Institutionelle Eigendynamik, Unübersichtlichkeit und Ambivalenzen im Bildungswesen: Wo steht Inklusion?

Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Feyerer, Ewald [Hrsg.]; Prammer, Wilfried [Hrsg.], Prammer-Semmler, Eva [Hrsg.], Kladnik, Christine [Hrsg.], Leibetseder, Margit [Hrsg.], Wimberger, Richard [Hrsg.]: System. Wandel. Entwicklung. S. 93-104 Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2018.
Copyright: © Julius Klinkhardt 2018

1 Die Logik von Dienstleistungssystemen

[1]Das Bildungswesen im deutschsprachigen Raum kann durch die Gleichzeitigkeit von einer nach wie vor ständisch organisierten äußeren Bildungsstruktur und einer dominant meritokratischen inneren Bildungskonzeption charakterisiert werden. Jenseits von verschiedenen Versuchen direkter bildungspolitischer Gestaltung erfolgt die Steuerung darüber, dass das Bildungssystem einer für die Moderne typischen Eigendynamik überlassen wird. Modernisierung heißt, dass der öffentliche Bildungssektor ohne weitgehende Privatisierung einem quasi internen Mechanismus des ,Dienstleistungs-Markt-Modells‛ unterworfen wird, das systemlogisch an der Ausweitung von Dienstleistungen und Monopolbildung orientiert ist. Das Bedürfnis nach Bildung wird in einen Mangel an Bildung umgedeutet. Die Zuschreibung Sonderpädagogischer Förderbedarf ist nur eine Zuspitzung der allgemeinen Sicht auf Kinder und Jugendliche, die davon ausgeht, dass diese auf vorgegebene Ziele hin gebildet werden müssen, dass sie – in Tradition der Aufklärung – zivilisiert werden müssen. Dies arbeitet der Logik von Dienstleistungssystemen zu. Der amerikanische Sozialwissenschaftler John McKnight stellte schon 1979 fest, dass die professionellen Dienstleistungen Bedürfnis als Mangel definieren und dem Klienten drei Dinge suggerieren: „1. Du leidest unter Mängeln. 2. Du selbst bist das Problem. 3. Du hast ein ganzes Bündel von Problemen auf dich vereinigt. Aus der Perspektive der Interessen und Bedürfnisse der Dienstleistungssysteme lauten diese drei Mängel-Definitionen so: 1. Wir brauchen Mängel. 2. Die ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist das Individuum. 3. Die produktive ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist ein Individuum mit vielen Mängeln“ (McKnight 1979, 48). Die Folgen der Umdeutung des primären Bedürfnisses nach Bildung in der Konstruktion Sonderpädagogischer Förderbedarf in einen individuellen Mangel wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren als self-fulfilling prophecy beschrieben:

„Aus ständig zugeschriebenen und damit erwarteten Eigenschaften werden schließlich tatsächliche. [...] Stigmatisierte übernehmen infolge des Konformitätsdrucks Verhaltensweisen, die man bei ihnen vermutet. Entsprechend passt sich ihr Selbstbild mit der Zeit den Zuschreibungen sowie den Bedingungen ihrer sozialen Situation an. Häufig beginnt damit eine Karriere, in der sich bestimmte Verhaltensmuster des Stigmatisierten und Reaktionen seiner Umwelt gegenseitig bedingen“ (Hohmeier 1975, o.S.).



[1] In Antwort auf einen Grundsatztext von Annedore Prengel (2015) „Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung“ reagierten mehr als 40 Wissenschaftler_innen mit Kommentaren auf Fragen zur Inklusion (in: EWE 2/2015). Auch Volker Schönwiese hat eine Antwort verfasst; der Text „Die Schule nicht ihrer Eigendynamik überlassen“ (2015) ist Grundlage des vorliegenden Beitrags. Eine Reihe bekannter Inklusionsforscher_innen, die über Jahrzehnte theoretisch und praktisch die Integrations- und Inklusionsdebatten prägten, waren jedoch nicht unter den Autor_innen, so auch Andreas Hinz und Ines Boban. Uns erscheint es wichtig, diese Grundsatzdebatte weiterzuführen und Andreas Hinz und Ines Boban dabei mit einzubeziehen, um das manchmal zum Verzweifeln mächtige Spannungsverhältnis zwischen Reform, Reformismus, Bildungsökonomie, Bildungstheorie und den realen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Bildung anzusprechen. Welche Antworten haben wir auf die Tendenzen einer sich aktuell wieder erschreckend spaltenden Gesellschaft? Ist hier – wohlverdienter – Rückzug überhaupt durchführbar? Wir meinen: Es ist nicht möglich nicht zu kommunizieren und es ist nicht möglich nicht politisch zu sein. In diesem Sinne hoffen wir, so schwer es manchmal erscheinen mag, auf viele weitere Auseinandersetzungen mit Andreas Hinz und Ines Boban über die Ziele, Grundfragen und Entwicklungen von (schulischer) Inklusion!

Der Text hier ist ein leicht aktualisierter Wiederabdruck aus: R. Kruschel (Hrsg.) (2017): Menschenrechtsbasierte Bildung. Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Klinkhardt Verlag, 17-26.

2 Im Griff hegemonialer Umgarnung?

Die grundlegende Frage in diesem Zusammenhang ist: Gelingt es der inklusiven Pädagogik basierend auf dem Prinzip der Vielfalt und der Anerkennung von Verschiedenheit (vgl. Prengel 2015) eine kontrahegemonische Schule (Lopez-Melero 2000) zu verwirklichen, die institutionelle Eigendynamiken und hegemoniale Strukturen im Bildungswesen zu durchbrechen vermag, oder trägt sie nicht vielmehr dazu bei, bestehende hegemoniale Verhältnisse im Bildungswesen in einer neuen Qualität zu verfestigen und zu stabilisieren? Der Erziehungswissenschaftler Armin Bernhard (2015) konstatiert in der derzeitigen Debatte um Inklusion eine verkürzte Sicht auf die Dinge, insofern gesellschaftliche Phänomene der Heterogenität und Diversität einseitig kulturalistisch und individualistisch gefasst werden, ohne dass gesamtgesellschaftliche Organisations-, Arbeits- und Lebensverhältnisse in die Analysen einbezogen werden, die letztlich wichtige Voraussetzungen für individuelle Lebenslagen und unterschiedliche Lebensverhältnisse schaffen. Dem Begriff der Inklusion, so Bernhard, fehlt die analytische Schärfe einer umfassenden Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse, mangels der die Inklusionsdebatte Gefahr läuft, hegemonialen und neoliberalen Umgarnungen anheimzufallen. Wolfgang Jantzen (2015) wiederum meint, dass eine auf Anerkennungsverhältnisse reduzierte Inklusionsdebatte ohne Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und politischer Bedingungen Gefahr läuft, „als Paradiesmetapher ins Illusionäre abzudriften“ (Jantzen 2015, 243) oder zum Einfallstor neoliberaler Strategien wird, wie es diverse Strategiepapieren der Weltbank erahnen lassen und bestätigen. In der Inklusionsdebatte mangelt es an radikaler Kritik gegenüber gesellschaftlichen Machtbeziehungen und Strukturen, die sich im Bildungswesen fortsetzen und durch das Bildungswesen reproduziert werden.

Die Ambivalenz, die dem gegenwärtigen Inklusionsdiskurs anhaftet, lässt sich an unterschiedlichen Beispielen verdeutlichen. Zum einen am Beispiel der Förder- bzw. Sonderpädagogik, die im Zuge der schulischen Inklusion einen ungeahnten Ausbau erfahren hat, und zum anderen am Beispiel bestehender hegemonialer Strukturen und pädagogischer Verhältnisse im Bildungswesen, die allein durch eine auf Anerkennung beruhende, differenzsensible inklusive Pädagogik nicht aufgelöst werden kann.

Der historischen Erziehungswissenschaftlerin Dagmar Hänsel (2015) folgend ist im deutschsprachigen Bildungswesen eine Verallgemeinerungstendenz der Sonderpädagogik zu beobachten, die Behinderung nicht länger als individuellen Mangel, „sondern systematisch als Problem der mangelnden Passung zwischen den speziellen Bedürfnissen des Kindes und den Möglichkeiten der allgemeinen Schule und ihrer Lehrkräfte“ (Hänsel 2015, 247) begreift. Behinderung wurde durch die sonderpädagogische Profession zunächst als sozialmedizinisches und seit den 1970er-Jahren in Anlehnung an systemtheoretische und kybernetische Theorien als ein Umwelt-Kind-Passungsproblem konstruiert, dass eine spezielle Förderung an separaten Schulen nötig machen soll (vgl. Pfahl 2014). Zusätzlich vollzieht sich mit der Trennung und Hierarchisierung von allgemeiner und sonderpädagogischer Profession eine Vormachtstellung sonderpädagogischer Lehrkräfte, die als Spezialist_innen für das komplexe Passungsverhältnis und als wahre Expert_innen für Inklusion fungieren (Hänsel 2015). Die Verallgemeinerungstendenzen und Expansion der Sonderpädagogik zeigen sich dabei nicht nur in den steigenden Schüler_innenzahlen an Förderschulen, sondern auch in der steigenden Zahl an Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen (Powell/Pfahl 2012). Ein Beispiel dafür ist eine aktuelle Entwicklung in Zürich (Huber 2014), wo sich unter Einführung von Integrationsmöglichkeiten innerhalb weniger Jahre die Anzahl der Schüler_innen mit Förderbedarf verdoppelt hat. Entsprechend sind die Erfahrungen in Österreich, wo sich mit der Integrationsgesetzgebung in der Mitte der 1990er-Jahre das Sonderschulsystem als Parallelsystem stabilisiert hat. Trotzdem oder gerade weil den Eltern ein Wahlrecht zwischen Sonderschule und Integration eingeräumt wurde, kam es weniger zu einer Schüler_innen-Umverteilung, sondern zu einer starken Ausweitung der Zuschreibung Sonderpädagogischen Förderbedarfs. Das Wahlrecht der Eltern hat in drei Bundesländern zu einem dualen System (two track approach) geführt, in dreien zu einem multi track approach und in den restlichen drei Bundesländern in Richtung one track approach (weniger bzw. rund 1 % Segregationsquote). Im Ergebnis zeigt sich eine massive Ausweitung der Zuschreibungen Sonderpädagogischen Förderbedarfs bei einer Integrationsquote von 60% in Österreich (vgl. Bruneforth et al. 2016). Das sich selbst steuernde und an Selektion orientierte System Schule hat eine deutliche Tendenz, anstehende Reformen über die Ausweitung seiner Zuschreibungsmacht und Verdoppelung von Strukturen zu beantworten bzw. sich über die sozial und finanziell teuersten Systemvarianten zu stabilisieren (vgl. Plangger/Schönwiese 2013). Dies ist keine Fehlentwicklung, sondern typisch für Modernisierung und an Interessensgruppen orientierte korporatistische Politiken. Dabei handelt es sich nicht um historisch kontingente oder in ihrer Auswirkung zufällige Prozesse; die Entwicklung scheint vielmehr bestimmten sonderpädagogischen Professionsinteressen und (bildungs-)politischen Zielen zu folgen (Pfahl 2014). Hier muss bemerkt werden, dass der Zuwachs an Schüler_innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass armutsbetroffene Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund als ,lernbehindert‛ oder ,sozial-emotional auffällig‛ diagnostiziert werden (vgl. Powell/Pfahl 2012).

3 Neue Differenzierungsprozesse und Verallgemeinerungstendenzen der Sonderpädagogik

Das bereits benannte gesellschaftstheoretische Defizit und Dilemma der Inklusionspädagogik wird nun deutlich:

„Der Verzicht auf die Einbindung der Diskussion um Inklusion in ein gesellschaftstheoretisches Instrumentarium, das auf gesellschaftsanalytische Begriffe von Gesellschaft, Sozialstruktur, Herrschaft und Hegemonie aufruht, signalisiert den fehlenden Willen der Disziplin Erziehungswissenschaft, pädagogisch und bildungspolitische Probleme von einer grundsätzlichen, an ihre Wurzeln gehenden Argumentationsweise her zu erschließen“ (Bernhard 2015, 117).

Das Bildungswesen und das damit verbundene Bildungsverständnis orientieren sich am postsozialstaatlichen Gerechtigkeitsprinzip der Chancengleichheit. Chancengleichheit als bildungspolitische Parole in marktförmigen Gesellschaften zielt auf die Abschöpfung und Verwertung von Humanressourcen und ihrer Umwandlung in Humankapital. Dem Bildungswesen kommt dabei die Rolle zu, allen Mitgliedern die gleichen Möglichkeiten einzuräumen, Zugang zu dem im Bildungswesen stattfindenden Leistungswettbewerb zu erhalten, die Begabtesten und Fähigsten abzuschöpfen, um sie in die gesellschaftlich entscheidenden und zentralen beruflichen Funktionen zu bringen: „Die Zuordnung von Bildung zu beruflichen oder anderen gesellschaftlich bedeutsamen Positionen wird über die Verknüpfung von Verdiensten mit individuellen Begabungen und Leistungen legitimiert“ (Becker/Hadjar 2011, 41). Das meritokratische Bildungsverständnis unter neoliberalen Vorzeichen setzt neuartige Differenzierungsprozesse in Bewegung und lässt Behinderungshierarchien entstehen, deren Rangordnung nach der Leistungsfähigkeit von Personen strukturiert ist.

„Jeder Versuch, diese Funktionen, denen auch das gesamte Bildungswesen unterliegt, durch eine auf Inklusion gerichtete Schulentwicklung umgehen oder unterlaufen zu wollen, ist daher zum Scheitern verurteilt. Wer die unter neoliberalen Verhältnissen noch verschärften Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzipien nicht thematisiert, die einer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur immanent sind, kann kaum zu einer realitätsgerechten Analyse derjenigen Bedingungen gelangen, die die an den jeweiligen Besonderheiten von Kindern festgemachten negativen Etikettierungen und Separierungsmaßnamen hervorbringen“ (Bernhard 2015, 115).

Eine inklusive Pädagogik, unter deren Oberfläche sich Verallgemeinerungstendenzen der Sonderpädagogik vollziehen und die gegenüber strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen von sozialer Ungleichheit, die der Selektionsfunktion von Bildung ursächlich zugrunde liegen, indifferent bleibt, wird zum Instrument der Hegemoniesicherung.

4 Die Ambivalenz der Entwicklung und die Chance auf nicht-reformistische Reform

Diese Entwicklung ist allerdings nicht als linear, sondern als brüchig und ambivalent zu verstehen: Schulische Inklusion ist dort, wo es unter den derzeitigen Bildungsverhältnissen gelingt sie umzusetzen, im Sinne der beteiligten Kinder und Jugendlichen deutlich erfolgreicher als der aus bildungskonservativer Sicht beschädigte Ruf der integrativen Praxis nahe legen würde (vgl. die von Plangger/Schönwiese 2013 beschriebenen vier internationalen Studien zu den Effekten schulischer Integration/ Inklusion). Die ambivalenten Verhältnisse, Widersprüche und Krisen in den Bemühungen um Integration/Inklusion (vgl. Schönwiese 2008) müssen auch nach Prozessdynamiken befragt werden, die im Sinne von nicht-reformistischen Reformen (Fraser/Honneth 2003) Handlungsräume eröffnen. Der spanische Erziehungswissenschaftler Miguel Lopez-Melero (2000) argumentiert für eine Kultur der Vielfalt, in der pädagogische Institutionen zwar keinen Ausgleich zu ökonomischen und sozialen Ungleichheiten aber als kontrahegemonische Schule Anerkennung der natürlichen Qualität der Verschiedenheit ermöglichen.

Diese Anerkennung sollte u.E. eine stärkere Akzentuierung auf die eigenmächtige und eigensinnige Aneignung der Welt durch Schüler_innen, z.B. im Sinne von Paolo Freire (1973) und Celestin Freinet (1979, Baillet 1999) erfahren, um Ansprüchen auf eine kontrahegemonische Schule und auf eine Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit im Bildungswesen zu entsprechen. Solidarität unter Kindern und Jugendlichen und ihren Lehrkräften geht über Anerkennung hinaus. Dazu bedarf es eines Rückgriffs auf bislang selten umgesetzte grundlegende Didaktiken aus der Zeit vor dem sogenannten cultural turn in den Erziehungswissenschaften. Kulturorientierte Konzepte einer Pädagogik der Vielfalt sollten sich nicht als Gegenbewegung gegen ein an Lebenswelten orientiertes kritisch-rekonstruktives Lernen etablieren, sondern soziale Ungleichheiten expliziter einbeziehen.

Bereits Célestin Freinet formuliert: „Gehen Sie immer vom Interesse der Kinder und ihrem Leben in ihrer Umgebung aus“ (Freinet nach Laun 1983, 54). Auch Wolfgang Klafki betrachtet Lehren und Lernen als „Aneignung von strukturellen, kategorialen Einsichten bzw. Erfahrungen [...] in unterschiedlichen Grundformen, auf verschiedenen Niveaus, die aufeinander aufbauen [...]“ (Klafki 1996, 156f.). Er bezeichnet damit den direkten handelnden Umgang mit Wirklichkeit (enaktiv), die Aneignung von Wirklichkeit über Medien (ikonisch) und über abstrakte Begriffe (symbolisch):

„Einer der gravierenden Mängel unseres üblichen Schulunterrichts [...] dürfte darin liegen [...], daß[sic!] verstehendes/entdeckendes Lernen gerade auch auf der abstrakt-symbolischen Stufe geradezu verhindert wird, weil man zu früh und zu ausschließlich auf dieser Ebene ansetzt“ (Klafki 1996, 159).

Stöger (1997, o.S.) wiederum fasst die Konzeption von Freire zusammen:

„Die Einsicht in die vielfältigen Querverbindungen strukturellen Unrechts braucht eine ‚Dechiffrierung‘ von Phänomenen der Wirklichkeit (z.B. der Gemeinde, der Ernährungsgrundlagen für Kleinkinder, der Abhängigkeit vom Patron, usw.). Manche Wörter stellen einen ‚Code‘ neokolonialer Verhältnisse dar.“

Es geht nach Freire um das Finden und Bearbeiten generativer Wörter und Themen, die mit den unmittelbar erfahrenen Lebenswelten zu tun haben:

„Ich muss nochmals unterstreichen, daß[sic!] sich das generative Thema nicht im Menschen abgesehen von der Wirklichkeit finden läßt[sic!], auch nicht in der Wirklichkeit abgesehen vom Menschen – noch viel weniger im ‚Niemandsland‘. Es ist nur innerhalb des Mensch-Welt-Verständnisses erfaßbar[sic!]. Wer nach dem generativen Thema sucht, fragt nach dem Denken des Menschen über die Wirklichkeit und nach seinem Handeln an der Wirklichkeit, worin seine Praxis beruht,“ (Freire 1973, 118).

All diese Konzepte gehen über eine Verankerung einer Kultur der Vielfalt hinaus, wenn sie in einem rekonstruktiv-entdeckenden Lernen (Klafki) real erlebte gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche anhand der primären Interessen von Lernenden aufgreifen.

Insgesamt schwanken derzeitige Inklusionskonzepte zwischen sozialer und kultureller Utopie, postmodernen Individualisierungs- und Kommodifizierungsprozessen, nachholender bürgerlicher Befreiung (Waldschmidt 2003) und der Spiegelung von realen Erfahrungen mit Prozessen mehr oder weniger gelungenen Unterrichts. Nancy Fraser und Axel Honneth (2003) schlagen für Gerechtigkeitsstrategien – und dies gilt auch für Bildung – einen Mittelweg zwischen Transformation, die geeignet ist, umfassende Gerechtigkeit zu realisieren, und oberflächlicherer Affirmation vor. Sie nennen dies nichtreformistische Reformen, die sie als ambivalente Strategien beschreiben und die im übertragenen Sinne taktisch innerhalb und strategisch außerhalb des Systems operieren:

„Einerseits beziehen sie sich auf vorhandene Identitäten von Menschen und kümmern sich um deren Bedürfnisse, so wie diese innerhalb eines bestehenden Rahmens der Anerkennung und Verteilung ausgelegt werden; andererseits treten sie eine Dynamik los, in deren Zuge radikalere Reformen möglich werden. Wenn sie erfolgreich sind, verändern nichtreformistische Reformen mehr als die spezifischen institutionellen Merkmale, auf die sie eigentlich zielen. Indem sie das System der Anreize und der politischen Opportunitätskosten verändern, schaffen sie neue Spielräume für künftige Reformen. Längerfristig könnten sie, durch Kumulation ihrer Effekte, auch auf die zugrundeliegenden Strukturen einwirken, die Ungerechtigkeit bedingen“ (Fraser/Honneth 2003, 110).

Ist schulische Inklusion eine nichtreformistische Reform?

5 Handlungsräume und Pädagogik der Befähigung

Zumindest besteht die Hoffnung, dass entsprechende inklusive Bildungsrahmen oder Spielräume kommunikative Validierungsstrategien ermöglichen (Markowetz 2000), die es erlauben unterschiedlichste Widersprüche auszuhalten, aufzuarbeiten und jenseits selektiver und affirmativer gesellschaftlicher Tendenzen durch Aneignung von Welt und individueller sowie kollektiver Handlungsfähigkeit zu befördern und zu wahren. Diese könnte als Strategie der Befähigung verstanden werden, in dem Personen sich in und durch Bildung gegenseitig und mit Hilfe institutionalisierter Assistenz in die Lage versetzen, handlungsfähig zu werden und selbstbestimmt zu leben. Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Es kommt u.E. darauf an, einen möglichst wenig voraussetzungsvollen Fähigkeitsbegriff zu verwenden, der Fähigkeiten nicht als individuelle Eigenschaft oder Aktivität bestimmt, sondern als relationales Phänomen, um auch Kinder und Jugendliche mit schweren Beeinträchtigungen zu integrieren (vgl. Flieger/Müller 2016). Die Inklusive Pädagogik als eine Pädagogik der Befähigung zu verstehen, heißt, das Prinzip des Interesses und der Entwicklungsoffenheit von Kindern und Jugendlichen als zentralen Ausgangspunkt zu setzen und mit dem Recht auf Bildung für alle zu verknüpfen. Das Recht auf Bildung und dessen Umsetzung verlangt daher immer den Rahmen dieses Rechts, seine Interdependenz mit anderen Rechten und seinen Inhalt zum Gegenstand des Lernens zu machen – sprich Menschenrechte als Rahmen und Menschenrechtsbildung als Teil von inklusiven Bildungsprozessen zu verstehen. Das Ziel von Menschenrechtsbildung ist es, dass sich alle – Recht- und Pflichtenträger_innen gleichsam – für die eigenen Rechte und die anderer einsetzen können und dies damit auch die Solidarität stärkt. Die menschenrechtliche Perspektive eröffnet einerseits den Blick auf das subjektive Empfinden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Prozess ihrer (Subjekt-)Bildung. Andererseits macht sie auf die Praktiken kollektiver Befähigung aufmerksam. Grundbedingung ist dabei, dass die politische Machtfrage im Bildungswesen gestellt wird und in einer Strategie der politischen Beteiligung und zivilgesellschaftlicher Einmischung das selektive Bildungssystem nicht seiner sich selbst stabilisierenden ständischen und meritokratischen Eigendynamik überlassen bleibt (Plangger/Schönwiese 2013). Dies erfordert u.a. auch, dass effiziente demokratisch gesteuerte Überwachungsinstrumente implementiert und bildungspolitische Entwicklungen von der Zivilgesellschaft kritisch begleitet werden. Die aus Engagement, Hoffnung aber auch Zorn gespeiste Begeisterung dafür, dass dies möglich ist – diese grundsätzliche Begeisterung und Hoffnung spüren wir in vielen Texten von Ines Boban und Andreas Hinz (vgl. z.B. Boban/Hinz, 2003) – dürfen wir uns als Wissenschaftler_innen trotz wachsender gesellschaftlicher Spaltungen nicht nehmen lassen.

Literatur

Baillet, D. (1999): Freinet – praktisch. Beispiele und Berichte aus Grundschule und Sekundarstufe. Weinheim: Beltz.

Becker, R. & Hadjar, A. (2011): Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildung-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften. In: R. Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. 2. Aufl. Wiesbaden: VS, 37-62.

Bernhard, A. (2015): Inklusion – Ein importiertes erziehungswissenschaftliches Zauberwort und seine Tücken. In: Jahrbuch für Pädagogik. Inklusion als Ideologie. Peter Lang Edition: Frankfurt am Main, 109-119.

Boban, I. & Hinz, A. (2003): Qualitätsentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts durch den Index für Inklusion. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/boban- qualitaetsentwicklung.html

Bruneforth, M., Vogtenhuber, S., Lassnigg, L., Oberwimmer, K., Gumpoldsberger, H., Feyerer, E., Siegle, T., Toferer, B., Thaler, B., Peterbauer, J. & Herzog-Punzenberger, B. (2016): Indikatoren C: Prozessfaktoren. In: M. Bruneforth, L. Lassnigg, S. Vogtenhuber, C. Schreiner & S. Breit (Hrsg.): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2015. Band 1. Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren, Graz: Leykam, 71-128.

Flieger, P. & Müller, C. (2016): Basale Lernbedürfnisse im inklusiven Unterricht. Ein Praxisbericht aus der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag.

Fraser, N. & Honneth, A. (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Freire, P. (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek: Rowohlt. Freinet, C. (1979): Die moderne französische Schule. Paderborn: Schöningh.

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Hohmeier, J. (1975): Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß. In: M. Brusten & J. Hohmeier (Hrsg.), Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen. Darmstadt: Luchterhand, 5-24. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/hohmeier-stigmatisierung.html

Huber, M. (2014): Wie Sonderschüler produziert werden. Zürich: Tagesanzeiger, 27.11.2014, Zugriff am 25.09.2017. Verfügbar unter: http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/Wie-Sonderschueler-produziert-werden/story/28974769

Jantzen, W. (2015): Inklusion und Kolonialität – Gegenrede zu einer unpolitischen Inklusionsdebatte. In: Jahrbuch für Pädagogik. Inklusion als Ideologie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 241-254.

Klafki, W. (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim: Beltz Verlag.

Laun, R. (1983): Freinet – 50 Jahre danach. Dokumente und Berichte aus drei französischen Grundschulklassen. Beispiele einer produktiven Pädagogik. Heidelberg: bvb-Edition.

Markowetz, R. (2000): Identität, soziale Integration und Entstigmatisierung. In: Gemeinsam leben – Zeitschrift für integrative Erziehung 8(3), 112-120. Zugriff am 25.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/gl3-00-identitaet.html

McKnight, J. (1979): Professionelle Dienstleistung und entmündigende Hilfe. In: I. Illich (Hrsg.): Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek: Rowohlt, 37- 56.

Melero, M. (2000): Ideologie, Vielfalt und Kultur. Vom Homo sapiens zum Homo amantis. Eine Verpflichtung zum Handeln. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh4-5-00-vielfalt.html

Pfahl, L. (2014): Das Recht auf Inklusion und der Wandel pädagogischer Professionalität. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Bildungsforschung 2020 – Herausforderungen und Perspektiven, 272-282.

Powell, J. & Pfahl, L. (2012): Sonderpädagogische Fördersysteme. In: U. Bauer, U. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Wiesbaden: VS-Verlag, 721-740.

Pineda, P. (2014): Herausforderung Lernen. Ein Plädoyer für die Vielfalt. Zirndorf: Edition 21, G&S Verlag.

Plangger, S. & Schönwiese, V. (2013): Bildungsgerechtigkeit zwischen Umverteilung, Anerkennung und Inklusion. In: M. Dederich, H. Greving, C. Mürner & P. Rödler (Hrsg.): Gerechtigkeit und Behinderung – Heilpädagogik als Kulturpolitik. Gießen: Psychosozial-Verlag, 55-76. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-bildungsge- rechtigkeit.html

Prengel, A. (2015): Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung. In: EWE – Erwägen-Wissen-Ethik. Forum für Erwägungskultur – Forum for Deliberative Culture, Universität Paderborn, 26 (2), 157-168.

Schönwiese, V. (2008): Warum auf schulische Integration/Inklusion nicht verzichtet werden kann. In: P. Resinger & M. Schratz (Hrsg.): Schule im Umbruch. Innsbruck: University Press, 51-63.

Schönwiese, V. (2015): Die Schule nicht seiner institutionellen Eigendynamik überlassen. In: EWE – Erwägen-Wissen-Ethik. Forum für Erwägungskultur – Forum for Deliberative Culture, Universität Paderborn, 26 (2), 258-260.

Stöger, P. (1997): Paulo Freire – ein Nachruf. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/stoeger-freire.html

Waldschmidt, A. (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 29(113), 9-31. Zugriff am 27.09.2017. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/waldschmidt-modell.html

Quelle

Lisa Pfahl, Sascha Plangger, Volker Schönwiese: Institutionelle Eigendynamik, Unübersichtlichkeit und Ambivalenzen im Bildungswesen: Wo steht Inklusion?; Erschienen in: Feyerer, Ewald [Hrsg.]; Prammer, Wilfried [Hrsg.], Prammer-Semmler, Eva [Hrsg.], Kladnik, Christine [Hrsg.], Leibetseder, Margit [Hrsg.], Wimberger, Richard [Hrsg.]: System. Wandel. Entwicklung. S. 93-104 Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2018.

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Stand: 15.10.2019

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