Lebenserfahrung passiert, wenn Geschichten zu Personen passen

Supervision mit berufs- und lebenserfahrenen LehrerInnenSchriftliche Fassung meines Vortrages auf dem Forum der IGST, Systemische Supervision , vom 2.12.-3.12.1994 in Heidelberg

Autor:in - Reinhard Voß
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Reinhard Voß (Hg.) Die Schule neu erfinden - Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik, 3. Auflage, Luchterhand, Neuwied, 1999; Seite 272 - 281
Copyright: © Luchterhand 1999

Asiik und sein Traum

In Krakau lebte vor Zeiten ein armer Jude, der hieß Asiik. Dem träumte eines Nachts, er solle nach Prag wandern, und dort an der Brücke über die Moldau solle er graben. Er würde dann einen Schatz finden. Weil ihm das dreimal hintereinander träumte, packte er das Bündel seiner wenigen Habseligkeiten und wanderte von Krakau nach Prag. Dort angekommen, an der berühmten Brücke über die Moldau mit ihren Statuen links und rechts und der Burg und dem Veitsturm auf der anderen Seite, sah er sofort, daß er doch hier unmöglich graben könne. Kaufleute zogen mit Pferden, Bauern mit Eselsgespannen, Frauen mit ihren Einkäufen und Krügen auf dem Kopf über die Brücke. Überall herrschte emsiges Treiben, und auf beiden Seiten des Stromes standen Soldaten, um all diesen Verkehr zu überwachen und die Brücke zu schützen. "Was werden die Leute sagen", fragte sich Asiik, "wenn ich hier zu graben anfange?" Weil er nun aber den weiten Weg von Krakau bis nach Prag gewandert war, kam er jeden Tag an die Brücke, stand dort herum und überlegte: "Gesetzt den Fall, ich könnte hier graben, wo würde ich das denn tun, wo könnte mein Schatz liegen?" Allmählich fiel das der Wache auf. Bald war Asiik eingestuft als verdächtiges Subjekt, Terrorist vielleicht des 17. Jahrhunderts, als einer, der irgend etwas ausspionieren, vielleicht gar einen Anschlag auf die Brücke vorbereiten wollte. Schließlich ging der Hauptmann der Wache zu Asiik und fuhr ihn an: "Was treibst du dich hier herum, wir beobachten dich schon Tage lang, scher dich gefälligst weg." Darauf erzählte Asiik seinen Traum. Der Hauptmann lachte: "Wo kämen wir hin, wenn wir Träumen trauen würden. Mir zum Beispiel träumt nun schon Wochen lang, ich solle nach Krakau wandern und dort unter dem Ofen eines armen Juden graben, dann würde ich einen Schatz finden." Asiik verneigte sich, bedankte sich höflich, wanderte zurück nach Krakau, nahm die Steine unter seinem Ofen heraus, grub dort und ... da lag der Schatz. Später als Asiik der berühmte und heilige Rabbi Asiik des Chassidismus, der osteuropäischen jüdischen Mystik, geworden war, pflegte er, wenn er diese Geschichte erzählte, anzufügen, "Grab nicht woanders, grab bei dir!" (E. BEHRENDT, Nada Brahma, Die Welt ist Klang)

Balint-Gruppen, Einzel-, Gruppen-, Teamsupervision, Organisationsberatung: Das Bewußtsein für die Notwendigkeit gezielter Praxisberatung innerhalb der medizinischen und psychosozialen Berufsgruppen ist deutlich erkennbar. Doch wie steht es um die LehrerInnen (dies gilt übrigens in gleicher Weise für die ErzieherInnen)? In einer gesellschaftlichen Situation, in der die Zahl krisenhafter Phänomene (vgl. BECK 1986) ständig ansteigt, werden diese von immer mehr LehrerInnen, gerade auch auf der Bühne Schule bekundet. Stichworte wie "burn out", steigende Zahlen von längerfristigen Erkrankungen von Lehrkräften, die in steigendem Maße zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis führen, u.a.m. verdeutlichen diese Situation.

Doch nicht nur diese Entwicklungen unterstreichen die Notwendigkeit von Supervision für LehrerInnen aller Schulstufen (vgl. EHINGER/HENNING 1994; MUTZECK/SCHLEE 1995). Mit Blick auf den Versuch, die Arbeit in den Schulen zu qualifizieren, die Teamarbeit unter LehrerInnen zu fördern, die Öffnung der Schule zur Stadtteilschule zu realisieren, die notwendige Vernetzung der verschiedenen Förderinstitutionen einer Gemeinde zu leisten oder die anwachsende Beratungsarbeit zu ermöglichen, muß der Supervision im Rahmen einer systemischen Kontext-, Kompetenz- und Teamorientierung ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Dem Hinweis, daß Supervision immer auch als "Opium" mißbraucht werden kann (vgl. SCHWEITZER 1994), wird dabei nicht widersprochen.

Mein Verständnis von Supervision, das sich besser als Inter-Vision bezeichnen läßt, basiert auf der systemischen Perspektive, die seit Beginn der 80er Jahre im Kontext der Supervisionsdiskussion die Aufmerksamkeit immer stärker vom Supervisanden hin auf die Vernetzung von Individuum, Gruppe, Institution, Gesellschaft gerichtet hat. Bei der Supervision dieser Art, sei es nun Einzel-, Team- oder Gruppensupervision, geht es um die Reflexion des Beziehungsgeflechtes von Privat- und BerufsLEBEN, um so Veränderungen zu ermöglichen (intra- und interpsychisch, individual- und familiengeschichtlich, professions- und institutionsspezifisch), die zu einer Reflexion und Veränderung persönlicher und berufsspezifischer Konfliktsituationen führen können.

Geschichten aus dem BerufsLEBEN

Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage, warum erfahrene LehrerInnen, warum ganze Kollegien, in weiten Teilen nicht in der Lage sind, ihre vielfältigen Lebens- und Berufserfahrungen zu nutzen, um anstehende Konflikte ihres Schulalltages gemeinsam zu lösen. Der Begriff der Lebenserfahrung zielt doch genau darauf ab: Verfügung über besondere Kompetenzen, Befähigung zu besonderen Problemlösungsstrategien. Wird diese enorme Ressource im Sinne eines modernen Jugendkultes in unserer Gesellschaft, der die Lebenserfahrenen oder gar Weisen in Altenghettos verkümmern läßt, nicht mehr wahrgenommen? Oder handelt es sich eher um ein grundlegendes Problem, daß Lebenserfahrungen nicht vermittelbar sind, wie dies auch schon von KANT und SPRANGER unterstrichen wurde. Vor dem Hintergrund des mir zunächst vermittelten Verständnis von Lebenserfahrung folgte ich zunächst der Vorstellung einer instruktiven Vermittlung. Zugleich mißtraute ich der Vermittlung von Lebenserfahrung in Form von Ratschlägen, die bekanntlich erschlagen können.

"Unterschiede, die Unterschiede machen", "autopoietische Systeme", "Strukturdeterminiertheit", "Perturbation", "stillstehende Systeme", diese neuen Begriffe und Positionen ermöglichten mir einen Gestaltswitch, der mir einen anderen Zugang zum Thema Lebenserfahrung öffnete. Im Nachhinein wird mir auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Erfahrung", im Sinne von Fahren, Reisen, verständlich, bekommen Alltagssituationen wie Gespräche im Familien- oder Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder im Wirtshaus, einen anderen Stellenwert. Wir müssen herumreisen (das kann auch die große Welt eines kleinen Dorfes sein), wir müssen vielen verschiedenen Menschen und Ideen begegnen, um dann in einem "schöpferischen Akt", so Oswald SPRENGLERs Definition, jene Kompetenz zu erarbeiten, die wir als Lebenserfahrung bezeichnen. In diesem Prozeß spielen Geschichten eine besondere Rolle. Geschichten, die uns erzählt wurden, ohne jede Absicht, etwas bewirken zu wollen oder gar belehrend sein zu müssen, die wir übernehmen oder auch nicht, sie modifizieren. Geschichten, die wir dann wiederum zu einem späteren Zeitpunkt, in anderen sozialen Kontexten erzählen, ohne je sicher sein zu können, ob auch nur eine dieser Geschichten von einer anderen Person erhört wird. Lebenserfahrung passiert, wenn Geschichten zu Personen passen. (Lebens-)Wirklichkeiten werden nach H. VON GLASERSFELD so konstruiert, daß sie gangbar, nützlich, brauchbar, passend, viabel sind.

Nichts wollen und alles geschieht, das erinnert mich an den Taoismus: bei LAOTSE heißt es: "Also, auch der Berufene: er verweilt im Wirken ohne Handeln, er übt Belehrung ohne Reden." Auf der Reise entsteht so ein Schatz von erlebten, überarbeiteten Geschichten des Lebens, der von Anbeginn etwas von seiner magischen Bedeutung verliert, da ihn möglicherweise, außer dem Reisenden selbst, niemand für wertvoll erachtet. Ein einfacher Stein wird dadurch zum Schatz, indem ihm diese Be-deutung verliehen wird. ("Even a stone can be a teacher", KOPP 1985). Eine ganz alltägliche Geschichte wird erst durch die persönliche Bewertung und die Annahme durch einen Menschen zur Lebenserfahrung. Dieser Schatz von Lebenserfahrungen, die LehrerInnen während ihres BerufsLEBENS erworben haben, kann für die Supervision von besonderer Bedeutung sein.

Daneben unterstreicht das mexikanische Sprichwort "Erfahrung ist eine stachelige Frucht" einen anderen wichtigen Aspekt dieses Themas. Für berufs- und lebenserfahrene Menschen ist es offenSICHTlich, daß neue Erfahrungen oft an schmerzhafte Gefühle gekoppelt sind. Es ist in vielen Fällen erst der subjektiv empfundene Leidensdruck, der die Betroffenen unterstützt, das Risiko des ersten Schrittes in eine andere Richtung zu wagen. Diese Bewegung aus den einengenden und problemerzeugenden, aber auch den sicheren, vertrauten, schützenden Denk- und Verhaltensmustern heraus in eine fremde, gerade auch mit Blick auf die Konsequenzen, unbekannte Welt, geschieht oft erst dann, wenn ein sicherer Rahmen gegeben ist, der ein Ausprobieren, ein Abwägen der Risiken ermöglicht. Erst dann, wenn psychologisch gesehen, die Chancen der Veränderung, die Hoffnung auf den Genuß der Frucht ähnlich groß ist, wie die Einschätzung der Gefahr, die Angst vor dem Stachel, erst dann werden neue Erfahrungen möglich werden. Verdeutlicht wird dies auch in der chinesischen Sprache, in der sich das Wort Krise aus zwei Zeichen zusammensetzt: aus Chance und Gefahr.

Supervision als (geleitete) Gruppenkonsultation

Angeregt durch die Arbeiten von Tom ANDERSEN, der zusammen mit seinen MitarbeiterInnen das Konzept des "reflecting team" für einen therapeutischen Kontext entwickelte, stellt meine Arbeit den Versuch dar, seine Ideen auf einen nicht-therapeutischen, lebensweltbezogenen Kontext zu übertragen. Nach der Erarbeitung der systemischen Konsultation (VOSS 1990; v. LüPKE/VOSS 1994) als einem lebensweltbezogenen und professionsübergreifenden Beratungsprozeß in der Arbeit mit Systemen, in denen sich Kinder und Jugendliche auffällig zeigen, stellt die geleitete Gruppenkonsultation den Versuch dar, reflektierende Gruppen für die Supervision mit LehrerInnen zu nutzen (vgl. ausf. VOSS 1995a, 1995b).

Die Supervision als Inter-vision ist eine (geleitete) Gruppenkonsultation (consultare lat.: sich gemeinsam beraten), in der lebens- und berufserfahrene Menschen in einen gemeinsamen lösungs- und kompetenzorientierten Erfahrungsaustausch treten. Die systemische Ausrichtung der Intervision fokussiert die wechselseitige Verknüpfung aller Systemebenen (Kontextorientierung), in denen die Betroffenen leben (Familie, Beruf, Freundes- und Bekanntenkreis etc.). Zugleich bekundet sie ein anderes Verständnis auffälligen Verhaltens von LehrerInnen, das sich deutlich von individualisierenden Schuldzuweisungen in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion abhebt. Lustloses, aggressives, gestreßtes, hilfloses, überfordertes, entmutigtes, störendes, gewalttätiges Verhalten bis hin zu Formen von physischen, psychosomatischen oder körperlichen Erkrankungen bei LehrerInnen sind passende, "viable" (V. GLASERSFELD) Reaktionen auf die jeweils vorgegebene soziale Lebenswelt. Sie sind aktive Ausdrucksformen, um sich handelnd mit einer konfliktbeladenen, bedrückenden Lebenssituation auseinanderzusetzen. Sie sind als Lösungsversuche zu verstehen, die es den LehrerInnen in ihrem konkreten, z.T. äußerst belastenden Berufsalltag ermöglichen, die jeweiligen Konfliktsituationen zu bewältigen. Auf dem Boden kollegialer, partnerschaftlicher Teamarbeit bietet die geleitete Inter-vision die Möglichkeit der fachkundigen Reflexion und Lösung bestehender Fragen und Konflikte des BerufsLEBENS durch die TeilnehmerInnen (Teamorientierung). In Unterscheidung zur Therapie konzentriert sich die Intervision auf den privaten bzw. persönlichkeitsorientierten Bereich nur insoweit, wie er einen Bezug zur beruflichen Tätigkeit erkennen läßt.

Die Zusammenarbeit von berufs- und lebenserfahrenen LehrerInnen in der Gruppenkonsultation zielt somit auf die Anregung von Veränderungen (Perturbationen) für die von den LehrerInnen gegenwärtig als problematisch definierten Situationen. Diese wird dadurch gekennzeichnet, daß ihre vorhandenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrategien zur Zeit nicht ausreichen, die bestehenden Probleme befriedigend zu bewältigen. Ausgehend von der Vorstellung, daß alle TeilnehmerInnen ihre je spezifischen "Bilder" von den vorgestellten Problemsituationen haben (die im Einzelnen weder richtig noch falsch sind), wird im Rahmen der Intervision ein Raum geschaffen, in dem ein Austausch dieser unterschiedlichen Sichtweisen möglich wird. Die Erfahrung, daß eine Situation von verschiedenen Personen ganz anders gesehen bzw. bewertet wird, kann dazu ermutigen, die eigene Perspektive zu verändern, die (problematische) Konstellation von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten und anzugehen. Aus dem so entstehenden Pool von Perspektiven, Ideen, Fragen, Handlungsorientierungen gibt es vielleicht einige Ansichten, die bisher so noch nicht gesehen, einige Gedanken, die bisher noch nicht gedacht , einige Fragen, die noch nicht gestellt, Handlungsalternativen, die so noch nicht wahrgenommen oder praktiziert worden sind. Die enorm große Zahl von "Bildern", die die LehrerInnen vor dem Hintergrund ihres BerufsLEBENs einbringen können, stellen gewaltige Ressourcen dar, die in dem gemeinsamen Konsultationsprozeß nutzbar gemacht werden können (Kompetenzorientierung). Dieser reiche "Erfahrungsschatz" kann von allen TeilnehmerInnen in ihre jeweiligen Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsebenen integriert werden. Der gemeinsame Austausch über die als problematisch definierte Situation, der geleitete Versuch, möglichst viele neue Verstehens- und Lösungsstrategien zu cokreieren und in ihren Auswirkungen zu bedenken, führt zu einer Situation, die die Erweiterung der Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten der TeilnehmerInnen im Sinne von Multiversen ermöglicht, die neue sinnstiftende Geschichten entstehen lassen.

Primus inter pares: Zur Rolle des Supervisors

Im Rahmen einer koevolutionären Intervision wird die Hilfe zur Selbsthilfe unterstrichen, indem die vorhandenen Kompetenzen der berufs- und lebenserfahrenen TeilnehmerInnen genutzt und der "Supervisor" der traditionellen Rolle des "Über"-Menschen entbunden wird. In diesem Gruppenprozeß agiert der Intervisor als primus inter pares. Er stellt einen Kontext her, der einen cokreativen Konsultationsprozeß aller TeilnehmerInnen ermöglicht. Er handelt aus dem tiefen Bewußtsein heraus, daß man Menschen nicht belehren kann, aber als Lernförderer (facilitator, engl.: der, der das Lernen erleichtert) wichtige Impulse für eigenverantwortetes Lernen der TeilnehmerInnen ermöglichen kann. Die Charakterisierung des Intervisors als primus inter pares erfordert eine Rollenbeschreibung, die sich auf die beiden Teile seiner Aufgabenstellung bezieht. Zunächst ist der Intervisor, wie alle anderen TeilnehmerInnen auch, ein berufs- und lebenserfahrener Mensch, der seine Erfahrungen, Denk- und Handlungsstrukturen in den Diskussionsprozeß miteinbringt. Seine Aussagen sind nicht mehr oder weniger richtig bzw. falsch, sondern auch sie sind persönliche Konstruktionen seiner "Wirklichkeit". Darüberhinaus nimmt er aufgrund seiner speziellen Ausbildung natürlich eine Stellung ein, die ihn als Primus, als den Ersten, in diesem Gruppenprozeß ausweist. Er ist für den organisatorischen Ablauf der Sitzungen verantwortlich. Er strukturiert sie, achtet auf Zeitbegrenzungen und versucht, Rahmenbedingungen für einen förderlichen und effektiven Ablauf herzustellen. Er ist maßgeblich für die Schaffung eines wertschätzenden Gruppenklimas verantwortlich.

Da nicht alle ErzählerInnen gute Geschichten erzählen können, besteht im professionellen Rahmen die Notwendigkeit, das Erzählen auch zu üben, zu verbessern. Da gibt es wiederum Unterschiede, die Unterschiede deutlich werden lassen, ohne jedoch über diese Erfahrung, die Bedeutung der Lebens- und Berufserfahrungen relativieren zu wollen. Das bedeutet: Wenn die Gruppenkonstellation dies erfordert, sollte der Intervisor, mit Zustimmung der TeilnehmerInnen über Art und Umfang, Trainingselemente anbieten, die die kommunikativen Handlungskompetenzen der LehrerInnen erweitern können. (An dieser Stelle wird deutlich, daß für einzelne Gruppen, von einem bestimmten Punkt der Gruppenentwicklung an, die externe Leitung aufgehoben, die Supervision in eine kollegiale Gruppenkonsultation überführt werden kann.):

  • Erhöhung der Wahrnehmungssensibilität (Hören, Sehen)

  • Einfühlendes Verstehen stärken

  • Hilfreiches Fragen trainieren

  • Denken in Systemen lernen

  • Einübung in Hypothesenbildung

  • Umdeuten üben

  • Wahrnehmung und Nutzung von Kompetenzen und Ressourcen fördern

Immer dann, wenn die reflektierende Gruppe das Thema der Protagonisten aus den Augen verliert, indem sie eigene Themen diskutiert oder solche in die vorgetragene Problemsituation "hineindichtet", ist die Korrektur durch den Intervisor gefordert. Gerade in den beiden zentralen Phasen der Gruppendiskussion weist er die LehrerInnen darauf hin, eine klare Trennung zwischen dem Verstehen der Problemsituation und dem Entwurf neuer Handlungsoptionen einzuhalten. Dies stellt eine wichtige Aufgabe dar, da die KollegInnen vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrungen geneigt sind, diese beiden Bereiche vermischt zu diskutieren. Eine besondere Aufgabe übernimmt er, indem er versucht, lineare, auf einfache Ursache-Wirkungs-Mechanismen beruhende Beschreibungen von Konfliktsituationen, in systemische, kontextbezogene Perspektiven zu transformieren. Er muß der Gefahr widerstehen, bestimmte Äußerungen oder Konstruktionen der LehrerInnen zu bewerten. Obwohl er den Gruppenprozeß leitet, ist er nicht im Besitz von Wahrheit. Eine solche Einstellung würde auch seine Neugierde auf möglichst viele neue, alternative Denk- und Handlungsorientierungen verhindern.

Eine weitere Funktion des Intervisors besteht darin, die Öffnung für eine mehrperspektivische Diskussion zu fördern bzw. zu initiieren. Über die Neudefinition bestimmter Beziehungen oder über die Neukonstruktion sozialer Situationen kann er als (Ver-)Störer wirksam werden, der Bewegung in bestehenden, festgefahrenen Verstehens- und Handlungsmustern i.S. von anstoßen, provoziert. "Der Supervisor ist ein Provokateur aus Liebe, der zwar das Beste für seine Supervisanden will, der aber nicht wissen kann, was 'objektiv' das Beste für seine Supervisanden ist." (KERSTING 1992, 173) Sein vorrangiges Ziel besteht darin, die LehrerInnen dahingehend zu unterstützen, den "Eigen-Sinn" (vgl. VOSS 1995) in ihrem BerufsLEBEN (wieder) zu entdecken, Einsicht in ihre komplexen Lebensbedingungen zu gewinnen und diese eigenverantwortlich zu gestalten. Neue Ideen und Hypothesen, spekulative Fragen, ja sogar Phantasien, die zu einem neuen Verständnis bzw. zu einer neuen Handlungsorientierung beitragen können, sollen in der Gruppendiskussion ermöglicht werden. Diese können jedoch nur bedeutsam sein, wenn vom Intervisor auf die Angemessenheit der induzierten Unterschiede für die jeweiligen Akteure geachtet wird. Die Passung der gemeinsam erzeugten Bilder spielt eine wichtige Rolle. Dabei darf diese nicht zu nah, aber auch nicht zu fern von den subjektiven Konstruktionen der einzelnen TeilnehmerInnen sein. Ferner besteht sein Interesse darin, die vorhandenen potentiellen Ressourcen und Fähigkeiten der GruppenteilnehmerInnen immer wieder zu thematisieren, um dann aber auch, auf der Basis seiner Berufs- und Lebenserfahrungen, eigene Verstörungen, mögliche Handlungsoptionen in die Diskussion einzuführen. Negative Bewertungen von Personen bzw. Situationen oder Entweder-Oder-Aussagen sind von ihm in einen anderen Kontext (Reframing) zu transformieren. Gerade dann, wenn bestimmte Themen eines Protagonisten in der Gruppenreflexion mit Äußerungen wie, "liegt doch auf der Hand", "das ist doch kein Problem", oder "ich sag dir, wie du das machen mußt" etc. kommentiert werden, ist seine Kompetenz gefordert.

Neben der Erhaltung von Mehrperspektivität und von Neugierde, besteht eine wichtige Aufgabe darin, daß er nie den Respekt vor der Integrität der einzelnen LehrerIn verliert. Die Schaffung eines Rahmens, in dem ein respektvoller Austausch zwischen allen TeilnehmerInnen stattfinden kann, muß als zentrales Anliegen für das Rollenverständnis des Intervisors angesehen werden. Im Bewußtsein dessen, daß man Menschen nicht instruieren kann, stehen Geduld, Offenheit und Kreativität in der Schaffung von möglichen Alternativen im Vordergrund seiner Handlungsorientierung. Dies kann zu einer enormen Entlastung des Intervisors führen, der nicht länger die Verantwortung dafür übernehmen muß, ob und inwieweit, in welchem Tempo, zu welchem Zeitpunkt die einzelnen LehrerInnen eine Veränderung ihrer als problematisch definierten Situation herbeiführen wollen. In einer zusammenfassenden Charakterisierung des Intervisors resümiert KERSTING (1992, 175) treffend: "Konstruktivistische Supervisoren sind (Ver-)Störer, sind Beunruhiger, sind Provokateure, sie sind Umdeuter, sie sind Erfinder neuer Wirklichkeiten und neuer Möglichkeiten zusammen mit (Hervorhebung d. Verf.) all den anderen Umdeutern und Erfindern, die selbst in neuerer Literatur immer noch despektierlich 'Klienten' genannt werden." Ihr letzter, grundlegend paradoxer Auftrag besteht darin, sich entbehrlich zu machen. Die, wie ich finde, größte Herausforderung für all jene, die professionell, in pädagogischen oder psychosozialen Kontexten kompetente Menschen in ihrem BerufsLEBEN begleiten wollen.

ERFAHRUNGsberichte von TeilnehmerInnen

Die Rückmeldungen bezüglich der persönlichen Erfahrungen durch die beteiligten LehrerInnen in der Supervision beziehen sich stark vereinfacht vor allem auf folgende Bereiche: Zunächst ist es die erfahrene Akzeptanz ihrer Person und ihrer Berufssituation, die die TeilnehmerInnen immer wieder positiv hervorheben, wie es die folgende Aussage eines Lehrers unterstreicht: "Wir Lehrer werden von allen Seiten stets angegriffen und kritisiert. Hier habe ich endlich einmal eine Situation erlebt, in der ich mich akzeptiert fühle, wo ich neben meinen Problemen auch zeigen kann, daß ich etwas gelernt habe und zu leisten vermag." LehrerInnen erleben es in der Schule häufig, daß derjenige, der im Kollegium zugibt, Probleme mit bestimmten SchülerInnen, Klassen oder auch einzelnen KollegInnen zu haben, mißtrauisch betrachtet und als problematische, inkompetente Person etikettiert wird. In der Intervision machen sie dagegen die Erfahrung, daß sie trotz eingestandener Probleme nicht als Person negativ bewertet werden. Ihnen wird wieder bewußt, wie groß ihr Erfahrungsschatz ist, der neben den vorhandenen Schwierigkeiten, ohne diese verharmlosen zu wollen, weiterhin besteht. Darüber hinausgehend wird positiv bemerkt, daß ihre Berufs- und Lebenserfahrungen nicht nur für sie von Interesse sind und wertgeschätzt werden, sondern zugleich bedeutsam und hilfreich sein können für die Bewältigung der Konfliktsituationen anderer TeilnehmerInnen. Ferner wird immer wieder die Erfahrung einer anderen wertschätzenden Grundstimmung in der Gruppensituation betont: "Es ist die permanente Negativität, die unseren Schulalltag prägt. In den Pausen, im Lehrerzimmer, vor und nach der Schule, immer dreht sich alles um die Diskussion über aggressive oder faule Schüler, desinteressierte Eltern etc. Hier in der Gruppe haben wir über ähnliche Dinge geredet und dennoch war die Grundstimmung eine andere." Die Konzentration auf positive Erlebnisse im BerufsLEBEN, die Blickrichtung ausgerichtet auf Entwicklungen, die sich verbessert haben, die Erfahrungen von vielfältigen, durch kompetenz- und ressourcenorientiertes Handeln dargestellte Lösungswege, schaffen im Laufe des Gruppenprozesses einen Wechsel in der allgemeinen Wahrnehmung und Bewertung von Konfliktsituationen. Diese Veränderungen haben bei einer großen Anzahl von KollegInnen zu einer entsprechenden Veränderung in ihrem Alltag beigetragen.

Zum anderen sind es die erfahrenen Auswirkungen der anderen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die nach den Beschreibungen der LehrerInnen vor allem in spürbarer Entlastung im BerufsLEBEN erkennbar wird. Dazu eine Lehrerin: "Meine Magengeschwüre waren es, die mich letztlich dazu bewegten, in die Supervision zu gehen. Hier habe ich gelernt, meine Kollegin in der Parallelklasse nicht mehr als meine Konkurrentin anzusehen, sondern sie eher als Mitbetroffene zu betrachten. Entscheidend war der erste Schritt. Ich bin auf sie zugegangen, ich weiß es noch genau, es war der letzte Schultag vor den großen Ferien. Es hat eine Zeit gedauert, aber heute sind wir fast ein Tandem. In unseren beiden Korrekturfächern bereiten wir vieles gemeinsam vor, tauschen aus, besprechen auch andere Fragen des Schulalltags und vor allem, wir gehen in unregelmäßigen Abständen - ohne unsere Männer - aus." Der in der Intervision praktizierte Wechsel der Perspektiven, die Befähigung über Probleme anders zu denken, die Bereitschaft, Konflikte als eine gemeinsame Herausforderung zu betrachten und die Erkenntnis der Eigenverantwortlichkeit für die Veränderung bestehender Konfliktsituationen können dazu beitragen, sensibler, offener, schneller und wirkungsvoller auftretenden Schwierigkeiten im BerufsLEBEN zu begegnen.

Damit will ich enden. Lassen Sie uns beginnen, gemeinsame Erfahrungen über gemeinsames Handeln zu machen, um zu erfahren, so die etwas ironische Formulierung eines Jugendfreundes Goethes, "daß die wahre Erfahrung ganz eigentlich ist, wenn man erfährt, wie ein Erfahrener die Erfahrung erfahrend erfahren muß."

LITERATUR

Beck, U. (1986): Die Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.

Ehinger, V.; Henning, C. (1994): Praxis der Lehrersupervision. Weinheim-Basel

Kersting, H. J. (1992): Beratung und Supervision aus kostruktivistischer Sicht. In: Huschke-Rhein, R. (Hrsg.): System-ökologische Pädagogik, Band V. Köln

Kopp, S. (1986): Even a Stone can be a Teacher. Los Angeles

Lüpke v., H.; Voß, R. (Hrsg.) (1994): Entwicklung im Netzwerk - Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Pfaffenweiler

Mutzeck, W.; Schlee, J. (Hrsg.) (1995): Beratung und Supervision im Schul- und Bildungswesen

Schweitzer, J. (1994): Teamsupervision - Opium fürs Volk. Vortrag auf dem Forum der IGST, Systemische Supervision, vom 2.-3.12.1994 in Heidelberg

Voß, R. (1990): Systemische Konsultation und interdisziplinäre Kooperation. Förderung sozialer Netzwerke durch professionelle Unterstützung. In: Huschke-Rhein, R. (Hrsg.): Systemische Pädagogik, Bd. IV. Köln

Voß, R. (Hrsg.) (19952): Das Recht des Kindes auf Eigensinn. München-Basel

Voß, R. (1995a): Reflektierende Gruppen. Der Versuch, einen anderen Dialog zwischen betroffenen Eltern und Professionellen anzuregen. In: Voß, R. (Hrsg.): Das Recht des Kindes auf Eigensinn. München-Basel

Voß, R. (1995b): Berufs- und lebenserfahrene Menschen im Gespräch - Reflektierende Gruppen in der Supervision von LehrerInnen. In: Mutzeck, W.; Schlee, J., (Hrsg.): a.a.O.

Der Autor

Dr. Reinhard Voß, Lehrer, Dipl.-Päd., Ausbildung in systemischer Therapie (IGST), Uni.-Prof. für Schulpädagogik, Universität Koblenz-Landau, Abt. Koblenz;

Email: voss@uni-koblenz.de

Hinweis zum Buch

Klappentext: Die Schule ist trotz zweier Reformbewegungen in diesem Jahrhundert in der Krise. Demgegenüber sind in vielen Wissenschaften Ansätze erkennbar, die wirkungsvollere Wege zur Neugestaltung der Lebenspraxis weisen. Sie finden sich in den systemisch-konstruktivistischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmodellen. Ausgangspunkt dieses Paradigmas ist, daß Menschen ihre jeweilige Wirklichkeit selbst konstruieren. Sie sind die Erfinder ihrer Lern- und Lebensbedingungen.

Mit fremden Blicken und anderen Einstellungen versuchen ausgewählte PraktikerInnen und TheoretikerInnen sich den Grundfragen von Schule, Erziehung und Unterricht neu zu stellen. Sie folgen der Überzeugung, daß auch die Schule, als eine zentrale Errungenschaft der Moderne, neu erfunden werden kann. Sie stellen unter Beweis, daß beim Finden neuer Wege bereits viele kreative Ideen und Lösungen zur Gestaltung und Bewältigung der täglichen Schulpraxis zusammengetragen werden können.

Mit Beiträgen von: S. v. Aufschnaiter, R. Balgo, E, Breuer, E. Brinkmann, H. Brügelmann, K. Cachay, H. Eberwein, G. Engel, H. v. Foerster, P. Gallin, J. Gieler, W. Holtmann, R. Huschke-Rhein, H. J. Kersting, E. W. Kleber, E. Kösel, H. Krüssel, T. Leeb, R. v. Lüde, K. Reich, U. Ruf, H. Scherer, A. Thiel, R. Voß, R. Werning, E. Ch. Wittmann, B. Woltmann-Zingsheim

Kapitelübersicht:

  1. THEORIEbezogene Sichtweisen

  2. Die Schul- und Unterrichtswirklichkeit anders SEHEN und GESTALTEN

  3. Schul-PRAXIS systemisch betrachtet

  4. Systemische Supervision und Organisationsentwicklung in der Schule

  5. Systemisch-konstruktivistische Perspektiven in den FACHDIDAKTIKEN

Quelle:

Reinhard Voß: Lebenserfahrung passiert, wenn Geschichten zu Personen passen - Supervision mit berufs- und lebenserfahrenen LehrerInnen

erschienen in: Reinhard Voß (Hg.) Die Schule neu erfinden - Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik, 3. Auflage, Luchterhand, Neuwied, 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.05.2005

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