Gleichbehandlung und die UN-Behindertenrechtskonvention in der sozialrechtlichen Praxis

Handreichung des Projekts „Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt“

Autor:in - Oliver Tolmein
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Die Zielsetzung des Projekts „Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt“ ist es, durch Qualifizierungs- und Vernetzungsangebote einerseits zur Diversity-Kompetenz beizutragen und andererseits die Anwaltschaft für arbeitsmarktbezogene Formen von Diskriminierungen zu sensibilisieren, um dadurch auch strukturelle Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt abzubauen. Das dreijährige Projekt (2012 bis 2014) wird im Rahmen des Bundesprogramms „XENOS - Integration und Vielfalt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds gefördert.
Copyright: © Deutsches Institut für Menschenrechte 2014

Der Autor

Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein hat die Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg mitbegründet. Er ist Fachanwalt für Medizinrecht und hat sich auf die Vertretung von Menschen mit Behinderungen und antidiskriminierungsrechtliche Fragestellungen spezialisiert. Die Kanzlei Menschen und Rechte berät und vertritt auch Behindertenverbände in grundlegenden strategischen Verfahren. Die UN-Behindertenrechtskonvention spielt für seine Arbeit eine wichtige Rolle, da er sich besonders für das Verhältnis von Grundrechten, Menschenrechten und Sozialrecht interessiert. Er hat mehrere Verfahren bis zum Bundessozialgericht geführt und die grundlegende „Cialis“-Entscheidung erstritten. Im Bundestag wurde er mehrfach in Gesetzgebungsverfahren als Sachverständiger angehört.

Das Projekt

Die Zielsetzung des Projekts „Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt“ ist es, durch Qualifizierungs- und Vernetzungsangebote einerseits zur Diversity-Kompetenz beizutragen und andererseits die Anwaltschaft für arbeitsmarktbezogene Formen von Diskriminierungen zu sensibilisieren, um dadurch auch strukturelle Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt abzubauen. Das dreijährige Projekt (2012 bis 2014) wird im Rahmen des Bundesprogramms „XENOS – Integration und Vielfalt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds gefördert.

Das Institut

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, angewandte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Es wird vom Bundesministerium der Justiz, vom Auswärtigen Amt und von den Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Arbeit und Soziales gefördert. Im Mai 2009 wurde die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention im Institut eingerichtet.

1. Einleitung

Anders als beispielsweise der schon seit langem geltende Sozialpakt, hat sich die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) schon in den ersten Jahren nach ihrer Ratifizierung spürbar auf die Praxis im deutschen Sozialrecht ausgewirkt. Das liegt zum einen an Betroffenen, die ihre Rechte kennen und sie aktiv vertreten; zum anderen stellten behindertenpolitisch aktive NGOs und institutionelle Erfordernisse (Staatenbericht, Aktionspläne) von vornherein einen unmittelbaren Bezug der Konvention zur Rechtspraxis her. Dabei ging es – und geht es auch heute – nicht (nur) um einen grundlegenden Mindeststandard an Versorgungsqualität, der gerade noch sicherstellt, dass die Menschenwürde gewahrt bleibt. Es werden vielmehr die Menschenrechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den nachfolgenden Menschenrechtspakten auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen übertragen. Auch wenn sich aus der UN-BRK nur in Ausnahmefällen direkt ein Leistungsanspruch herleiten lässt, ist sie doch ein unverzichtbares Instrument, um sozialrechtliche Normen auslegen und Ansprüche auf Leistungen fundiert unter Einbeziehung einer menschenrechtlichen Perspektive begründen zu können. Während das Bild von Menschen mit Behinderungen, das im deutschen Sozialrecht gezeichnet wird, Behinderung nach wie vor als Defizit wahrnimmt, deren Folgen es so gut als möglich auszugleichen gilt, weist die UN-BRK schon in ihrer Beschreibung von Behinderung darauf hin, dass Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgeblich durch dort vorzufindende Barrieren beeinträchtigt oder sogar verhindert wird. Wesentliche Leistungsansprüche im Sozialrecht dienen in diesem Verständnis mithin dazu, Gleichbehandlung sicherzustellen. Gleichzeitig zielen sie darauf, Benachteiligung zu verhindern.

Der im modernen bundesdeutschen Behindertenrecht bereits vorhandene Gedanke, dass Sozialrecht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll, wird so konsequent weitergeführt. Sozialrecht erhält durch die Übernahme der Menschenrechtsperspektive auch eine antidiskriminierungsrechtliche Dimension. Es ist eine wichtige Aufgabe, gerade der im komplexen Sozialrecht tätigen Anwältinnen und Anwälte, diese Sichtweise zum Tragen zu bringen. Was kann die UN-BRK dazu beitragen? Wie kann sie bei der Aufbereitung eines Falles sinnvoll eingesetzt werden? Worauf ist dabei zu achten? Auf diese Fragen gibt die vorliegende Handreichung Antworten. Sie weist außerdem auf die Möglichkeiten des Individualbeschwerdeverfahrens hin, die im Fakultativprotokoll zur UN-BRK enthalten sind. Dass es sich dabei um eine ganz praktische Möglichkeit handelt, zeigt der im Frühjahr 2014 entschiedene Fall Gröninger, in dessen Rahmen die Bundesrepublik aufgefordert worden ist, Änderungen im SGB IIIvorzunehmen.[1]



[1] Die Beschwerde von Liliane Gröninger, die anwaltlich nicht vertreten war, wurde am 25.06.2010 beim UN-Behindertenrechtsausschuss eingereicht und am 04.04.2014 im Sinne der Beschwerdeführerin entschieden. Grundlage dafür lieferte das Fakultativprotokoll zur UN-BRK (mehr dazu in Kapitel VI), UN-Behindertenrechtsausschuss, Mitteilung Nr. 2/2010, CRPD/C/11/D/2/2010 . Der englische Text der Entscheidung ist auf der Seite des Behindertenrechtsausschusses nachzulesen: http://bit.ly/1lozKNR .

2. Die UN-BRK und ihre Umsetzung in Deutschland

In den Jahren seit Inkrafttreten der UN-BRK[2] in Deutschland (26.03.2009) ist ihre Umsetzung bislang nur zögerlich erfolgt.[3] Das hängt insbesondere damit zusammen, dass die Bundesregierung der Auffassung war - und wohl auch immer noch ist -, dass die UN-BRK keine grundlegenden Veränderungen in der bundesdeutschen Antidiskriminierungs- und Behindertenpolitik erfordert. Dies gilt in besonderem Maße auch für das Sozialrecht. Die kritischen Fragen des Behindertenrechtsausschusses der Vereinten Nationen zum deutschen Staatenbericht über die Umsetzung der UN-BRK zeigen aber deutlich, dass in den nächsten Jahren einiges geändert und angepasst werden muss.[4] Aber auch ohne die Verabschiedung neuer Gesetze kann die Konvention schon heute in der Rechtspraxis angewendet werden. Das ergibt sich als sogenannter Rechtsanwendungsbefehl aus Artikel 59 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Artikel 20 Abs. 3 GG, auf den man auch in Schriftsätzen verweisen kann.[5] Gleichwohl sind die Vorbehalte in den Sozialverwaltungen und auch in der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit[6] gegen eine rechtliche Bezugnahme auf die UN-BRK derzeit noch erheblich. Anders als sich manche Anwältinnen und Anwälte erhoffen und viele Mandantinnen und Mandanten erwarten, funktioniert der Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention nicht als Sesam-öffne-dich, der weitere Argumentationen weitgehend entbehrlich macht. Vielmehr wirkt er eher wie ein Alarmsignal, auf das hin oftmals erhebliche Forderungen erwartet werden. Allerdings zeichnen sich auch andere Entwicklungen ab. Beispielsweise hat die Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Frauen und Integration für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein großangelegtes Schulungsprojekt zur UN-BRK ins Leben gerufen.

Wichtig für die praktische Umsetzung der UN-BRK sind gerade in der gegenwärtigen Anfangsphase die staatliche Anlaufstelle beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der sogenannte „Focal Point“, und vor allem die Monitoring-Stelle zur UN-BRK am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin, die die Überwachung der Umsetzung der UN-BRK und ihre Verankerung in der Gesellschaft zur Aufgabe hat und daher auch für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ansprechbar ist, Materialien bereithält und Anwaltsfortbildungen organisiert.



[2] Auf Initiative von Mexiko verabschiedete die UN-Generalversammlung am 19.12.2001 die Resolution 56/1685, mit der der sogenannte Ad-hoc Ausschuss eingesetzt wurde, der am 05.12.2006 seine Arbeit abschloss. Die Resolution wurde am 13.12.2006 einstimmig von der UN-General-versammlung als „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ verabschiedet.

[3] Deutschland gehörte am 30.03.2007 zu den Erstunterzeichnern der neuen Menschenrechtskonvention, aber erst Ende 2008 wurde das Gesetz zur Ratifikation des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet, sodass die UN-BRK am 26.03.2009 in Deutschland in Kraft treten konnte (BGBl. 2008 II, 1419).

[4] Der Fragenkatalog, der als UN-Dokument CRPD/C/DEU/Q/1 am 17.04.2014 veröffentlicht worden ist, ist in nicht-offizieller deutscher Übersetzung auf der Homepage der Monitoring-Stelle zur UN-BRK verfügbar: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Information_der_Monitoring-Stelle_anlaesslich_der_Veroeffentlichung_der_Fragenliste_des_UN_Ausschusses_f_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen_im_Zusammenhang_mit_dem_ersten_Staatenbericht_Dtlds.pdf

[5] Dazu auch Aichele, Valentin (2012): Die UN-Behindertenrechtskonvention: ihre Bedeutung für Ämter, Gerichte und staatliche Stellen. In: Positionen Nr. 6 (auch in Leichter Sprache). http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/positionen_nr_6_die_un_behindertenrechtskonvention.pdf.

[6] Vgl. ähnlich Aichele, Valentin (2011): UN-BRK in der gerichtlichen Praxis. In: AnwBl 10/2011, 727 (728).

3. Arbeit mit der UN-BRK im konkreten Fall

3.1 Wie anwenden?

Für die anwaltliche Praxis erweist es sich als schwierig, dass die UN-BRK durch die Ratifizierung zwar im Rang eines einfachen Gesetzes in die deutsche Rechtsordnung eingegliedert wurde, die daraus resultierenden rechtlichen Anforderungen aber nicht weiter umgesetzt wurden. Lediglich die Schulgesetze vieler Bundesländer wurden angesichts der in der UN-BRK enthaltenen deutlichen Forderung nach einem diskriminierungsfreien, inklusiven Schulsystem unter Berücksichtigung von Artikel 24 UN-BRK verändert (mit leidlichem Erfolg). Deswegen stellt sich die Frage, wie mit der UN-BRK in der anwaltlichen Praxis, insbesondere auch in sozialrechtlichen Verfahren, umzugehen ist.

  • Es hängt grundsätzlich zuerst einmal davon ab, um welchen Artikel aus der UN-BRK es sich handelt, und ob dieser ausreichend bestimmt erscheint, um ihn unmittelbar anzuwenden.

  • Eine unmittelbare Anwendung ist möglich, wenn die Norm nach ihrem Wortlaut, dem mit ihr verfolgten Zweck und ihrer Regelungsdichte Grundlage einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung im Einzelfall sein kann, ohne dass es hierzu eines konkretisierenden beziehungsweise ergänzenden Ausführungsaktes bedarf. Diese Regelungen werden auch als „self-executing“ bezeichnet.[7] Ob eine solche direkt anwendbare Norm vorliegt, ist im Wege der Auslegung, die auch den konkreten Lebenssachverhalt einbeziehen muss, zu ermitteln.

  • In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob es für die relevante Norm einen sogenannten „General Comment“ gibt, mit dem der UN-Behindertenrechtsausschuss die jeweilige Norm völkerrechtlich verbindlich erläutert.[8] Völkerrecht im Rang eines Bundesgesetzes verlangt nämlich eine Auslegung im Kontext der völkerrechtlichen Auslegungsmethoden, für die immer auch der Stand der jeweiligen internationalen Rechtsdiskussion relevant ist.

  • Des Weiteren gibt es Vorschriften in der UN-BRK, die ein Diskriminierungsverbot enthalten und die dadurch ebenfalls mit Blick auf das Verbot einer Diskriminierung im Einzelfall unmittelbar Anwendung finden können.[9] Was eine Diskriminierung ist, definiert Art. 2 Unterabsatz 3 UN-BRK. Artikel 5 Abs. 2 der UN-BRK normiert ein umfassendes Verbot jeder Diskriminierung wegen einer Behinderung. Das Diskriminierungsverbot ist völkerrechtlich allgemein anerkannt und gilt auch, da es hinreichend bestimmt ist, als unmittelbar vollziehbar.[10] In den bisher ergangenen gerichtlichen Entscheidungen zur Anwendung der UN-BRK wird eine unmittelbare Anwendung der jeweiligen Normen nicht angenommen.[11]

  • Ist eine unmittelbare Anwendung nicht möglich, bilden die jeweiligen Bundes- oder landesrechtlichen Normen, hier also vor allem die Bestimmung der SGB, die Entscheidungsgrundlage. Die Regelungen der UN-BRK müssen dann herangezogen werden, um eine menschenrechtskonforme (und völkerrechtsfreundliche) Auslegung dieser Normen zu erreichen - insbesondere indem sie zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe beitragen. Sie können aber auch materiell zur Begründung der Entscheidung herangezogen werden.[12]

  • In den Entscheidungen von Verwaltungen und Gerichten spielt zudem immer wieder der Einwand eine Rolle, die Umsetzung der UN-BRK stehe unter einem Finanzierungs- beziehungsweise Progressionsvorbehalt. Dieser auf Art. 4 Absatz 2 Satz 1 der UN-BRK gestützte Einwand greift grundsätzlich. Er ist aber zugleich stark verkürzt, wie sich aus Art. 4 Absatz 2 letztem Halbsatz ergibt, der gerade die sofortige und von Finanzierungsvorbehalten unberührte Anwendbarkeit bestimmter Vorschriften der UN-BRK verlangt - es geht dabei um die Verpflichtungen, die nach Völkerrecht sofort anwendbar sind.

  • Für die Anwendung der UN-BRK im Sozialrecht lehrreich ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des Präsidentensenates des Bundessozialgerichts (BSG) vom 06.03.2012.[13] In dieser Entscheidung hat das BSG geradezu lehrbuchmäßig am Beispiel des Art. 25 Satz 3 Buchstabe b UN-BRK (der sich mit Gesundheitsleistungen für Menschen mit Behinderungen befasst) herausgearbeitet, wie die Anwendungsmöglichkeiten einer Norm der UN-BRK zu prüfen sind. Zuerst ist demnach festzustellen, ob die Norm der UN-BRK Geltungsvorrang vor deutschen sozialrechtlichen Normen hat, weil sie in den Rang von Völkergewohnheitsrecht erwachsen ist. Das ist im Fall des Art. 25 Satz 3 Buchstabe b UN-BRK nach Auffassung des BSG nicht anzunehmen.

  • Sodann prüft das BSG, ob die Norm mit Blick auf die Ansprüche GKV-Versicherter auf Arzneimittel bei erektiler Dysfunktion hinreichend bestimmte Vorgaben enthält, also direkt anzuwenden wäre. Das wird ebenfalls - zutreffend - verneint.

  • In der Folge wird untersucht, ob sich aus dem allgemeinen Handlungsgebot, genau benannte Gesundheitsleistungen anzubieten, eine unmittelbare Anwendung herleiten lässt, was ebenfalls abgelehnt wird. Ergänzend wird in diesem Zusammenhang auf den Progressionsvorbehalt aus Art. 4 Abs. 2 UN-BRK verwiesen.

  • Das BSG setzt sich weiter mit der Frage auseinander, ob die einfachgesetzlichen Normen aus den SGB nicht im Sinne der UN-BRK ausgelegt werden könnten. Dies wird grundsätzlich bejaht, allerdings erscheint dem BSG die streitbefangene Norm nicht auslegbar.

  • Abschließend analysiert das BSG , ob nicht das Diskriminierungsverbot aus Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, das als unmittelbar anwendbar bezeichnet wird, dem Kläger zum Erfolg verhilft, was allerdings ebenfalls verneint wird.[14]

3.2 Strategische Überlegungen

Bei Verfahren, in denen dem Bezug zur UN-BRK eine tragende Rolle zukommt, erscheint es sinnvoll, auch prozessstrategische Überlegungen anzustellen. Das gilt insbesondere, wenn rechtliches Neuland betreten oder eine gefestigte Rechtsprechung verändert werden soll.

Zum einen bietet es sich stets an, Betroffenenverbände anzusprechen oder sich mit Juristinnen und Juristen auszutauschen, die Erfahrung mit der Anwendung der UN-BRK haben. Da es Anwältinnen und Anwälten im Alltag oft schwerfällt, grundlegende rechtliche Argumentationen zu entwickeln, können hier Dritte um Unterstützung gebeten werden. Unter Umständen ist auch zu erwägen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinzubeziehen. In diesem Zusammenhang kann es auch wichtig sein, sich selbst klar zu machen, ob man für die gesetzlichen Gebühren quasi ehrenamtlich arbeiten will oder ob eine Vergütungsvereinbarung gemacht werden soll, für die gegebenenfalls auch Verbände zur Verfügung stehen könnten.

Mit Blick auf die Mandantschaft ist es wichtig deutlich zu machen, dass hier Neuland betreten wird. Auch sie muss darauf vorbereitet sein, unter Umständen mehrere Instanzen zu durchlaufen. Es ist ärgerlich, wenn in erster oder zweiter Instanz Urteile bestehen bleiben, weil die Mandantschaft den Instanzenzug nicht weiterführen möchte. Das sollte möglichst und so gut es geht vorab geklärt werden. Selbstverständlich kann nach einem Instanzenzug überlegt werden, ob weitergemacht werden soll und welchen Plan es dann gibt.



[7] Höfling, Wolfram: Rechtsfragen der Umsetzung von Artikel 24 der UN-BRK in Nordrhein-Westfalen unter besonderer Berücksichtigung der Konnexitätsproblematik. Rechtsgutachten erstellt im Auftrag des Städtetages NRW . http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/verbandsuebergreifend/2012/gutachten_hoefling_inklusion_schulbereich.pdf .; ähnlich Aichele, Valentin (2011): UN-BRK in der gerichtlichen Praxis. In: AnwBl 10/2011, 727 (728); vgl. BVerfG vom 09.12.1970, 1 BvL 7/66, in: BVerfGE 29, 348-401.

[8] Derzeit gibt es General Comments für die Artikel 9 und 12 der UN-BRK. Diese sind auf der Seite des Committee on the Rights of Persons with Disabilities (http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/GC.aspx) einzusehen.

[9] Vgl. Höfling a.a.O. S. 57.

[10] Vgl. Aichele, Valentin/ Althoff, Nina (2012): Nicht-Diskriminierung und angemessene Vorkehrungen, Rz 66 ff. In: Welke, Antje (Hg.): UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen. Berlin.

[11] Das Bundessozialgericht hat in seiner Cialis-Entscheidung (BSGE 110, 194-204) zwar hervorgehoben, dass Artikel 5 Abs. 2 UN-BRK unmittelbar anwendbar sei, ging aber – entgegen der hier vertretenen Auffassung – davon aus, dass in dem zur Entscheidung anstehenden Fall eine Diskriminierung nicht erfolgt sei. Art. 25 UN-BRK, in dessen Anwendungsbereich das Streitverhältnis sich befand, wurde (zutreffend) als nicht self-executing beurteilt, da er keine hinreichende Regelungsdichte und Konkretisierung aufweist. Vgl. dazu auch Aichele a.a.O.

[12] Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, in: BVerfGE 128, 282-322; BVerfG Beschluss vom 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, in: BVerfGE 111, 307-332.

[13] BSG vom 06.03.2012, B 1 KR 10/11 R, in: BSGE 110, 194-204. Dazu: Anmerkung von Schafhausen, Martin (2012): ASR, 243-249. In der Entscheidung geht es um die Frage, ob ein Mensch, der wegen seiner Behinderung das gegen erektile Dysfunktion eingesetzte Medikament „Cialis“ benötigt, trotz des Leistungsausschlusses in § 34 Abs. 1 SGB V einen Anspruch auf die Kostenübernahme für diese Behandlung hat. Das BSG hatte die Revision zugelassen, obwohl es sich bereits mehrfach mit Fragen des Leistungsausschlusses befasst hatte. Im Ergebnis verneinte es allerdings einen Anspruch auch in diesem Fall, weil es hier keine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung erkennen konnte.

[14] Dieser Teil der Entscheidung ist der schwächste. Das Ergebnis erscheint auch unzutreffend, weil es nur auf unmittelbare Diskriminierungen abstellt, nicht aber das Konzept der mittelbaren Diskriminierung - um die es hier ging - berücksichtigt.

4. Arbeitsfelder der UN-BRK im Sozialrecht

Grundsätzlich kann die UN-BRK in allen sozialrechtlichen Bereichen Anwendung finden. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt.

4.1 Behinderungsbegriff und Auseinandersetzungen um den Grad der Behinderung (GdB)

Die UN-BRK definiert nicht, was sie unter Behinderung versteht. Sie geht, wie sich aus lit e) der Präambel ergibt, von einem dynamischen, sich verändernden Behinderungsbegriff aus. Immerhin enthält Art. 1 Satz 2 BRK eine nicht abschließende Beschreibung des Begriffs „Behinderung“. Es heißt dort:

„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Der Unterschied zu der Definition von Behinderung in § 2 Abs.1 SGB IX ist evident. Das SGB IX orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das menschenrechtlich geprägte Konzept der UN-BRK dagegen charakterisiert Behinderung nicht als Eigenschaft bestimmter Menschen, sondern als Ergebnis eines Wechselspiels von individuellen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren. Die Beeinträchtigung der Teilhabe muss nicht schon stattfinden, es reicht aus, dass sie möglich erscheint. Für die sozialrechtliche Praxis relevant ist aber vor allem, dass Behinderung unabhängig davon festgestellt wird, wie der „für das Lebensalter typische Zustand“ verstanden wird oder ist. Damit haben vor allem kleine Kinder und alte Menschen bessere Chancen, Leistungen wegen einer Behinderung zu erhalten.[15] Unter Umständen kann der weite Behinderungsbegriff auch in Verfahren um die Höhe des Grades der Behinderung bei der Auslegung der §§ 30 BVG und 69 SGB IX herangezogen werden, insbesondere wenn vergleichsweise geringe Funktionsbeeinträchtigungen schwere Beeinträchtigungen der Teilhabe an der Gesellschaft nach sich ziehen oder wenn mehrere Beeinträchtigungen auf ihre Gesamtwirkung hin analysiert werden müssen (vgl. § 69 Abs. 3 SGB IX). Außerdem ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die UN-BRK weder in Art. 1 Satz 2 noch in anderen Artikeln nach dem GdB differenziert – genauso wenig wie es das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) macht. Das deutsche Konzept der Schwerbehinderung oder Gleichstellung ist diesen menschenrechtlich geprägten Regelwerken unbekannt und der UN-BRK angesichts des Wechselwirkungsansatzes auch fremd. Das eröffnet in der anwaltlichen Praxis gegebenenfalls Möglichkeiten, insbesondere im SGB IX an der Schnittstelle von Arbeits- und Sozialrecht Leistungen zu erstreiten, die grundsätzlich Menschen mit Schwerbehinderungen vorbehalten sind. Das erfordert allerdings eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das kurzzeitig angesichts der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG die Schwerbehinderten-Regelungen des SGB IX erweitert ausgelegt hat,[16] nach der Verabschiedung des AGG davon indes wieder abgerückt ist[17] - ohne sich in diesem Zusammenhang allerdings mit der UN-BRK auseinanderzusetzen.

EuGH und UN-BRK: Die UN-BRK ist der erste internationale Menschenrechtspakt, den nicht nur fast alle Mitgliedsstaaten der EU ratifiziert haben, sondern auch die EU selbst. In der Folge ist EU-Recht, beispielsweise die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Übereinstimmung mit der UN-BRK auszulegen.[18] Zum Tragen kam dies bislang insbesondere bei der Frage, welcher Behinderungsbegriff dem EU-Recht zugrunde liegt. Angesichts der positiven Rolle, die der EuGH bei der Durchsetzung des Rechts auf Gleichbehandlung gespielt hat, erscheint das vorteilhaft. Überdies bietet es sich vor diesem Hintergrund an, in geeigneten Verfahren zusätzlich ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anzuregen.[19]

4.2. Angemessene Vorkehrungen

Angemessene Vorkehrungen sind neben der Barrierefreiheit ein Kernkonzept der UN-BRK. Art. 2 der Konvention definiert angemessene Vorkehrungen wie folgt:

„Notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.“

Für die Auslegung dessen, was eine unverhältnismäßige, unbillige Belastung sein kann, die eine grundsätzlich erforderliche Vorkehrung unangemessen erscheinen lässt, kann unter Umständen die Richtlinie 2000/78/EG herangezogen werden, die in Art. 5[20] auch das Recht auf Durchführung von angemessenen Vorkehrungen gewährt. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die UN-BRK angemessene Vorkehrungen nicht nur auf das Arbeitsleben bezogen verlangt, sondern für alle Lebensbereiche vorsieht, beispielsweise im Bereich der Schulen und Hochschulen oder, wie in Art. 14 Abs. 2 der UN-BRK, auch bezogen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen in Haftanstalten. Gleiches gilt für Bereiche wie Mobilität oder beispielsweise die Ausübung des Wahlrechtes beziehungsweise anderer Rechte aus dem Bereich der Teilhabe am öffentlichen Leben. Im Sozialrecht sind angemessene Vorkehrungen vor allem als Leistungen der Eingliederungshilfe in Betracht zu ziehen.

Barrierefreiheit und Angemessene Vorkehrungen: Während Barrierefreiheit im umfassenden Sinne Zugänglichkeit sicherstellen soll (vgl. Art. 9 UN-BRK), haben angemessene Vorkehrungen die Aufgabe, im Einzelfall die erforderliche Unterstützung zu geben, um so Teilhabe trotz Barrieren zu ermöglichen.[21] Die Versagung angemessener Vorkehrungen stellt dementsprechend eine Diskriminierung aufgrund von Behinderung dar (Art. 2 UN-BRK).

Auch das deutsche Recht regelt in § 81 Abs. 4 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX angemessene Vorkehrungen für schwerbehinderte Menschen. Dies betrifft die behinderungsgerechte Einrichtung und Erhaltung der Arbeitsstätten ebenso wie die Gestaltung der Arbeitsplätze -zum Beispiel mit erforderlichen technischen Hilfen - und des Arbeitsumfeldes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit. Im Folgenden wird an den Beispielen Arbeitsassistenz und Schulbegleitung hingewiesen auf mögliche Rechtskonflikte und dabei zu beachtende Punkte im Bereich der angemessenen Vorkehrungen.

Arbeitsassistenz

Arbeitsassistenz ist einer von mehreren Bestandteilen des umfassenden Ansatzes zur persönlichen Assistenz bei den Verrichtungen des täglichen Lebens und zur Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gemeinschaft. Auftraggeber der verschiedenen Dienstleistungen zur persönlichen Assistenz ist dabei der Mensch mit Behinderungen selbst. Insofern ist die persönliche Assistenz Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts sowie des Wunsch- und Wahlrechts (§ 9 SGB IX). Mit der Novellierung des Schwerbehindertenrechts (Teil 2 SGB IX) wurde ein Rechtsanspruch schwerbehinderter Menschen auf Übernahme der Kosten notwendiger Arbeitsassistenz durch die Integrationsämter eingeführt, und zwar als Teil der Begleitenden Hilfe im Arbeitsleben. Rechtliche Grundlagen für den Anspruch auf Arbeitsassistenz liefern im deutschen Recht derzeit §§ 33 Abs. 8 Nr. 3 und 102 Abs. 4 SGB IX, die sie zugleich auf den Personenkreis der „schwerbehinderten Menschen“[22] begrenzen. Diese Beschränkung ist inakzeptabel mit Blick auf die EG-Richtlinie 2000/78/EG und vor allem auf Art. 2 der UN-BRK, die Behinderung nicht nach Schweregraden differenzieren. Allerdings dürfte für den Fall, dass ein Mensch mit einem GdB von weniger als 50 eine Arbeitsassistenz benötigt, unter Umständen nicht das SGB IX als Anspruchsgrundlage genommen werden, sondern das zivilrechtlich ausgerichtete AGG, allerdings dann nur im Rechtsstreit mit dem Arbeitgeber. Die UN-BRK schafft hier gegebenenfalls eine Grundlage über Art. 2, 5 Abs. 2 und 27 (Arbeit und Beschäftigung), um die Beschränkung von § 33 Abs. 8 Nr. 3 SGB IX auf schwerbehinderte Menschen zu überwinden.[23]

Schulbegleitung

Das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist im SGB IX weit weniger ausdifferenziert als das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben und konzentriert sich im Wesentlichen auf § 55 SGB IX. Zu den Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zählen nach §§ 55–58 SGB IX insbesondere: heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind, Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen eine für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten. Die Leistungen sind nicht abschließend formuliert. Allerdings sind auch keine Leistungsträger benannt. Darüber hinausgehende Ansprüche können als Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII geltend gemacht wer-den. Zu den wichtigsten Leistungen in diesem Zusammenhang gehören die sogenannten Schulhelferinnen und Schulhelfer oder Integrationshelferinnen und Integrationshelfer, die in bestimmten Fällen mit ähnlichen rechtlichen Problemen auch über § 35 SGB VIII von den Jugendämtern bewilligt werden.

Dass Kinder mit Behinderungen Anspruch auf einen Schulhelfer oder eine Integrationshelferin haben können, ist unbestritten. Unklar ist bisweilen, wer Kostenträger sein soll: Jugendhilfe (§ 35a SGB VIII), Sozialamt (§ 54 SGB XII) oder Schulbehörde? Überwiegend werden die Kosten vom Sozialamt im Rahmen der Eingliederungshilfe getragen: Nach § 54 Abs. 1 SGB XII gehören zu den Leistungen der Eingliederungshilfe unter anderem Hilfen für eine angemessene Schulbildung. Ob ein Kind mit einer Behinderung in einer allgemeinen Schule inklusiv beschult (Art. 24 UN-BRK) oder in einer Förderschule aufgenommen wird, unterfällt (in den meisten Bundesländern) der Entscheidung der Eltern im Rahmen ihres schulrechtlich gegebenen Wahlrechts. Dies ist vom Träger der Sozialhilfe zu respektieren. Benötigt das Kind in einer begabungsgerechten Schule im Rahmen der inklusiven Beschulung nach der Entscheidung des Schulamtes Hilfe im Sinne von Unterstützung zur Bewältigung der organisatorisch-strukturellen Anforderungen des Schulalltags, so besteht eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII, soweit solche Hilfen außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Schulausbildung erforderlich sind. Diese können dann auch pädagogischer Art sein, soweit es sich um eine den Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Lehrpersonen in der Schule lediglich unterstützende Tätigkeit handelt. Der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers steht der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe nicht entgegen, wenn der Schulträger die zusätzlichen Kosten für einen Integrationshelfer während der Zeit des Schulbesuchs tatsächlich nicht aufbringt.[24]

Besonders umstritten sind Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher als Integrationshelfer für gehörlose Schüler in Regelschulen, was an den hohen Kosten liegt. Hier ist die Argumentation mit Art. 4 UN-BRK wichtig, weil diese Vorschrift nicht nur regelt, dass Schulen inklusiv sein müssen, sondern auch, dass ein Kind oder Jugendlicher Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung hat. Da eine Versagung angemessener Vorkehrungen, zu denen auch Schulhelferinnen und Integrationshelfer gehören können, eine Diskriminierung darstellt, ist hierin auch ein Verstoß gegen Art. 24 UN-BRK zu sehen. Auch die Kostenübernahme für Integrationshelfer beziehungsweise Integrationshelferinnen in Ganztagsschulen ist so und mit Hilfe von Art. 5 Abs. 2 UN-BRK zu begründen, weil Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen benachteiligt werden, wenn ihnen nachmittags keine Schulbegleiterinnen oder Schulbegleiter zur Verfügung stehen und sie faktisch nicht an einer Ganztagesbeschulung teilnehmen können.[25]

4.3 Persönliche Assistenz / Arbeitgebermodell

Insbesondere bei einer schweren Behinderung spielt die pflegerische Versorgung auf Dauer eine herausragende Rolle. Wichtig ist festzuhalten, dass grundsätzlich für alle geschädigten Personen eine ambulante Versorgung möglich ist: Sowohl Patientinnen und Patienten, die sich nach einer schweren Hirnschädigung in einem Wachkoma befinden, als auch Patientinnen und Patienten mit Beatmungsgerät können grundsätzlich zu Hause, in kleinen Wohngruppen oder in einem neu zu schaffenden Zuhause pflegerisch versorgt werden. Allerdings sind die Kosten einer 24-Stunden-Betreuung, wie sie in solchen Fällen oft nötig ist, deutlich höher als die Kosten einer stationären Versorgung. Da die Pflegeversicherung nur einen Bruchteil davon übernimmt, müssen andere Kostenträger einspringen, häufig ist das die Sozialhilfe in Form der Hilfe zu Pflege (§§ 63 ff. SGB XII). Deswegen gibt es in der Sozialhilfe auch immer wieder Verfahren, in denen Sozialhilfeträger versuchen, Menschen aus der ambulanten in die stationäre Versorgung zu drängen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 13 SGB XII; die entscheidende Auseinandersetzung wird hier regelmäßig über die Frage geführt, ob eine stationäre Versorgung zumutbar ist.

In diesem Zusammenhang spielt Art. 19 der UN-BRK eine herausragende Rolle, da er ausschließt, dass Menschen wegen ihrer Behinderung in besondere Wohnformen – und stationäre Einrichtungen sind besondere Wohnformen – gezwungen werden können. Vielmehr regelt Art. 19, dass sie Anspruch auf eine persönliche Assistenz im ambulanten Bereich haben. Diese ist allerdings erheblich teurer als die stationäre Versorgung im Pflegeheim.

Art. 19 UN-BRK ist, insbesondere auch verglichen mit § 13 SGB XII, eine Norm, die unmittelbare Anwendung finden muss, da sie hinreichend bestimmt ist. Da sie eine Benachteiligung von Menschen verhindert, steht sie auch nicht unter dem Progressionsvorbehalt, sondern ist unabhängig davon umzusetzen.[26] Selbst wenn man aber davon ausgehen sollte, dass auch hier keine unmittelbare Anwendung gegeben ist, muss in jedem Fall bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Zumutbarkeit" in § 13 SGB XII auf Art. 19 UN-BRK zurückgegriffen werden. Diesem Artikel ist zu entnehmen, dass die vom Menschen mit Behinderung gewählte Wohn- und Lebensform uneingeschränkt zu akzeptieren ist und Zumutbarkeitskriterien allenfalls bei verschiedenen Möglichkeiten ein und derselben Wohn- und Lebensform Berücksichtigung finden können.

Art. 19 UN-BRK sichert die freie Wahl der Wohnform.

Art. 19 UN-BRK ist eine Norm, die unmittelbare Anwendung finden muss, da sie hinreichend bestimmt ist. Danach ist die vom Menschen mit Behinderung gewählte Wohn- und Lebensform uneingeschränkt zu akzeptieren und Zumutbarkeitskriterien sind allenfalls bei verschiedenen Möglichkeiten ein und derselben Wohn- und Lebensform zu berücksichtigen.

4.4 Gesundheit

Leistungsansprüche im Gesundheitswesen, insbesondere gegen die Krankenkassen, spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle im Sozialversicherungsrecht. Hier ist stets daran zu denken, dass die UN-BRK die Argumentation erleichtern könnte. Dies betrifft zum Beispiel Ansprüche von Patientinnen oder Patienten auf Behandlung mit einem bestimmten Medikament, zum Beispiel im sogenannten Off-Label-Use, oder bestimmte Bedarfe an Hilfsmitteln oder an Heilmitteln, die beispielsweise mit erhöhter Frequenz abgegeben werden müssen. Unter Einbeziehung des erweiterten Behinderungsbegriffes der UN-BRK ist in einem solchen Fall zu überlegen, ob die Patientin beziehungsweise der Patient zur Gruppe der Menschen mit Behinderungen gehört. Bei Menschen mit schweren Krankheiten, insbesondere wenn diese chronisch sind, ist das meistens anzunehmen. Die Anwendbarkeit der UN-BRK hängt dabei nicht davon ab, ob die betreffende Person tatsächlich einen formellen Behindertenstatus hat oder nicht. Allerdings könnte es sein, dass im Zuge eines solchen Verfahrens die Behinderung festgestellt werden müsste.

Geht man davon aus, dass die Klientin oder der Klient ein Mensch mit Behinderung ist, könnte Art. 25 der UN-BRK gegebenenfalls im Zusammenspiel mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 5 UN-BRK eine wichtige Rolle spielen. Dieser schreibt fest, dass die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen anerkennen „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderungen“.[27] Hier besteht schon ein gewichtiger Unterschied zum SGB V, das ja stets nur das Zweckmäßige und Erforderliche an Behandlungen gewährt. Des Weiteren ist dann relevant die Vorschrift Buchstabe b, die von den Vertragsstaaten verlangt, dass sie Gesundheitsleistungen anbieten, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden. Auch wenn man nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts davon ausgehen muss, dass Art. 25 Buchstabe b von der bundesdeutschen sozialgerichtlichen Rechtsprechung nicht als self-executing anerkannt wird, so ist doch zu berücksichtigen, dass die Vorschrift ein Diskriminierungsverbot enthält und ver-langt, dass ein Höchstmaß an Gesundheit von Menschen mit Behinderungen erreicht werden soll. Hier könnten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beispielsweise im Rahmen von Auseinandersetzungen über den Off-Label-Use von Medikamenten einhaken beziehungsweise sich auf die speziellen Vorschriften des SGB V beziehen, die auf Menschen mit Behinderungen zielen, insbesondere auf § 2a SGB V, der verlangt, dass den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung getragen wird.

4.5 Mobilität

Die Vorschriften der UN-BRK zu Mobilität in Art. 20 sind im Zusammenhang zu lesen mit Art. 9, der die Zugänglichkeit regelt, aber auch mit Art. 30, der sich mit der Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport befasst. Art. 20 besagt, dass wirksame Maßnahmen zu treffen sind, um Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit zu gewähren, indem sie einerseits Zugang zu hochwertigen Mobilitätshilfen haben, andererseits das Wahlrecht hinsichtlich der Frage, wo ein Mensch mit Behinderung hingelangen möchte, gesichert wird. Angesichts der Regelungen in SGB XII, aber auch der Kfz-Hilfe-Verordnung oder entsprechenden Hilfsmittelregelungen im SGB V kann man einerseits feststellen, dass Mobilität in einem gewissen Umfang sichergestellt ist. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Problemen in diesem Bereich, die regelmäßig zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen. Umstritten ist zum Beispiel die Gewährung von Kfz-Hilfe für nicht berufstätige Menschen mit Behinderung, die ein Auto zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigen. Auch die Gewährung von Rollstühlen für den Sport oder Mobilitätshilfen wie einen andockbaren Rollstuhl fürs Fahrrad oder ähnliches kann hier kritisch werden. In all diesen Fällen ist genau zu prüfen, zu welcher Fallgruppe von Art. 20 eine entsprechende Mobilitätshilfe gehört. Sodann ist es sinnvoll zu schauen, inwieweit die eigene Argumentation durch Verweis auf Art. 9 oder Art. 30 UN-BRK verstärkt und eventuell präzisiert werden kann. Alle diese Vorschriften sind allerdings nicht self-executing, da sie insoweit nicht ausreichend bestimmt sind. Sie können allerdings als Argumentationshilfe in der rechtlichen Auseinandersetzung herangezogen werden. Die bisherige Rechtsprechung, insbesondere des Bundessozialgerichtes, ist allerdings, was die Erhöhung von Mobilitätsansprüchen gegen beispielsweise die Krankenkasse[28] oder auch das Sozialamt angeht, bislang außerordentlich zurückhaltend.



[15] Das Bayerische Landessozialgericht hat vor Jahren in einem obiter dictum berechtigte Zweifel geäußert, ob der Behinderungsbegriff des SGB IX verfassungsgemäß ist. Siehe: Bayerisches Landessozialgericht vom 12.12.2002, Az.: 18 SB 22/01, Breith 2003, 289-292.

[16] BAG vom 03.04.2007, Az .: 9 AZR 823/06, NJW 2007, 3515-3518.

[17] BAG vom 27.01.2011, Az.: 8 AZR 580/09, NJW 2011, 2070-2073. Zu dieser Entscheidung zu Recht kritisch und teilweise ablehnend, aber ebenfalls ohne Blick auf die UN-BRK: Kocher, Eva (2011): Umsetzungsdefizite des AGG benachteiligt behinderte Menschen, SuP 2011, 527-535.

[18] So EuGH C–335/11 vom 11.04.2013 (Ring und Skouboe Werge).

[19] Bertelsmann, Klaus (2014): Durchsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinien: Das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH. Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt http://www.institut-fuer-menschenrechte.de.

[20] Artikel 5 der Richtlinie 2000/78/EG ist nicht in dieser Form ins deutsche Recht umgesetzt worden, wird aber von der deutschen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig berücksichtigt. In den Erwägungsgründen 17 und 21 der Richtlinie 2000/78/EG wird konkretisiert, dass die angemessenen Vorkehrungen nicht dazu dienen, Personen für einen Arbeitsplatz zu qualifizieren, bei dem sie wesentliche Funktionen des Arbeitsplatzes nicht erfüllen können (Erwägungsgrund 17). Erwägungsgrund 21 regelt, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Maßnahme zu übermäßigen Belastungen führt, insbesondere der mit ihr verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden sollten.

[21] Zum Thema Angemessene Vorkehrungen: „Positionen Nr. 5“ der Monitoring-Stelle zur UN-BRK. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/positionen_nr_5_barrieren_im_einzelfall_ueberwinden.pdf .

[22] So sieht es der Gesetzeswortlaut vor. Allerdings erscheint fraglich, warum bei entsprechendem Bedarf nicht auch Menschen mit einem GdB von unter 50 Anspruch auf Arbeitsassistenz haben sollen.

[23] Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter (BIH) bezieht sich in ihren aktuellen Empfehlungen zur Arbeitsassistenz ausdrücklich auf Art. 27 der UN-BRK und hat zugunsten eines strikten Individualisierungsgrundsatzes die bisherigen Empfehlungen, die pauschale Leistungsbeträge umfassten, aufgegeben. Empfehlungen der BIH zu Arbeitsassistenz vom 22.11.2012: http://bit.ly/1ni6vbC .

[24] Vgl. Hess. LSG vom 26.04.2012, L 4 SO 297/11 B ER.

[25] Vgl. LSG NRW vom 15.01.2014, L 20 SO 477/13 B ER mit knappem Verweis auf die UN-BRK, aus der keine individuellen Ansprüche ableitbar sein sollen (eine Auseinandersetzung mit dem Diskriminierungsverbot wird hier nicht geleistet); LSG NRW vom 17.05.2010, L 20 B 168/08 SO ER: „Zu den Eingliederungshilfeleistungen gehören nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB 12 Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist aber lediglich die Hilfeleistung zu einer angemessenen Schulbildung. Damit kann nicht jedwede Hilfeleistung, insbesondere keine nach den Vorstellungen des Hilfeempfängers beziehungsweise seiner Erziehungsberechtigten bestmögliche Schulbildung als Eingliederungshilfe verlangt werden. Die Hilfen zur angemessenen Schulbildung stehen unter dem Vorbehalt der Prüfung unverhältnismäßiger Mehrkosten nach § 9 Abs. 2 S. 3 SGB 12. Fallen bei einer integrativen Beschulung eines behinderten Kindes mit zusätzlichen Kosten für einen Integrationshelfer gegenüber dem Besuch einer Förderschule Mehrkosten in Höhe von monatlich 2.000.- € an, so führen diese dazu, dass ein Wahlrecht des Antragstellers nicht besteht, wenn der Besuch der Förderschule geeignet ist, dem Kind eine angemessene Schulbildung angedeihen zu lassen.“ -(Diese Position ist meines Erachtens nicht mit Art. 24 UN-BRK zu vereinbaren); Thüringer LSG vom 29.03.2012, L 8 SO 1830/11 B ER: „Die Eingliederungshilfe für eine angemessene Schulbildung nach § 54 Abs. 1 S 1 Nr 1 SGB 12 kann auch Hilfen erfassen, die eine pädagogische Qualifikation der helfenden Person erfordern, soweit die pädagogische Hilfe nicht zum Kernbereich des Aufgabenkreises der Schule gehört. Die Prüfung unverhältnismäßiger Kosten bei Ausübung des Wunschrechtes nach § 9 Abs. 2 S 3 SGB 12 erfordert einen Vergleich mit den Kosten der ansonsten in Betracht kommenden Hilfen. Der Vergleichsraum ist nach sachgerechten Gesichtspunkten abzugrenzen, ohne dass es in der Regel losgelöst davon auf das gesamte Gebiet eines Bundeslandes ankommen kann.“

[26] Anders aber der Bundestag in der 17. Legislaturperiode, der einen Antrag der Fraktion Die Linke auf Streichung des Kostenvorbehalts in § 13 SGB XII aus Kostenüberlegungen heraus ablehnte (die Ablehnung erfolgte gegen die Stimmen von SPD, Die Linke, Bündnis 90/ Die Grünen), BTDrs. 17/6154. Dagegen hat das SG Düsseldorf in einem Eilverfahren auf Basis der unmittelbaren Anwendung von Art. 19 UN-BRK entschieden, dass der Antragsteller Anspruch auf Übernahme der Kosten einer ambulanten 24-Stunden-Versorgung hat: SG Düsseldorf, Beschluss vom 07.10.2013, S 22 SO 319/13 ER. Zustimmend: Waldhorst-Kahnau in jurisPK-SGB XII, § 13, 2. Auflage 2014. Vgl. auch Trenk-Hinterberger Artikel 19 in Kreutz, Marcus/ Lachwitz, Klaus/ Trenk-Hinterberger, Peter (2013): Die UN-BRK in der Praxis. Köln.

[27] Vgl. aber SG Berlin vom 23.04.2013, S 89 KR 2044/10 mit Anm. Wrase, GuP 2014, 79.

[28] Vgl. BSG vom 21.03.2013, B 3 KR 3/12 R; Sächs. LSG vom 07.04.2013, L 8 SO 84/11 zur Verschaffung eines Kfz; SG Stralsund vom 17.12.2012, S 3 KR 12/10 mit Anmerkung Axmann, RdLH 2013, 75–76.

5. Ausgewählte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

  • BSG 9. Senat vom 14.11.2013, B 9 SB 84/12 B, Aufhebung einer Entscheidung des LSG-NRW, wegen unzulässiger Handlungsweise eines durch das Gericht bestellten besonderen Vertreters. Leitsatz: „Ein Gericht hat grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die prozessualen Handlungen eines für einen prozessunfähigen Beteiligten bestellten besonderen Vertreters im Rahmen der diesem obliegenden Pflichten gehalten haben.“ (Bezugnahme auf Art. 12, 13 UN-BRK)

  • BSG 3. Senat vom 21.03.2013, B 3 KR 3/12 R, juris. Leitsatz: „Aus dem ‚Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ (UN-Konvention) können keine über § 33 SGB 5 hinausgehenden Leistungsansprüche hergeleitet werden. Insbesondere ergeben sich solche Ansprüche nicht aus Art 20 UN-Konvention.“

  • BSG 9. Senat vom 23.01.2013, B 9 SB 90/12 B, juris. Leitsatz: „Der Kläger, der die rechtliche Bedeutung der UN-BRK (juris: UNBehRÜbk) für die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) geklärt wissen will, genügt nicht den Darlegungserfordernissen einer auf die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache gestützten Nichtzulassungsbeschwerde, wenn er sich in der Beschwerdebegründung nicht mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Anwendung des UNBehRÜbk auseinandersetzt.“

  • BSG 1. Senat vom 10.05.2012, B 1 KR 78/11 B, juris. Leitsätze: 1. „Die Ausgestaltung des Bewertungsverfahrens durch den Gemeinsamen Bundesausschuss mit einem Antragsrecht des Deutschen Behindertenrats ist eine angemessene Vorkehrung zur Vermeidung der Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen.“ 2. „Eine allgemeine Fürsorgepflicht der Krankenkasse, auf einen Antrag eines Berechtigten hinzuwirken, besteht neben dem speziell auf die Belange behinderter Menschen zugeschnittenen Antragsrecht des Deutschen Behindertenrats nicht.“ Orientierungssatz: (…) 2. Das unmittelbar anwendbare allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 5 Abs. 2 UN-BRK (juris: UNBehRÜbk) entspricht für die Leistungsbestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung im Wesentlichen dem Regelungsgehalt aus Art. 3 Abs. 3 S 2 GG.

  • BSG 1. Senat vom 06.03.2012, B 1 KR 10/11 R: Leitsätze: 1. „Der Leistungsausschluss von Arzneimitteln zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion in der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt auch dann weder Verfassung noch Völkerrecht, wenn er behinderte Menschen betrifft.“ 2. „Das unmittelbar anwendbare UN-konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot entspricht dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot behinderter Menschen.“

  • BSG 9. Senat vom 29.04.2010, B 9 SB 2/09 R, juris. Leitsatz: „Ein aufenthaltsrechtlich nur geduldeter Ausländer, dessen GdB wenigstens 50 beträgt, hat Anspruch auf Feststellung seiner Schwerbehinderung, wenn sein Aufenthalt in Deutschland voraussichtlich länger als sechs Monate andauern wird. (…)“ Urteilstext: Die Annahme einer Anspruchsberechtigung von nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern auf Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft, sobald anzunehmen ist, dass sie sich aufenthaltsrechtlich geduldet mehr als sechs Monate in Deutschland aufhalten werden, wird durch das am 1.1.2009 in Kraft getretene Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem fakultativen Protokoll vom 13.12.2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21.12.2008 (BGBl II 1419) untermauert.

6. Fakultativprotokoll zur UN-BRK

Ergänzt wird die UN-BRK durch das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das 18 Artikel umfasst und regelt, dass Individualbeschwerden nach der UN-BRK beim Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen entgegengenommen und entschieden werden können. Die Entscheidung des UN-Behindertenrechtsausschusses kommt nicht dem Urteil eines Gerichtes gleich, sie beinhaltet aber eine Empfehlung an den jeweiligen Vertragsstaat, der die entsprechenden Bestimmungen der UN-BRK verletzt hat, diese Verletzung nicht weiter fortzuführen und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Voraussetzung für die Anhörung durch den Behindertenrechtsausschuss ist, dass der nationale Rechtsweg erschöpft ist - es sei denn, das Verfahren bei der Anwendung solcher Rechtsbehelfe dauert unangemessen lange oder lässt ohnehin keine wirksame Abhilfe erwarten.

Gegenstand des ersten Verfahrens, das die Bundesrepublik Deutschland vor dem UN-Behindertenrechtsausschuss im Rahmen der Verfahren nach dem Fakultativprotokoll führen musste und verlor, waren die Vorschriften des deutschen SGB III. Nach Auffassung des UN-Behindertenrechtsausschusses bleibt insbesondere das deutsche Arbeitsförderungsrecht hinter den Anforderungen zurück, die Art. 5 und Art. 27 der UN-BRK stellen.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die gesetzlichen Regelungen zum sogenannten Eingliederungszuschuss (§§ 88 bis 92 SGB III) unzureichend sind und das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit nicht angemessen gewährleisten. Die geltenden Vorschriften und verwaltungsmäßigen Hürden erschwerten es potenziellen Arbeitgebern, Zuschüsse für die Beschäftigung behinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhalten, was sich faktisch nachteilig auf die Bewerbungschancen von Menschen mit Behinderungen auswirke. So bleibe Deutschland hinter seiner Verpflichtung zurück, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern.[29]



[29] Die Beschwerde von Liliane Gröninger, die anwaltlich nicht vertreten war, wurde am 25.06.2010 beim UN-Behindertenrechtsausschuss eingereicht und am 04.04.2014 im Sinne der Beschwerdeführerin entschieden. Der englische Text der Entscheidung ist auf der Seite des Behindertenrechtsausschusses nachzulesen: http://bit.ly/1lozKNR . Weitere Hinweise und Informationen über das Beschwerdeverfahren finden Sie in den Erläuterungen zum Beschwerdeverfahren im Online-Handbuch „Aktiv gegen Diskriminierung“: http://www.aktiv-gegen-diskriminierung.de/internationale-rechtsdurchsetzung/vereinte-nationen/individualbeschwerdeverfahren.html sowie auch unter http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/Jurisprudence.aspx .

7. Resümee

Die UN-BRK hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einem wichtigen Instrument der Behindertenpolitik und auch des Behindertenrechts entwickelt. Auch wenn die Rechtsprechung Entscheidungen nicht allein auf Normen der UN-BRK stützt, ist doch zu verzeichnen, dass die Konvention spürbaren Einfluss hat auf die Auslegung der Normen der Sozialgesetzbücher und damit auch auf die damit verknüpften Verordnungen und Vorschriften. Für Verfahrensbevollmächtigte, die in diesen Bereichen tätig sind, ist die Kenntnis der UN-BRK daher unverzichtbar, und der Einsatz dieser Kenntnisse kann Verfahren durchaus positiv beeinflussen – bisweilen sogar erst denkbar machen. Allerdings ersetzt die Berufung auf die UN-BRK nicht die intensive Auseinandersetzung mit den sozialrechtlichen Normen. Sie verlangt stattdessen eine eingehende Auseinandersetzung mit der UN-BRK selbst und mit ihrer Auslegung durch den UN-Behindertenrechtsausschuss in Genf. Da die UN-BRK in das komplexe Geflecht menschenrechtlicher Normen des internationalen Rechts eingebunden ist und darüber hinaus auch durch die Rechtsprechung des EuGH[30] weiterentwickelt wird, ist es gegebenenfalls zudem geboten, die Spruchpraxis der entsprechenden Konventionsgremien beziehungsweise die Rechtsprechung des EuGH in die eigenen Überlegungen einzubeziehen.[31] Häufig sind diese Quellen allerdings nur auf Englisch oder Französisch verfügbar.[32]

Mit der UN-BRK steht den Betroffenen und ihren Verfahrensbevollmächtigten zwar keine Wunderwaffe, aber ein wichtiges, wenn auch bisweilen schwierig zu handhabendes Instrument zur Verfügung. Richtig genutzt kann es dazu beizutragen, dass sich das bei allen Fortschritten der letzten zwanzig Jahre nach wie vor diskriminierende und fürsorgerisch geprägte Behindertenbild im deutschen Recht ändert - hin zu einer menschenrechtlich bestimmten Betrachtungsweise.



[30] Auch der EGMR bezieht sich bei der Auslegung der EMRK auf die UN-BRK als internationalen Standard: Glor gegen Schweiz, Urteil vom 30.04.2009 – Beschwerde Nr. 13444/04.

[32] Sie finden Entscheidungen des EuGH unter http://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/.

Literatur

UN-BRK allgemein

Aichele, Valentin (2012): Der „Gang nach Genf“ Wie effektiv sind internationale Rechtsbehelfe wirklich? In: ASR 2012, 45.

Aichele, Valentin (2011): Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis. In: AnwBl 2011, 727.

Althoff, Nina (2014): Menschenrechte nutzen - Chance und Herausforderung für die Anwaltschaft - Stärkung der Stellung menschenrechtlicher Verträge in der deutschen Rechtsordnung. In: AnwBl 2014, 402-403.

Degener, Theresia (2009): Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. In: RdJB 2009, 200-219.

Kreutz, Marcus/ Lachwitz, Klaus/ Trenk-Hinterberger, Peter (2013): Die UN-Behindertenrechtskonvention in der Praxis - Erläuterungen der Regelungen und Anwendungsgebiete. Köln.

Welke, Antje (Hg.) (2012): UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen. Berlin (mit Beiträgen von Aichele, Althoff, Banafsche, Bernhard, Gehrken, Kotzur, Krajewski, Palleit, Richter, Tolmein, Trenk-Hinterberger, Wansing, Welti).

UN-BRK sozialrechtliche Aspekte

Axmann, Jenny (2013): Einsatz von Vermögen als Diskriminierung im Sinne der UN-BRK? In: RdLH, 194.

Banafsche, Minou (2014): Schulbegleitung in Bayern zwischen Schul- und Sozialrecht. In: BayVBl, 42-46.

Banafsche, Minou (2012): Die UN-Behindertenrechtskonvention und das deutsche Sozialrecht. In: SGb2012, 440-445.

Bernstorff, Jochen von (2011): Anmerkungen zur innerstaatlichen Anwendbarkeit ratifizierter Menschenrechtsverträge: Welche Rechtswirkungen erzeugt das Menschenrecht auf inklusive Schulbildung aus der UN-Behindertenrechtskonvention im deutschen Sozial- und Bildungsrecht? In: RdJB 2011, 03-217.

Leonhard, Bettina (2014): Zur Beachtung von Art 12 UN-BRK im sozialgerichtlichen Verfahren. In: RdLH 2014, 100-101.

Luthe, Ernst-Wilhelm (2014): Zur rechtlichen Bedeutungslosigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention und ihren Risiken. In: Behindertenrecht 2014, 89-92.

Luthe, Ernst-Wilhelm (2013): Einige Anmerkungen zur Behindertenrechtskonvention. In: SGb 2013, 391-395.

Masuch, Peter (2012): Die UN-Behindertenrechtskonvention anwenden! In: DVfR Forum D 5/2012.

Palleit, Leander (2012): Systematische Enthinderung - UN-BRK verpflichtet zum Barriereabbau. In: Positionen 7. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Download über: http://bit.ly/1rVlsqA.

Schulte, Bernd (2013): Einige Anmerkungen zur Behindertenrechtskonvention - Replik zu Luthe. In: SGb 2013, S. 391ff, SGb 2013, 691-693.

Tolmein, Oliver (2011): Die Menschenrechtskonvention für Behinderte und das Gleichbehandlungsgebot – Sozialrecht unter neuem Vorzeichen. 23. Sozialrechtliche Jahresarbeitstagung, 43-54.

Welti, Felix (2013): Von der Prothese zur UN-Behindertenrechtskonvention - Herausforderungen für die Hilfsmittelversorgung. In: Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2013, 1-12.

Zum Weiterlesen

Auf der Website des Deutschen Instituts für Menschenrechte finden Sie unter dem Menüpunkt Publikationen weitere Handreichungen zum menschenrechtsbasierten Diskriminierungsschutz. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen.html (unter anderem von Klaus Bertelsmann: „Durchsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinien - Das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH“).

Ebenfalls auf der Website des Instituts sind unter dem Menüpunkt „Menschenrechtsinstrumente“ sämtliche UN-Abkommen aufgeführt sowie die dazugehörigen Fakultativprotokolle, Kern-, Staaten- und Parallelberichte, Allgemeinen Bemerkungen und Abschließenden Schlussfolgerungen (in englischer und deutscher Sprache). http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente.html

Informationen zur Monitoring-Stelle zur UN-BRK mit weiterführenden Links finden Sie hier: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/monitoring-stelle.html

Das Online-Handbuch „Aktiv gegen Diskriminierung“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte bietet umfangreiche Informationen zum Diskriminierungsschutz und zu den Verbandsrechten. Unter anderem werden die nationalen und internationalen Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten für Verbände in Gerichtsund Beschwerdeverfahren - etwa im Rahmen der Verfahren vor dem UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen - vorgestellt. http://www.aktiv-gegen-diskriminierung.de/

Das Online-Handbuch „Inklusion als Menschenrecht“ liefert viele Hintergrundinformationen und Materialien zu Behinderung, zur UN-BRK und zur Geschichte von Ausgrenzung. http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/

Umfassende und aktuelle Informationen zur UN-BRK erhält man auch auf der Seite des Behindertenrechtsausschusses. Die Materialien sind allerdings zumeist auf Englisch. http://www.ohchr.org/en/hrbodies/crpd/pages/crpdindex.aspx

Umfangreiche Recherchemöglichkeiten und Rechtssprechungsdatenbanken findet man auch auf http://www.antidiskriminierungsstelle-datenbanken.de/

Aus der Sicht der Behindertenbewegung finden sich Informationen, Materialien und Originaldokumente zu den verschiedenen Aspekten der UN-BRK vor allem auf den Seiten von www.brk-allianz.de

Viele Dokumente, Aufsätze und Gerichtsentscheidungen finden sich auch auf http://www.non-discrimination.net/ (allerdings auf Englisch).

Stand aller Internetquellen: September 2014

Quelle

Oliver Tolmein: Gleichbehandlung und die UN-Behindertenrechtskonvention in der sozialrechtlichen Praxis. Handreichung des Projekts „Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt“. Deutsches Institut für Menschenrechte 2014

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.10.2015

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