Lernbehinderung und Behinderung als Kategorien des integrationspädagogischen Diskurses

Autor:in - Sabine Lingenauber
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.
Copyright: © Julius Klinkhardt 2004

1 Einleitung

In der folgenden Publikation werde ich die Ergebnisse meiner Dissertation mit dem Titel „Integration, Normalität und Behinderung. Eine normalismustheoretische Analyse der Werke (1970-2000) von Hans EBERWEIN und Georg FEUSER“ darstellen. Diese normalismustheoretische Analyse umfasst die Zeit vom Beginn des integrationspädagogischen Wissenschaftsdiskurses Anfang der 1970er Jahre bis zum Jahr 2000. Die Diskursgeschichte wurde dabei diachron am Beispiel von EBERWEINS 134 Publikationen (vgl. LINGENAUBER 2001a) und FEUSERS 288 Publikationen (vgl. LINGENAUBER 2001b) aus den Jahren 1970 bis 2000 untersucht. Im Zentrum meiner Dissertation steht die Forschungsfrage: Welche sichtbaren und verborgenen Konzepte von Normalität gibt es im integrationspädagogischen Diskurs[1]? Im Kontext dieser Frage lassen sich folgende Hypothesen aufstellen:

  1. Es gibt kein einheitliches Normalitätskonzept im integrationspädagogischen Diskurs. Vielmehr lassen sich beispielhaft aus den Werken von EBERWEIN und FEUSER durch eine diachrone Analyse der Kategorien Integration, Normalität und Behinderung und ihrer Verhältnisse zueinander unterschiedliche Konzepte erschließen.

  2. Die Kategorie Integration wird in den Normalitätskonzepten u.a. als neue Normalität definiert. Diese Strategie führt zu einer diskursiven Überwindung der Behinderungskategorie.

Das Fundament meiner Analyse ist die diskursanalytische Normalismustheorie, die JÜRGEN LINK (1998a) entwickelt und mit einer spezifischen Terminologie ausgestattet hat. Diese Theorie und ihre Terminologie wird nun zunächst kurz erläutert. Daran anschließend werden die Normalitätskonzepte von EBERWEIN und FEUSER vorgestellt. Als Normalitätskonzept bezeichne ich im Rahmen meiner Forschungsarbeit theoretisch fundierte und sich wechselseitig beeinflussende Vorstellungsensembles von Integration, Normalität und Behinderung, die von Subjekten diskursiv produziert werden.

In modernen Gesellschaften gibt es nicht die Normalität, sondern eine Vielzahl von Normalitäten. Normalismus wird als der gesamte Diskurskomplex bestimmt, der Normalitäten produziert (vgl. LINK 2002). Ich unterscheide nachfolgend drei Subjektstrategien im Umgang mit Normalität, und zwar: die protonormalistische, die flexibel-normalistische und die transnormalistische Subjektstrategie. Die protonormalistische Strategie arbeitet mit einer starren Trennung von Normalität auf der einen und Behinderung bzw. Anormalität auf der anderen Seite. Die Zone der Normalität ist durch eine „fixe Normalitätsgrenze“ (vgl. LINK 1998b, 266) von der Zone der Behinderung bzw. der Anormalität getrennt. In der Normalitätsmitte befinden sich die als „normal“ klassifizierten Subjekte und jenseits der Normalitätsgrenze die als behindert bzw. als anormal klassifizierten Subjekte.

Anders als die protonormalistische Strategie tendiert die flexibelnormalistische Strategie dazu, die Normalitätsspektren maximal auszudehnen (vgl. LINK 1998C, 96) und in die Normalitätsmitte bisher als behindert bzw. als anormal klassifizierte Subjekte aufzunehmen. Im flexiblen Normalismus ist die Grenze zwischen Normalität und Behinderung bzw. Anormalität also durchlässig. Als transnormalistische Strategie bezeichne ich in Anlehnung an Link (vgl. 1998a, 33) den Versuch, die Grenze zwischen Normalität und Behinderung gänzlich aufzulösen und die Vorstellung einer individuellen Normalität jedes einzelnen Subjektes zu etablieren.

So wird beispielsweise im gegenwärtigen integrationspädagogischen Diskurs häufig die These vertreten: „Es ist normal, verschieden zu sein“ (z.B. FEYERER 2000). Diese transnormalistische Normalitätsvorstellung geht selbst über den flexiblen Normalismus hinaus. Denn der Flexibilitäts-Normalismus arbeitet – wenn auch mit einer flexiblen – aber dennoch mit einer Normalitätsgrenze. Der Transnormalismus unterscheidet sich somit vom Protonormalismus und vom flexiblen Normalismus. Denn sowohl dem protonormalistischen als auch dem flexibel-normalistischen Normalfeld[2] liegt die Vorstellung einer Normalverteilung zugrunde, mit einer Normalitätsmitte sowie einer Normalitätsgrenze. Im Folgenden werden diese theoretischen Überlegungen anhand der Analyseergebnisse von EBERWEINS und FEUSERS Werk konkretisiert.



[1] Der Untersuchungsgegenstand ist jedoch nicht der gesamte integrationspädagogische Diskurs, sondern er wurde exemplarisch auf die Werke von EBERWEIN und FEUSER eingegrenzt.

[2] Der Terminus Normalfeld wird in Anlehnung an LINK benutzt (vgl. LINK 1998a, 320f).

2 Analyse des Werkes (1970-2000) von Hans Eberwein

Von seiner ersten Publikation im Jahr 1970 an kritisiert EBERWEIN die vorherrschende Definition von Behinderung als Abweichung von Normalität (vgl. EBERWEIN 1970, 316) und er weist einige Jahre später auf die Bestätigung dieser Definition durch die Sonderpädagogik hin (vgl. EBERWEIN 1973, 136). Seine Kritik am protonormalistischen Behinderungsbegriff beinhaltet damit gleichzeitig auch eine Normalitätskritik. Auf der abstrakten Ebene bezieht sich EBERWEINS Integrationsforderung bereits seit seiner ersten Publikation auf „alle Kinder“. Auf der konkreten institutionsorientierten Ebene hält er zunächst nur die Integration „lernbehinderter, Verhaltens- und sprachgestörter Kinder“ für möglich (vgl. EBERWEIN 1975a, 89). Die Analyse zeigt, dass sich in EBERWEINS Frühwerk eine flexibel-normalistische Strategie ausmachen lässt. Bereits in seiner ersten Publikation spricht er von der Möglichkeit, dem „Behinderten“ mit seinen besonderen Verhaltensweisen in der Gesellschaft „Raum zu geben“ (vgl. EBERWEIN 1970, 316). Normalismustheoretisch ausgedrückt, erweitert er im Jahr 1975 die Mitte des Normalfeldes Allgemeine Pädagogik durch die „Abschaffung“ von Lernbehinderung (vgl. EBERWEIN 1975b, 74). Er dehnt so die Normalitätsgrenze für „Lernbehinderte“ diskursiv aus. Sie verlassen bildlich gesprochen ihre „Randposition“ und ihnen wird als „Normalschülern“ im ausgedehnten Bereich der Normalitätsmitte „Raum“ gegeben. Im Jahr 1977 kritisiert Eberwein die Isolation und Abkapselung von Sonderschule und „Normalschule“ (vgl. EBERWEIN 1977, 135). Im Sinne der Normalismustheorie entgrenzt er zu dieser Zeit diskursiv die beiden Normalfelder und dehnt die Sonderpädagogik in den „Normalschulbereich“ aus.

Für die 1980er Jahre ist eine Expansion der Entgrenzungsstrategie von EBERWEIN ZU konstatieren. Im Jahr 1987 erweitert er seine institutionsorientierte Definition von Integration, indem er nun seine Überlegungen zu einer „Schule für alle Kinder“ auf den gesamten Primarbereich ausdehnt. Gleichzeitig postuliert er die Auflösung bestehender sonderpädagogischer und allgemeinpädagogischer Ausbildungsfelder (vgl. EBERWEIN 1987, 64). Das Jahr 1988 kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche im Werk von EBERWEIN: Erstens kommt es in diesem Jahr zu einer Erweiterung seiner Diskursstrategie. Eberwein postuliert nun Verschiedenheit als neue Normalität (vgl. EBERWEIN 1988a, 48). Er weitet sein neues subjektbezogenes und institutionsorientiertes Normalitätskonzept auf sämtliche Bildungsnormalfelder aus und skizziert so diskursiv eine neue Pädagogik bzw. ein neues generalisiertes Basisnormalfeld. Zweitens führt EBERWEIN ebenfalls in diesem Jahr den Terminus Integrationspädagogik in den Diskurs ein (vgl. EBERWEIN 1988b). Er überträgt dem separierten Bildungsnormalfeld Integration die Aufgabe der Überwindung des medizinischen Behinderungsbegriffs (vgl. EBERWEIN 1988a, 48) und schlägt gleichzeitig einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Kategorie Normalität vor. Er löst damit diskursiv für die Integrationspädagogik den bisherigen Maßstab für Normalität auf und setzt an seine Stelle ein neues subjektbezogenes Normalitätsverständnis: „die Normalität des Kindes“ (vgl. BELUSA/EBERWEIN 1988, 215). Dieses Normalitätskonzept für das Normalfeld Integration reicht weit über seine bisherigen Strategien hinaus.

EBERWEINS Werk der Jahre von 1990 bis 2000 enthält einige bedeutsame Ausdifferenzierungen, Präzisierungen und Erweiterungen der Kategorien Integration, Normalität und Behinderung. Diese stehen aber in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit seinen früheren Diskurspositionen. Damit steht EBERWEINS Normalitätskonzept der Jahre von 1990 bis 2000 also einerseits in einer Kontinuität mit den in seinem Werk vertretenen Normalitätsvorstellungen, andererseits sind aber auch besonders für die Kategorien Integration und Behinderung Erweiterungen zu konstatieren.

Es ist darüber hinaus festzuhalten, dass EBERWEIN die Forderung nach einer Verschmelzung von Sonderpädagogik und Allgemeiner Pädagogik präzisiert, indem er noch deutlicher als in den 1980er Jahren den Auftrag der Integrationspädagogik als zeitlich begrenzt beschreibt (vgl. EBERWEIN 1998b, 359). Er äußert in seinem Werk die Vorstellung, dass Integrationspädagogik zu einer „Systemtranszendenz“ führen soll (vgl. EBERWEIN 1994, 300). Die Auflösung der bestehenden integrationspädagogischen Praxis ist in dem von ihm angedachten Verschmelzungsprozess der bislang separierten Bildungsnormalfelder eingeschlossen. Integrationspädagogik wird von ihm diskursiv eben nicht als neue Teildisziplin der Pädagogik bzw. als neues separiertes Normalfeld, sondern als „pädagogisches Prinzip“ konstituiert (vgl. EBERWEIN 1996, 269). Damit zielt eine Strategie EBERWEINS in dieser Zeit auf ein neues generelles, transnormalistisches Bildungsnormalfeld, in dem Integration nun den „Regelfall“ bzw. eine neue Normalität darstellen soll (vgl. EBERWEIN 1994, 297). Diese transnormalistische Strategie brachte EBERWEIN zwar bereits in den 1980er Jahren in den integrationspädagogischen Diskurs ein. Ihre inhaltliche Ausdifferenzierung erfolgte aber erst in den 1990er Jahren und umfasst u.a. die folgenden Aspekte:

  1. Verzicht auf die Kategorie Behinderung (vgl. EBERWEIN 1995, 10) und

  2. Etablierung einer individuellen Normalität des Subjektes (vgl. EBERWEIN 1998a, 79).

Nach dieser Darstellung der Normalitätskonzepte von EBERWEIN werden im Folgenden die Forschungsergebnisse in Bezug auf FEUSERS Werk vorgestellt.

3 Analyse des Werkes (1970-2000) von Georg Feuser

FEUSER geht es in den 1970er Jahren in Diskurs und Praxis darum, einen Beweis für die Erziehungs- und Bildungsfähigkeit des „geistig behinderten Kindes“ zu erbringen (vgl. FEUSER 1970, 10). Seine Behinderungsdefinition ist in den frühen 1970er Jahren durch VON BRACKEN beeinflusst, auf dessen Begriffe „primärer Defekt“ und „konsekutive Verbildungen“ er sich zu dieser Zeit auch bezieht (vgl. a.a.O., 3). Er engagiert sich in der Zeit bis zum Jahr 1978 u.a. in seiner Rolle als Sonderschullehrer bzw. Rektor für den Auf- und Ausbau der Geistigbehindertenpädagogik (vgl. BUNDESVEREINIGUNG DER LEBENSHILFE 1987, 77). Dementsprechend geht er zu dieser Zeit – normalismustheoretisch formuliert – davon aus, dass sich das Lernen „geistig behinderter Kinder“ im separierten Bildungsnormalfeld Sonderpädagogik zu vollziehen habe. Seine Diskursstrategie zielt darüber hinaus auf eine Ausdehnung und Flexibilisierung dieses Normalfeldes, um es z.B. auch für „autistische Kinder“ zu öffnen (vgl. a.a.O., 132). Er erweitert im Jahr 1973 seine Behinderungsdefinition um ein soziologisches Bedeutungselement: die Gesellschaft (vgl. FEUSER 1973, 9); und im Jahr 1975 setzt eine „Revision“ der Kategorie Behinderung ein (vgl. FEUSER 1975, 462). Die Analyse zeigt, dass FEUSER maßgeblich von JANTZENS Behinderungsverständnis beeinflusst wurde. Im Jahr 1976 nimmt FEUSER JANTZENS Terminus „soziale Isolation“ als Ursachenerklärung für die Entstehung von Behinderung in seine Behinderungsdefinition auf und verlässt so seinen ursprünglich defektorientierten Erklärungsansatz (vgl. FEUSER 1976, 708). FEUSER bezieht sich in seiner Dissertation aus dem Jahr 1977 wissenschaftstheoretisch auf die „Kulturhistorische Schule“ (vgl. FEUSER 1977). Er kommt dadurch zu einem neuen Behinderungsverständnis und zu der Annahme, dass der Behinderungsbegriff „überflüssig“ sei (vgl. a.a.O., 129f).

In den 1980er Jahren vernetzt FEUSER die Kritik an der Kategorie Behinderung mit einer Normalitätskritik. Ausgehend von einer – durch die Aktionen von FRANZ CHRISTOPH beeinflussten – Normalitätskritik hinterfragt er u.a. die gesellschaftliche Vorstellung einer „Anormalität der Behinderten“ (vgl. FEUSER 1980, 367 und 1981, 8f). Sein Werk der 1980er Jahre enthält ein neues Normalitätskonzept mit neuen Definitionen der Kategorien Integration, Normalität sowie Behinderung. So definiert er Behinderung u.a. als ein gesellschaftliches Problem der Unterschreitung von Normalitätstoleranzgrenzen (vgl. FEUSER 1982, 57). Nach FEUSER ist die Behinderungskategorie mit der Kategorie Normalität interdependent verknüpft: Die Grenzziehung zwischen Normalität und Behinderung oder anders formuliert die Feststellung der Anormalität der Behinderten bedinge deren Ausschluss aus der „allgemeinen Pädagogik“. Die mit der Sonderpädagogik verbundene Isolation der betroffenen Subjekte von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes bedeute nicht allein den Ausschluss aus der Einheit der Menschheit, sondern die damit eingeschränkten Aneignungsprozesse führten zu Behinderung (vgl. ebd.).

FEUSERS Diskursstrategie zielt dementsprechend auf eine Überwindung der bisherigen Behinderungskategorie durch Integration in Praxis und Diskurs. Beeinflusst durch die positiven Erfahrungen während seiner wissenschaftlichen Forschungstätigkeit in der integrativen Praxis fordert er Mitte der 1980er Jahre, Integration als neue Normalität für „alle“ Kinder zu realisieren. Er entwickelt dazu eine „kindgemäße basale allgemeine Pädagogik“, in der die bisherige „allgemeine Pädagogik“ und die Sonderpädagogik eine Synthese bilden (vgl. FEUSER 1987, 8). Damit soll es auf der institutionsbezogenen Ebene zu einer Aufhebung des bisherigen gegliederten Schulsystems durch eine einheitliche integrative Schulform kommen. Er fordert in den späten 1980er Jahren, die Leistungsmessung am Durchschnitt zugunsten einer Messung der individuellen Lernfortschritte zu ersetzen (vgl. a.a.O., 9). Als Normalitätsmaßstab setzt FEUSER für die Subjekte die individuellen Normalitäten, die sich jedoch nur in der Gemeinschaft behinderter und nichtbehinderter Menschen entwickeln können. Das soziale Kollektiv, oder normalismustheoretisch gesprochen das transnormalistisch grenzenlose Normalfeld, ist für FEUSER eine Voraussetzung zur Herstellung einer neuen Normalität, die Behinderung diskursiv aufhebt (vgl. FEUSER 1989, 38).

In den 1990er Jahren kommt es zu einer Ausweitung der Integrationskategorie. FEUSER fordert nicht nur, wie in den 1980er Jahren, Integration für sämtliche Kinder und Jugendliche im Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem zu realisieren, sondern seine Forderung umfasst nun sämtliche Lebensbereiche (vgl. FEUSER 1991, 439). Damit wird der Kategorie Integration jegliche Grenze genommen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen darüber hinaus, dass FEUSER Anfang der 1990er Jahre eine „Revision“ der Behinderungskategorie – oder anders formuliert der gesellschaftlichen Vorstellungen von Abweichung und Normalität – fordert (vgl. a.a.O., 425). Wie bereits in den 1980er Jahren ist die Kategorie Behinderung auch in dieser Zeit mit der Normalitätskategorie vernetzt, sodass auch hier kategoriale Veränderungen deutlich auszumachen sind: FEUSER benutzt zum einen den Begriff gesellschaftliche Normalität“ (vgl. a.a.O., 427) und führt zum anderen die „gattungsspezifische Normalität“ (vgl. a.a.O., 431) als Kategorie in den Diskurs ein. Er bezeichnet das Subjekt als „System“, das sich durch einen gemeinsamen Lernprozess mit anderen „Systemen“ seine Normalität aneignet. Jedes System ist ein gattungsspezifisch normales (vgl. a.a.O., 433) und damit gibt es in diesem Normalitätskonzept keine Normalitätsgrenze und somit auch keine Anormalität bzw. Behinderung. Es gehören also zwei verschiedene Begriffe zu FEUSERs Normalitätskategorie: Der Begriff „gesellschaftliche Normalität“ wird von ihm zur Kritik an generellen und separierten Normalitätsvorstellungen der „allgemeinen Pädagogik“ sowie der Heil- und Sonderpädagogik benutzt. Der Begriff „gattungsspezifische Normalität“ gehört demgegenüber aus normalismustheoretischer Sicht zu FEUSERS transnormalistischem Normalitätskonzept. Er definiert im Jahr 1994 Behinderung als „gattungsspezifische Normalität“ und konstituiert damit auch diese Kategorie ohne Grenze (vgl. FEUSER 1994,158).

Im Jahr 1995 erfolgt mit der Konzeption der „Allgemeinen Pädagogik“ eine inhaltliche Ausgestaltung des Normalitätskonzeptes. Im Sinne der Normalismustheorie generiert FEUSER ein einheitliches Bildungsnormalfeld, das die bisherige Trennung sämtlicher bestehender Normalfelder überwinden soll (vgl. FEUSER 1995, 228): FEUSERS neues pädagogisches Konzept zielt langfristig auf die Überwindung der Kategorie Integration und damit auf die Überwindung des bestehenden Praxisnormalfeldes Integration. Diese Forderung belegt die Interdependenz der Kategorien Integration, Normalität und Behinderung: Es geht FEUSER um die Überwindung gesellschaftlicher Behinderungs- und Normalitätskategorien. Diese Kategorien seien nur durch die „Allgemeine Pädagogik“ und damit eben nicht durch das bestehende Praxisnormalfeld Integration überwindbar. FEUSERs Strategie zielt in Diskurs und Praxis darauf ab, auf jedweden statistischen Subjektvergleich zu verzichten, um so jegliche Form des Ausschlusses zu vermeiden (vgl. a.a.O., 193). Dadurch soll die Kategorie Behinderung zunächst als „gattungsspezifische Normalität“ etabliert und gleichzeitig die bisherige Behinderungskategorie als Abweichung von „gesellschaftlicher Normalität“ im Diskurs überwunden werden. Diese Forderung kann nach FEUSER nur durch ein zukünftiges „einheitliches Erziehungs- und Schulsystem“, das auch eine einheitliche Lehrerausbildung einschließt (vgl. a.a.O., 212), in die Praxis umgesetzt werden.

Normalismustheoretisch ist festzuhalten, dass die Negation der gesellschaftlichen Normalitätskategorie im Jahr 1985 und die Negation der Behinderungskategorie in den 1990er Jahren miteinander vernetzt sind und beide letztendlich die Forderung nach einer Überwindung der Integrationskategorie bedingen. Als langfristige Perspektive enthält FEUSERS Normalitätskonzept also die Konstitution eines einzigen, einheitlichen und grenzenlosen Normalfeldes, das ohne die Kategorien Behinderung sowie Integration konstituiert ist. Es basiert also lediglich auf der Kategorie „gattungsspezifische Normalität“. Zur Herstellung dieser individuellen „gattungsspezifischen Normalität“ bedarf es aber unbedingt der als Kollektiv verstandenen Gemeinschaft sämtlicher Subjekte. Erst in den jeweiligen kollektiven Gemeinschaften können nach FEUSER die Subjekte in einem gemeinsamen Lernprozess ihre Normalität erwerben. Die Gemeinschaft bzw. das Kollektiv ist also die unabdingbare Voraussetzung, um die anvisierte, transnormalistische Normalität herzustellen.

4 Zusammenfassung

Es ist abschließend festzuhalten, dass auf der Basis der Normalismustheorie eine systematische empirische Analyse der Normalitätskonzepte von EBERWEIN und FEUSER erfolgen konnte. Sie erbrachte als Ergebnis den Nachweis, dass Normalität von den 1980er Jahren an bis in den gegenwärtigen integrationspädagogischen Diskurs hinein eine diskurstragende Kategorie ist, die interdependent mit den Kategorien Behinderung und Integration vernetzt ist. Die analysierten Normalitätskonzepte zeigen auf eindrucksvolle Weise, dass EBERWEIN und FEUSER eine neue, transnormalistische Normalität produzieren und damit diskursiv die Behinderungskategorie überwinden.

Behinderung als neue Normalität zu definieren ist aber nicht allein Ziel des gegenwärtigen integrationspädagogischen Diskurses, sondern diese transnormalistische Strategie lässt sich auch in anderen Diskursen deutlich ausmachen, wie das folgende Beispiel abschließend zeigt. In einem Monatsmagazin der Gewerkschaft IG Metall aus dem Jahr 2002 findet sich unter der Rubrik „Betriebsreport“ ein Erfahrungsbericht über die berufliche Integration „schwerbehinderter Männer und Frauen“ in eine Tübinger Herstellerfirma für Hartmetallwerkzeuge. Der Titel des Artikels fasst die Integrationserfahrungen dieses Betriebes zusammen. Er lautet: „Total normal“ (vgl. DROSTE 2002, 19).

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Quelle

Sabine Lingenauber: Lernbehinderung und Behinderung als Kategorien des integrationspädagogischen Diskurses

Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.

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Stand: 26.04.2018

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