Inklusion an Musikschulen

Ein Situationsbericht aus Deutschland

Autor:in - Robert Wagner
Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Bericht anlässlich des 1. integrativen Soundfestivals in Wien am 01. Juni 2012
Copyright: © Robert Wagner 2012

Inhaltsverzeichnis

"Gemeinsam genial"

Eine Vision strahlt aus: Am 1. Juni 2012 fand nun auch in Wien ein integratives Soundfestival statt.

2006 entstand im Verband deutscher Musikschulen die Idee eines inklusiven Konzertereignisses mit bundesweiter Besetzung und Ausstrahlung. Dem ersten Festival in Fürth/Bayern (Fürther Integratives Soundfestival # Fis) ging ein hartes Ringen um Inhalte, Namen und Präsentation der Veranstaltung voraus:

Ein professionelles Festival sollte es werden. Die Idee des Festivals sollte auch bei Folgefestivals in anderen Städten erkennbar sein, ohne dass eine lokale Schwerpunktsetzung damit eingeschränkt würde. Menschen mit und ohne Behinderung sollten ein Forum erhalten, ihr Können unter professionellen Bedingungen (Bühne, Licht, Ton, Pressearbeit, Unterbringung, Verpflegung ...) zu zeigen. Gleichzeitig sollte die Vorgabe der Integration nicht dazu führen, Quoten erfüllen zu müssen, um dabei sein zu dürfen.

So entstand der gemeinsame Nenner aller # - Festivals:

"Einzigartig. - Gemeinsam genial"!

Abseits gängiger Grenzen ging es nach Stationen in Dortmund und Hannover auch in Wien um gemeinsame Freude an musikalischem Ausdruck, um die Qualität der Darbietungen und gleichermaßen um Daseinsfreude und um den eigenen Sound. Musikerinnen und Musiker, die als Menschen mit und ohne Behinderung in ihrem Alltag kaum Berührungspunkte haben, begegneten sich in ihrer Gemeinsamkeit, in ihrer Liebe zur Musik! Maßgebliche Voraussetzung ist in allen Soundfestivals das Interesse und die Wertschätzung für das Besondere der jeweiligen Musikerkollegen, die Begegnung auf Augenhöhe, Qualität, Respekt und Toleranz.

Die Hälfte aller Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen (ca 460 von 950) bieten mittlerweile in nennenswertem Umfang professionellen und von Qualität getragenen Unterricht und Ensemblespiel für Menschen mit Behinderung an und unterstreichen damit ihren Anspruch offen und kompetent zu sein, für alle Menschen, die Musik machen wollen.

Verantwortlich hierfür ist nicht zuletzt der bundesweit einzigartige, berufsbegleitende VdM Lehrgang "Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung". Ein Lehrgang, der Musikschullehrer zu Musiklehrern für Menschen mit Behinderung weiterbildet. Der Trägerverband aller öffentlicher Musikschulen in Deutschland (VdM) folgt damit ganz dem Grundgedanken der Inklusion, dass sich auch das System, also die Musikschulen und die in ihr tätigen Menschen selbst ändern müssen, wenn Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Bildung weitgehend barrierefrei ermöglicht werden soll.

Die Verabschiedung der UN Konvention (in Deutschland 2009) hat unmittelbar und weitreichende Auswirkungen auf die Praxis in den Musikschulen:

Wenn die Gesellschaft sich verpflichtet, die in der UN Konvention benannten Ziele der Inklusion schrittweise umzusetzen und allen Menschen ihnen gemäße barrierefreie Wege hin zu deren individuell formulierten Zielen anzubieten, dann müssen auch öffentlich geförderte Musikschulen von sich aus aktiv werden, um den politischen Willen zu vollziehen.

Inklusion beschränkt das Recht auf Teilhabe nicht auf Menschen mit Behinderung sondern schließt ausnahmslos und voraussetzungslos alle Menschen ein: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren, Menschen verschiedener sozialer Schichten und verschiedener Herkunft und Religion, Menschen mit besonderem Förderbedarf - also Hochbegabte genauso wie Menschen mit geringen Lernerfahrungen.

Die Träger der Musikschulen müssen das Recht auf Teilhabe aller an musischer Bildung gewähren, in dem sie hierfür personell (fachlich), organisatorisch und baulich Vorsorge treffen, so dass sie jeden Schüler angemessen unterrichten und betreuen können.

Die Begriffe Unterricht und Betreuung verweisen auf die Auswirkungen der Inklusion auf viele Aspekte innerhalb der Musikschulen: Struktur, Organisation, Pädagogik, Menschenbild, das jeweilige Verständnis von Musik-Lernen, Musikbegriff...

Neue Zuständigkeiten der Musiklehrer in Kindertagesstätten, in Kooperationen mit allg. bildenden Schulen oder in der pädagogischen Arbeit mit alten Menschen verändern die bisherigen Gedankengebäude über die Aufgaben, Möglichkeiten und Ziele der (Musik-) Pädagogik zusätzlich und grundlegend.

Das klassische Dienstleistungsangebot des "Meisters" für den zumeist jungen, freiwillig lernenden und aufnahmefähigen Schüler, das lediglich zwischen der Förderung von Begabten und der Breitenbildung unterschied, erhält durch die politisch gewollte Anbindung an Pflichtbereiche der allgemeinbildenden Schule (Erklärungen der kommunalen Spitzenverbände in Deutschland, 2011 und der KGSt, 2012) und die verstärkte Öffnung für neue Zielgruppen neue Dimensionen:

  • Der Umgang mit Schülern, die nicht mehr nur freiwillig das Angebot der Musiklehrer aufsuchen, oder zumindest von einem wohlwollenden und unterstützendem Elternhaus geschickt werden, verlangt zunehmend die Kompetenz der Musiklehrer, mit Schwierigkeiten wie einer nachlassenden Disziplin, schwankender Konzentrationsfähigkeit oder mangelnder intrinsischer Motivation sinnvoll umzugehen.

  • Erwachsene, die einen Ausgleich zu ihrem zeitintensiven und anstrengendem Arbeitsleben suchen, brauchen Erfolgserlebnisse ohne allerdings wirklich in die eigene Ausbildung investieren (üben) zu können

  • Im Falle der Arbeit mit alten Menschen geht es nicht mehr nur um den Aufbau und die Erweiterung von Kompetenzen, sondern um den Erhalt und um den menschenwürdigen Abbau vorhandener Kompetenzen.

Allen Menschen ihnen gemäße Wege hin zu einem selbstbestimmten Musizieren anbieten zu können, alleine, aber vor allem auch in der Gemeinschaft, rückt vermehrt in den Fokus musikpädagogischer Arbeit. Die bereits im Lebensraum Musikschule als bereichernd erlebten Erfahrungen werden hierfür immer wichtiger.

Die Träger der Musikschulen müssen sich auf die immer heterogener werdende Zielgruppe (Schüler) an den Musikschulen selbst und die bildungspolitisch gewollten Kooperationen der Musikschulen mit Kindergärten, allgemeinbildenden Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Seniorenheimen und Förderstätten für Menschen mit Behinderung vorbereiten.

Diese Vorbereitung greift die bisherige Arbeit der Musikschulen auf und benennt systemrelevante Bereiche gelingender Musikpädagogik und deren Relevanz gerade in den hinzukommenden Praxisfeldern der Musiklehrer. Sie bestätigt die Erfahrungen der bisherigen Arbeit, verlangt aber zudem einen Transfer der Erkenntnisse in die Arbeit mit neuen Zielgruppen, in größeren Sozialformen und in Kooperationen und ergänzt diese mit sonderpädagogischem Wissen.

Eine inklusive Musikpädagogik erkennt unterschiedliche Facetten der Pädagogik mit unterschiedlichen Zielgruppen (jung - alt, behindert - nicht behindert, bildungsnah - bildungsfern, deutscher - nicht deutscher Herkunft...) an, sieht ihre Aufgabe aber vor allem darin, für die Lehrpraxis verwertbare grundsätzliche Aussagen zur Diversität zu treffen.

Die Wahrnehmung und kompetente Reaktion auf individuell voneinander je verschiedene Motivationen der Schüler ein Instrument zu spielen und deren unterschiedliche Lernerfahrungen, Lernzeiten, Abstraktionsfähigkeiten und Aufmerksamkeitsspannen erweist sich in der Praxis als zielführendere pädagogische Kernkompetenz für Lehrer, als der Versuch durch Schubladen für Behinderte, Mädchen, Senioren, Männer, ... homogene Gruppen herzustellen, denen wieder mit einheitlichen Konzepten begegnet werden kann.

Unverzichtbar für die Musikschulen ist gleichzeitig die Bereitschaft und die Fähigkeit der Schulleitungen, der Verwaltungen und der Lehrer sich für inklusionsimmanente Strukturen und Lernbedingungen im Inklusionsprozess einzusetzen. Das Ziel eines gemeinsamen Lebens und Lernens für alle verlangt gemeinsame Reflexion und Planung aller am Lernprozess Beteiligter und die Fähigkeit, Probleme kollegial im Team zu lösen.

Wenn wirklich jeder Mensch die Chance erhalten soll, für sich zu erleben, ob Musik und das aktive Musizieren das eigene Leben bereichern kann oder weiterhin bereichert, dann müssen die Musikschulen

  1. die individuellen Lernerfahrungen, Bedürfnisse, Zielvorstellungen und Möglichkeiten der Schüler ernstnehmen, also sich einem erweiterten Pädagogikbegriff (ohne Selektion) stellen und

  2. die neue Aufgabe (Inklusion) gleichzeitig so verständlich in die Gesellschaft vermitteln, dass die Politik ihre Verantwortung für die Verwirklichung der Inklusion wahrnimmt und durch kräftige Investitionen allen Menschen optimale Förderbedingungen ermöglicht.

Beide genannten Bedingungen sind für die Umsetzung der Ziele der Inklusion Voraussetzung. Auch der zweite Aspekt ist ausreichend zu thematisieren, weil Musikschulen ihre Aufgabe nur gemeinsam mit der Politik verantwortbar leisten können.

Wesentlich für das Gelingen des Inklusionsprozesses ist weiterhin, dass sich gemeinsam mit den Musikschulen, auch die Musikhochschulen einer inklusiven Musikpädagogik verpflichten.

Jenseits der Fragestellung, ob eine künstlerische Ausbildung auch bei Senioren, kleinen Kindern oder Menschen mit Behinderung zu Kunst führt, benennt die inklusive Musikpädagogik nicht den Künstler, sondern den Menschen als ihr Ziel. Den Menschen, dem es durch seine von ihm zunehmend bewusst eingesetzten Fertigkeiten und Fähigkeiten gelingt, sich auszudrücken, sich selbstbestimmt mitzuteilen und mit sich selbst und mit anderen Menschen in Kontakt und Kommunikation zu kommen.

Jeder Mensch der will, kann Musik machen lernen. Er lernt, weil er "es" können will. Weil Können Spaß macht. Weil Können ermöglicht, dazu zu gehören. Weil Können Chancen eröffnet.

Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbständigkeit sind die Ziele, die auch den Weg und die Strukturen der Ausbildung bestimmen. Hinzu kommt das Ziel der Kompatibilität der MusikerInnen. Begreift man Musik und das Musizieren als Möglichkeit des Ausdrucks und der Kommunikation, so muss in der Ausbildung besonderer Wert auf die Beherrschung einer gemeinsamen "Sprache" gelegt werden.

"Jeder Mensch ist für Musik empfänglich, also in diesem Sinne musikalisch". Diese Feststellung von Prof. Dr. Werner Probst, Bochum, ist der Ausgangspunkt und die Grundlage aller weiteren Überlegungen: Musik ist ein Spiel, das jeder Mensch mitspielen kann, der sich auf ein Minimum an Regeln einlässt. Die besonderen Fähigkeiten jedes Mitspielers, mit oder ohne Behinderung, tragen zu einer Gestaltung eines Werkes bei und ermöglichen durch ihre "Selbst-verständlichkeit", dass die Musizierenden ihre und die Beteiligung der anderen als wesentlich für die entstehende Gesamtproduktion erfahren und begreifen können.

Das Menschenrecht auf Teilhabe an Kunst und Kultur gilt bedingungslos für jeden Menschen. Gleichzeitig schließt es das Recht auf Teilhabe an Bildung und Ausbildung der je eigenen Fähigkeiten ausdrücklich ein.

Menschen wollen sich in und durch Musik ausdrücken, sie wollen über Musik kommunizieren, mit anderen und mit sich selbst. Sie wollen aber auch Teil einer musizierenden Gemeinschaft werden. Deshalb muss ihr Können kompatibel mit dem anderer Musiker sein. Musik als "Kunst in der Zeit" verlangt Regelkenntnis, Regelverständnis und Regelbeachtung.

Die inklusive Musikpädagogik kennt hierfür viele Spielregeln - einfache und ein wenig schwierigere - die es ermöglichen, dass jeder der will, dabei sein kann. Musiklehrer lernen, diese Regeln zu vermitteln.

Kein Mensch muss hierbei das ganze Regelwerk der Musik beherrschen, um seine Leistung genießen und einen auch für ihn selbst erkennbar wichtigen Beitrag bei der Gestaltung eines Musikstückes erkennen zu können.

Versteht man Teilhabe dergestalt, dass jeder Mensch, allein weil er Mensch ist, einen Teil der Welt hat / besitzt, leiten sich daraus Rechte jedes Individuums ab. Gleichzeitig aber die Pflicht jedes Menschen, sich um eine gelingende Kommunikation zu bemühen und der Auftrag der Musikpädagogik, diese Kommunikationsfähigkeit zu fördern.

Viele Menschen können oft mehr, als sie sich selbst und ihre Umwelt Ihnen gemeinhin zutraut. Dieses Können gilt es, gemeinsam zu entdecken, dieses Können gilt es bewusst zu machen und an dieses Können gilt es anzuknüpfen.

Optimale Förderung für alle beginnt mit der Erkenntnis, dass Menschen verschieden sind, also individuelle Lernangebote brauchen und dass individuelle Lernangebote flexible Strukturen benötigen. Die Integration von Menschen mit Behinderung, von Erwachsenen und Senioren und von Menschen mit Migrationshintergrund in das Angebot der Musikschulen fordert eine hervorragende Ausbildung der Lehrkräfte und Rahmenbedingungen an Schulen, die flexibel genug sind, um den besonderen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden.

Die in 30 Jahren an vielen Musikschulen in Deutschland gemachten Erfahrungen nehmen Stellung zum Spannungsfeld von Integration und Inklusion und benennen Bedingungen gelingender Pädagogik in einer Musikschule für alle. Dem einzelnen Menschen verpflichtet, fordern die Erfahrungen aller Beteiligter, der Menschen mit Behinderung, der Lehrer, der Eltern und der "Zaungäste" heraus, systemrelevante Bereiche inklusiver Musikpädagogik (Inhalt, Zeit, Vorbilder, Strukturen, angstfreie Lernräume) zu reflektieren und die Qualität des Unterrichtprozesses und seine Ergebnisse sowie die Würde der Beteiligten in das Zentrum aller Überlegungen und allen künftigen Handelns zu stellen.

Die gewonnenen Erfahrungen in der musikalischen Ausbildung von Menschen mit Behinderung können auch der Schlüssel für bildungspolitische Herausforderungen unserer Zeit sein.

Der zu Ende gedachte Gedanke einer inklusiven Musikpädagogik verbietet allerdings die Formulierung von Rezepten oder von allgemeinen Empfehlungen für den Unterricht, weil diese den konkreten Blick auf das Individuum nicht ersetzen können. Individuelle Lehrpläne, die der Einzigartigkeit der Menschen eine zentrale Bedeutung für den Lernprozess beimessen, ergänzen die sinnvolle Orientierung an spezifischen, fachgebundenen Lehrplänen.

Lernen ist ein eigenaktiver Prozess. Deshalb ist individualisiertes Lehren ein Grundgedanke der Inklusion der allen Schülern zugute kommen wird. Gleichzeitig ist das durch die Inklusion geforderte gemeinsame Lernen aber auch ein Baustein für eine soziale, durch Mitmenschlichkeit geprägte gesellschaftliche Entwicklung.

Der Auftrag der Musikschulen bleibt auch im Zeichen der Inklusion bestehen:

Musikschulen helfen ihren Schülern, (gemeinsam) Musik zu machen.

Robert Wagner, Fachausschussvorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen "Menschen mit Behinderung an Musikschulen", Schulleiter der Musikschule Fürth e.V.: Inklusion an Musikschulen, ein Situationsbericht aus Deutschland

www.musik-integrativ.de

Quelle:

Robert Wagner: Inklusion an Musikschulen. Ein Situationsbericht aus Deutschland

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 16.10.2013

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