"Von der Lust sich zu wandeln"

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Referat
Releaseinfo: erschienen in: Mit Kindern wachsen, NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4; Überarbeitete Abschrift der freien Rede.
Copyright: © Christiane Thurn-Valsassina 1997

Einleitung

Ich hoffe, daß der Lautsprecher funktioniert, auch wenn ich auf und ab gehe. Ich habe gewarnt. Ich bin Südländerin, d. h. ich bewege mich viel und ich will mich auf keinen Fall hinter dem Tisch verschanzen wie ein Notar, der seine Klienten auf Distanz hält!

Als Abschluß dieser Tagung würde ich gerne den Bogen weit spannen und mit Ihnen über die Kostbarkeit des Lebens sinnieren.

Denn wie können wir es wagen uns Kindern zu nähern, wenn wir nicht ganz tief in allen unseren Zellen von der Kostbarkeit des Lebens wissen?

Es gibt einen wunderschönen Satz in der Bagavad Gita - in bisher allen religiösen Traditionen kann man ihn sinngemäß wiederfinden, er heißt: "Es wird immer nur Einer geboren: der Herr". In jedem, dem ich begegne, begegne ich dieser Pracht der Präsenz; und wenn ich die nicht in mir einsinken lasse, diese Botschaft der Kostbarkeit des Lebens, die mir in jedem Menschen begegnet, dann kann ich einfach nicht von Begegnung sprechen!

Das erste kostbare Prinzip des Lebens ist der Wandel

Als ich ein Kind war, hatten wir sehr viel Literatur in Frankreich und wir lebten noch in Büchern. Es gab damals nicht diese schrecklichen diabolischen Großmütter, wie ich sie nenne, diese Fernseher und wir lebten in Büchern, d. h. wir waren frei, wir konnten blättern und über- blättern und genau dahin gehen wo es uns hinzog. Damals las ich mit Begeisterung, es ist seltsam, Bossuet. Er war der größte Prediger in der Zeit von Ludwig XIV. im 17. Jhdt. Und er hatte die Gabe, von der ich mein Leben lang geträumt habe, einfach ein ganzes Auditorium zum Vibrieren zu bringen.

Da gibt es eine Predigt, die er vor dem ganzen Hof hielt und die berühmt ist - "Ihr glaubt, Ihr habt die Macht, Ihr glaubt, Ihr seid aus Stein, Ihr steht da unrüttelbar - in Wirklichkeit, in demselben Augenblick lauert der Tod, hinter jedem von Euch sehe ich ihn stehen. Ihr glaubt da nebeneinander zu stehen, in Wirklichkeit entfernt sich jeder schon in die weiteste Ferne, schon aufgesaugt von seinem Tod. Ihr glaubt da zu sein und Ihr seid schon ganz lange weggerissen in einen dunklen Abgrund." Irgendwie so waren diese Worte. Das ist mir sehr stark geblieben, dieses Bild von dem Weggerissenwerden, von dem Weggetragenwerden. Nur möchte ich das nicht mit Angst gekoppelt wissen. Bossuet wollte alle aufrufen, schnell in dem Schoß der Kirche Zuflucht zu finden, aber die Kirche kann nicht ein Pförtnerhaus sein, am Eingang vom Paradies, aus dem wir rausgeschmissen worden sind! Das geht nicht! Das Leben muß durchgegangen werden! Wir müssen in diesen Fluß hineinsteigen, in diesen Fluß des Lebens und es nicht mit Angst verbinden. Natürlich leben wir in einer Gesellschaft, in der uns Angst überall vermittelt wird. Versicherungen abschließen, statt Bossuet zu lesen. Man versichert uns gegen alles, für alles, gegen alle. Man fordert Sicherheiten, wo es nur geht. Versichert sein gegen Tod, gegen Leben, gegen Liebe, gegen Kinder, gegen alles. Aus dieser Angst müssen wir aussteigen. Wir müssen verstehen lernen: wer es wagt sich in den Strom des Lebens zu begeben, der wird getragen.

Das Leben fängt erst an weh zu tun, wenn ich gegen den Strom schwimme, wenn ich diese Vergänglichkeit nicht in meiner Tiefe ak- zeptiere. Ich bin geladen zum Fest des Lebens, wie alle hier! Wir sind geladen zum Fest des Lebens. Ist das ein Benehmen sich an den Vorhängen zu halten und an den Türschnallen, wenn das Fest zu Ende geht? Das frage ich Euch. Diese Vergänglichkeit das ist ja das Kost- bare. Es gibt eine wunderschöne Geschichte aus dem Chassidismus: Ein Kind, das gerade seinen geliebten Vogel verloren hat, frägt seinen Vater: "Vater, was hat denn Gott, der Herr, gedacht, indem er den Tod erfunden hat?" Da sagt der Vater: "Wir wüßten nicht, wie kostbar die Dinge dieser Erde sind, die Menschen, die Wesen, denen wir begeg- nen, wenn sie nicht bedroht werden vom Tod. Wir wüßten nichts von dieser Kostbarkeit!"

Und das ist auch etwas, was mich immer frappiert hat als Kind, als ich die griechische Mythologie studierte und sah, daß die Götter anstatt bei ihren Göttinnen da oben zu bleiben, herunter kamen und sich in Frauen verliebten. Und jetzt frage ich mich: Was ist der Unterschied zwischen Göttinnen und Frauen? Die Göttinnen, die hat man für die Ewigkeit.

Und bei den Frauen fanden die Götter den Zauber, diese Kostbarkeit des Augenblicks, - ein Augenblick, der unwiederbringlich ist. Ein Mo- ment, von einer Einmaligkeit, absolut nicht Wiederholbares, das ist ja das Kostbare der Existenz. Diese Qualität, wie dieser Moment, wo wir hier versammelt sind, diese Konstellation von Menschen, die hier in diesem Raum ist, die wird sich nie wieder auf dieser Erde wiederholen, wenn auch die Welt noch Millionen Jahre dauert. Dieser Augenblick - und nie wieder. Und stellt Euch vor, wenn wir ewig wären! Mich hätten heute nicht zehn Pferde aus dem Bett gebracht, wenn ich wüßte, ich könnte Euch in 1506 Jahren sprechen! Das ist einfach der Zauber der Vergänglichkeit. Und in jeder Begegnung, in jedem Augenblick werden wir neu geboren. Wir haben nur eine Pflicht, sagt der Rabbi Nahman, jeden Tag neu geboren werden! Uns in diese häßliche Gewöhnung hineinsaugen lassen: Ich kenne eh das Leben gestern und morgen und heute, es ist immer gleich!

Wer kennt die Geschichte von Herrn K. von Berthold Brecht? Herr K. hat eine Frau und eine Geliebte. Die Frau, die sagt immer: "Ich kenn Dich, ich kenn Dich, ich kenn Dich so gut. Ich weiß wann Du Hunger hast, ich weiß wann du Durst hast, ich weiß wenn Du schläfrig bist, ich weiß, ich weiß, ich weiß...

Die Geliebte von Herrn K. sagt: "Ich weiß nichts von Dir, ich weiß nur, daß mein Herz schlägt, wenn Deine Schritte sich nähern..." In dieser Geschichte plädiere ich nicht unbedingt für Ehebruch, aber sie schildert herrlich zwei verschiedene Arten auf dieser Welt zu sein. Sind wir nicht dauernd unsere eigenen Ehefrauen? Ich kenne mich, ich weiß, ich weiß, ich weiß, das mag ich nicht, Spinat usw. das alles mag ich nicht, ich kenn das alles schon, die Schule beginnt wieder und Zähne putzen und alles wiederholen. Oder aber ich kann in den Tag hineingehen wie die Geliebte von Herrn K. und dastehen und sagen: "Alles neu heute morgen, ich weiß nichts von diesem Tag, der jetzt anbricht, aber wirklich nichts. Was hält er für mich bereit? Das ist doch eine andere Art auf dieser Welt zu sein, oder? Und jeden Menschen, den ich begegne! Neu zu entdecken jeden Morgen oder für immer! Wir glauben, daß wir von der Erfahrung anderer Menschen zehren können. Ich sage Euch: Wirklich: es ist unmöglich, es kann niemand für mich mein Brot kauen. Es kann niemand für mich diese Rose riechen. Für mich kann niemand jemanden umarmen. Ich muß selbst in diese Erfahrung gehen. Ich muß die Antwort finden. Ich kann natürlich hinhören. Es ist faszinierend, Erfahrung auszutauschen. Ich kann hören, wie du deinen Lebensweg gefunden hast, aber ich kann nicht von dir verlangen, mir meinen Lebensweg zu erklären. Ich kann nur Erfahrungen mit dir austauschen, aber ich muß mein Leben leben. Ich muß diese Erfahrung und diese Antwort finden, erfinden.

Vor ein paar Jahren habe ich ein starkes Erlebnis gehabt. Ich bekomme auch mit den Jahren immer mehr Mut. Wozu wird man alt, wenn man nicht wirklich mutiger wird? Ich kann Euch versichern, das lohnt sich. Vor drei, vier Jahren war ich zu einem Kongreß geladen, wo ich vor Lehrern von behinderten Kindern sprach und da hatte ich mich sehr vorbereitet, ich wollte wirklich etwas sehr Besonderes machen, sehr klar, sehr gut strukturiert. Ich hatte alles vorbereitet und dann kam ich und stand da vor diesen Menschen und ich trug vor. Ich sehe dieses Bild: ich ruderte und ruderte und der Strom kam mir entgegen und ich machte weiter und ich spürte, ich brauche immer mehr, mehr, mehr Willen um mich durchzukämpfen. Es will mich wo anders hinziehen, und irgendwann hat es mir alle Ruder weggerissen und ich fing an, von etwas anderem zu sprechen und habe total zur Seite gelassen, was ich vorbereitet hatte.

Ich erinnere mich ganz genau, was ich dann gesagt habe. Ich sah diese Bilder, Kirlian - Photographien werden sie genannt, die die Aura so gut von Blättern, von Bäumen, von Blumen, Lebewesen, Menschen abbilden. Fasziniert hatten mich zwei Blätter: ein Blatt war ganz und ein Blatt war mit einer Schere angeschnitten worden und es hatte trotzdem seine komplette Aura. Das heißt: Auch abgeschnitten war das Blatt - als göttliches Abbild - perfekt und vollkommen. Auch in ihren Behinderungen, in ihrer Begrenzung müssen wir die Menschen als perfekte Wesen begegnen, die sie ja sind hinter dem Schein. Am Ende des Vortrages kamen Menschen zu mir und sagten: "Das war gerade das, was wir diesen ganzen Morgen diskutiert hatten und wir suchten die Bilder und die sind gekommen mit diesen Worten, die Sie gesagt haben." Es hat mich tief berührt, Sie verstehen das, ich spreche nicht aus der Willens-Ebene. Ich frage mich - wie kann ich Menschen dienen, zu denen ich spreche, wie kann ich etwas auffangen, das im Raum ist und dem eine Antwort geben. Ich bin eine Frau, ich bin dieses Wesen der Hoffnung, des Aufnehmens, des Antennenseins, des Em- pfangens. Ich möchte antworten auf das, was ist, nicht kommen mit einem fertigen Paket und es abliefern.

Bei diesem selben Kongreß haben wir dann einen Erfahrungsaustausch gemacht und eine junge Frau erzählte folgende Geschichte: Sie wurde gleich nach ihrer Aus- bildung in einem Waisenheim angestellt und man hat ihr die Nacht- wache anvertraut. Sie hatte die Kinder durch die Nacht zu bringen und das war so wahnsinnig schwer für diese junge Frau. Sie hatte Wochen und Monate Alpträume, weil sie spürte, daß sie es nicht meistern konnte. Und dann kam es zu einer unerträglichen Situation, wo eine Nacht ein Kind nicht mehr aufhörte zu schreien und sie dachte, sie würde verrückt. Sie hat dem Kind die ganze Nacht zugeredet und alles mögliche getan und irgendwann wagte sie etwas, was plötzlich in ihr aufbrach. Sie schlüpfte in das Bett von diesem Kind, nahm es an sich und lag da bis es Tag wurde mit diesem endlich eingeschlafenen Kind. In dieser Nacht hatte diese junge Frau ganz allein für ein Kind den Fluch der Einsamkeit aufgelöst und den Abgrund der Verzweiflung zuge- schüttet!

Und jetzt stellt Euch vor, daß man dann daraus eine Theorie macht! Alle Kinderhelfer, wenn ein Kind schreit, müssen ins Bett! Nein, aber das ist ja das, was wir machen! Wir vertrauen nicht. Kaum hat jemand etwas gefunden, theoretisiert man es. Diesen Mut: "Mein Gott: Ich weiß nicht weiter, aber vielleicht weißt Du weiter'!" Dann kommt die Kraft. Ab diesem Moment kann dir nichts mehr geschehen. Wenn wir vertrauen, wenn wir nicht weiter können, dann meldet sich etwas und trägt uns hinüber.

Dieses Vertrauen, das dem Bauer in einem Stück von Anzengruber sagen läßt: "Auch sechs Füße unter der Erde kann dir nichts ge- schehen! Nicht einmal der Tod kann dir drohen, denn Du kannst nie woandershin fallen als in Seine Hände!" Wenn ich einmal diese Er- fahrung gelebt habe, kann ich es wagen, meiner Antwort zu glauben. Diese junge Frau hatte für diese Nacht die Antwort bekommen!

Aber Achtung, mich nicht mißverstehen! Es ist nicht so, daß ich sag: Lernt nichts mehr. Wartet nur auf die Intuition des Augenblicks. Ganz im Gegenteil: lernt so viel Ihr könnt, nehmt soviel Ihr könnt auf, und erst dann alles vergessen! Alles was ich weiß ist der Kompost, auf dem die neue Antwort wächst. Vor der Situation nackt und jungfräulich stehen - das ist es! Es muß schon ein guter Kompost vorhanden sein. Damit dann wirklich im Moment das Richtige sprießt.

Mein Blick schafft den, den ich anschaue

Der zweite Punkt: die Konsequenzen vor dieser Haltung: Wie stehe ich vor einem anderen Menschen? Kann ich ihm begegnen, wage ich neu zu sein? Wie mache ich es nur, diesem Menschen jeden Morgen eine Chance zu geben, den Kindern, die Euch anvertraut werden, jeden Morgen eine Chance geben? Es gab ein Experiment in Amerika, vielleicht haben manche davon gehört, ich glaube der Psychologe heißt Rosenbaum, ich bin mir nicht sicher. Da wurden in einer Schule den Lehrern am Beginn des Jahres die falschen Zeugnisse gegeben, das heißt, die Klassenbesten bekamen die Zeugnisse der Klassenletzten, die Klassenletzten die Zeugnisse der anderen. Am Ende des Schul- jahres war diese fiktive Situation Realität geworden! Bitte sich von dieser Botschaft erreichen zu lassen!!!

Mein Blick schafft den, den ich anschaue. Wenn ich ihm nicht diese Chance gebe, diese Chance, die die Geliebte vom Herrn K. dem Herrn K. gibt, neu zu sein, bin ich kein Lehrer. Gestern warst du unerträglich, vergessen, weg. Heute gebe ich dir eine neue Chance, denn heute ist ein ganz anderer Tag. Ich habe alles vergessen, ich weiß nichts von gestern. Das ist auch Wagnis und eine Disziplin. Ich weiß nichts von dir. Überrasche mich, ich bin offen, begegne mir! In dir liegen alle Möglichkeiten. Einmal war ich als junges Mädchen am Bahnhof von Brügge, seltsam, ich war nie in dieser Stadt gewesen. Ich stehe da auf dem Gehsteig, und eine Frau kommt auf mich zu, reicht mir die Hand und ruft .... aahh!!!! und ich sag, Mein Gott! Ich muß sie wahrscheinlich auch grüßen, ich kenn sie gar nicht. Und dann rast sie an mir vorbei und grüßt jemand hinter mir. Dieses Bild hat mich nie verlassen, denn ich wußte, sie muß mich verwechseln. Aber ließ mich darauf ein.

Nun seht ihr, genau das ist es, was uns passiert, wenn wir in unsere Familien geboren werden. Da stürzen sich alte Tanten auf uns und sagen aahhh!!! Das ist ja der Christian, Paul, die Marie, aaaahhhh schaut dem ähnlich und dem und dies und so weiter. Jeder Identität liegt eine Verwechslung zugrunde. Solange halten sie mich alle für einen anderen, daß ich dann endlich dieser Mensch werde. Die Blicke der Eltern und Erzieher üben auch so einen Druck auf uns aus. Wir werden in ein Gleis reingeschoben und fertig! Es gibt Narren, Ihr kennt sie vielleicht, die halten sich für Napoleon. Gut, ist nicht schlecht, aber wir sind alle diese Narren. Du hältst dich für die Maria, du für den Paul, du für den Johann ... Jeder hält sich für den, für den man ihn irgendwann gehalten hat. Es ist auch schon in Ordnung, wir müssen ja mit einer Arbeitshypothese beginnen, aber es ist trotzdem alles offen. Es wohnt ja nicht nur ein Mensch in dieser Haut. Eine ganze Sippschaft ist da beheimatet. Und das Schlimmste ist das Ungelebte. Das Ungelebte verfolgt uns bis zum Totenbett. Was aus mir blühen will, was sein will, verfolgt mich, wenn ich's nicht eingehe.

Da gibt es eine schöne tibetische Geschichte: Zwei Mönche reisen durch die Welt und wandern und plötzlich kommen sie in ein Dorf, und da steht ein wunderschönes Mädchen mit gestickten Kleidern. Es geht gerade zu einem Fest. Nun ist der Bach übergeflossen und es kann nicht über diesen Bach ohne seine kostbaren Kleider zu beschädigen. Da neigt sich ein Mönch, nimmt es in den Arm und trägt es rüber. Dann wandern die beiden weiter und nach ein paar Stunden sagt der zweite Mönch mürrisch: "Eigentlich war es eine Schande, daß du das Mädchen in die Arme genommen hast und über den Bach getragen hast". Und da sagt der andere: "Es hat zwei Minuten gedauert und du trägst sie schon seit fünf Stunden".

Es sind Dinge die gelebt werden wollen auf dieser Erde. Ich kann mir nicht ersparen zu lieben, zu leiden, auch enttäuscht zu werden, auch verzweifelt zu sein, auch Verrat zu erleben, auch alles was ein Men- schenleben ausmacht. Ich kann dem nicht entkommen. Wenn ich an meine Kraft kommen will, muß ich durch all diese Phasen des Seins durchgehen. Im Vertrauen, es meint nicht meine "Zerstörung"! Alles Leid, das uns begegnet auf dieser Erde, meint nie unsere Zerstörung. Es meint: geht durch und wachse heraus!

Es ist so ein Klischee zu sagen, daß wir wirklich aus allen Prüfungen geboren werden. Wenn man zurückschaut auf eine Existenz: das was am meisten weh getan hat, erweist sich manchmal als das größte Geschenk. Die Menschen, die uns am meisten zu leiden gegeben haben, haben uns auch heraus- gefordert bis zum Letzten. Es gebührt ihnen unsere Dankbarkeit, soweit geht es! Dieser Durchgang durch ein Leben! Es gibt für alles eine Zeit unter der Sonne. Eine Zeit geboren zu werden, eine Zeit zu sterben, eine Zeit zum Feiern, eine Zeit Trauer zu tragen, eine Zeit zu nehmen, eine Zeit, um zu zerreißen, eine Zeit zum Steine sammeln, eine Zeit, um Steine zu werfen, eine Zeit, um zu bauen, eine Zeit, um das Gebaute abzureißen, eine Zeit zu umarmen, eine Zeit sich der Umarmung zu verweigern. Es gibt eine Zeit für alles unter der Sonne. Dieser Durch- gang, diese Verwandlung sind für mich notwendig, wie auch diese daraus entstehende neue Erfahrung, die ich über mich und über das Leben, über das Sein bekomme. Im Teller des Lebens kann ich nicht die guten Stücke herausnehmen und die schlechten zur Seite stoßen. Der Mut der Annahme! Alles wie ein Geschenk annehmen und verstehen, daß mich das Leben nicht zerstören will. Es geht soweit, daß ein einziger Blick, wenn es ein Blick von jemandem ist, der durch alle Phasen gegangen ist und schon an seine Lebendigkeit gekommen ist, einen aufrichten kann.

Jeder von uns soll versuchen so einem Moment in seinem Leben nachzuspüren, wo ihn ein Blick aufgerichtet hat, ihm den Mut gegeben hat aufzustehen und zu sein. Manchmal hat man diesen Menschen nicht einmal Danke gesagt. Ich habe auch meine Theorien, die der Wind dann wieder verbläst, aber ich habe die Vermutung, daß keiner von uns in diesem Raum sitzen würde, keiner überlebt, wenn nicht einmal ein Blick ihn willkommen geheißen hätte. Blicke der Anerkennung und der Liebe haben uns aufgerichtet. Eine befreundete Therapeutin hat mir einmal folgende Geschichte erzählt, sie arbeitete mit einer jungen Frau, die anorexisch und in der tiefsten Verzweiflung war und nichts konnte ihr helfen. Meine Freundin hat immer gesucht, wo sie ansetzen könnte. Sie dachte, irgendwo in der Erinnerung dieser Frau muß ein Erlebnis sein, das ihr erlaubt hat, solange doch zu leben. Irgendwas muß gewesen sein. Und sie ging suchen Tage um Tage, bei jeder Begeg- nung mit dieser Frau stellte sie sich die Frage: wo ist dieser Anker und wenn ich den finde, kann ich diese Frau aufrichten!

In unserem Leib ist ja unsere ganze Geschichte gespeichert. In den Zellen. Alles was wir je erlebt haben ist irgendwo im Körper. Manchmal, kommt etwas wie eine Blase aus einem Sumpf empor und plötzlich sieht diese Frau folgende Szene: Sie ist in der Schule und da kommt eine neue Lehrerin, für zwei Tage, weil die andere krank ist. Und sie sieht das Kind mit diesem traurigen Blick und in der Pause sagt sie: "Komme zu mir in mein Zimmer, ich mache dir einen Kakao." Und dann kommt diese Frau und hält in beiden Händen ein "Bol", das ist eine riesige französische Tasse, und stellt sie vor sie hin.

Und in diesem Augenblick weiß dieses Kind, ich bin gemeint, ich bin gemeint, das meint mich! Diese Tasse meint mich! Ich werde geboren durch den Menschen, der mich meint. Ganz persönlich, ich. Und ab diesem Moment, wo diese Erinnerung aufkommt, tritt bei dieser Frau eine Genesung ein, weil sie den Anker hat, um sich aus der Ver- zweiflung zu ziehen. Und wenn wir es wirklich bedenken, was bedeutet es?

Wir können in jedem Augenblick mit unseren Urteilen Menschen vernichten, wirklich vernichten. Es gibt einen Stamm in Afrika, es wurde mir von einem Freund erzählt, bei dem holt man, wenn jemand in der Sippe krank ist, alles zusammen und fragt: "Wer hat über diesen Menschen ein Urteil gefällt? Und es wird solange gesprochen und palavert bis man rausfindet, wer ihn durch seine negative Einstellung krank gemacht hat. Das ist Kultur. Das ist der Umgang von Menschen mit Menschen, wie es uns aus so vielen anderen Kulturen entgegen- schwappt. Dieses wirklich Achtvolle, dieser achtsame Umgang mit- einander, den wir oft in der Massengesellschaft, in der wir uns bewegen, vergessen haben! Aber durch so kleine Beispiele werden wir wach gerufen: jeder von uns ist das Zentrum des Universums! Am Ort, an den mich das Schicksal gesetzt hat, kann ich die Welt verändern, kann ich Unendliches bewirken. Durch diesen Blick der Liebe verwandelt sich alles. Ich sitze auf diesem Tisch, es ist wie ein Ameisenhaufen, wenn sie es anschauen mit einem gewaltigen Mikroskop, jedes Atom ist ein Lebewesen. Alles bewegt sich, alles fließt. Aber in diesem Wandel gibt es einen roten Faden. Und es ist die Liebe. Ach, schon wieder die Liebe. Wir haben so oft von der Liebe sprechen gehört, von Menschen, die nicht waren, was sie sagten, daß wir manchmal einfach nicht zuhören. Das ist der Grund, warum ich sehr oft Bilder aus anderen Kulturen hole. Durch andere Perspektiven sieht man alles plötzlich in einer neuen Frische und horcht auf.

Zum Schluß

Als Abschluß, um dieses Vertrauen in die Verwandlung noch tiefer zu wecken, möchte ich ein paar Worte über die Phasen des Lebens, wie ich sie in meinem Buch "Zeiten des Lebens" - Christiane Singer - Diederichs Verlag, analysiert habe, sagen.

Eines kann ich Euch versichern, es wird uns nie etwas weggenommen, ohne daß andere Kostbarkeiten uns entgegenkommen. Vielleicht ver- weile ich einen Moment bei Lebenszeiten, die Ying Qualität, die weib- liche Qualität haben und das sind die, die am meisten unter dem Beschuß unserer Gesellschaft kommen und zerstört werden. Das sind natürlich die Kindheit und die Adoleszenz, die nichts mit der Jugend zu tun hat. Die Adoleszenz ist eine unverwechselbare Zeit, wo ich noch nicht meiner geschlechtlichen Identität zugeordnet werde, wo ich noch das Ganze besitze, die ganze Welt, die ganze Öffnung. Das ist die Tragik z. B. von einer zu frühen Sexualität, es hat nicht einmal mit Moral etwas zu tun, es hat nur mit den Gesetzen des Seins zu tun. Die Adoleszenz meint diese Öffnung zur ganzen Schöpfung hin, ich bin noch nicht Mädchen, noch nicht Bub, noch nicht Frau und noch nicht Mann, alles ist mir offen, es ist das magische Zeitalter des Lebens, wo ich alles begreife, alles erfahre und wenn ich das überhudle, wenn ich das so ganz wegwische, werde ich um diese Dimension der Erfahrung, der Ganzheit, bestohlen.

Die bedrohteste Zeit unserer Kindheit, die mit aller Gewalt mit den Bildern der Erwachsenen vollgestopft wird, mit fremden Bildern, anstatt daß ein freier Raum, zum Spiel, zum Erforschen der Welt gegeben wird. Wer diese Kindheit nicht erlebt hat, diese Adoleszenz als freies Spiel, dem wird das Alter sehr schwer fallen. Denn das ist dasselbe: "Wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, es heißt nicht bleibet, Jesus hat nicht gesagt, bleibet, das wäre schlimm. Wir müssen diesen "Umweg" durch ein langes Leben gehen - mit allen Kämpfen und Erfahrungen -, erst dann wird mir das Mysterium des Alters offenbart. Es heißt im Baum des Lebens in der Kabala: Es blühen die inneren Gärten, wenn die Äußeren verblüht sind. Das kann man spüren, wenn man sich nicht gleich in Lifting und Hormonkuren stürzt. Ja das ist sehr wichtig zu wissen, denn ich zerstöre, was da in mir vorgeht. Dieser Wechsel z. B., der Frauen und Männer betrifft, meint Wandel, meint den Übergang vom Sichtbaren in die unsichtbare Schönheit, in die geistige Kraft. Da muß ich mich natürlich ankoppeln können an den Bildern der Kindheit, mit diesem Vertrauen von damals. Wir sterben und wir leben von den Bildern, die wir in die Welt setzen. Wenn wir uns fürchten, dann wird uns das serviert, wovor wir Angst haben, da entkommen wir nicht. Die Angst ist die größte Realitätsschöpferin dieser Welt, die diabolischste. Die Angst bringt auf die Welt was ich fürchte. Das Erste ist heraus aus dieser Angst und zurück ins Vertrauen. Und wenn ich mich dann von diesem Vertrauen tragen lasse, dann kommen mir solche Reichtümer! Wißt ihr was Altwerden bedeutet? Das bedeutet Zeuge des Göttlichen werden.

Ich wüßt nicht wie mit der Reife - ich sehe fast nur junge Menschen - die Dankbarkeit, das Berührtsein über die Schönheiten dieser Welt, der jungen Menschen, der Kinder wächst. Es kommt die Dimension dazu, das einem manchmal fast die Luft wegnimmt. Man wird zum Zeugen des Göttlichen, man wird auch noch zu dem, der Segen erteilt ohne Worte, aber in Dankbarkeit. Gott hat ja nur unsere Hände, um das zu vollbringen, was es auf dieser Erde zu machen gibt. Und dann im Alter kann ich diese Transparenz bekommen, kann ich Zeugin der Pracht der Schöpfung werden. Es bedarf dieser Zeugen, es bedarf ihrer, sie halten die Welt aufrecht, diese Menschen, die an die Heiligkeit dieser Welt glauben, sie tragen die Welt. Ihr werdet doch nicht glauben, daß die Welt noch existieren würde, wenn sie nur aus dem Stoff, aus dem unsere Nachrichten gemacht werden, bestehen würde! Das ist doch nicht das, was die Welt aufrecht erhält.

Die Welt wird getragen von uns allen, von Menschen, die jeden Tag, jeden Morgen es wagen, eine liebe Geste, eine Geste der Liebe zu machen, einem Kind heiße Schokolade geben, einem Mann über den Kopf streicheln, ein Gedicht schreiben, einen Azaleentopf gießen. Diese tausenden Gesten, die nicht in der Zeitung stehen, die tragen die Welt. Das ist das Fundament der Welt.

Ein Baum, der gefällt wird, sagt ein tibetisches Sprichwort, macht mehr Lärm als ein ganzer wachsender Wald. Das sind wir, Freunde, das sind wir, dieser wachsende Wald, der die Welt trägt. Von dem hört man nichts, wozu sollte man auch? Aber wenn Ihr Euch hinsetzt im Wald und hinlauscht, da wächst die Liebe, da trägt die Liebe, das ist die Welt. Jeder hat diese Macht dann irgend ein Zeuge zu sein oder zu werden von dem Ort, wo das Leben ihn hingestellt hat. Alte Leute haben mir dieses Vertrauen in diesem Leben gegeben. Ich stamme aus dem Süden Frankreichs. In Marseille, da gab es so Bänke dem Meer entlang, wo die alten Leute gesessen sind. Diese alten Leute saßen da auf- gefädelt, so wie Perlen und sahen in das Meer hinein und sprachen miteinander. Und wir Kinder spielten zwischen diesen Bänken und jedesmal, wenn ein Ball von einem dieser alten Leute, die da saßen, aufgefangen und mir gereicht wurde, sah ich in ihre Augen. Das habe ich nicht vergessen, ich konnte mich nicht sattsehen, an dem was ich in den Augen dieser alten Leute sah!

Ich sah noch einmal das ganze Meer, die Ewigkeit, widergespiegelt in diesen Augen, ich hab in die Ewigkeit geschaut, ich wußte, mir kann nichts geschehen.

Gut, ja, ich muß aufhören, ich muß nach Hause gehen! Und Sie auch!!

Zur Person:

Dr. Christiane Thurn-Valsassina

Geb. 1943 in Marseille, Studium der franz. Literaturwissenschaften, 7 Jahre Gastdozentin in der Schweiz, lebt seit ihrer Heirat im Waldviertel. Sie hat bisher 10 Romane verfaßt.

Quelle:

Christiane Thurn-Valsassina: Von der Lust, sich zu wandeln

Erschienen in: Mit Kindern wachsen, NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4

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Stand: 24.05.2005

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