Qualifizierung zur Inklusionsassistentin – Erste Erfahrungen aus dem Reutlinger Praxisforschungsprojekt

Autor:innen - Jo Jerg, Stephan Thalheim
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.
Copyright: © Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004

Abbildungsverzeichnis

    Qualifizierung zur Inklusionsassistentin – Erste Erfahrungen aus dem Reutlinger Praxisforschungsprojekt

    Der folgende Beitrag soll einen Einblick geben in ein Modellprojekt zur Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften für die Begleitung von Kindern mit Assistenzbedarf beim Besuch des Regelkindergartens in Baden- Württemberg. Wir werden uns dabei auf die kurze Darstellung von vier zentralen Aspekte beschränken: Gesetzliche Rahmenbedingungen in Baden- Württemberg, Vorstellung des Modellprojekts, Kurskonzeption und die zentralen Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung.

    1 Gesetzliche Rahmenbedingungen in Baden- Württemberg

    Der gesetzliche Hintergrund zum Thema und Schwerpunkt „Inklusion im Kindergarten“ basiert wie in allen Bundesländern auf dem SBG VIII, insbesondere § 22, Grundsätze der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (gemeinsame Erziehung), und § 24, Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Darüber hinaus sind folgende Rechtsgrundlagen und Ausführungsbestimmungen für den Rahmen in Baden-Württemberg entscheidend:

    Kindergartengesetz Baden-Württemberg: Im § 2 der Landesverfassung Baden-Württemberg steht: „Kinder mit und ohne Behinderung sollen in gemeinsamen Gruppen erzogen werden können.“ (§ 2 Abs.2 KGaG Kindergartengesetz für Baden-Württemberg). Diese doch offene bzw. schwammige Formulierung verweist auf eine wenig integrativ ausgerichtete Kindergartenpolitik.

    Eingliederungsrichtlinien[1] des Landeswohlfahrtsverbandes: Die Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe ist seit Beginn 2000 an den Landeswohlfahrtsverband (LWV) übergegangen. Seit dem 1.8.2000 sind vom LWV in Baden-Württemberg allgemeine und vorläufige Richtlinien eingeführt worden, die einheitliche Pauschalen für die Integration von Kindern mit Unterstützungsbedarf in den Kindergarten gewähren. Zuvor oblagen diese Aufgaben den einzelnen Landkreisen, so dass früher in einigen Landkreisen überhaupt keine Integration in den Regelkindergarten gefördert wurde, in anderen Landkreisen dagegen sehr gute Bedingungen vorhanden waren. Im Folgenden einige Rahmenbedingungen der Eingliederungshilfen:

    • Zielgruppe: Eingliederungshilfe kann beantragt werden für Kinder mit einem zusätzlichen individuellen Förderbedarf im pädagogischen bzw. pflegerischen Bereich; Kinder, die unter die Kategorie „körperliche und geistige Behinderungen/ Beeinträchtigungen“ fallen. Kinder mit sog. „seelischen Beeinträchtigungen“ bleiben in der Zuständigkeit und Förderung des örtlichen Jugendhilfeträgers.

    • Voraussetzung für die Gewährung der Eingliederungshilfe ist die amtliche Feststellung der “Behinderung“ (Formblatt A).

    • Die Eingliederungshilfe basiert auf Pauschalvergütung (Pauschalen: Maximal 460 € für pädagogische Hilfen sowie 308 € für pflegerische Hilfen) und kann im Härtefall erhöht werden. In der Regel wird die Eingliederungshilfe von Jahr zu Jahr bewilligt und bedeutet für alle eine jährliche Vertragsbefristung.

    • Die Entscheidungshoheit über Aufnahme, Qualität und Umfang der Unterstützung liegt maßgeblich beim Kindergartenträger. Diese Rahmenbedingungen der Eingliederungshilfe sind nicht besonders fortschrittlich, dennoch haben die Richtlinien dazu geführt, dass eine Öffnung für das Thema Integration und Kindergarten bisher erzielt werden konnte. Zwei weitere spezifische Rahmenbedingungen in Baden-Württemberg wirken sehr nachhaltig:

    Erstens: Ab 2004 soll die Kommunalisierung der Kindergartenverantwortung erfolgen und die Zuständigkeit in die Hoheit der Kommunen übergehen. Bei den bisherigen Gesetzesentwürfen sind keine Steuerungsmechanismen bzw. Grundrahmenbedingungen vorgesehen. Der kommunale Bedarfsplan legt z.B. keine Definitionen von Gruppen fest. Jede Gemeinde kann ihre Prioritäten festlegen. Offen bleibt dabei, ob Integration als konzeptioneller Bestandteil erhalten bleibt. Welche Auswirkungen das neue Kiga-Gesetz auf die Eingliederungshilfe hat, ist auch noch nicht absehbar.

    Zweitens: Sondereinrichtungen sind in Baden-Württemberg bei vielen politischen Entscheidungsträgern eine unantastbare Festung, so dass parallele Strukturen von Sondereinrichtungen und integrativen/ inklusiven Ansätzen existieren und konkurrieren.



    [1] Vorläufige Richtlinien für die Gewährung von Eingliederungshilfen nach § 40 Abs. 1 BSHG in Kindergärten und allgemeinen Schulen.

    2 Modellprojekt „Inklusion im Kindergarten“

    Im Folgenden wird eine Kurzvorstellung des gesamten Projektrahmens gegeben, damit der Kontext der Qualifizierung erkennbar wird. Die neuen Richtlinien zur Integration in den Kindergarten in Baden-Württemberg waren Ausgangspunkt für die Entwicklung und Beantragung eines Modellprojekts[2].

    Abbildung 1. Abb 1: Strukturen im Modellprojekt „Inklusion im Kindergarten“

    In der Graphik werden die Strukturen des
Modellprojekts aufgezeigt. Hierbei wird zwischen den Punkten
Kindertageseinrichtung im Landkreis, AssistentInnen, Teilprojekte
Projekt-MitarbeiterInnen, Träger und Finanzierung unterschieden. Zu den
Punkten wird in der Grafik und zum Teil im Text näher darauf
eingegangen.

    Die Arbeitsgemeinschaft Integration (AGI) Reutlingen e.V. (Elternselbsthilfe) und die Evang. Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg wollten die historische Möglichkeit nutzen, um im Landkreis die Kindergartenentwicklung mitzugestalten.

    Das Gesamtprojekt hat zwei Standbeine, die eng miteinander verzahnt sind: Zum einen FABI, der als Fachdienst die Akquise, Vermittlung/ Anstellung und Begleitung von AssistentInnen sowie die Beratung der Beteiligten übernimmt und somit Anfragen von Eltern und Kindergartenträgern konkret bearbeitet, zum anderen die Qualifizierungsmaßnahme, die hier vorgestellt wird.

    Träger der Qualifizierung ist die AGI in enger Kooperation mit der Evang. FH Reutlingen-Ludwigsburg. Finanziert wird die Qualifizierung über ESF-Mittel (Europäischer Sozialfonds). Neben einer Kursleitung (30 %-Stelle) stehen Mittel für Gastreferentlnnen und für die wissenschaftliche Begleitung zur Verfügung.



    [2] Projektziel ist die Etablierung/ Implementierung eines Fachdienstes für Inklusion im Landkreis, zunächst im Kindergarten, später hoffentlich auch für die Schule. Um eine qualitative Arbeit anbieten zu können, bedarf es einer Reihe von Qualifizierungsangeboten, die in enger Verzahnung mit der Praxis entwickelt wurden und räumlich noch über den Landkreis hinaus auf Baden- Württemberg ausgeweitet werden sollen.

    3 Qualifikation – Kurskonzeption und Kursbedingungen

    Zum Begriff der Inklusionsassistentin/ des Inklusionsassistenten: Wir hatten zu Beginn des Projekts längere Diskussionen über die Verwendung von Begriffen bzw. die Definition von Tätigkeiten und einigten uns bei der Qualifizierung auf die Bezeichnung Inklusionsassistentin/ Inklusionsassistent. Hintergrund dafür sind die beiden zentralen Begriffe: Inklusion und Assistenz.

    Inklusion soll deutlich machen, dass wir uns von der Haltung und Denkweise einer Ordnung von „normal oder behindert“ verabschieden und auf die selbstverständliche Teilhabe am Leben in der Gemeinde, im Gemeinwesen, auf eine Welt ohne Sondereinrichtungen hinarbeiten möchten. Assistenz ist für uns eine professionelle Haltung, die den Betroffenen ein Recht auf Selbstbestimmung einräumt, den Grundsätzen des Empowerment-Ansatzes entspricht und auf vorhandenen Ressourcen aufbaut, um einige wenige Aspekte anzusprechen. Daraus eine Rolle „Assistentin“ abzuleiten bzw. zu definieren ist nicht unproblematisch, dessen sind wir uns bewusst: Assistentin ist in historischen Berufshierarchien immer auch eine Assoziation von Unterordnung. Wir möchten die Assistenz als Beistand verstanden wissen.

    Ziel der Qualifikation: Die Inklusionsassistentlnnen sollen durch die Qualifizierung befähigt werden, im gemeinsamen Kindergartenalltag mit Kindern mit und ohne Assistenzbedarf den institutionellen, familiären und sozial-räumlichen Kontext reflektieren und analysieren zu lernen und mit den vorhandenen Ressourcen Gestaltungs- und Bewältigungswege realisieren zu können. Im Kindergartenalltag benötigen InklusionsassistentInnen Bewältigungskompetenzen in offenen Situationen. Deshalb wird z.T. ein spezifischer Zugang über die Aneignung reflexiver Kompetenzen gewählt.

    Tab. 1: Die Kursbausteine der Qualifizierung

    1. Geschichte der Integrationsbewegung in Europa/ Deutschland

    2. Gesetzliche Grundlagen der Inklusion/ Eingliederung in der BRD/ Ba-Wü

    3. „Menschen-Bilder“ – Zur Konstruktion von Normalität und Behinderung

    4. Kindliche Entwicklung und Unterschiede im Assistenzbedarf

    5. Inklusion im Kindergarten

    6. Inklusion im/ ins Gemeinwesen

    7. Kommunikation und Kooperation/ Konfrontation und Konfliktbearbeitung

    8. Wahrnehmen und Verstehen

    9. Methodisches Arbeiten mit/ in inklusiven Gruppen

    10. Selbstverständnis der InklusionsassistentInnen

    Die in Tabelle 1 aufgeführten zehn inhaltlichen Bausteine sind mit der Absicht verfasst, die drei Ebenen von Theorie, Praxis und Reflexion sinnvoll miteinander zu verbinden. Während das Einzel-Coaching den individuellen Situationen der TeilnehmerInnen Raum vor Ort zur Bearbeitung spezifischer Themen- und Problemstellungen zur Verfügung stellt, werden die Theorie- und Praxisbezüge der Schwerpunkte 1 und 2 (siehe Abb. 2) in sinngebende Einheiten gebündelt.

    Der Umfang der einzelnen Schwerpunktbereiche lässt sich anhand der Gesamtstunden (288 Std. pro Teilnehmer/ in) gewichten.

    Wir gehen davon aus, dass die Zielgruppe eine anwendungsorientierte Qualifizierung für die Praxis benötigt. Deshalb geht der Vermittlung der Inhalte eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis voraus, damit dem Anspruchsniveau der TeilnehmerInnen entsprochen wird sowie die subjektbezogenen Dimensionen im Kontext von Wirklichkeitskonstruktionen wahrgenommen werden. Inhalte sollten in einem Drei-Schritt – theoretische Grundlagen, Reflexion der eigenen Praxis, mögliche Praxisansätze – vermittelt werden (wobei die Reihenfolge der Schritte je nach Thema unterschiedlich angeordnet werden kann). Jeder Baustein sollte neben der Vermittlung von Theorie und Vorstellung von Praxismethoden eine Aufbereitung von Praxisaufgaben enthalten, die TeilnehmerInnen in ihrer Praxis erproben und anschließend im Rahmen der Praxisreflexion auswerten.

    Abb. 2: Schwerpunkte der Qualifizierung zu Inklusionsassistentlnnen

    Schwerpunkt 1

    Theoretische Grundlagen inklusiver Pädagogik und methodische Ansätze

    Schwerpunkt 2

    Praxisreflexion (fachlicher Erfahrungsaustausch und Evaluationsmethoden)

    Theorie-Grundlagen

    56 Std.

    Praxisansätze

    56 Std.

    Praxisreflexion

    32 Std.

    Evaluation

    12 Std.

    Schwerpunkt 3

    Praxisphase: Praxis im Kindergarten

    Praktikum/ Assistentin im Kindergarten

    Praktische Tätigkeit bzw. Praxisanbindung

    Bestandteil des Kurses (verpflichtend)

    Durchschnittlich 90 Std. im Kurszeitraum

    Schwerpunkt 4

    Einzel-Coaching

    (individuelle Begleitung vor Ort in der Alltagspraxis des Kindergartens)

    Einzelcoaching

    12 Std.

    Ergänzungsschwerpunkte

    Studienfahrt/ Lernwerkstatt

    Neben den regelmäßigen Kursstunden sind folgende zwei Bereiche in den Kurs integriert: Während des Kurses wird eine mehrtägige Studienreise bzw. Lernwerkstattangebote vor Ort angeboten

    4 Tage (30 Std.)

    Eine weitere wichtige konzeptionelle Überlegung liegt in der Einbindung von Referentlnnen wie z.B. betroffenen Eltern und Fachkräften aus speziellen Arbeitsfeldern in den Qualifizierungskurs. Sie fordert eine direkte Konfrontation mit den vielfältigen Sichtweisen und stellt einen Bezug zur alltäglichen bzw. aktuellen Praxis her.

    4 Bisherige Erfahrungen und Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung

    Unter der Fragestellung: Welche Wirkungen ergeben sich aus der Qualifizierung für die Inklusionsassistentin[3]? sollen im Folgenden einige bisherige Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Qualifizierungsprojekts zusammengefasst werden.

    Hinsichtlich der Zielgruppe der Wiedereinsteigerinnen/ Berufsrückkehrerinnen mit pädagogischer oder pädagogisch-pflegerischer Grundausbildung sind zwei Ebenen besonders zu berücksichtigen:

    • fachlich-inhaltliche Wirkungen und Aspekte der Qualifizierung und

    • arbeitsmarktpolitische Chancen und Konsequenzen, die sich aus der Weiterbildung und dem ,neuen Berufsbild’ für die Assistentin ergeben.

    4.1 Inhaltliche Wirkungen und Aspekte

    Unter inhaltlichen Aspekten kann in der Qualifizierung aufgrund der Zielgruppe und der Zugangsvoraussetzungen auf berufliche Grundkompetenzen und (unterschiedliche) Berufserfahrung zurückgegriffen werden. Darüber hinaus bringen die Teilnehmerinnen häufig persönliche Schlüsselqualifikationen mit, welche sie sich z.T. in der Familienphase erworben haben (Organisationsfähigkeit, persönliches Zeitmanagement, Flexibilität etc.).

    Diese Grundkompetenzen können in der Umsetzung der Kursgestaltung genutzt, aufgedeckt und weiterentwickelt werden.

    Am Anfang der Weiterbildung bestehen bei den Teilnehmerinnen häufig Unsicherheiten, welche sich in etwa auf folgende Fragestellungen beziehen:

    • Wie viel Spezialwissen brauche ich?

    • Worin bestehen mein Auftrag und meine Aufgaben vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erwartungen und Interessen (z.B. von Eltern, Erzieherinnen etc.)?

    • Wie viel Zeit und Aufmerksamkeit widme ich dem Kind mit Assistenzbedarf (als Anspruchsberechtigtem der Hilfe) und wie viel der Gruppe?

    • Welche Position und Rolle habe ich im Kindergarten (zwischen Rolle als Praktikantin und Erwartungen als Ko-Therapeutin)?

    Hier trägt die Qualifizierung nach den bisherigen Ergebnissen dazu bei, den Blickwinkel und die eigene Haltung der Assistentin zu verändern und zu klären. Die Frage nach behinderungsspezifischem Wissen tritt zunehmend in den Hintergrund zugunsten pädagogischer Fragestellungen, einer ganzheitlichen Wahrnehmung individueller Bedürfnisse und einem positiven Verständnis von Vielfalt und Heterogenität. Die Gruppensituation (Position des Kindes und Prozesse in der Gruppe) geraten unter dem Aspekt der Teilhabe in den Vordergrund. Inklusive Haltungen und integrationspädagogische Methoden werden als eigenständige Kompetenzen wahrgenommen.

    Auch in der Beobachtung und Reflexion werden durch die enge Verzahnung von Theorie und Praxis Kompetenzen erworben und ausgebaut. Eng damit verbunden ist eine Klärung der eigenen Rolle als Assistentin (berufliches Selbstverständnis).

    Die Praxiserfahrungen (Praktikum, Assistenz) ermöglichen einen Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmerinnen (Praxisberichte).

    Als bedeutender Aspekt für die Assistentin erweist sich auch, dass die Qualifizierung häufig als Stärkung des eigenen beruflichen und persönlichen Selbstbewusstseins wahrgenommen wird. Die Klärungsprozesse (des beruflichen Selbstverständnisses, des Umgangs mit Erwartungen, mit der eigenen Rolle usw.) wirken hier ebenso mit wie die Herstellung einer fachlichen Anschlussfähigkeit (Aktualisierung beruflicher Kompetenzen) und die Möglichkeit zur Reflexion eigener Praxiserfahrungen.

    Das persönliche und berufliche Selbstbewusstsein hat auch bezogen auf die Möglichkeiten beruflichen Wiedereinstiegs positive Konsequenzen.

    4.2 Arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der Qualifizierung

    Die Teilnehmerinnen trauen sich auf der Grundlage ihrer Praxiserfahrungen in der Weiterbildung und des Gefühls, fachlich auf dem aktuellen Stand zu sein, eher wieder eine Rückkehr in den Beruf zu. Interessant war hier u.a., dass eine längerfristige Familienphase offenbar starke Verunsicherungen mit sich bringt und so die Gefahr dauerhafter Ausgrenzung aus dem Berufsprozess beinhaltet.

    Die Tätigkeit als Assistentin (wie auch die zeitliche Gestaltung der Qualifizierung) ermöglicht zudem eine Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Anforderungen. Hier spielt neben den Arbeitszeiten (vorwiegend vormittags) und flexiblen Arbeitsbedingungen (Möglichkeit zu Absprachen) auch der relativ geringe Arbeitsumfang eine Rolle.

    Die Tätigkeit der Assistenz wird als „sinnvolle“ Teilzeitbeschäftigung gesehen, welche an den einmal erworbenen Grundqualifikationen ansetzt und zeitlich (entsprechend der familiären Anforderungen und Weiterentwicklungen) erweiterbar ist. Die Qualifizierung bietet hier längerfristig auch einen Einstellungsvorteil bei der Rückkehr in den Kindergarten als Gruppenerzieherin.

    Diese positiven Einschätzungen finden auch Bestätigung in einer durchgeführten follow-up-Befragung der Teilnehmerinnen zu ihren beruflichen Wegen nach Abschluss der Qualifizierung.

    Neben theoretischen und praxisorientierten Qualifizierungsbestandteilen kommt in den positiven Bewertungen der Teilnehmerinnen auch die von den Mitarbeiterinnen/ Fachberaterinnen des Fachdienstes durchgeführte Praxisbegleitung (Coaching) zum Tragen.

    Das Coaching als Praxisberatung bietet die Möglichkeit für die Assistentin, sich mit individuellen Fragen und Schwierigkeiten, die sich in der Praxis ergeben, auseinander zu setzen.

    Diese Form der Praxisbegleitung bezieht dabei beide oben ausgeführten Ebenen mit ein. Sie erleichtert sowohl die Orientierung auf dem Arbeitsmarkt (z.B. Strategien bei der Praktikumsstellensuche), berät bei Fragen im Umgang mit beruflichen Anforderungen und Arbeitsbedingungen (z.B. Konflikten im Team) und unterstützt bei der konkreten praktischen Gestaltung und Reflexion von Praxissituationen (z.B. Praxisbesuch).

    4.3 Fazit

    Abschließend möchten wir einige positive, aber auch kritische Aspekte zusammenfassen.

    Positive Aspekte:

    • Die Qualifizierung stellt insgesamt eine fachliche, praktische und persönliche Vorbereitung auf die Aufgaben und Anforderungen als Inklusionsassistentin dar.

    • Den Assistentinnen kommt auf dem dargestellten Hintergrund eine Multiplikatorinnenfunktion in der regionalen Entwicklung einer inklusiven Kultur und inklusiven Ausgestaltung der Kindergärten zu.

    • Die Position als Zusatzkraft ,von außen’ bietet der Assistentin Möglichkeiten, den Fokus eher auf die Beobachtung des Kindes und der Gruppenprozesse zu legen sowie Beziehungen im Kindergarten und im sozialen Umfeld stärker in den Blick zu nehmen, da die Assistentin nicht so stark mit der Alltagsgestaltung und Verantwortung in der Gesamtgruppe befasst ist. Dadurch kann sie im Kindergartenteam neue Impulse einbringen.

    • Für den Fachdienst stellt die Qualifizierung eine Möglichkeit dar, integrationspädagogisch qualifiziertes Personal zu vermitteln und eine gemeinsame Grundhaltung der Inklusion nach außen zu vertreten.

    • Die Qualifizierung eröffnet für Berufsrückkehrerinnen neue Möglichkeiten im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der fachlichen Anschlussfähigkeit auf Grundlage bereits vorhandener (aber z.T. verschütteter) Kompetenzen.

    • Die Qualifizierung stärkt das persönliche und berufliche Selbstbewusstsein der Frauen und unterstützt hierdurch den Wiedereinstieg in den Beruf bzw. die Eröffnung neuer Tätigkeitsfelder.

    Kritische Aspekte:

    • Die zeitliche Befristung der Arbeitsverträge (i.d.R. einjährige Bewilligungsdauer) führt zu einer nur geringen Planungssicherheit und einem gewissen Risiko für die Assistentinnen.

    • Die Zusatzqualifizierung schlägt sich nicht durch eine verbesserte Bezahlung nieder.

    • Das Konstrukt des ,Rucksackmodells’ beinhaltet beschränkte Einflussmöglichkeiten der Assistentin auf die konzeptionelle Entwicklung und auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen im Kindergarten aufgrund der Rolle und der ,externen’ Position der Assistentin, der geringen Anwesenheitszeiten, der konzeptionellen „Hoheit“ des Kindergartens bzw. Kindergartenträgers.

    • Die Möglichkeiten der Assistentin stehen in Abhängigkeit von der Offenheit und Haltung der Erzieherinnen bzw. des Teams im jeweiligen Kindergarten und von der Bereitschaft des Trägers Rahmenbedingungen inklusiv zu gestalten und zu verändern.

    • Zahlreiche Anfragen aus anderen Landkreisen (Erzieherinnen und Assistentinnen) können mit dem Qualifizierungsprojekt nicht abgedeckt werden; ebenso wenig ein sichtbar werdender Qualifizierungsbedarf auf der Ebene der Einrichtungen/ Kindergärten selbst (i.S.v. Qualifizierung von Gruppen- Erzieherinnen/ -Erziehern, Teamfortbildung, Konzeptentwicklung etc.).

    In den sich hieraus ergebenden Überlegungen zur Weiterentwicklung des Qualifizierungsangebots stellt sich uns daher die Frage: Wo liegen unter den gegebenen Rahmenbedingungen realistische Perspektiven für eine systematische Weiterentwicklung des Qualifizierungsangebots im Sinne der Förderung einer inklusiven Kultur?



    [3] Zur Zeit wird die Qualifizierung nur von weiblichen Teilnehmerinnen wahrgenommen.

    Literatur

    JERG, JO/ SCHUMANN, WERNER/ THALHEIM, STEPHAN (Hrsg.): „Von Anfang an!“ – Qualifizierungsassistentin in Kindertageseinrichtungen. Reutlingen 2002

    JERG, JO: Zwischenbericht I zum Modellprojekt Qualifizierung von Inklusionsassistentlnnen und anderen Fachkräften. Reutlingen 2002 (Download unter www.kigafueralle.de)

    THALHEIM, STEPHAN: Zwischenbericht II zum Modellprojekt Qualifizierung von Inklusionsassistentlnnen und anderen Fachkräften. Reutlingen 2003 (unveröffentlichter Bericht)

    Quelle

    Jo Jerg, Stephan Thalheim: Qualifizierung zur Inklusionsassistentin – Erste Erfahrungen aus dem Reutlinger Praxisforschungsprojekt

    Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.

    bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 16.08.2018

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