Gibt es nicht-integrierbare Personen?

Autor:in - Lorenzo Toresini
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium 1989, S. 103 - 112 Übersetzung: Brigitte Herdin
Copyright: © Lorenzo Toresini 1989

Gibt es nicht-integrierbare Personen?

Zuerst möchte ich einen Irrtum aufklären, der auf gewisse Art eine zentrale Rolle in der Geschichte der Ausgrenzung spielt: der Irrtum betreffend die Unterscheidung von Organizität und Funktionalität bei mentalen Behinderungen.

Man ist zuweilen tatsächlich der Ansicht, der Werdegang und das Schicksal einer geistig behinderten Person ginge Hand in Hand mit einer mehr oder weniger bestehenden, irreversiblen organischen Störung. Dieser glatte, im Grunde aber manichäische Schnitt zwischen Funktionalismus und Organizität muß meines Erachtens ein für allemal aufgezeigt und beseitigt werden. In Wahrheit gibt es keine Störung, die nicht der Interaktion ausgesetzt ist, so wie es keine Interaktion gibt, die nicht auch Störungen produzieren kann.

So ist es undenkbar geworden, daß eine Person, die eindeutig an einer organischen Störung - und sei sie noch so groß - leidet, ihrer Umwelt völlig indifferent gegenübersteht. Wird ein solcher Mensch in ein Beziehungsleben gestellt, das reich an ihm gemäßen Anreizen ist, so wird er immer in Prozesse des Wachstums und, entsprechend seinen Fähigkeiten, einer empfindungsreichen, anteilnehmenden Kommunikation eintreten. Beraubt man den gleichen Menschen dieser Beziehungen, so wird er sehr rasch einem Regressions- und Verfallsprozeß unterworfen sein.

Andererseits ist es genauso sicher, daß es keine Interaktion gibt, die nicht auch Schaden produzieren kann. Denken wir zum Beispiel an Streß. Er ist der allgemeine Anpassungsmechanismus an die Umwelt, kann aber auch die verschiedenartigsten Störungen hervorrufen, von somatischen bis zur Organizität von Psychosen, die mit Psychopharmaka bekämpft werden.

Ich möchte hier nun keineswegs eine akademische, rein abstrakte Abhandlung bringen. Das Problem stellt sich auf dramatische Weise konkret dar, wenn man daran denkt, daß die erwähnte Unterscheidung bei einem mentalen Defekt zuallererst seine Unveränderlichkeit impliziert und erst in zweiter Linie seine Transformierbarkeit. Diese weit verbreitete vereinfachende Sicht kommt aus der positivistischen Tradition, in der die Aufdeckung der Ursache absolut vorrangig ist, da nur sie zur Entdeckung des Heilmittels führen könne. Bis zu dieser Entdeckung kann der Mensch, der Patient, nichts anderes tun als warten.

So hat man jahrhundertelang eine Politik des Zuwartens und Hinausschiebens betrieben. Und so konnte man durch Jahrhunderte hindurch die großen Ausgrenzungen rechtfertigen, wie z.B. die unpassenderweise Spitäler genannten psychiatrischen Gefängnisse. Und auch heute noch gibt es in der allgemeinen Logik den weitverbreiteten Gedanken, der eine anscheinend unmögliche Veränderung - und damit die scheinbare Nutzlosigkeit oder zumindest Unwirtschaftlichkeit jeder Anstrengung - an den Begriff der Organizität bindet. Dies geschieht etwa bei der Ausgrenzung der weniger begabten Schüler. Es geschieht in so manchen Gutachten, in denen den erwähnten Personen ein geringerer Wert zugeschrieben wird mit aller darin enthaltenen strafrechtlichen und bürgerlichen Geringschätzung. In Fällen von malpractice urteilt man nach weniger strengen Maßstäben, wenn es um Mißhandlungen (z.B. physischen Einschränkungen) organisch Behinderter geht, als bei funktionell Behinderten, und hält dies für gerecht.

Das Problem stellt sich uns also in völlig anderen Begriffen. In Wahrheit geht es einfach um die Anerkennung des enormen Wertes des Lebens und der unwiederholbaren Kostbarkeit jeder einzelnen menschlichen Erfahrung, unabhängig von der Hautfarbe, vom Einkommen oder der Ätiopathogenese. Wenn In-der-Welt-Sein bedeutet, für den anderen sichtbar zu sein, dann besteht die Tragödie der Geisteskrankheit darin, unsichtbar zu sein.

Die menschliche Identität ist die Summe der Eigenarten, Anerkennungen, Erwartungen und Werte, die andere uns gegenüber zum Ausdruck bringen. Wir sind das, was wir in den Augen der anderen von uns widergespiegelt erfahren. Wir sind die Geschichte des Umgangs mit den anderen. Sie ihrerseits ist eine Geschichte des Austauschs. Eine Beziehung stellt einen wechselseitigen Austausch von Bewertungen dar: Soviel, wie du an Wertschätzung in der Beziehung zu mir zum Ausdruck bringst, soviel fühle ich, dir wert zu sein. Ich bin das, wofür du mich hältst, und bin das in dem Maße, wie du mich bewertest. Ich bin für dich soviel wert, wie ich in deinen Augen lese, dir wert zu sein.

Der Austausch, der unsere Identität definiert, ist letztlich ein Austausch von Werten. In großziffrigen Dimensionen werden diese Werte immer weniger ethisch, immer laizistischer, also immer materieller. Die Randexistenz ist am Ende jener, der nichts mehr auszutauschen hat. Letztlich liegt die Identität eines Menschen in seiner Fähigkeit zu arbeiten, sie ist eine produktive Identität.

Die Struktur der existentiellen ("ontologischen") Sicherheit oder Unsicherheit einer Person finden wir in ihrem historischen Werdegang. Sie findet sich dort, wo es möglich war, daß sich das Selbst austauschen konnte, weil es jemanden interessiert hat. Die Rolle der Zuneigung im Prozeß des Heranwachsens ist deshalb unersetzbar. Man kann sie später nicht mehr erlernen oder erfahren. Aufgabe jeder Schule, jeder Pädagogik, jeder sozialen Institution und jeder Rehabilitationsbemühung wird es daher sein müssen, einen soliden Identitätssinn zu formen. Selbst das Erkennen einer schweren Behinderung wird dann nicht mehr zur Prämisse einer Ablehnung. Sie wird lediglich zu einem Parameter, an dem sich die Bereitschaft formt, sich mit jemandem auszutauschen, der viel schwächer ist als wir. Es wird sich dann herausstellen, daß es keine noch so schwere Behinderung gibt, die nicht auch eine Beziehung, einen Austausch, ein Wachstum zuläßt, die alle, wenn auch ungleich, so doch wechselseitig für Behinderte und Nichtbehinderte wirksam sind. Umgekehrt kann damit die Funktionalitätsdiagnose nicht zur Prämisse einer optimistischen Reduktion eines Problems werden, an dessen Wurzel ein komplexes Durcheinander von Erfahrungen hängt, das nicht immer leicht zu entwirren ist. An diesem Punkt verschmelzen Organizität und Funktionalität zu einer Einheit. Die Trennung von Organischem und Funktionalem stellt also nur zu oft einen Deckmantel und ein Alibi für einen nicht vorhandenen Einsatz dar.

Sehr konkret und real sind auch die ewigen Grenzen, der ewige Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, wie es sein könnte, zwischen den offensichtlich guten Absichten und der sich daraus entwickelnden Praxis. Zum Beispiel im Bereich der Gefängnisse: konzipiert als Stätten der Buße, sind sie zu Schulen der Delinquenz geworden. Die Irrenanstalten, geboren aus der Idee der Heilung, verwandelten sich von selbst in Fabriken des Wahnsinns. Das differenzierte Schulwesen, gedacht zur Anwendung einer spezialisierten und intensiven Didaktik, bildete bald frühe Ghettos. Die Ergotherapie, geschaffen als Weg zur Rehabilitation, degeneriert sehr rasch zur puren Ausbeutung der Arbeitskraft des Kranken, den man zwingt, sie kostenlos der Anstalt, die ihn gefangenhält, zur Verfügung zu stellen.

Eine Welt des Austauschs bezeichnet auch der Begriff der "Zweidrittelgesellschaft". Wir verstehen darunter im allgemeinen eine Situation, in der zwei von drei Personen Zugang zu den Ressourcen haben, während die dritte "zuschauen" muß. Eine Welt also, in der eine von drei Personen gänzlich von der Möglichkeit abgeschnitten ist, mit den anderen irgendetwas auszutauschen. Die Problematik der Integration dieser dritten Person ist weit davon entfernt, eine objektive, natürliche oder wertfreie Frage zu sein. Sie richtet sich vielmehr auf das Streben dieser Person und ist abhängig von den als verdienstvoll anerkannten Werten des Austauschs und damit wiederum von der mehr oder weniger großen Bereitschaft, neue Werte, andere als die bisher akzeptierten, anzuerkennen. Ich denke dabei an den bereits zitierten Wert der Unwiederholbarkeit des Lebens und Erlebens, selbst wenn es "weniger verdienstvoll" erscheinen mag.

Der folgende Bericht stammt aus dem neuen Nicaragua in den ersten Jahren nach der Revolution. Er ist ein Zeugnis ohne seinesgleichen, das den Sinn des bisher gesagten verdeutlichen soll. Ein in Hamburg ansässiger Experte für lateinamerikanische Anthropologie, der Chilene Dr. Horazio Riquelme, berichtet:

"Nach dem Sturz der militärischen Unterdrückungsmaschinerie der Diktatur Somozas wurden die Mitglieder des Apparates in großer Zahl gefangengenommen und gerichtlich verurteilt. Unter den Gefangenen befand sich eine beträchtliche Anzahl von Kindern im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Ihnen war gemeinsam, daß sie der Ära der EEBI (Grundausbildungsschule der Infanterie) und damit den auserwählten Truppen Somozas angehört hatten. Die Schule hatte größten Wert auf absolut bedingungslosen Gehorsam und militärische Spezialisierung gelegt. Durch frühzeitige Eingliederung in die harte militärische Zucht wollte man die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu einem besonderen Typus hinlenken, zu eiserner Disziplin nach außen und zur bedingungslosen Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse. Dieser Freiheitsentzug von Kindesbeinen an hat die Schaffung einer besonderen Einheit ermöglicht, die dem Regime Somozas in allem, im Guten wie im Bösen, ergeben war. Ihr war die heikelste Aufgabe, nämlich die Erhaltung der Diktatur, zugeteilt; z.B. mußte sie in den Kampfgebieten den letzten Zerstörungsangriff durchführen. Diese Kinder, im Volksmund "Hunde Somozas" genannt, waren damit die Ausführenden der Strategie der totalen Zerstörung.

In sehr jungen Jahren wurden ihnen auch Foltertechniken beigebracht, nicht zuletzt deshalb, um jenen bekannten Effekt der Machtlosigkeit auszulösen, der sich bei einigen Widerstand leistenden politischen Gefangenen gezeigt hatte, sobald sie von Kindern gefoltert wurden. Auf diese Weise sollte ihr Wille gebrochen werden. Ein in jeder Weise privilegierter Status dieser Sondertruppe diente als Anreiz, der den inneren Zusammenhalt festigte und den Abstand zur Bevölkerung vergrößerte.

Bei einer ersten 1979 in den Gefängnissen durchgeführten Sondierung zählte man 70 Kinder zwischen 8 und 16 Jahren, die den Sondereinheiten angehört hatten. Für sie kam eine Umerziehung im traditionellen Sinn des Wortes nicht in Frage. Ihnen bedeutete selbst die Durchführung der schrecklichsten Grausamkeiten nichts anderes als die Ausführung von Befehlen. Ebensowenig konnte man sie zur Rechenschaft für ihre Taten heranziehen, da sie noch Kinder waren.

Nachdem sich eine Gruppe von ausländischen Psychiatern außerstande gezeigt hatte, eine auch nur theoretische Lösung angesichts des Umfanges und der Intensität des Problems zu erarbeiten, schien die lebenslängliche Verwahrung dieser Kinder der einzige Ausweg aus dieser Situation zu sein. Dies hätte allerdings auch bedeutet, aus professioneller Unzulänglichkeit die Herrschaft Somozas anzuerkennen, sowie einen Stillstand in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu akzeptieren.

Die Idee, die Kinder unmittelbar in die Gemeinschaft zurückzuführen, sie aus dem Gefängnis zu entlassen, stieß bei den Massenorganisationen auf Ablehnung, weil sie die dramatische Vision künftiger Entwicklungen hervorrief. Die Erinnerung an die Untaten der Sondereinheiten war noch viel zu frisch im Gedächtnis der Bevölkerung. Es gab kaum eine Familie, die nicht den Verlust von Angehörigen durch die brutalen Razzien dieser Kinder zu beklagen hatte.

Schließlich wurden die jungen Burschen im Jänner 1980 aus den Gefängnissen in ein eigens eingerichtetes Zentrum - das Zentrum "Francisco Meza Rojas" - überstellt, wo sie von einem Team, bestehend aus zwei Psychologen, drei Sozialarbeitern, einer Pflegerin und einem Psychiater, betreut wurden. Auf Schwierigkeiten stieß man zunächst auch bei der Suche nach Personal für die sonstigen Hausarbeiten (Köche, Reinigungspersonal): niemand wollte dort arbeiten, hatten doch die meisten unter der EEBI zu leiden gehabt.

Die Unterbringung dieser in ihrer Persönlichkeitsentwicklung schwerst gestörten Kinder stand unter dem Schutz der sandinistischen Miliz, die sich ihrerseits häufig über die besondere Behandlung beklagte, weil sie in den Kindern ihre Feinde sahen. Sie waren fast gleichaltrig und konnten kaum begreifen, daß man sich um die Reintegration der Gegner von gestern so bemühte. Erst als man ihnen klarmachte, was es bedeutet, ein Leben lang in einer geschlossenen Irrenanstalt dahinzuvegetieren, konnte bei ihnen Verständnis für die Versuche um Rehabilitation geweckt werden.

Mitte 1982 wurde das Zentrum "Francisco Meza Rojas" geschlossen. Davor aber wurden die nunmehr entlassenen Burschen zu einer letzten Begegnung eingeladen. Zirka 90 % der damals behandelten Kinder folgten der Einladung und zeigten mit ihrem unabhängigen Verhalten, daß sie in der therapeutischen Gruppe zu Erwachsenen geworden waren, die durchaus in der Lage sind, ihren Weg in der heutigen Gesellschaft Nicaraguas zu gehen. Sie selbst widerlegten damit das apodiktische Urteil der ausländischen Psychiater und Psychologen bezüglich einer Integration der "Folterknaben" in die Gesellschaft Nicaraguas."

Ich habe dieses Beispiel als Zeugnis für eine Reintegration gebracht, die für unmöglich gehalten worden war. Sicher lagen in diesem Fall keine organischen Störungen vor, es waren historische Gründe, die in ihrer Monstrosität unwandelbar in den Persönlichkeitsstrukturen der "Folterknaben" festgeschrieben werden sollten.

Der Wiedereingliederungsprozeß mit seinem enormen didaktischen, emotionalen und intellektuellen Einsatz zeigt jedoch, wie sehr das Urteil über Reintegrierbarkeit ausschließlich von der Umwelt abhängt, von ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst zu verändern, und von den Instrumenten, mit denen sie sich ausrüstet. Davon jedenfalls hängt es wesentlich mehr ab als von der "Begrenztheit" oder der "objektiven Natur" des zu integrierenden Subjekts.

Die Reintegration des Anderen setzt einen Veränderungsprozeß voraus, der möglich ist, wenn parallel dazu ein Veränderungsprozeß in der Umwelt stattfindet. Der Sozialarbeiter, der Erzieher, der Arzt zwingt sich dazu, sich von dem, den er formen will, selbst verändern und beeinflussen zu lassen. Aufgabe des im Sozialbereich Tätigen ist es, Veränderungen im Auftraggeberumfeld (Schule, Familie, Gemeinschaft) anzuregen, um denselben Veränderungsprozeß bei den jeweiligen utenti (wörtl.: Benutzer, hier: Behinderte, die diese Sozialstrukturen "benutzen") einzuleiten. Der Mitarbeiter und bis zu einem gewissen Grad auch die Verwaltung, die ihn bezahlt, verändert sich in dem Maße wie er sich anstrengt, sich dem Maß der Menschlichkeit zu beugen. Er mißt sich an seiner eigenen Subjektivität und bereichert sich dabei selbst um neue und wesentliche Lebenserfahrungen.

So banal es klingen mag, die Wirklichkeit zeigt uns in der tagtäglichen Erfahrung, daß das Urteil über Integrierbarkeit oder Nicht-Integrierbarkeit davon abhängt, ob die Integration stattfindet. Das Urteil "integrierbar" kommt stets a posteriori. Der Spezialist fällt es, nachdem die Integration stattgefunden hat. Ein Urteil über Nicht-Integrierbarkeit ist ein a-priori-Urteil, das von vornherein über eine Integration gefällt wird, die nicht stattfindet, weil keiner da ist, der sich dafür einsetzt. Der Experte, der sich so verhält, projiziert letztlich damit Maßstäbe und Bewertungen in das Innere des Subjekts, die wesentlich eher aus jener Umwelt kommen, in die er selbst eingebunden ist.

Die Nicht-Integrierbarkeit, die Krankheit, der harte Kern liegt, so gesehen, in unseren Händen, in den Händen der Experten, der Ärzte, der Erzieher; beinahe so wie die Sepsis an den Händen der Mediziner und Medizinstudenten in der Ersten Wiener Frauenklinik im Jahre 1848. Vorstand dieser Klinik war damals Prof. Klein. Viel bekannter aber ist einer seiner Assistenten geworden, Dr. Ignaz Philipp Szemmelweisz.

Die Frauenklinik war damals in zwei Abteilungen untergliedert. Die erste diente den Medizinstudenten dazu, die Übungen zum Erlernen der Geburtshilfe mitzumachen. In der zweiten Abteilung wurden die werdenden Mütter von Krankenpflegern versorgt. Beide Abteilungen befanden sich nebeneinander; dennoch hatte die erste Abteilung wegen der hohen Sterblichkeit durch Kindbettfieber einen so schlechten Ruf, daß die Frauen verzweifelt darum baten, nicht hinein verlegt zu werden. Da kam Szemmelweisz ein ungeheuerlicher Verdacht: Die Medizinstudenten und er selbst besuchten die Wöchnerinnen immer nach dem Sezieren im Anatomischen Saal. Konnten "Leichengifte" an ihren Händen das tödliche Fieber bei den von ihnen untersuchten Frauen auslösen? Szemmelweisz machte eine Probe: Er schickte die Studenten von der ersten in die zweite Abteilung. Die Sterblichkeit nahm dort rasch zu, ging aber in der ersten zurück. Mit anderen Worten, der Tod folgte den Studenten der Medizin. Er liegt in den Händen der Ärzte. Szemmelweisz ordnete an, daß jeder, der aus dem Anatomiesaal komme, sich die Hände in einer Chlorkalklösung waschen müsse, bevor er die Frauenabteilung betrat. Bald sank die Sterblichkeit von 12 auf 3 Prozent und sank im folgenden Jahr weiter.

Wir schreiben das Jahr 1848, und nun nimmt die offizielle Heilkunst Stellung. Prof. Klein kann den fanatischen Ungarn immer weniger leiden, er befürchtet, dessen Entdeckung könne für ihn von Nachteil sein. Er setzt ein Gerücht in Umlauf, demzufolge Szemmelweisz mit den ungarischen Aufständischen sympathisiere, und bezeichnet ihn als Verräter. Es folgt eine Lügen- und Haßkampagne gegen den jungen Arzt. Studenten, Krankenpfleger, Kranke werden gegen Szemmelweisz mobilisiert. Man protestiert gegen die "gefährlichen" Waschungen in Chlorkalklösung. Szemmelweisz wird verlacht, beleidigt, vom Dienst suspendiert, die Regierung verbietet ihm die Ausübung seines Berufs.

Geschlagen kehrt Szemmelweisz nach Ungarn zurück und kämpft für den Rest seines Lebens gegen die offizielle Medizin. Wenn Sterblichkeit keine ist, dann ist sie eine Schuld, und die lehnt natürlich jeder ab. Szemmelweisz, dem Haß, der Verachtung und der Lächerlichkeit preisgegeben, bleibt isoliert und ausgeschlossen.

Er hat, ohne es zu wissen, die Bakteriologie begründet und gleichzeitig eine ebenfalls bedeutende Tatsache ins Licht gerückt: Die Wissenschaft steht nicht über den Parteien, sie steht vielmehr im Dienst dessen, der sie kontrolliert.

1610 veröffentlichte Galilei den "Sidereus Nuntius", in welchem er seine dank dem Fernrohr getätigten Beobachtungen festhielt. Wie neutral immer die Gegenstände sein mochten - die Satelliten des Jupiter, die Mondflecken, die Phasen der Venus - die Wirkungen waren alles andere als neutral, wie wir heute wissen und wie es Galilei sehr schnell zu spüren bekam. Ganz ähnlich auch wir. Wenn wir als Wissenschaftler oder Experten ein Urteil über die Nicht-Integrierbarkeit fällen, ist das tatsächlich nichts anderes als eine einfache Verzichtserklärung. Es ist ein Verzicht auf Integration, welche nichts anderes ist als Kampf, Anstrengung und vor allem Einsatz. Was dabei noch mehr zählt: Es bedeutet einen Verzicht und einen Einsatz, den niemand will, weil am Ende die Integration und damit die Begegnung mit dem Verschiedenen, dem Anderen das Risiko in sich birgt, die Normalität grundsätzlich in Frage zu stellen.

Im Jahr 1978 ist in unserem Land unter dem Druck der praktischen Arbeit, mit der in den 60er Jahren begonnen wurde, die Insassen der Irrenhäuser zu reintegrieren, eine Reform verabschiedet worden, die die Integration Geisteskranker fordert und die psychiatrischen Verwahrungsstätten überwindet. Die Reform kann bekanntlich unzweifelhafte Fortschritte aufzeigen, sie stößt aber nach wie vor auf großen Widerstand. Keiner hat es sich anders erwartet. Erst heute, nach elf Jahren, gesteht die Regierung ein, daß die vielen Mängel nicht an der Reform liegen, sondern an der Verringerung der Ressourcen, an der systematischen Kürzung der Finanzen und des Personals. Die Reform bringt auch heute noch viele Probleme an den Tag, die vorher hinter den Mauern der geschlossenen Anstalten verborgen geblieben sind: das Problem des Verlassenseins, nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb der Mauern der Spitäler; das Problem des psychiatrischen Gutachtens, das die Gefährlichkeit des individuellen und freien Ermessens in Diskussion stellt; die zivilrechtliche Verantwortung des Arztes, wenn er es unterläßt, die Persönlichkeit des Patienten zu fördern bis hin zur gesetzlichen Verantwortung der öffentlichen Verwaltung, wenn sie es unterläßt, die notwendigen Gesundheitsdienste einzurichten und zu finanzieren; die Diskussion um die Gesellschaft, die Patienten an die Gesundheitsdienste delegiert, die Diskussion darum, daß sie als Akteure der Transformation vor einem bestimmten Hintergrund zusammengefaßt werden oder als politische pressure group gegenüber dem Staat zur Bereitstellung der notwendigen Mittel für die Gesundheitsdienste fungieren.

Jeder, der in diesen Widersprüchen lebt, arbeitet und kämpft, hat natürlich die Verpflichtung, fest auf dem Boden der Realität zu stehen und einen soliden Realitätssinn zu bewahren. Er hat die Verpflichtung, sich eine nüchterne und pragmatische Kenntnis der tatsächlichen politischen und praktischen Verhältnisse anzueignen und in eine Vermittlerrolle einzutreten. Gleichzeitig hat er aber auch die Verpflichtung - und das Paradoxe daran liegt auf der Hand - vorauszuschauen, über das Heute hinauszublicken, um seinen Erfindergeist und seine Fähigkeit zum Träumen nicht zu verlieren. Etwa so, wie die Beatles singen: Wenn du weiter träumen willst, schließe dich uns an, "I am a dreamer". Oder wie Martin Luther King sagte: Ich habe einen Traum, "I have a dream".

Quelle:

Lorenzo Toresini: Gibt es nicht-integrierbare Personen?

Erschienen In: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium, S. 103 - 112

Autoreneigenverlag TAK, Innsbruck 1990

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.08.2006

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