Körper - Macht - Differenz:

Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies

Autor:in - Anne Waldschmidt
Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Vortrag
Copyright: © Anne Waldschmidt 2006

Körper - Macht - Differenz: Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies

»Sie hat keine Arme und keine Hände, wenn auch der Stumpf ihres rechten Oberarms bis zu ihrer Brust geht. Ihr linker Fuß wurde durchtrennt und ihr Gesicht ist voller Narben, die Nasenspitze ist verletzt und an der Unterlippe fehlt ein Stück. Glücklicherweise wurden die Gesichtsverstümmelungen behandelt und sind kaum noch sichtbar. Nur noch einige kleinere Narben fallen bei näherem Hinsehen auf. Der große Zeh ihres rechten Fußes ist abgeschnitten und ihr Torso ist mit Narben bedeckt. Zwischen ihren Schulternblättern gibt es eine besonders große Narbe, eine andere bedeckt ihre Schulter und eine dritte findet sich auf der Spitze ihrer Brust, bei der die linke Brustwarze herausgerissen ist.«[1]

So beschreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Lennard Davis eine Statue, bei der wir gelernt haben, sie als den Inbegriff weiblicher Schönheit zu betrachten. Die vielen tausend Museumsbesucher, die jeden Tag in den Pariser Louvre kommen, sehen die berühmte Venus von Milo sicher nicht als verletzt, verstümmelt oder verkrüppelt, mit einem Wort, als »körperbehindert« an; vielmehr heben sie ihre Anmut und Wohlgestalt hervor. Tatsächlich lautet die gängige Beschreibung eines aus Stein modellierten, weiblichen Torso wohl eher so:

»Man könnte sehr gut darauf beharren, dass die Brüste schön sind. [...] Sie sind klein, deutlich geformt und im höchsten Maße zart, mit einer Spur von Weichheit. [...] Und gleichzeitig, in all ihrer Weichheit haben sie auch eine Festigkeit. [...] Von ihren Brüsten abwärts beginnt ihre Gestalt bis zu ihrer Taille allmählich zu verschwimmen. Ihre Beine sind gerade und schlank, das hintere von ihnen ist schön geformt, und ihre Füße sind klein, weiß und hübsch.«[2]

Die hier zum Ausdruck kommende Obsession mit der weiblichen Brust mag eine Leserin als unangenehm empfinden, jedoch gilt sie - ungeachtet feministischer Kritik - längst als durchaus »normaler« Bestandteil unseres medialen Alltags. Auch wenn klar ist, dass es sich um den idealisierenden Blick eines Mannes handelt, der auch dann Ganzheit imaginieren und formvollendete Beine und Füße sehen würde, wenn die beschriebene Statue keine mehr hätte und zertrümmert wäre,[3] eigentlich verstört uns dieser Text nicht.

Eine Irritation tritt tatsächlich erst dann auf, wenn man sich vorstellt, dass es sich bei diesem Zitat auch leicht um die enthusiastischen Formulierungen eines männlichen Bewunderers von Mary Duffy handeln könnte, einer Künstlerin, die ihren eigenen, armlosen Körper inszeniert, um auf die Konstruktion des behinderten Körpers aufmerksam zu machen.[4] Die Performance, bei der sich die Künstlerin zunächst als Venus mit nacktem Oberkörper, die Hüften und Beine umhüllt von fließenden Stoffbahnen, präsentiert, um sich anschließend aus der Pose zu lösen und so die selbst hergestellte Ikonographie zu zerstören,[5] thematisiert den Widerspruch zwischen der Imagination eines zertrümmerten Torso als idealer weiblicher Körper und der negativen Bewertung eines real vorhandenen Körpers als »behindert«, und zwar nur deshalb, weil ihm die Arme fehlen.

Die Kunst von Mary Duffy ist provokativ, weil sie das gängige Sehen durchkreuzt: Die bewusste Zurschaustellung körperlich differenter Weiblichkeit gibt den Blick zurück, sie zwingt die Betrachter, die Selbstverständlichkeiten des eigenen Sehens in Frage zu stellen, und sie bringt vermeintlich eindeutige Gleichsetzungen wie »normal = schön« und »behindert = hässlich« durcheinander, kurz, sie bewirkt einen beunruhigenden »Perspektivenwechsel«. Um genau diesen Perspektivenwechsel geht es auch den Disability Studies. Wie die Performance-Künstlerin, so versteht sich diese Forschungsrichtung als widerspenstiges Projekt, als eine Wissenschaft, die hergebrachte Sichtweisen dekonstruiert und neue Blicke produziert.

Foucault[6] hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Wahnsinn kein objektives Faktum darstellt, sondern sich als Begriff und Konzept in einem jahrhundertealten, von Machtverhältnissen durchdrungenen Prozess entfaltet hat und nur in seinem Verhältnis zur Vernunft wirklich verstanden werden kann; entsprechend geht es auch den Disability Studies darum, die Historizität und Kulturalität, Relativität und Kontingenz der Behinderungskategorie herauszuarbeiten. Im folgenden werde ich den Versuch unternehmen, dem Einfluss Foucaults auf diese im Aufbau befindliche Diskursformation nachzuspüren.

Dabei werde ich den Fokus auf diese drei Fragen legen:

  • Welche Bedeutung hat »der behinderte Körper« (impairment) für die Analyse von »Behinderung« (disability)?

  • Inwiefern kann »Behinderung« als Machtgeschehen begriffen werden?

  • Wie wird die Differenz »Behinderung« hergestellt?



[1] vgl. Lennard J. Davis: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body. London, New York: Verso 1995, 126; eigene Übersetzung aus dem Englischen.

[2] Dieser Text stammt aus dem 18. Jahrhundert und hat die Venus von Medici zum Gegenstand; entnommen aus: John Barrel: »The Dangerous Goddess«: Masculinity, Prestige, and the Aesthetic in Early Eighteenth-Century Britain. In: Cultural Critique 12 [1989], S. 101-131, hier: 127; zit. n. Davis: Enforcing Normalcy, S. 137; eigene Übersetzung aus dem Englischen.

[3] Zu dem idealisierenden Akt des Sehens vgl. Davis: Enforcing Normalcy, 136f.

[4] Zu der Kunst von Mary Duffy vgl. Ebd; Sharon L. Snyder/David T. Mitchell: Re-engaging the Body: Disability Studies and the Resistance to Embodiment. In: Public Culture, Jg. 13 (2001), H. 3, 367-389.

[5] Nicht ohne Grund heißt die Inszenierung »Cutting the Ties that Bind«.

[6] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

1. Behinderte Körper - »docile bodies«

Ich beginne mit der Frage nach dem Stellenwert von Körperlichkeit und Körpererfahrung für die Theorie der Disability Studies. Schaut man sich nach diesem Thema in dem Forschungsfeld um, so findet man eine auffällige Diskrepanz: Einerseits ist der behinderte Körper im Diskurs sozusagen omnipräsent, andererseits bildet die Körpertheorie wenn nicht eine Leerstelle, so doch ein noch einzulösendes Desiderat der Disability Studies.

Etwas verwunderlich ist dies schon, wenn man bedenkt, dass just zu dem Zeitpunkt, als sich die Disability Studies zu entfalten begannen, nämlich im Laufe der 1980er Jahre, auch so etwas wie ein »body turn« in den Sozial- und Kulturwissenschaften einsetzte. Allerdings verhinderte das soziale Model und die mit ihm verbundene Dichotomisierung von Körper und Gesellschaft, i.a.W. von »Natur« und »Kultur« zunächst eine entsprechende Bezugnahme. Auffällig ist, dass dort, wo man auf körpertheoretische Überlegungen trifft, die Bezüge auf Foucault doch recht zahlreich sind.

Aus Sicht der »feminist disability studies« unterscheidet beispielsweise die australische Sozialwissenschaftlerin Helen Meekosha[7] mit Foucault drei Arten von Körper, die man für die Analyse des »behinderten Körpers« heranziehen könne: zum einen den »objektivierten Körper«, einen Körper, der als Zielscheibe von Unterdrückung fungiert, als Sexualobjekt und Fortpflanzungsmaschine, zum anderen den »regulierten Körper«, einen Körper, der für Disziplinarinstitutionen ebenso wie für Selbstkontrolle und Selbstbemächtigung von Bedeutung ist, und drittens den »Körper als (kulturellen) Text«, als Träger von Bedeutungen und Symbolik. Sicherlich ist dieses Tableau anregend, gleichwohl hinterlässt der Beitrag einen etwas unbefriedigenden Eindruck: Zwar benutzt Meekosha Foucaultsche Kategorien wie »Normalisierung«, »Regulierung« und »Disziplinierung«, bleibt aber in ihrem Gebrauch eher allgemein und plakativ.

In einem differenzierter argumentierenden, viel zitierten Aufsatz haben die beiden schottischen Sozialwissenschaftler Bill Hughes und Kevin Paterson[8] auf die Körpervergessenheit der Disability Studies aufmerksam gemacht. In ihrem Plädoyer für eine »sociology of impairment« arbeiten sie heraus, dass die fehlende Reflexion des «impairment«-Begriffs dazu führt, den behinderten Körper mit Störung und Dysfunktion gleichzusetzen und einem reaktionären, oppressiven Diskursfeld zu überantworten. Sowohl in den Disability Studies wie auch in den Rehabilitationswissenschaften werde der behinderte Körper der Biologie und Medizin zugerechnet, dagegen sei es viel sinnvoller, ihn als gesellschaftlich hergestellten Gegenstand zu denken. Während sich die Trennung zwischen »impairment« und »disability« für die Emanzipationsbewegung als nützlich erwiesen habe, (re-)produziere sie im Bereich der Identitätspolitik einen fragwürdigen cartesianischen Subjektbegriff, der keine lebensweltliche Relevanz besitze, da sich behinderte Menschen durchaus, z.B. in Autobiographien, mit dem Körper beschäftigten und dieser auch politisch, z.B. im Kampf um Selbstbestimmung, eine Rolle spiele. Nicht nachvollziehbar sei deshalb, warum das soziale Modell den behinderten Körper ohne weiteres der Medizin überlasse.

In ihrer Argumentation stellen Hughes/Paterson direkte Anschlüsse an Foucault her:[9] Der französische Philosoph platziere den Körper in den Mittelpunkt seiner Arbeit und betrachte ihn als Wissensobjekt und Zielscheibe von Macht. Aus seiner Sicht seien körperliche Empfindungen als diskursiv konstruiert zu betrachten. Wenn man den Körper als ein historisch kontingentes Produkt von Machtverhältnissen ansehe, werde es möglich, eine kritische Theorie des »embodiment» auch des behinderten Körpers auszuarbeiten. Wenn die Annahme richtig sei, dass die Medizin eine hegemoniale Bezeichnungsmacht inne habe und beeinträchtigte Körper mittels diagnostischer »labels« und diskursiver Reifikation produziere, könne auch »impairment« dekonstruiert werden. Im Anschluss an Foucault lautet die zentrale These: »Impairment is social and disability is embodied.«[10]

Allerdings beziehen sich Hughes/Paterson nicht nur affirmativ auf den Foucaultschen Ansatz, sondern üben auch recht deutlich Kritik:[11] Im Poststrukturalismus werde der Körper zu einem Phantom. Seine Anhänger hätten den offensichtlich vorhandenen, den konkret-materiellen Körper, den sie ja eigentlich erklären wollten, aus den Augen verloren. Folglich werde der biologische Essentialismus durch einen diskursiven Essentialismus ersetzt. Mit ihm werde der Körper auf eine Einheit multipler Bedeutungen (»significations«) reduziert, die ihm Sinn (»meaning«) verleihen. Mittels »Regime der Wahrheit« hergestellt, werde er zu einer bloßen Oberfläche, auf welcher man zwar »schreiben« könne, die aber ihren Eigensinn verloren habe. Für die Disability Studies habe jedoch die theoretische Eliminierung körperlicher Materialität nur geringen Wert, da sie weder für die theoretische Erkundung von »impairment« genutzt werden könne noch Raum lasse für die haptische Erfahrung des individuellen In-der-Welt-Seins und des Empfindens von sich selbst als konkrete Materie. Aus diesem Grund - so schlussfolgern Hughes/Paterson - sei es sinnvoll, sich bei der Analyse des behinderten Körpers nicht nur auf Foucault zu verlassen, sondern als weiteren Bezugspunkt die Phänomenologie heranzuziehen.

Mit Foucault über Foucault hinaus, oder auch: die Rückkehr des Essentialismus jenseits des Poststrukturalismus, so könnte man die Position vielleicht zuspitzen. Tatsächlich sind in den Disability Studies Bezugnahmen auf die Phänomenologie[12] gar nicht so selten; in seiner Kritik am konstruktivistischen Körperkonzept spricht der amerikanische Kulturwissenschaftler Tobin Siebers gar von einer Wende »to the new realism of the body«,[13] und selbst David Mitchell und Sharon Snyder, nordamerikanische Literatur- und Filmwissenschaftler und eigentlich überzeugte »Foucaultianer«, liebäugeln mit ihr.[14] Den relativ niedrigen Stellenwert von Körpertheorie begründen sie mit einem strategischen Hintergrund. Anliegen der Disability Studies sei es ursprünglich gewesen, Behinderung aus der medizinischen Umklammerung zu lösen; deshalb habe man sich zunächst mit der Analyse sozialer Strukuren und mit Institutionenkritik beschäftigt. Vor allem aus Rücksicht gegenüber dem Körper als sowieso schon »overanalyzed entity«[15] habe man ihn zunächst von der Analyse ausgespart.

Während Meekosha, Hughes/Paterson und Siebers das Desinteresse der »normalen« Körpertheorie beklagen, ihr einseitiges Verständnis für »a body built for pleasure, a body infinitely teachable and adaptable«,[16] sind Snyder/Mitchell der Meinung, dass die allgemeine körpertheoretische Konjunktur den Boden für die Disability Studies bereitet habe, da es mit ihr möglich wurde, den abweichenden Körper als ein umkämpftes Feld politischer Bedeutungen zu verstehen.[17] Im Unterschied zur allgemeinen Körpertheorie würden die Disability Studies den behinderten Körper in den Mittelpunkt stellen. Indem nach den sozialen Implikationen von Körpern gefragt werde, die als »excessively aberrant«[18] wahrgenommen würden, werde einerseits ein engerer Fokus verfolgt. Andererseits werde Behinderung nicht als Sonderfall begriffen, sondern als allgemeine menschliche Erfahrung und als Repräsentation eines tief verwurzelten, unhinterfragten kulturellen Konflikts.[19]

Wenn man bedenkt, dass von einer Körpertheorie Foucaults im engeren Sinne nicht die Rede sein kann, da in seinem Werk der Körper im Wesentlichen nur als Objekt auftaucht, als Gegenstand von Diskursen und disziplinären Machtpraktiken, während körperliche Materialität, Handlungsvermögen und der leibliche Eigensinn eher unbeachtet bleiben, so ist es eigentlich erstaunlich, dass der Ansatz Foucault in körpertheoretischen Überlegungen immer wieder aufgegriffen wird. Dass dies recht häufig vor allem in den Disability Studies geschieht, vermag dann nicht zu überraschen, wenn man bedenkt, dass die Erfahrung von (Ver-)Objektivierung mit der Erfahrung von Behinderung allzu häufig eng verknüpft ist. Körperobjekt zu sein, in den Händen von Ärzten, Therapeuten, Pflegekräften, ohne sich gegen entwürdigende Eingriffe zur Wehr setzen und über körperliche Bedürfnisse selbst bestimmen zu können - das ist eine Alltagserfahrung der meisten Menschen, die mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben.



[7] Helen Meekosha: Body Battles: Bodies, Gender and Disability. In: Shakespeare (Hg.): The Disability Reader. Social Science Perspectives London, New York: Cassell 1998, 169ff.

[8] Bill Hughes/Kevin Paterson: The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment. In: Disability & Society, Jg. 12 (1997), H. 3.

[9] Ebd., 332ff.

[10] Ebd., 336.

[11] Ebd., 333f.

[12] Vgl. etwa Bryan S. Turner: Disability and the Sociology of the Body. In: Albrecht et al. (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks: Sage Publications 2001; Gareth Williams: Theorizing Disability. In: Albrecht et al. (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks: Sage Publications 2001, 124-144.

[13] Tobin Siebers: Disability in Theory: From Social Constructionism to the New Realism of the Body. In: American Literary History, Jg. 13 (2001), H. 4, 737-754.

[14] Snyder/Mitchell: Re-engaging, 381f.

[15] Ebd., 374.

[16] Siebers: Disability in Theory, 742

[17] Snyder/Mitchell: Re-engaging, 370.

[18] Ebd., 375.

[19] Ebd.

2. Die »Regierung der Behinderung«

An dieser Stelle fällt eine merkwürdige Leerstelle des Diskurses auf: Nur ausnahmsweise trifft man auf machttheoretische Überlegungen. Neben Margrit Schildrick und Janet Price,[20] die sich im Kontext der britischen Disability Studies um eine an Foucault orientierte Reformulierung der Machtfrage bemühen, gehört Shelley Tremain[21] zu den wenigen, denen es um eine explizite Debatte des in den Disability Studies vorherrschenden Machtkonzepts geht. Dabei legt die kanadische Philosophin den Finger auf einen wunden Punkt, denn die weitgehend fehlende Auseinandersetzung hat dazu geführt, dass sich zumindest implizit ein eher anachronistisches, repressionsorientiertes Verständnis von Macht breitgemacht hat, das der eigenen Zielsetzung, nämlich Behinderung als Kategorie der Moderne zu begreifen, eigentlich widerspricht.

In anderen Worten, mehrheitlich halten die Disability Studies weiter an einem juridisch-souveränen und disziplinären Machtkonzept fest, anstatt Foucault auch an dieser Stelle zu folgen und Macht als Regierung im weitesten Sinne, nämlich als Regulierung und Führung nicht nur des Staates, sondern auch von sozialem Verhalten und von Subjektivität zu verstehen. Tremain arbeitet heraus, dass im Rahmen der Disability Studies Macht vor allem als Repression verstanden wird, als Unterdrückungsapparatur, deren Handhabe sich in Besitz einer externen Autorität befindet und mittels der über andere regiert wird. Dagegen sei es viel sinnvoller, mit dem Konzept der Bio-Macht zu arbeiten, um zu verstehen, warum »Behinderung« gerade auch für die moderne, neoliberale Gesellschaft von Bedeutung ist.[22]

Tremain verfolgt das Anliegen, den Ansatz der Gouvernementalität für die Analyse des Behinderungsdispositivs fruchtbar zu machen. Mit Foucault soll Behinderung als Effekt eines Regierungswillens analysiert werden, der sich nicht auf Staatlichkeit reduzieren lässt, sondern gesellschaftliche Regulierung und Führung im weitesten Sinne meint. Die spätmoderne »government of disability« - so der Titel eines von Tremain herausgegebenen Sammelbands[23] - wirkt nicht nur kontrollierend und disziplinierend, sondern auch produktiv und produzierend. Und sie wirkt auf vier Ebenen gleichzeitig: auf der Ebene politischer Souveränität, in den Verhältnissen innerhalb von sozialen Institutionen und Einrichtungen, in interpersonalen Beziehungen sowie schließlich auf der Ebene der Selbstverhältnisse.

So viel versprechend dieser Ansatz auch ist, so sind doch auch einige Probleme mit ihm verbunden. Einerseits gewinnt man bei Tremain den Eindruck, dass sie sich im Unterschied zu manch anderem Beitrag, auf den man bei der Bestandsaufnahme trifft, tatsächlich eingehend mit dem Denken Foucaults auseinandergesetzt hat; andererseits findet man eine eher dogmatische Lesart, die sozusagen in den Untiefen der Foucaultschen Machtkonzeption »stecken bleibt«. In anderen Worten, auffallend ist eine Reproduktion der bekannten Schwächen des Foucaultschen Machtbegriffs, nämlich eine Überbetonung seiner totalisierenden und selbstreferentiellen Aspekte. Entsprechend gibt es bei der kanadischen Philosophin kein Außen der Macht mehr; vorhandene Formen von Widerstand, etwa die Behindertenbewegung und auch die Disability Studies und das soziale Modell von Behinderung gelten ihr als bloße Effekte der Bio-Macht, mit denen genau das reproduziert wird, was eigentlich überwunden werden sollte.[24]



[20] Vgl. Janet Price/Margrit Shildrick: Uncertain Thoughts on the Dis/abled Body. In: Shildrick/Price (Hg.): Vital Signs. Feminist Reconfigurations of the Bio/logical Body. Edinburgh: Edinburgh University Press 1998, 224-249; Margrit Shildrick/Janet Price: Breaking the Boundaries of the Broken Body. In: Body & Society, Jg. 2 (1996), H. 4, 93-113.

[21] Vgl. Shelley Tremain: Foucault, Governmentality, and the Critical Disability Theory: An Introduction. In: Tremain (Hg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2005a; Shelley Tremain: On the Government of Disability. In: Social Theory and Practice, Jg. 27 (2001), H. 4.

[22] Tremain: Introduction. 5f.; Hervorh. dort.

[23] Vgl. Shelley Tremain (Hg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2005.

[24] Tremain: Government, 634.

3. Klassifizierende, diagnostizierende, therapeutisierende Blicke oder: Die Angeschauten blicken zurück

Körper und Macht - das sind wichtige Themen nicht nur der Diskurstheorie Foucaults, sondern auch der Disability Studies. Wesentliche Impulse haben sie durch »Die Geburt der Klinik«[25] erhalten, deren archäologische Herangehensweise den »klinischen Blick« in den Mittelpunkt stellt. Dieser Blick ist der Blick des Arztes und Wissenschaftlers, der beobachtet, um zu erkennen, der die Oberfläche des Körpers zu durchdringen sucht, um therapeutisches Wissen anhäufen zu können. Der klinische Blick verfügt über Deutungs- und Handlungshoheit und stellt somit ein Instrument der Differenzbildung dar.

Mit Foucaults Methodologie gerät er selbst ins Fadenkreuz der Analyse.[26] Die Disability Studies drehen nämlich das Verhältnis um: Sie konfrontieren die wissenschaftlichen, klinischen, therapeutischen Perspektiven mit den Sichtweisen ihrer Objekte. Diejenigen, die zu Patienten, Anstaltsinsassen, Rehabilitanden gemacht werden, schauen sozusagen zurück; sie beginnen ihrerseits, analytische Sezierarbeit zu betreiben.

Sie hinterfragen die klinisch-diagnostischen Episteme, betreiben kritische Wissenschaftsgeschichte, problematisieren die fraglose Geltung von Normalitätsbegriffen und untersuchen die Prozesse von Stigmatisierung und Institutionalisierung. Der Blick der Verobjektivierten richtet sich auf das Verobjektivierungsgeschäft, auf seine Prozesse und Strukturen. Nicht ohne Grund trifft man in den Disability Studies immer wieder auf Reflexionen über die Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von »Behinderung«, über den Stellenwert von visueller Wahrnehmung und die Visibilität von Merkmalen, die erst dann, wenn sie dem Auge[27] des Betrachters zugänglich gemacht werden, als Zeichen einer Behinderung gedeutet werden können.

Ein gutes Beispiel für die andere Sichtweise der Disability Studies liefert die Untersuchung von Nicholas Mirzoeff[28] zur Gebärdensprache und Konstruktion der Gehörlosen als einer therapiebedürftigen Behindertengruppe. Mit Foucault, Lacan und Derrida macht dieser amerikanische Kulturwissenschaftler darauf aufmerksam, dass es zu verkürzt wäre, würde man die Sichtbarkeit von »impairment« einfach als gegeben voraussetzen; vielmehr zeigt das Beispiel Gehörlosigkeit, dass in einem ersten Schritt die Sichtbarkeit von auffälligen Zeichen überhaupt erst produziert werden muss, damit diese als typische Symptome eines pathologischen Defizits fungieren können.

Für den klinischen Blick stellt »Gehörlosigkeit«[29] eine Herausforderung dar, da sie nicht unmittelbar zu sehen ist; erst im Sprechen, im Gebrauch von Gebärden wird sie als Abweichung sichtbar. Heutzutage »wissen« selbst alltagsweltliche Beobachter, dass Anwender der Gebärdensprache gehörlos sind - aber wieso eigentlich können wir uns dieser Schlussfolgerung so sicher sein? Der heute als selbstverständlich erscheinende Konnex zwischen der Gebärdensprache und der Deutung ihrer Nutzer als bedauernswerte, der Lautsprache nicht mächtige Wesen erweist sich beim näheren Hinsehen als systematisch konstruiert: als Produkt eines »framing«, einer bestimmten Weise von Kontextualisierung. Berichte europäischer Reisender über die Verwendung der Gebärdensprache im Harem des osmanischen Sultans in Istanbul - und zwar nicht nur von offenbar gehörlosen Wachleuten, sondern von allen Mitgliedern des Hofes - führten zu ihrer Einordnung in eine exotische, von Despotismus geprägte, körperorientierte und sensualistische, dem »logos« abgewandte, kurz: als »primitiv« wahrgenommene Welt. Seit dem 16. Jahrhundert repräsentierte der Harem des Sultans gewissermaßen die exotische Folie, auf die im 19. Jahrhundert Anthropologie, Medizin und Psychiatrie rekurrieren konnten, um Gebärdensprachnutzer als Defizitwesen zu deuten, ihnen die Lautsprache als Ausdruck der Vernunft und somit als Heilmittel angedeihen zu lassen und schließlich ab 1880 den Gebrauch der Hände zum Sprechen in den Gehörlosenschulen ganz zu verbieten.

Die Studie von Mirzoeff verdeutlicht, dass Blicke Machtmittel sind, die Rahmen und Räume brauchen, Strukturen, in denen sie sich entfalten können. Dem erkennenden Blick des Arztes bietet die »Klinik« den passenden Rahmen: Sie versammelt das »Patientengut«, trennt es vom Alltag ab, schafft isolierende Bedingungen und stellt so das Labor bereit, in dem der mikroskopische Blick seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Wissensanhäufung, Erkenntnisgewinn ist allerdings nur ein Aspekt von Sichtbarkeit, gleichzeitig geht es immer auch um eine zweite Dimension, um die Überwachung: Der Blick, der wissen und erkennen will, verbündet sich mit dem Blick, der kontrollieren und disziplinieren will. Wie Foucault in »Überwachen und Strafen«[30] gezeigt hat, wird nicht nur in der Klinik (in der Form der »Patientenüberwachung«), sondern auch im modernen Gefängnis Sichtbarkeit zum entscheidenden Machtmittel. Der »Panoptismus« ermöglicht die Installation von höchst effektiven, dauerhaften Kontrollregimen, bei denen das Machtzentrum verborgen bleibt, die Insassen aber ständig das Auge des Gesetzes auf sich gerichtet fühlen.

Klinik und Gefängnis - mit Foucault und den Disability Studies kann man behaupten, dass dies die beiden Prototypen der Disziplinarmacht sind, aus denen heraus sich die Institutionen der Behindertenhilfe entwickelt haben. Ihr konkretes, historisches Vorbild war die psychiatrische Anstalt, ein Raum, der in idealer Weise die beiden Funktionen der Klinik - Erkenntnisgewinnung und Interventionsfeld - mit denjenigen des Gefängnisses - Internierung und (Re-)Soziali¬sierung - kombinierte. Zeitlich parallel zur Etablierung der psychiatrischen Disziplin entstanden im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die Blinden- und Taubstummenanstalten, Krüppelheime, Hilfs- und Sonderschulen, »beschützenden« Werkstätten und Einrichtungen, mit einem Wort, die segregierende Versorgungsstruktur, von der auch heute noch die Rehabilitation geprägt ist.



[25] Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Fischer 1973.

[26] Snyder/Mitchell: Re-engaging, 370.

[27] Das »Auge« des Betrachters ist hier natürlich in einem weiteren, vor allem epistemologischen Sinne zu verstehen. Dass gleichwohl mit dem Fokus auf Visibilität die Gefahr verbunden ist, die Wahrnehmungsmodi blinder Menschen auszublenden, wird in den Disability Studies ebenfalls problematisiert.

[28] Nicholas Mirzoeff: Framed: The Deaf in the Harem. In: Terry/Urla (Hg.): Deviant Bodies. Critical Perspectives on Difference in Science and Popular Culture. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1995a, 49-77; Nicholas Mirzoeff: Silent Poetry. Deafness, Sign, and Visual Culture in modern France. Princeton: Princeton University Press 1995.

[29] Einblicke in die Deaf Studies gibt auch Lennard J. Davis (Hg.): The Disability Studies Reader. New York, London: Routledge 1997; Davis: Enforcing Normalcy. Vgl. auch Marian Corker: Deaf and Disabled, or Deafness Disabled. Buckingham, Philadelphia: Open University Press 1998.

[30] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

4. Ausblick

»Anmutig sitzt sie da, das Gesicht zur Seite gewandt, die Spur eines Lächelns auf den schmalen, leicht gespitzten Lippen. Die Schultern schmal, der Busen straff, ein Marmortorso, der an die Venus von Milo erinnert. Und doch taugt diese Figur nicht zum Schönheitssymbol, ihre Füße sind verkrümmt, ihren schmalen Schultern fehlen die Arme. Es ist eine behinderte Frau, die der englische Bildhauer Marc Quinn da aus dem Stein geschlagen hat. Modell saß ihm die Künstlerin Alison Lapper, als sie im achten Monat schwanger war. Sie leidet unter einem selten[en] Chromosomendefekt.«[31]

Tatsächlich, das ist jedenfalls meine Schlussfolgerung, wenn ich diese aus »Die Zeit« stammende Beschreibung einer neuen Skulptur lese, die vor kurzem auf dem Trafalgar Square in London aufgestellt wurde: Der von den Disability Studies im Anschluss an Foucault beabsichtige Perspektivenwechsel auf Behinderung ist notwendig - und er ist noch längst nicht vollendet! Abschließend lassen sich die bislang erarbeiteten Antwortversuche der neuen Forschungsrichtung auf die drei hier betrachteten Fragen so resümieren:

Das Dispositiv der Behinderung benötigt für seine Entfaltung und sein Wirksamwerden einen konkreten Ansatzpunkt, nämlich den menschlichen Körper. Die Genealogie moderner Machtverhältnisse regt dazu an, die Formierung der sozialen Kategorie Behinderung als Produkt humanwissenschaftlicher Episteme und sozialpolitischer Institutionalisierung zu begreifen. Der Körper wird dann zu einem für das Behinderungsdispositiv relevanten Objekt, wenn - wie Foucault gezeigt hat - »der klinische Blick« ins Spiel kommt. Ausgehend von bestimmten Erkenntnisinteressen wird er abtaxiert, abgetastet, durchleuchtet, geprüft und vermessen, kurz: er wird zur Zielscheibe disziplinärer, kontrollierender und regulierender Machtpraktiken.

Auch wenn im Überblick konstatiert werden muss, dass die Foucault-Lektüre in den Disability Studies durchaus noch Lücken und Schwächen aufweist, so ist anhand meines Beitrags doch hoffentlich deutlich geworden, dass der Werkzeugkasten Foucaults bei der Ausarbeitung einer Theorie, die »Behinderung« nicht als Randphänomen, sondern als Paradigma der Moderne begreift, eine große Hilfe sein kann.



[31] Louise Brown: Konkurrenz für Lord Nelson. Eine neue Art von Heldendenkmal: London streitet um eine Skulptur auf dem Trafalgar Square. In: Die Zeit vom 22.9.2005.

Literatur

Corker, Marian: Deaf and Disabled, or Deafness Disabled. Buckingham, Philadelphia: Open University Press 1998.

Davis, Lennard J. (Hg.): The Disability Studies Reader. New York, London: Routledge 1997.

Davis, Lennard J.: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body. London, New York: Verso 1995.

Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Fischer 1973.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der VernunftFrankfurt a.M. : Suhrkamp 1978.

Hughes, Bill/Paterson, Kevin: The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment. In: Disability & Society, Jg. 12 (1997), H. 3, S. 325-340.

Meekosha, Helen: Body Battles: Bodies, Gender and Disability. In: Tom Shakespeare (Hg.): The Disability Reader. Social Science Perspectives London, New York: Cassell 1998, S. 163-200.

Mirzoeff, Nicholas: Framed: The Deaf in the Harem. In: Jennifer Terry /Jacquelina Urla (Hg.): Deviant Bodies. Critical Perspectives on Difference in Science and Popular Culture. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1995a, S. 49-77.

Mirzoeff, Nicholas: Silent Poetry. Deafness, Sign, and Visual Culture in modern France. Princeton: Princeton University Press 1995.

Price, Janet/Shildrick, Margrit: Uncertain Thoughts on the Dis/abled Body. In: Margrit Shildrick /Janet Price (Hg.): Vital Signs. Feminist Reconfigurations of the Bio/logical Body. Edinburgh: Edinburgh University Press 1998, S. 224-249.

Shildrick, Margrit/Price, Janet: Breaking the Boundaries of the Broken Body. In: Body & Society, Jg. 2 (1996), H. 4, S. 93-113.

Siebers, Tobin: Disability in Theory: From Social Constructionism to the New Realism of the Body. In: American Literary History, Jg. 13 (2001), H. 4, S. 737-754.

Snyder, Sharon L./Mitchell, David T.: Re-engaging the Body: Disability Studies and the Resistance to Embodiment. In: Public Culture, Jg. 13 (2001), H. 3, S. 367-389.

Tremain, Shelley (Hg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2005.

Tremain, Shelley: Foucault, Governmentality, and the Critical Disability Theory: An Introduction. In: Shelley Tremain (Hg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2005a, S. 1-24.

Tremain, Shelley: On the Government of Disability. In: Social Theory and Practice, Jg. 27 (2001), H. 4, S. 617-636.

Turner, Bryan S.: Disability and the Sociology of the Body. In: Gary L. Albrecht /Katherine D. Seelman /Michael Bury (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks: Sage Publications 2001, S. 252-266.

Waldschmidt, Anne: Verkörperte Differenzen - Normierende Blicke: Foucault in den Disability Studies. In: Clemens Kammler /Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften - Eine Bestandsaufnahme. Heidelberg Synchron Verlag 2006 (in Vorbereitung).

Williams, Gareth: Theorizing Disability. In: Gary L. Albrecht /Katherine D. Seelman /Michael Bury (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks: Sage Publications 2001, S. 124-144.

Quelle:

Anne Waldschmidt: Körper - Macht - Differenz: Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Disability Studies II am 29. November 2006, Zentrum für Disability Studies der Universität Hamburg.

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2014

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