitserfahrung, die schon in der unbelasteten Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen, zwischen Subjekt und Subjekt notwendig zu finden ist, wird durch die starre Begrifflichkeit, die das singuläre Individuum unter den Deckmantel des Allgemeinen verhüllt, verstärkt und radikalisiert. Der Begriff, der als Teil der Antwort auf das sich entziehende Fremde betrachtet werden kann, nähert sich immer mehr einer imaginären Funktion an, je genauer er gefasst und definiert wird: "Der Mensch mit geistiger Behinderung wird in dem Sinne als ein Fremder wahrgenommen, als für ihn Begriffe ausgedacht werden, die weder seiner Person noch seiner Lebenswirklichkeit entsprechen, die nicht von ihm selber stammen, über die dieser Mensch nie befragt wurde."[174] Der Begriff wird zu einem Spiegel, der, wenn er unvermittelt spiegelt, das entfremdende Potential aufweist, das sich hinter der Maske des Ähnlichen versteckt und an dem schon Narziss zu Grunde ging. Die Antwort auf die dem kategorialen Begriff inhärente Entfremdung, ist dann Antwort auf die Antwort der Fremderfahrung, eine potenzierte Fremdheit. Die Antwort, die die Fremderfahrung fordert und auslöst, wirkt auf den Auslöser, zurück. Der Auslöser setzt sich dann zwangsläufig mit dem Anspruch der Antwort auseinander; die Antwort wird zu einem Spiegel, der unweigerlich seiner spiegelnden Funktion gerecht werden wird und doch kein vermittelnder mehr ist. Die Antwort wird zur Frage, einer vorbelasteten Frage, die weniger Freiraum lässt als die Beantwortung auf die primäre Fremderfahrung. Wenn man immer wieder hört, dass sich geistig behinderte Menschen mit ihrer Behinderung auseinandersetzen müssen, stellt sich die Frage, mit welcher Behinderung dies geschehen muss, mit der Behinderung durch den Begriff, mit der Starrheit des Begriffs oder einer organischen, leiblichen Behinderung?

Schon etymologisch zeigt sich die hemmende Bedeutung des Begriffs Behinderung, die Bewegung zu erschweren sucht. Lindmeier zeigt diesen Aspekt in einer etymologischen Untersuchung der Wortes Behinderung. "Als allgemeinste Bedeutungen für `Verhinderung´ nennen die GEBRÜDER GRIMM einmal ´die verhindernde, hemmende handlung´, dann aber ´das hemmnis selbst´, wobei sie anmerken, daß beide Bedeutungen nicht mehr streng zu scheiden sind, weil letzteres meist das erstere voraussetzt...´Verhinderung´ war also wie ´Behinderung entweder als Handlung bzw. prozeßhaftes Geschehen oder als Zustand

´Verhindertseins´ gebraucht worden."[175]

Der Begriff der geistigen Behinderung mit seinen zahlreichen Unterbegriffen, die das Feld der Behinderung immer genauer gliedern sollen, hat in diesem Sinne eine unterminierende und statische Bedeutung, mit der sich das damit bezeichnete Individuum auseinandersetzten muss. Im philosophischen Wörterbuch von Schischkoff steht zum Begriff: "Nach Sigwart ist der B. "eine Vorstellung, die die Forderung durchgängiger Konstanz, vollkommener Bestimmtheit, allgemeiner Übereinstimmung und unzweideutiger sprachlicher Bedeutung erfüllt"."[176] Der Begriff hat die Aufgabe, präzise und prägnant Bedeutungen und Bestimmungen festzuhalten und wenn ein konkreter Begriff schon durch seine eigene Bedeutung der Gefahr der Statik ausgesetzt ist, wird dieser durch die allgemeine Statik der Begrifflichkeit noch erhöht. Der geistig behinderte Mensch wird auf diese Weise mit verschiedenen Aspekten der Fremdheit konfrontiert. Wenn z.B. die Bezeichnungen Mensch, Person, oder Deutscher, Amerikaner zwar auch eine bezeichnende und zuschreibende Wirkung haben mögen, dann ist diese durch die Allgemeingültigkeit, die ihnen zugeschrieben wird, abgeschwächt. Je allgemeiner eine solche Zuschreibung wird, desto vager und dadurch individueller wird die Deutungsmöglichkeit; der Spielraum der Möglichkeiten, der Gestaltungsmöglichkeiten wird offener und die Besonderheit des Menschen wird erlaubt. Die nationale Bezeichnung wird nur in seltenen, zumeist geschichtlich bedingten Fällen zum Stigma, gegen das man sich wehren müsste. Sobald die gemeinste Allgemeinheit verlassen wird und Begriffe bestimmte Gruppen bezeichnen sollen, gewinnen sie eine weitaus stärkere Kraft. Die geistige Behinderung ist kein allen, oder einer großen, für sich sprechenden Gruppe gemeinsames menschliches Merkmal, sondern eine Besonderung, die ein Mehr aufweist denn eine bloße Zuschreibung. Aus der Zuschreibung kann eine Einschreibung werden, die ungleich stärker auf den Leib einwirkt. "Der Mensch mit geistiger Behinderung ist nicht mehr ein besonderer Mensch wie alle Anderen, sondern ein besonderer Mensch, weil er von den Anderen abweicht. In diesem Fall wird seine allgemeine menschliche Identität aufgelöst."[177]

Das geistig behinderte Kind hat sich nicht nur mit den alltäglichen und "normalen" Fremdheitserfahrungen zu befassen, sondern auch mit dem starren Gerüst er einschreibenden, phantasmatischen Begriffe, die umso entfremdender wirken müssen, je bestimmender und klarer sie zu werden scheinen.

5.3 Die Ambivalenzen der Begriffe

Es ist hier nicht der Platz, um die Problematik der Begrifflichkeit detaillierter zu erörtern. Dennoch muss hinzugefügt werden, dass der Begriff der geistigen Behinderung ein junger, uneinheitlicher und im Wandel befindlicher ist. Der Sonderpädagoge Christian Lindmeier schreibt bezüglich des Behinderungsbegriffes, dass dieser "erst Ende der 60er Jahre zu einer grundlegenden Kategorie der Heilpädagogik avanciert ist."[178] Und die Sonderpädagogin Ionna Ntourou macht darauf aufmerksam, dass der "Terminus geistige Behinderung...1958 seine Anerkennung durch die Initiative der Eltern von Betroffenen"[179] erreicht. Auch hat sich die Bedeutung dieses Begriffes fortlaufend verändert. Man betrachtete Behinderung unter anderem als medizinische, funktionale, soziale, gesellschaftliche, oder auch der Interaktion geschuldete Kategorie, so dass von einem einheitlichen Bild von Behinderung nicht zu sprechen ist. Auf diese Bedeutungswechsel innerhalb der Begriffsgeschichte und damit auf die dynamische Funktion des Begriffes, soll aber nicht weiter eingegangen werden. Stattdessen soll darauf hingewiesen werden, dass Begriffe mehr sind als bloße Worte, über deren Bedeutung zu streiten wäre und dass Bedeutungswechsel hin oder her, immer das Wort Behinderung benutzt wurde. Dieses Wort beginnt ein Eigenleben und gewinnt bestimme Funktionen, die über das ursprünglich Gedachte hinausweisen können. Das Feld der Behindertenpädagogik ist kein in sich geschlossenes, sondern ein relationales, dessen Wirkweisen über den eigenen, wissenschaftlichen Bereich hinaus reichen. Die Wirkungen des Begriffs können nicht mit dem Hinweis abgetan werden, diese hätte man nicht im Sinn gehabt. Das Symbolische ist nach Lacan eben nicht nur dem Bereich des Bewussten zuzuordnen, sondern zeichnet sich durch eine unbewusste Funktion aus, deren Wege und Verästelungen nicht sicher prognostiziert werden können. Die Vorstellungen, die sich anhand der Begrifflichkeiten bilden, mögen der gedachten Bedeutung zuwiderlaufen, dass sich solche Vorstellungen bilden können, sollte aber jeweils mitbedacht werden.

Wichtiger jedoch scheint mir nochmals auf die begrenzende Funktion des Begriffes selbst hinzuweisen. "Ich bin nicht behindert!" lautet der Protest gegen die von außen kommen Zu(Ein-)schreibung, die neben der einschränkenden Perspektive auf den Jungen eine weitere Frage aufwirft. Der Begriff der Behinderung ist eine Besonderung, die nicht nur für den Besonderten, sondern auch für den Besondernden eine Rolle spielt. Die Besonderung weist auf eine Grenze hin zwischen dem Besonderen und dem Normalen. Diese Grenze mag bei genauerem Beschauen verschwimmen, wie auch die Grenze zwischen Eigenen und Fremden, doch das genaue Beschauen wird immer wieder vom imaginären unterlaufen. Für den geistig Behinderten werden diese Grenzen von Außen gesetzt, die Begriffe werden von anderen verhängt und gewinnen auch für den Anderen, den Experten, die Eltern einen spiegelnden Wert. So wie Fremdes und Eigenes nicht klar voneinander zu trennen ist, sind auch geistige Behinderung und "Normalität" eng miteinander verwoben. Der banale Hinweis auf das notwendige Komplement jeder dichotomischen Beziehung, kann daher das Problem der Spiegelung nicht ausreichend beschreiben. Die geistige Behinderung ist eine Art negativer Spiegel, der uns zeigt, was wir nicht sein möchten. Denkt man an einen Ausspruch wie: "So möchte ich nicht enden", so zeigt dieser mehr an, als den Wunsch des So-Nicht. Er ist gleichzeitig ein Hinweis auf das Jetzt des So-Nicht-Seins. Wenn ich sage, dass ich so nicht enden möchte, sage ich über mich aus, dass ich im Moment so nicht bin. Wenn ich jemanden als geistig behindert klassifiziere oder diagnostiziere, dann diagnostiziere und klassifiziere ich auf Umwegen zugleich mich selbst. Indem ich dem Anspruch des Fremden, nicht Verstehbaren und Namenlosen einen Namen gebe, verbanne ich die Fremderfahrung hinter den Namen und hoffe auf Janus, dass er die Türen gut bewachen und beschützen möge. Ich weise dem Fremden einen Ort zu und habe damit die Möglichkeit, mich hinsichtlich dieses Ortes zu bestimmen. Das Fremde und Eigene, die Behinderung und das Normale stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander. Sie sind ineinander verflochten und die Grenzen sind nicht klar definierbar. Wenn z.B. geistige Behinderung an dem Unterschreiten eines bestimmten IQ-Wertes festgemacht wird, stellt sich die Frage der (konstruierten) Grenze schon am Wert des IQ-Tests. Jedem IQ-Test liegt eine Theorie der Intelligenz zugrunde, so dass der IQ-Wert je nach Test variabel sein kein. Was passiert aber, wenn der postulierte Grenzwert der geistigen Behinderung genau in dem Bereich des Variablen liegt, den ich besetze? Bin ich dann je nach Tagesform und Test mal behindert und mal nicht?

Begriffe grenzen sich immer gegen andere Begriffe ab und sind in dieser Tendenz imaginär besetzt. Das Imaginäre verschleiert aber den Blick vor der Verflechtung, die eine gesicherte Grenzziehung unmöglich macht. "Wir erfinden, was wir antworten, nicht aber das, worauf wir antworten. Das, worauf wir antworten, ist ein Fremdes und Außer-ordentliches, das sich der jeweiligen Ordnung entzieht."[180] Die Nähe des Fremden, die uns stört und beunruhigt, kann durch die Antwort abgewiesen werden, die Normalität wird wieder hergestellt, indem dem Fremden ein Ort zugewiesen wird, der dem Normalen zugleich als negativer Bestimmungsort gereicht. Das Normale zu beschreiben ist ein Ding der Unmöglichkeit und dennoch ist die Vorstellung davon virulent, das bezeichnete Fremde wird so zum anderen (nicht dem Fremden!) der Ordnung und ist auf verquere Weise an der Instandhaltung und Weiterentwicklung der Ordnung beteiligt. Die Setzung der Differenz zwischen der Behinderung und dem Normalen, die jedem Sprechen von Behinderung notwendig inne liegt, weist aber noch auf einen weiteren Punkt hin. Das Nicht-Verstehen löst Angst und Schrecken aus und zielt daher auf das Eigene. Die Angst rührt weniger von der Differenz her, die sich zwischen dem Behinderten und mir auftut, als vielmehr von einer möglichen Ähnlichkeit, die sich auftun könnte. Das Fremde hallt in mir wider, erinnert an all das, was noch passieren könnte, gemahnt an das Unverständliche meiner selbst, an die Zerbrechlichkeit meiner Vorstellungen und Bilder von mir. "Souligner en quoi cet enfant-là diffère est une manière d´éviter de voir en quoi il est, malgré sa différence, «comme les autres»."[181] Das Phantasma des behinderten Kindes hilft dabei von dem Fremden in sich zu flüchten. Das Problem liegt weniger in einer totalen Fremdheit oder einer radikalen "Betonung der unaufhebbaren Andersheit des Anderen", die laut Stinkes in der Gefahr steht, "den Anderen vollkommen unzugänglich und damit in die Nähe bzw. an die Stelle Gottes zu rücken"[182], da eine solche Gefahr gar nicht erkannt werden könnte. Der radikal Andere, der nicht mehr zu uns spräche, wäre uns schlicht gleichgültig, bzw. nicht erkennbar. Sobald das Fremde uns anhand von Fremdheitserfahrungen begegnet, fasziniert und stört, können wir nicht anders als eine Antwort zu geben, da es uns bei aller Ferne und Differenz zugleich so nah und ähnlich ist. Die Gefahr liegt in einer möglichen Ähnlichkeit; diese ist bedrohlich, stellt unser Konstrukt der Identität, der Normalität in Frage. "En effet, accepter l´autre avec sa différence est une chose; mais accepter l´autre dans sa ressemblance en est une autre, beaucoup plus ardue, car plus menaçante. S´il me ressemble, il est un miroir dans lequel je risque de reconnoitre une part de moi-même que je n´admets pas, voire qui me fait horreur."[183]

Das Fremde stört die Ordnung und dient paradoxerweise zur Sicherung der Ordnung. Das Problem liegt in der Form des Antwortens. Antwortet man dem Fremden, indem man mit ihm oder über es spricht? Die Kämpfe um die Begriffe im wissenschaftlichen Diskurs der Heilpädagogik zeigen die stete Beunruhigung, die Behinderung auslöst, nur scheint die Form des Antwortens oftmals eine abwehrende, phantasmatische Struktur aufzuweisen, die sich am Sprechen- über erkennen lässt. Man spricht über den geistig Behinderten, bezeichnet ihn als geistig behindert und tut dies anhand von vagen Normalitätsannahmen, ohne ihn wirklich zu Wort kommen zu lassen. Auch wenn Wissenschaft einen Auftrag hat, dem nicht mit einem einfachen Gespräch beizukommen ist, muss die Frage erlaubt sein, ob nicht gerade eine Wissenschaft wie die Heilpädagogik, die als Vertreter der "´Expertengemeinschaft´ Verantwortung für diese Menschen übernehmen"[184], sich zu einem näheren Gespräch mit den zu erforschenden Personen bereit erklären sollte. In den inneruniversitären Graben- und Positionskämpfen wird der Mensch mit geistiger Behinderung "zum Objekt eines Anerkennungskampfes bzw. eines wissenschaftlichen Verstehens und ist paradoxerweise gerade auf diejenigen angewiesen, die ihn verobjektivieren... Er bestimmt nicht über sich selber, sonder er wird von anderen bestimmt. Ich bringe es auf den Punkt: Seine eigene Stimme wird von den äußeren Stimmen erstickt."[185]

5.4 Das Problem des Aussagens

Die Bilder und Vorstellungen von geistiger Behinderung sind nicht zu trennen vom Sprechen über geistige Behinderung, sind von der Sprache, dem gesprochenen als auch dem geschriebenen Wort beeinflusst; daher ist ein Nachdenken über die Sprache auch für den Bereich der geistigen Behinderung von entscheidender Bedeutung. Wie kommt es, dass bestimmte Begriffe heute tabu sind, warum spricht man nicht mehr vom Mongölchen, vom Imbezilen, oder vom Idioten? Ist das Wort Down-Syndrom wirkliche respektabler, weist es nicht schon durch das Wort down dem Menschen mit Down-Syndrom einen bestimmten Platz unterhalb des Normalen zu? Wurde nicht auch das Wort behindert zu einem gebräuchlichen Schimpfwort, wie man es immer wieder auf der Straße hört und das dem Imbezilen, dem Idioten[186] in nichts nachsteht: "Bist du behindert, oder was?" Der Begriff ist immer mehr als das bloße Wort, hat eine Funktion, die über das alleinige Bezeichnen hinausweist. Er wirkt anhand der damit verbundenen Vorstellungen, Bilder und Stigmata in die Identität hinein. Der vergegenständlichende Begriff ist ein Produkt der Sprache oder um genauer zu sein, ein imaginäres Produkt der Sprache. Sprache hat aber mehr als eine nur imaginäre Funktion, sie hat auch und vor allem eine symbolische Funktion, die in das enge Netz des Imaginären Löcher und Spalte einfügt, die zur Flucht aus der strikten Umklammerung des Imaginären verhelfen. Das zentrale Problem scheint in der Ambivalenz der Sprache selbst zu liegen. Wie Lacan betonte, hat das Subjekt im Symbolischen seinen Ort, das Objekt hingegen, die Vergegenständlichung hat ihren Grund im Imaginären. Das bezeichnete Objekt ist aber wie das Subjekt sprachlicher Natur. Sprache hat mithin einen ambivalenten Charakter, der dazu führt, dass eine Trennung zwischen dem imaginären und dem symbolischen Anteil der Sprache in der sprachlichen Ausführung unmöglich ist. Lacan setzt den Signifikanten dem symbolischen Bereich der Sprache gleich, während das Signifikat die Bedeutung, die imaginäre Dimension der Sprache kennzeichnet. Sprache hat sowohl eine symbolische als auch imaginäre Dimension: "Es gibt etwas in der symbolischen Funktion des Diskurses, das nicht eliminiert werden kann, und das ist die Rolle, die das Imaginäre darin spielt."[187] Die Verflechtung der imaginären und symbolischen Dimension in der Sprache, ist für die Sprache eine notwendige. Gäbe es nur eine symbolische Dimension der Sprache, fiele alle Präsenz, alles Feste gewissermaßen aus der menschlichen Welt heraus. Man könnte keine Aussagen mehr treffen, die über den Moment hinausgehen, keine Begriffe über die geredet werden könnte. Sprache wäre auf diese Weise reines Sagen, das ohne die strukturierenden Momente des Gesagten vor sich hin flösse. Das reine Sagen, das rein Symbolische wäre der Zeit enthoben, wäre, um mit den Worten des Philosophen Emmanuel Lévinas zu sprechen, "Vor-ursprünglich"[188] und daher nicht abgrenzbar und gewissermaßen in seiner grenzenlosen Anwesenheit mit einer permanenten Abwesenheit gleichzusetzen. "Im Gegensatz zum Gesagten, dessen Aufgabe die Bezeichnung und Festschreibung ist, identifiziert das Sagen nicht. Es besteht im Ereignis, im Moment, in dem etwas gesagt wird, in dem das Subjekt sich dem Anderen aussetzt, vielleicht nach Worten ringt."[189]

Für Lacan ist das Symbolische der Ort der radikalen Andersheit, an dem sich das Subjekt situiert; es muss sich dem Symbolischen unterwerfen, muss das Gesetz des Symbolischen anerkennen, um überhaupt Subjekt zu sein. Die Signifikanten haben keine positive Existenz und sind nur durch ihre gegenseitige Differenz, mithin negativ und unabschließbar bestimmbar. Eine totale Unterwerfung unter dieses Gesetz brächte den Menschen zum Verschwinden, die totale Unterwerfung beraubte der Individualität und der Eigenständigkeit. Das Eigene wäre nicht mehr vorhanden, was bliebe, wäre die totale Fremdheit, gleichbedeutend mit einer totalen Namenlosigkeit. Das "eigentliche Subjekt" wie es Lacan konzipiert, ist ein "wesenhaft unbestimmbares", das sich "somit gerade nicht von einer Sprache fassen lassen kann, die, sobald sie benennt, immer auch vergegenständlicht."[190] Es ist ein Subjekt, das nicht weiß, "was es sagt, und zwar aus den besten Gründen, denn es weiß nicht, was es ist."[191] Doch der Gedanke eines ausschließlich symbolischen Bereichs, eines eigentlichen Subjekts ist ein künstlicher. "Es gibt niemals ein Subjekt ohne Ich, ein voll realisierbares Subjekt"[192]. Das Sagen ohne Gesagtes, Sprache ohne ihre imaginäre Dimension, eine Sprache ohne Sprecher ist praktisch undenkbar. Dennoch erlaubt die Hervorhebung des Sagens, des Symbolischen, einen Aspekt zu betonen, der für die Behandlung des Fremden von interessanter Bedeutung ist. Das Symbolische und das Sagen verweisen in ihrer radikalen Alterität - für Lacan ist der Andere auch der Ort des Symbolischen - auf eine Fremdheit, die in ihrer Radikalität eine konstitutive für den Menschen ist. Der Mensch als Sprachwesen ist anhand des Sprechens und dessen symbolischer Dimension durch das Fremde bedingt. Das Subjekt ist wesentlich durch das Fremde der symbolischen Ordnung bestimmt, kann ohne diese Fremde nicht zur Existenz gebracht werden. Gleichzeitig sollte in der Behandlung des Spiegelstadiums gezeigt werden, dass die Bildung des Ichs ebenfalls auf einer Entfremdung basiert, einer Entfremdung, die in ihrer letzten Konsequenz in den Tod führte, käme nicht das Gesetz des Symbolischen zum Tragen. Die Entfremdung des Imaginären würde in ihrer Ausschließlichkeit zum Tode führen, während die Entfremdung des Symbolischen wiederum ein Verschwinden jeglicher Objektivität, also reine Subjektivität zur Folge hätte. Statt daher von Steigerungsformen der Fremdheit zu sprechen, scheint es mir sinnvoller, die Fremdheit verschiedenen Dimensionen zuzuordnen.

Das Sprechen ist durchwirkt von den Dimensionen des Symbolischen und Imaginären, es "ist wesentlich zweideutig."[193] Sagen und Gesagtes bedingen sich wechselseitig, wobei "der Preis, den die Manifestation verlangt", die "Unterordnung des Sagens unter das Gesagte"[194] bedeutet. Das reine Sagen erschafft nichts, erst das Sprechen lässt die Dinge erscheinen. "Vor dem Sprechen ist weder nichts, noch ist nicht nichts. Alles ist schon da, zweifellos, aber allein mit dem Sprechen gibt es Dinge, die sind - die wahr oder falsch sind, das heißt die sind - und Dinge, die nicht sind."[195] Bevor es beispielsweise den Begriff des Autisten gab, gab es auch den Autisten nicht. Menschen mit derartigen Symptomen gab es zweifellos schon davor, nur waren sie nicht benannt und daher dinglich, kategorisch nicht fassbar. Das Wort, der Begriff bringt die Dinge, die auf eine paradoxe Art in ihrer Abwesenheit zugleich anwesend sind, erst in Erscheinung, sie enthüllen das Unsagbare, und machen es so sichtbar. Erst durch den Begriff ist es möglich überhaupt von etwas zu sprechen. Solange es den Begriff Autismus nicht gab, konnte nicht in der Art und Weise darüber gesprochen und geforscht werden, wie es anschließend der Fall war und ist. "Sprechen ist Benennen, stellt Objekte vor, die sich zu Identifikation anbieten, und schafft dank einer wissenschaftlichen Terminologie neue Reifikationsmöglichkeiten."[196] Die Bildung eines Ichs ist ohne Bilder, Begriffe und Vorstellungen nicht möglich. Der Begriff hat in seiner benennenden, bezeichnenden Funktion elementare Bedeutung für das menschliche Dasein und ist, in seiner imaginären Komponente, ebenso gefährlich. Sprache bedarf ihrer immanenten Ambivalenz, um den Menschen zum Subjekt, verstanden als Subjekt-Objekt, werden zu lassen. Geschieht das nicht, besteht das Risiko der Objektivierung, der Vergegenständlichung. Wird "der Hiatus von Sprache und Vorstellung übersprungen", erhält "die Beziehung zum geistig behinderten Kind durchgängig den Charakter des Imaginären"[197], und wird dadurch zum negativen Spiegelbild des Gegenüber, seien es Pädagogen, Eltern, Therapeuten oder Ärzte. Eingedenk der Beziehung von Eigenem und Fremden ist eine Sprache, die nicht sowohl eine imaginäre, als auch symbolische Dimension aufweist, im konkreten Sprechakt nicht denkbar. Die Frage ist nur, inwieweit diese Dimensionen beide zu ihrem Recht kommen. Eine Frage, die nicht endgültig zu beantworten ist. Eher scheint es darum zu gehen, Tendenzen wahrzunehmen, sich dieser Zweideutigkeit des Sprechens bewusst zu sein, um durch dieses Bewusstsein, das Sprechen stets zu hinterfragen. Der Tenor der bisherigen Ausführungen lag vor allem darin, aufzuzeigen, dass die imaginäre Komponente des Sprechens hinsichtlich der geistigen Behinderung häufig zu überwiegen scheint und das geistig behinderte Kind auf diese Weise in seiner Subjektivität beschränkt wird. Diese Gefahr zeigte sich anhand der Phantasmen der innerfamiliären Beziehungen als auch durch die gesellschaftlichen Phantasmen und deren Wechselwirklungen auf den Mikrokosmos der Familie. Die Problematik des Sprechens geht daher über das alltägliche Sprechen im Dialog hinaus und verweist auch auf die wissenschaftliche Besprechung innerhalb des Diskurses über geistige Behinderung. Wenn also bisher das Sprechen nicht hinsichtlich des Feldes, des Ortes des Sprechens spezifiziert wurde, so hat das seinen Grund darin, dass die Risiken ähnlich gelagert sind.[198] Das geistig behinderte Kind bekommt sowohl als Kind als auch als geistig behindertes Kind häufig nicht die Möglichkeit zur Sprache, zur eigenen Sprache zu kommen. Man spricht über das geistig behinderte Kind, stellt Diagnosen und Prognosen und meint damit die Behinderung erklären zu können. Das Problem dieses Sprechens-über, liegt in der Macht des Begriffes. "Si l´on n´est rien qu´un Spartiate, qu´un capitaliste, qu´un prolétaire, qu´un boudhiste, écrit G. Devereux [et nos ajoutons qu ´un handicapé], on est bien près de n´être rien du tout et donc de ne pas être du tout."[199] Wird der Begriff zu stark, die Definition zu eng, die Theorie zu stringent, verschwindet der konkret besprochene Gegenüber. Der "Begriff ist nicht die Sache als solche, aus dem einfachen Grund, daß der Begriff immer da ist, wo die Sache nicht ist, er sich einstellt, um die Sache zu ersetzen"[200] und auf diese Weise eine logische, zeitliche Differenz zur Sache installiert.

Spricht man über geistige Behinderung, ist dieses Sprechen-über durch eine Nachzeitlichkeit gegenüber der Sache über die man spricht gekennzeichnet. "Reden bedeutet vorweg und darüber hinaus, daß etwas zur Sprache kommt, und dies auf einer elementaren Stufe der Sprechtätigkeit."[201] Der Anspruch, der zum Sagen-Wollen, oder auch zum Sagen-Müssen führt, ist vor dem konkreten Sagen als solchem, d.h. dem Ergebnis des Gesagten zu verorten. Jedes Wort, das hier zum Vorschein kommt, ist in seinem Anspruch schon da, bevor es zum Vorschein kam. Wenn etwas zur Sprache kommt, also zum Gesagten wird, bedeutet das, dass das, was zur Sprache kommt, davor in seiner Abwesenheit anwesend sein muss. "Zur-Sprache-kommen und Zum-Ausdruck-bringen bedeutet, daß die Sprache [das Sagen, das Symbolische, B.W.] sich selbst vorausgeht, in Form einer Vor-Sprache"[202]. Doch Sprache weist in ihrer symbolischen Funktion nicht nur zurück auf ein Vor-ursprüngliches, sondern auch auf ein Zukünftiges, das nie erreichbar ist. Durch die unendlichen Möglichkeiten der Bedeutungen, der metonymischen Dimension der Sprache, bringt sie nicht nur zur Sprache, sondern auch zum Schweigen. Wenn etwas gesagt wird, wird zwangsläufig anderes verschwiegen. Dieses Schweigen ist aber Teil des Sprechens, da es darauf verweist, was noch gesagt werden kann. "Reden bedeutet in sich selbst immer auch Nachrede und Vorrede"[203] und ist niemals ganz bei sich selbst.

Hat man diese zeitlichen Verschiebungen der Sprache im Auge, dann gewinnt Sprache und auch der Begriff einen Wert, der über das Bezeichnen und Bestimmen hinausgeht. Sprache schafft eine zeitliche Differenz, die die imaginäre Nähe der Zweierbestimmung weitet. Sie wird so zum Vermittler, zum Spiegel und hilft so, der Erstarrung zu entkommen. Sie schafft eine Differenz zwischen mir und dem Gegenüber, zwischen dem geistig behinderten Kind und mir, die weder mich noch das geistig behinderte Kind erstarren lässt. Durch die Unmöglichkeit "alles benennen zu können", die aus der "Eigenart dieses Anderen schlechthin" resultiert, ergibt sich eine Offenheit im "Bezug zum Seienden..., die der Bedeutungserfüllung widersteht"[204]. Das Fremde der Sprache ist zugleich die permanente Offenheit, ja Freiheit, die das Subjekt erst ermöglicht. Dank der Sprache kann man der Erstarrung, ähnlich wie Perseus anhand des Spiegels, erst entkommen. Die imaginäre Beziehung, die den anderen streng genommen immer nur zu einem Spiegelbild meines Ichs werden lässt, den anderen als Anderen gar nicht erst zu Wort kommen lässt, ihn zu einer narzisstischen Spiegelung meiner selbst reduziert, mit all den Aggressionen und Verkennungen, wird durch das Dritte der Sprache aufgelöst; der andere als konkreter Anderer, als großer Anderer, d.h. als Subjekt, entsteht erst im offenen Gespräch. Sprache ist "das die Ausweglosigkeit der dualen Beziehung transzendierende Dritte"[205]

Sprache ist in dieser Offenheit einerseits eine Zumutung, da sie eine letzte Antwort nie geben kann; sich in "Sprache einfügen impliziert Verzicht; Verzicht auf ein sich als einzig und einig setzendes Ich."[206] Andererseits ist sie trotz ihrer symbolischen Gesetzlichkeit, die bis ins Unbewusste drängt, der Ort der Offenheit, der Entwicklung, da sie den Menschen einem permanenten Zustand radikaler Fraglichkeit aussetzt, dem mithilfe der imaginären Projektionen nur zeitweilig entgangen werden kann.

Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass ein derartiges Sprachverständnis, ein alleiniges Sprechen unmöglich macht. Ein derartiges Sprechen, das die im-manente Fremdheit auszuhalten mag, setzt den Anderen, der einerseits den Ort des Symbolischen, als auch das andere Subjekt meint, mit. Sprache anerkennt den Anderen notwendig, wenn sie über die bloß imaginäre Komponente hinausgeht. Das Subjekt kann nur intersubjektiv bestehen, ein einzelnes, für sich allein stehendes Subjekt ist nicht denkbar, da durch den Anderen, das Symbolische, als auch das andere Subjekt, das Subjekt erst möglich wird. Bleibt das geistig behinderte Kind, wie Mannoni andeutet, nur das Objekt des anderen, dann beschränkt sich dieser andere in seiner eigenen Subjektivität. Das geistig behinderte Kind zur Sprache kommen zu lassen, beständig mit ihm zu sprechen, es zum Subjekt werden zu lassen, bedeutet mehr als die bloße Subjektivierung des Kindes, es kommt einer Subjektivierung des Gegenübers gleich. Verneint man die subjektivierenden Merkmale der Sprache, verneint man den vermittelnden Spiegel, der durch die Distanz den Schrecken abmildert, verneint man die eigene Fraglichkeit und wird zum erstarrten Objekt seiner phantasmatischen Idealisierungen. Die subjektivierende Sprache entfremdet wegen ihrer Andersheit immer schon; und doch gilt es diese Entfremdung auszuhalten, will man sein Sprechen nicht zu einem bloßem Amalgam aus Gesagtem verkümmern lassen, dass sowohl den anderen (der dann nicht zum Anderen werden kann) als auch den Sprecher selbst, ein weiteres Mal entfremdet.



[153] Vgl. Niedecken, 2003: S. 113f: Sie beschreibt auf diesen Seiten das Zusammenspiel von Faszination und Ablehnung, das ein Merkmal des Fremden zu sein scheint. Näheres dazu weiter unten.

[154] Sausse, 1996: S. 18

[155] Ebd.: S. 37

[156] Ebd.: S. 37

[157] Ein Buch der Psychoanalytikerin Valerie Sinason trägt in der deutsche Übersetzung den Titel: "Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins", und auch der englische Originaltitel macht auf die allgemein menschliche Spezifität geistiger Behinderung aufmerksam: "Mental Handicap and the Human Condition: New Approaches from the Travistock".

[158] Niedecken, 2003: S. 113

[159] Ebd.: S. 113

[160] Vgl.: Sausse, 1996: 154ff

[161] Ebd.: S. 66

[162] Niedecken, 2003: S. 91

[163] Stinkes, 1993: S. 115

[164] Sausse, 1996: S. 55ff.

[165] Bei Johannes heißt es: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott." (Johannes, 1.1).Von Gott wiederum ist es verboten sich ein Bildnis zu machen. Dieser Zusammenhang ist auch für die sprachtheoretischen Ausführungen von Lacan nicht uninteressant. Der Andere, das Register des Symbolischen geht Lacan zufolge dem Subjekt voraus und ist zugleich dessen Grundlage. Gleichzeitig ist dieses Andere nicht fassbar, entzieht sich durch seine metonymische Funktion jeglicher statischen Fassung. Das Bild das durch die Vorstellung dem substantivischen Wort inne zu wohnen scheint, ist daher eine imaginäre Funktion, die das Symbolische kodiert. Die Frage ist nur inwieweit das Substantiv dekodiert werden könnte, da es wohl immer bestimmte Bilder und Vorstellungen transportiert.

[166] Sausse, 1996: S. 67

[167] Ebd. S. 67

[168] Mannoni, 1972: S. 166

[169] Ein Problem, dem sich vor allem der Leser stellen muss.

[170] Stinkes, 1993: S. 113

[171] Wobei natürlich die Frage des "Warum Pädagoge?" eine ganz eigene ist.

[172] Wimmer, 1988: S. 247

[173] Sausse, 1996: S. 68

[174] Ntourou, 2007: S. 190

[175] Lindmeier, 1993: S. 122

[176] Schischkoff, 1991. S. 66

[177] Ntourou, 2007: S. 199

[178] Lindmeier, 1993: S. 19

[179] Ntourou, 2007.S. 189

[180] Waldenfels, 1998: S. 141

[181] Sausse, 1996: S. 141

[182] Stinkes, 1993: S. 106

[183] Sausse, 1996: 141f.

[184] Ntourou, 2007: S. 199

[185] Ebd.: S. 190

[186] Interessant ist etymologische Nähe des Idioten zur Eigenart, Eigentümlichkeit und Privatperson.

[187] Lacan: Zitiert aus Evans, 2002: S. 282

[188] Lévinas, 1992: S. 32

[189] Bedorf, 2003: S. 55

[190] Lang, 1998: S. 65

[191] Lacan, 1991: S. 311f.

[192] Ebd.: S. 313

[193] Lacan, 1990: S. 289

[194] Lévinas, 1992: S. 30

[195] Lacan, 1990: S.289

[196] Lang, 1998: S. 87

[197] Stinkes, 1993: S. 115

[198] Das soll aber nicht bedeuten, dass sich eine genauere Untersuchung über die einzelnen Felder des Sprechens und Schreibens nicht lohnen würde. Nur würden derartige Untersuchungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

[199] Sausse, 1996: S.68

[200] Lacan, 1990: S. 304

[201] Waldenfels, 1999: S. 61

[202] Ebd.: S.62

[203] Ebd.: S. 63

[204] Lang, 1998: S. 227

[205] Ebd.: S. 73

[206] Ebd.: S. 97

6 Wi(e)derbeginn

Eine Frage, die sich mir während des Prozesses dieser Diplomarbeit mehrfach stellte, hängt mit der Einschränkung auf das geistige behinderte Kind zusammen. Mannoni, Niedecken, Sausse und auch Stinkes, deren Studien als Ausgangspunkt dienten, schreiben ausschließlich über ihre Erfahrungen mit geistig behinderten Kindern. Das Fremde jedoch, wie es ausgehend von Lacan und Waldenfels behandelt wurde, stellt in diesen Theorien eine menschliche Grundgegebenheit dar. Wie verhält es sich daher mit geistig behinderten Erwachsenen und mit körperlich behinderten Menschen?

Des Weiteren wurde bisher sehr allgemein vom geistig behinderten Kind gesprochen. Es wäre interessant, die verschiedenen Formen von geistiger Behinderung auf das Risiko der phantasmatischen Entfremdung zu befragen. Zeigen sich möglicherweise bezüglich bestimmter Behinderungen stärkere Vorstellungen und Bilder als bei anderen? Wie steht es beispielsweise mit den Vorstellungen bezüglich des frühkindlichen Hirnschadens? Gibt es ähnlich klare Bilder, wie z.B. bei Autismus und Down-Syndrom? Ein weiterer Anknüpfungspunkt fände sich meiner Meinung nach in der Theorie der Spiegelneuronen. Wenn das spiegelnde Moment des Imaginären als Problem skizziert wurde, stellt sich die Frage, ob sich dafür möglicherweise neurologische Beweise finden lassen. Das spekulative Moment der Psychoanalyse könnte dadurch eventuell abgeschwächt werden.

Das Phänomen des Fremden wurde und wird in verschiedenen Sparten der Geisteswissenschaft behandelt. Der polnische Soziologe Zygmunt Baumann beispielsweise schreibt in seinem Buch "Moderne und Ambivalenz", das nicht etwa der Andere, oder der Feind das grundsätzliche Problem der Moderne sei, sondern das Problem des Fremden, des nicht bestimmbaren, der sich der einfachen, dichotomischen Begriffsbestimmung und Kategorisierung entzieht. Das Fremde stört die vermeintlich sichere binäre Ordnung und lässt Grenzen verschwimmen. Baumann macht dieses Problem sinnbildlich an der Judenverfolgung deutlich. Er sieht im Antisemitismus und dessen grässlichen Folgen vor und während des Zweiten Weltkrieges keinen Rückfall in barbarische Zeiten, sondern eine logische Konsequenz des modernen Plans alles bestimmen zu können, dem sich die Juden, da sie keinen eigenen Staat hatten unfreiwillig widersetzten. Sie waren Teil der europäischen Staaten und gehörten, da sie ja Juden waren, doch nicht dazu. Und doch waren sie auch nicht einfach die anderen, die Feinde, da sie ja keinen abgrenzbaren Bereich außerhalb des Eigenen bevölkerten. Das Paradoxe eines solchen Bestimmungswahns ist seiner Ansicht nach jedoch, dass jede Bestimmung neues Potential für Unbestimmbares liefert. Je vehementer man daher der Unbestimmtheit zu Leibe rück, desto mehr an neuem Unbestimmbaren, Fremden wird sich auftun.[207]

Auch Waldenfels beschreibt das Fremde als Außerordentliches, nicht konkret Fassbares, das sich einer Ordnung entzieht und nur durch die Erfahrungen, die Spuren, die es hinterlässt zu bestimmen ist. Es stört und macht zugleich neugierig, es fesselt den Blick und zwingt zu einer Antwort.

Es ließen sich noch weitere Bereiche anführen, wie z.B. die Ethnopsychoanalyse, die sich dem Problem des Fremden gewidmet haben, doch sollen die beiden erwähnten vor allem dazu dienen nochmals auf das eigentliche Paradoxon des Fremden hinzuweisen. Wenn ich das Fremde als Unbestimmbares definiere, dann liegt in dieser Definition immer schon ein immanenter Widerspruch. Ich spreche anhand der Definition, anhand des Textes über das Fremde, über das ich wesentlich nicht sprechen kann, da es nicht fassbar und daher auch nicht in Wörter zu kleiden ist. Und auch wenn ich die unfassbaren Momente permanent in den Vordergrund rücke und wie Waldenfels postuliere, dass es das Fremde nicht gibt, sondern nur Fremderfahrungen, dann spreche, schreibe ich dennoch über das Fremde. Das Fremde, das sich jeder Ordnung und Logik entziehen müsste, dürfte nicht in der Logik der Sprache im Sinne des Gesagten, zu dem ein Text notwendig auch wird, behandelbar sein. Und dennoch spricht man, spreche ich darüber. Ich muss sogar darüber sprechen, wenn ich dieses eigenartige Phänomen als Problem der Behindertenpädagogik zu skizzieren versuche. Wenn das Fremde der Logik, die ein System, eine Ordnung darstellt, widerspricht, sie stört, dann kann man dieses Fremde streng genommen nicht in Sprache zur Darstellung bringen. "Etwas »der Logik Widersprechendes« in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen; oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert."[208]211 Was ich bisher gesagt habe, wird in irgendeiner Form eine Logik aufweisen, die vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar sein mag, der aber als Gesagtes nicht auszuweichen ist. Das als unlogisch bezeichnete, zeichnet sich logisch durch seine Unlogik aus.

Wenn das Fremde daher bei Baumann einen Moment der Ursache gewinnt, oder Waldenfels das Fremde innerhalb einer Logik der Responsivität zu situieren sucht, dann wird es zu einem Moment der Ursache und Wirkung und wird wieder zu einem Begriff. Auch meine Ausführungen weisen eine derartige Logik aus. Wenn das Fremde, im Sinne der Fremderfahrung, die ich mache, wenn ich einem geistig behinderten Menschen begegne, als Faktor begriffen wird, auf den ich, ob ich will oder nicht, zu antworten habe, gewinnt dieses Fremde einen ursächlichen Wert, der es in ein System zwängt. Mag das Fremde zwar in seiner Konkretheit nicht fassbar sein, so wird ihm dennoch das Wort Fremdes verliehen. Es wird bezeichnet und wird durch dieses Bezeichnen eine Art Eigenleben gewinnen. Das Fremde wird in seiner Wörtlichkeit kein reines Symbolisches bleiben, sondern auch imaginäre Momente aufweisen, die den Begriff als solchen schon wieder entfremdend werden lassen.

Das Problem des Unaussprechlichen ist auch ein Thema Lacans, wenn er das Reale behandelt. Dieses ist ebenfalls nicht fassbar und doch wird darüber gesprochen, da sonst die beiden Register des Symbolischen und Imaginären wieder zu einem binären Modell verknüpft werden könnten. Dieses Reale wurde in den vorliegenden Ausführungen nicht näher behandelt. Für anschließende Studien wäre die Untersuchung des Realen und den daraus folgenden Entfremdungen ein Punkt, der bei aller Paradoxie, die auch diesen Terminus betreffen, näher zu betrachten wäre. Wenn bisher die imaginäre Entfremdung der symbolischen entgegengestellt wurde, obschon eine praktische Trennung unmöglich ist, gewänne diese einfache Trennung durch das Reale wahrscheinlich eine Erweiterung, die neue Probleme aufzeigen würde, die vor allem das menschliche Begehren beträfen, das mehr ist als die bloß imaginäre Sehnsucht nach mir selbst.

Wie aber sprechen und schreiben über etwas, das sich nicht besprechen und beschreiben lässt? Soll man einfach darüber schweigen und hoffen, dass das, was nicht sinngemäß zur Sprache kommen kann, keine Auswirkungen haben wird? Wie kann man das Sagen, das Symbolische auch im Gesagten zu seinem Recht kommen lassen? Wie kann man die imaginäre, objektivierende Entfremdung, durch eine subjektivierende, symbolische Entfremdung aufweichen, und dem verobjektivierten Objekt zur Sprache verhelfen, es Subjekt werden lassen? Wie kann man mit Wissen arbeiten, wenn jegliches Wissen immer auch verkennende Tendenzen hat und den geistig behinderten, gewussten Menschen zusätzlich entfremdet? Aufhören darüber nachzudenken? Antipädagogik? Wenn das Fremde tatsächliche eine Seinsgegebenheit des Menschen ist, und Sprache immer auch eine imaginäre Komponente hat, kann das die Lösung nicht sein. Dem Fremden, auch der imaginären Entfremdung ist nicht zu entkommen. Daher scheint es mir notwendig die Fraglichkeit des eigenen Sprechens in den Vordergrund zu stellen. Anschließend an diese Arbeit könnte ich mir widersprechen und eine Verteidigung des objektivierenden Begriffs schreiben. "Das Ander-als-sein drückt sich aus in einem Sagen, das deshalb auch widerrufen werden muß, um nämlich auf diese Weise das Anders-als-sein dem Gesagten zu entreißen, in welchen das Anders-als-sein schon sich anschickt, nur mehr ein Anderssein zu bedeuten."[209]212 Der Zweifel an der eigenen Vorstellung macht es vielleicht möglich, neben dem Sprechen-über das Sprechen-mit nicht zu vergessen. Die Antwort, die Zeit braucht, die Frage, die erst mal Frage bleiben darf, das Störende, das neugierig macht und aufhorchen lässt, die Gier nach dem Neuen, der Zweifel; alles Versuche die eigene Sicherheit zu hinterfragen und den Anderen zu Wort kommen zu lassen.

Denkt man an die Analysen des Soziologen Pierre Bourdieus zum sozialen Raum, gewinnt das eigene Sprechen, die eigene Überzeugung eine Örtlichkeit, die sie erklärbar und relational werden lässt. Was ich wie denke, wie ich schreibe, was für eine Position ich unbewusst einnehme, ist abhängig von Lebensweg und Milieu. Die Sozialisation schlägt sich auf den Habitus nieder und dieser spricht mit, ohne dass ich darüber so genau Bescheid wüsste. Der Ort des Sprechens spricht mit, zum Lacanschen "es-spricht" der Sprache, kommt noch das "es-spricht" des Ortes. Das Eigene sollte dahingehend zur Disposition gestellt, der Ort des Schreibens, der Habitus gemäß Bourdieu analysiert und gleichzeitig der Nicht-Ort des Symbolischen im Auge behalten werden. Das Ergebnis wäre nichts weiter als eine Bewusstseinsschärfung, die bestenfalls diesen kurzen Moment des Zögern ermöglicht und dem Fremden seinen Raum lässt, und den fremden anderen zum sprechen bringt, auf das er zum fremden Anderen werden kann.

Dennoch halte ich das Problem des Fremden in der Behinderung für ein wichtiges Thema, das es verdient hätte weiterr weiterverfolgt zu werden. Die Bücher, die dazu in Deutschland erschienen sind, zeichnen sich nicht gerade durch ihre unfassbar große Anzahl aus und haben doch den Vorteil, eine gewisse Interdisziplinarität zu erlauben, die das Problem der Behinderung aus seinem Nischenbereich befreien und ihm auch philosophisch, psychologisch, soziologisch und psychoanalytisch zu einer breiteren Basis verhelfen können. Das Wichtigste daran scheint mir aber der Aspekt zu sein, dass die Behinderung auf diese Weise aus dem singulären behinderten Individuum auf eine intersubjektive Basis gehoben wird, die immer auch unsere eigene, mögliche Behinderung mit umfasst. Wenn der Behinderte uns zu einer Antwort auffordert und das Behindert-Sein erst in dieser Antwort zum Problem wird, die Fremderfahrung als genuin menschliche diese Antwort fordert, wird die geistige Behinderung aus ihrer stigmatisierenden Besonderung befreit und zu einer allgemein menschlichen Besonderheit.



[207] Vgl, Baumann, Z., 2005

[208] Wittgenstein, L., 1963: S. 20, Satz 3.032

[209] Lévinas, 1992: S. 33

7 Literatur

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Quelle:

Benjamin Weber: Das geistig behinderte Kind, der Blick und das Fremde. Wie antwortet man auf die geistige Behinderung eines Kindes?

Diplomarbeit an der Universität Bremen; Diplomstudiengang Erziehungswissenschaft/Behindertenpädagogik; Betreuer: Dr. Martin Herz; Zweitgutachter: Swantje Köbsell

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 14.09.2009

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