Vom Schulversuch zum Regelfall – die integrativkooperativen Schulen in Birkenwerder als eine Perspektive für die sonderpädagogische Förderung im Land Brandenburg

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.
Copyright: © Julius Klinkhardt 2004

Abbildungsverzeichnis

    Vom Schulversuch zum Regelfall – die integrativkooperativen Schulen in Birkenwerder als eine Perspektive für die sonderpädagogische Förderung im Land Brandenburg

    Stellen Sie sich einen Ort im Bundesland Brandenburg kurz nach der politischen Wende vor. Der Ort liegt nördlich von Berlin im Landkreis Oberhavel, heißt Birkenwerder und hat vier Schulen: Eine Grundschule mit Klassen von1 bis 6, eine Gesamtschule mit Klassen von 7 bis 10 sowie eine Förderschule für Körperbehinderte Primarstufe und eine Förderschule für Körperbehinderte Sekundarstufen I/ II. Wenn Sie heute im Jahr 2003 in diesen Ort fahren, werden Sie keine dieser vier Schulen wiederfinden. Was ist geschehen?

    1 Wie man aus einem Problem eine Chance macht

    Die erdrutschartigen Veränderungen wurden durch Entwicklungen auf unterschiedlichen Systemebenen ausgelöst. Im Makrosystem – um mit ALFRED SANDER ZU sprechen[1] – wurde bereits im ersten Schulreformgesetz des Landes Brandenburg dem gemeinsamen Unterricht von Blindem und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen Vorrang eingeräumt.[2]

    Abb. 1: Das Ökosystem der integrativ-kooperativen Grundschule und Gesamtschule in Birkenwerder – Makrosystem

    Makrosystem, z.B.

    • Schulgesetz des Landes Brandenburg: § 29 „vorrangig gemeinsam“

    • historisch: Aufbruchstimmung nach der Wende

    • demographisch: Einbrüche in den Schülerzahlen

    Dazu kam mit der politischen Wende eine für deutsche Verhältnisse historisch wohl einmalige Situation mit einer Aufbruchstimmung, in der wir Vieles für möglich hielten. Die bildungspolitische Entscheidung für den gemeinsamen Unterricht und der Nachwende-Geburtenknick mit demografischen Einbrüchen um bis zu 50 % der Schülerzahlen blieben nicht ohne Folgen für die Schulen in Birkenwerder.

    Der Landkreis als Träger beider Förderschulen hatte dies früh erkannt und sah sich auf der exosystemischen Ebene vor eine Entscheidung gestellt.

    Abb. 2: Das Ökosystem der integrativ-kooperativen Grundschule und Gesamtschule in Birkenwerder – Exosystem

    Makrosystem

    Exosystem, z.B.

    • Unterstützung der beiden Schulträger Gemeinde und Landkreis

    • Entscheidungen im Schulamt

    • Unterstützung durch die Schulöffentlichkeit, Kirche. Musikschule. Sportverein,...

    Man diskutierte über Schulschließungen und über die Zusammenlegung mit einer Förderschule für Geistigbehinderte. Schulentwicklungsplanerisch war allerdings auch ein gemeinsames Konzept mit den beiden allgemeinen Schulen im Ort interessant. Die Schulaufsicht setzte auf ein Modell, das – bildungspolitisch korrekt – gemeinsame Bildung und Erziehung möglich macht.

    In Birkenwerder gab es viel Zuspruch in der Öffentlichkeit. Der Bürgermeister und die Kommunalpolitiker und -Politikerinnen sahen die Chancen zur inhaltlichen und baulichen Neugestaltung der alten Grundschule und Gesamtschule.

    Im Mesosystem, also in den Schulen selbst, war ein deutlicher Wunsch nach Veränderungen spürbar. Die Aufnahme von einzelnen nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern in die Klassen der Förderschule Sekundarstufe I/ II hatte erste Erfolge gezeigt. Die Eltern der behinderten Schülerinnen und Schüler waren angetan von den neuen Möglichkeiten des gemeinsamen Lernens und engagierten sich für ein integratives Schulkonzept. Und die Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 bis 13 waren bereit, alles daran zu setzen, dass gemeinsamer Unterricht weiterhin möglich sein kann.

    Abb. 3: Das Ökosystem der integrativ-kooperativen Grundschule und Gesamtschule in Birkenwerder – Mesosystem

    Makrosystem

    Exosystem

    Mesosystem, z.B.

    • Integrative Prozesse in dem neuen Kollegium: Zusammenwachsen von Förderschule und allgemeiner Schule

    • Bewusstseinsänderungen: Gemeinsame Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen

    • Steuerung der pädagogischen Schulentwicklung

    • neue Schulleiter

    Sie können sich sicherlich vorstellen, dass mm eine spannungsgeladene Zeit begann, in der die verschiedensten Perspektiven diskutiert wurden und unterschiedlichste Interessen eine Rolle spielten. In der bewährten Form eines „runden Tisches“, der seit der Wende als ostdeutsches Symbol für demokratischen Dialog gilt, setzten sich dann Lehrerinnen und Lehrer, die Schulträger und die Schulaufsicht zusammen. Es kristallisierte sich die Idee heraus, aus den vier Schulen zwei neue zu bilden.

    Nachdem das Modell der integrativ-kooperativen Schulen auf dem Papier stand, sollten alle vier Schulkonferenzen zustimmen.

    Abb. 4: Das Ökosystem der integrativ-kooperativen Grundschule und Gesamtschule in Birkenwerder – Mikrosystem

    Makrosystem

    Exosystem

    Mesosystem

    Mikrosystem, z.B.

    • Das Mädchen, der Junge mit und ohne Behinderungen sowie ihre Familien: subjektives Erleben von Verschiedenheit und Stärkung in der individuellen Selbstbestimmung

    • Die Lehrerin, der Lehrer: subjektives Erleben veränderter Schulrealität, von Lernhindernissen und -ressourcen

    • Stärkung des subjektiven Selbstverständnisses: alle Kinder aus Birkenwerder gehen in eine Schule

    Abbildung 1. Das beste bewahren und Neues entwickeln

    Darstellung des Schulmodells mit zwei neuen Schulen.
In beiden neuen Schulmodellen wären die Grundschule Birkenwerder und
die Förderschule für Körperbehinderte inkludiert, jedoch unterscheiden
sie sich in ihrem Schulprofil. Schulmodell 1 wäre eine
integrativ-kooperative Grundschule mit musisch-künstlerischem und
bewegungsfördernden Schulprofil. Schulmodell 2 hingegen eine
integrativ-kooperative Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe sowie
sportorientiertem und bewegungsförderndem Schulprofil.

    Damit begann ein komplizierter Aushandlungsprozess, der von mehr oder weniger offen ausgesprochenen Interessenkonflikten, von Zeiten der Stagnation und Momenten des Scheiterns und vor allem von dem Wunsch geprägt war, diese Krisensituation als einmalige Chance zu nutzen und Schule (im Sinne von HARTMUT VON HENTIG) neu zu denken.

    Schulentwicklung braucht allerdings ihre Zeit: Entscheidungs- und Bedenkenträger gewinnen, die Kritiker und Zweifler anhören, über das Machbare und Unmögliche diskutieren und den gemeinsamen Konsens herausfinden – das hat immerhin mehrere Jahre gebraucht. Im Ergebnis dieses komplizierten Prozesses standen die Beschlüsse der Schulträger Landkreis Oberhavel und Gemeinde Birkenwerder, ihre Schulen zu schließen und eine integrativkooperative Grundschule von Klasse 1 bis 6 und eine integrativ-kooperative Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe von Klasse 7 bis 13 zu errichten. – Heute haben alle Kinder in der Gemeinde Birkenwerder die Möglichkeit, die gemeinsame Grundschule (die in den beiden Bundesländern Berlin und Brandenburg sechs Jahre umfasst) zu besuchen und daran anschließend die integrativ-kooperative Gesamtschule bis zur 10. Klasse, daran wiederum anschließend ist der Besuch der dreijährigen Oberstufe möglich, wenn die Leistungen den Ansprüchen der gymnasialen Oberstufe genügen. – In Birkenwerder gibt es neben diesem Grund- und Gesamtschulangebot kein Gymnasium, keine Realschule, keine andere Sonderschule – im Land Brandenburg gibt es auch keine Hauptschulen.[3]



    [1] Zum ökosystemischen Ansatz in der Integrationspädagogik siehe SANDER 1991 und HILDESCHMIDT; SANDER 1999

    [2] Vgl. HEYER; PREUSS-LAUSITZ; SCHÖLER 1997,15-31

    [3] Zur Illustration: in der Gemeinde Birkenwerder leben aktuell ca. 6.500 Menschen (Tendenz aufgrund der Nähe zu Berlin und anderer wohn- und lebensfreundlicher Faktoren steigend).

    2 Wie man institutionelle Grenzen auflösen und eine Zukunftsperspektive für mehr sonderpädagogische Kompetenz in allgemeinen Schulen entwickeln kann

    Sehr bald hatte sich das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport unterstützend und steuernd eingebracht. Die Idee einer integrativ-kooperativen Schule sollte in Birkenwerder zu einem Bildungsangebot entwickelt werden, das für Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderungen überregional zur Verfügung steht und gleichzeitig wohnortnahen gemeinsamen Unterricht möglich macht.

    Mit dem Schulversuch verfolgt das Land Brandenburg zwei Ziele:

    • Es soll erprobt werden, wie innerschulisch flexibel gemeinsamer und kooperativer Unterricht umgesetzt werden kann. Die Frage ist also, wie weitgehend es gelingt, Klassengrenzen aufzulösen und neue Lerngruppen entstehen zu lassen.

    • Mit dem Modell der Schulen in Birkenwerder sollen positive Zukunftsbilder für die Schulentwicklungsplanungen im größtenteils ländlich strukturierten Raum unseres Bundeslandes vermittelt werden. Es geht also perspektivisch um nachhaltige Beeinflussung von Schulstrukturen aller Förderschulen und aller Regelschulen.

    Spätestens jetzt sollten wir Ihnen das schulorganisatorische Modell näher vorstellen: Der Schulversuch startete 1998 mit den neu einzuschulenden Kindern in den Klassen 1 der Grundschule und 7 der Gesamtschule. Es wurden die 1a und 7a mit ausschließlich schwer körperbehinderten und mehrfachbehinderten Kindern gebildet. Wegen der Auflösung der beiden alten Förderschulen für Körperbehinderte gab es für bereits bestehende Klassen eine Art „Bestandsschutz“, d.h. die Klassen wurden den jeweils anderen Klassenstufen der Grundschule und der Gesamtschule zugeordnet.

    Mit jedem neuen Jahrgang kann nun also in der Grundschule und in der Gesamtschule eine Kooperationsklasse oder -gruppe (auch mit weniger als 6 Schülerinnen und Schülern mit Körperbehinderungen) gebildet werden. Alle anderen Klassen der Schule sind grundsätzlich für den gemeinsamen Unterricht offen, wobei der bekannte Vorbehalt der personellen und räumlich-sächlichen Möglichkeiten gilt. In der Gesamtschule sieht es mittlerweile so aus, dass in allen Klassen auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden. Auf die grundsätzliche Problematik, vor der Aufnahme eines Kindes in die Grund- oder in die Gesamtschule entscheiden zu müssen, ob dieses Kind einen Platz in einer der Integrationsklassen oder in der Kooperationsklasse erhält, gehen wir etwas später noch ein.

    Im Schulversuch besteht der Anspruch, dass die Klassenleiterinnen und Klassenleiter, die Fachlehrerinnen und Fachlehrer sowie die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen ihre Verantwortung für die Jahrgangsstufe gemeinsam wahrnehmen. In beiden Schulen sollen veränderte Formen der Leistungsbewertung erprobt werden. Der Schultag wurde in der Grundschule mit einem flexiblen Anfang und 90minütigen Lernzeiten neu rhythmisiert. Im sogenannten Vormittagsband lösen sich die Klassen der Jahrgangsstufe auf und die Kinder finden sich wahlweise obligatorisch in Gruppen zum projektorientierten Arbeiten, zum „Lernen und Üben“ zusammen oder gehen zur sonderpädagogischen Förderung, zur Physiotherapie oder zur Psychomotorik. Die Gesamtschule wird nach dem Modell einer Ganztagsschule organisiert.

    In Bezug auf die tatsächlich praktizierte gemeinsame Verantwortung aller Lehrerinnen und Lehrer für eine Jahrgangsstufe und die Erprobung von Formen der Leistungsbewertung, welche stärker als bisher die individuelle Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, besteht noch deutlicher Entwicklungsbedarf.

    3 Kooperation als Weg und Integration als Ziel

    Nun steht natürlich die Frage im Raum, welchen Sinn die Kooperationsklassen machen. Wir verstehen die Kooperationsklassen als innerschulischen Weg hin zum gemeinsamen Unterricht und als niederschwelliges Angebot für integrationsskeptische Eltern, damit sie zunächst eine Entscheidung für die allgemeine Schule treffen können. Wir halten es für einen großen Erfolg, dass die Auflösung von Förderschulen und die konzeptionelle Neugestaltung der allgemeinen Schulen möglich waren. Und wir sehen die Chancen für die Kinder und Jugendlichen, die innerhalb der Schule dauerhaft von der Kooperationsklasse in eine Klasse mit gemeinsamem Unterricht wechseln.

    Die bisherige Grundstruktur mit Kooperationsklassen und Klassen mit gemeinsamem Unterricht stellt uns allerdings auch vor einige Herausforderungen und Probleme.

    Abbildung 2. Bisheriges Modell der Klassenbildung

    Grafik wird im vorherigen Text beschrieben.

    Lösungsorientiert würden wir so formulieren:

    • Die Bildung der Kooperationsklasse sollte neu überdacht werden. Die Aufnahme in die Kooperationsklassen ist – derzeit leider noch – selektiv, denn sie orientiert sich als erstes an den vergleichsweise geringeren Leistungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen. Ein Unterricht, der sich konsequent an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert, ist nach wie vor das wichtigste Entwicklungsziel.

    • Soziale Kontakte werden nach gemeinsamen Kooperationsstunden wieder abgebrochen. Echtes Zugehörigkeitsgefühl entsteht nur durch dauerhafte gemeinsame Kontakte und verbindliche und verlässliche Lernarrangements, auf die die Schülerinnen und Schüler Einfluss nehmen können.

    • Dem Grundsatz „Alle sind zunächst Schülerinnen und Schüler einer Jahrgangsstufe“ steht der Wunsch nach Klassengemeinschaften und individueller Einflusssphäre gegenüber. Anzahl und Anspruch in der unterrichtlichen Zusammenarbeit sind von der Fähigkeit zur Teamarbeit der Lehrenden abhängig. Das pädagogische Management kann noch stärker Verantwortung in die Jahrgangsstufen abgeben (Verteilung des Fachunterrichts und der Stunden für den gemeinsamen Unterricht,...) und im Rahmen von Personalentwicklung Teamfähigkeit als Schlüsselqualifikation befördern.

    • Raumprobleme und Zwänge im Personaleinsatz können schnell als Argumente gegen kooperativen Unterricht verwandt werden. Für die Planungen müssen die konzeptionellen Grundsätze klar und unverrückbar sein.

    • Die Sonderpädagoginnen und -pädagogen stehen einmal mehr vor der Aufgabe, ihre professionelle Rolle zu überdenken. Langjährige Erfahrungen und eigene Kompetenzen können am besten in synergetischer Zusammenarbeit genutzt werden.

    Einige der angesprochenen Probleme werden sich in dem Grundmodell von Kooperations- und Integrationsklassen nicht auflösen lassen. So lange die Kooperationsklassen – als Sonderklassen ausschließlich für Kinder mit Behinderungen – neben den Integrationsklassen oder gar den „Regelklassen“ (für Kinder ohne Behinderungen) existieren, besteht die Gefahr, dass sich ein falsches Bewusstsein bei allen Beteiligten, auf allen Systemebenen verfestigt, man könne unterscheiden zwischen den „integrationsfähigen“ und den nicht „integrationsfähigen“ Kindern.

    Auch wir fragen uns oft, wenn wir in einer konkreten Klasse sind, warum dieses Kind nicht in seiner Schule am Wohnort unterrichtet wird oder warum jenes Kind überwiegend in der Gruppe der Kinder mit Behinderungen lernt und nicht in der Parallelklasse. Deshalb ist unser Zukunftsbild für die Weiterentwicklung des Schulversuchs der gemeinsame Unterricht für alle Kinder.

    Zukunftsbild für die weitere Entwicklung des Schulversuchs:

    • Die Kooperationsklassen sind eine Zwischenlösung auf dem Weg hin zum gemeinsamen Unterricht.

    • Sie sind eine „Brücke“, über die das Land Brandenburg bei der Auflösung von Förderschulen gehen will.

    • Es braucht eine klare zeitliche Orientierung für die einzelnen Schulen, wie lange Kooperationsklassen als Zwischenlösung akzeptiert werden und von welchem Schuljahr an wirklich alle gemeinsam lernen werden.

    Die Kooperationsklassen verstehen wir als eine Zwischenlösung, die vieles an Entwicklungen möglich macht. Pragmatisch gesehen erscheinen die Kooperationsklassen als eine Brücke, über die wir im Land Brandenburg bei der Auflösung von Förderschulen in den nächsten Jahren gehen werden. Wir wollen keine additive Lösungen, bei der Förderklassen lediglich allgemeinen Schulen zugeordnet werden, sondern inhaltliche Konzepte, die zur Veränderung der allgemeinen Schule führen. Und wir wollen als Erfahrung aus dem Schulversuch in Birkenwerder vermitteln, dass es eine klare zeitliche Orientierung braucht, wie lange Kooperationsklassen als eine Zwischenlösung akzeptiert werden und von welchem Schuljahr an wirklich alle gemeinsam lernen.

    Die Anmeldezahlen an der Gesamtschule und die Nachfragen zur Grundschule geben uns Recht: Eine integrativ-kooperative Schule kann zu einem Erfolgsmodell werden, wenn sich alle gemeinsam für eine Schule einsetzen, die an den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert ist. Wir nehmen allerdings wahr, dass sich andere Schulen mit dem Verweis auf Birkenwerder schneller ihrer Verantwortung entziehen und Eltern mit ihrem Wahlverhalten eher Birkenwerder favorisieren als die Auseinandersetzung vor Ort zu führen. Eltern nennen uns immer wieder zwei wichtige Gründe für ihre Schulwahl:

    1. das soziale Klima der Schule sowie

    2. ihre Wertschätzung für ein Kollegium, das sich bewusst mit der Qualität von Unterricht und Schule auseinandersetzt.

    Also dürfte die sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen auch für Bildungspolitikerinnen und -politiker ein attraktives Modell in der Diskussion um Qualität von Schule sein. Für den Schulversuch in Birkenwerder können wir sagen, dass das pädagogische Innovationspotential des gemeinsamen und kooperativen Unterrichts zu einer grundsätzlichen Veränderung von Schulqualität geführt hat und wir längst nicht am Ende der Möglichkeiten angekommen sind. Schule ist kein Problem-, sondern ein Ressourcensystem. Wir verstehen gemeinsamen und kooperativen Unterricht als einen Entwicklungsauftrag für die ganze Schule und haben deshalb von Anfang an auf einen bewusst gestalteten Prozess pädagogischer Schulentwicklung gesetzt.

    Königsweg Schulentwicklung

    • Wir verstehen gemeinsamen und kooperativen Unterricht als einen Entwicklungsauftrag für die ganze Schule und haben deshalb von Anfang an auf einen bewusst gestalteten Prozess pädagogischer Schulentwicklung und deren Evaluation gesetzt.

    • Damit meinen wir vor allem Unterrichtsentwicklung, aber auch Personalentwicklung und Organisationsentwicklung ganz im Sinne der „Trias“ pädagogischer Schulentwicklung

    4 Warum wir pädagogische Schulentwicklung für den Königsweg halten

    Lange Zeit gab es in den Konferenzen eine klare Sitzordnung: Auf der einen Seite saßen die Lehrerinnen und Lehrer der alten Förderschule zusammen und auf der anderen Seite die Lehrerinnen der Grundschule bzw. Gesamtschule. Vorurteile und Ängste zwischen Förderschule und allgemeiner Schule wurden im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar. Zusammengebracht haben beide „Fraktionen“ die konkrete Zusammenarbeit und die Chance, voneinander zu lernen. Erst mit der konkreten Erfahrung, wie gewinnbringend die Zusammenarbeit sein kann, löste sich das Denken in Kategorien wie „unsere Kinder – eure Kinder“ auf.

    Veränderungen im Denken wurden möglich, weil wir von Anfang an auf Dialog setzten. Das Ergebnis von manchmal nicht ganz einfachen Rollen- und Kompetenzklärungsprozessen drückt sich z.B. in den gemeinsamen Leitbildern der Kollegien aus.

    Abbildung 3. Felder der Veränderung

    Die Felder der Veränderung duch gemeinsamen und
kooperativen Unterricht bestehen aus folgenden Veränderungen: sich als
Person verändern (Werte, Einstellungen und Verhalten), den eigenen
Unterricht verändern (lernwirksamer, schülerorientierter Unterricht),
sich verändernde Arbeitsbeziehungen (Rollenklarheit,
Aufgabenbezogenheit und Kooperation) und die Schule verändert sich
(Konzept, Struktur, Management, Klima, Partizipation).

    Damit ist noch längst nicht alles gut und zur Zufriedenheit gelöst, aber mit einem bewussten Prozess von pädagogischer Schulentwicklung, d.h.

    • mit Gruppen, die themenbezogen arbeiten und Prozesse steuern, und

    • mit regelmäßiger Rückversicherung über interne und externe Evaluation ist es zu schaffen, dass aus Lehrerkollegien Lernkollegien werden. Das Herzstück von Schulentwicklung ist die Unterrichtsentwicklung.

    5 Vom Schulversuch zum Regelfall

    Damit wären wir also wieder beim Makro-System: die brandenburgische Bildungspolitik steuert klar weiter in Richtung wohnortnaher gemeinsamer Unterricht. Die verschiedenen Projekte sind im einzelnen im Länderbericht nachzulesen[4]. Hervorheben wollen wir allerdings das Modell der flexiblen Eingangsstufe (FLEX)[5], in dem ab dem Schuljahr 2003/04 ca. 100 Grundschulen arbeiten. Schülerinnen und Schüler im Bereich der Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Verhalten sollen in den Grundschulen gefördert werden.

    Die Einrichtung von FLEX-Klassen für die Jahrgangsstufen 1 bis 3 der Grundschule ist dafür ein richtiger Ansatz. HANS WOCKEN hat ganz im Sinne des FLEX-Konzeptes darauf hingewiesen, dass man Lernbehinderungen nicht am ersten Schultag erkennt. Die Lernzeiten von Kindern können mit flexibler Verweildauer individueller gestaltet werden. Das heißt, dass Kinder nach ein, zwei oder drei Schuljahren den Anfangsunterricht der Grundschule abgeschlossen haben können und in die Klassenstufe 3 wechseln. Alle Kinder des Schulbezirkes werden gemeinsam in die Schule aufgenommen. Förderdiagnostik findet in der Grundschule statt und Aussonderung ist ausgeschlossen. Dass das Auswirkungen auf die Klassenstufen 1 bis 3 der Allgemeinen Förderschulen hat, liegt auf der Hand.

    Die Chancen für die Modellwirkung des Schulversuchs in Birkenwerder sind gut. Bei zurückgehenden Schülerzahlen und einem größtenteils ländlich strukturierten Raum stellt sich unweigerlich die Frage nach der Perspektive von Förderschulen. Gegenwärtig wird im Ministerium für Bildung daran gearbeitet, Verbindungen zwischen Schulen herzustellen, die in ähnlichen Ausgangssituationen sind wie ehemals die Schulen in Birkenwerder. Die Versuchsschulen werden zukünftig zu Modellschulen in einem Netzwerk integrativ-kooperativer Schulen im Land Brandenburg.



    [4] http://www2.uibk.ac.at/bidok/library/itagung/obenaus-laenderbericht_03.htm oder: OSENAUS, HARALD & DÜRJNG, KATRIN: Länderbericht Brandenburg. In: Gemeinsam leben 11(2003) 3, 125-128 (Anmerkung der Hrsg.)

    [5] Vgl. zu den pädagogischen Standards im Schulversuch FLEX unter www.plib.brandenburg.de

    6 Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung

    Wir haben Ihnen das Modell und die Ziele der integrativ-kooperativen Schulen in Brandenburg vorgestellt und sind bisher nicht auf die Inhalte und die Methoden der wissenschaftlichen Begleitung eingegangen. – Dazu an dieser Stelle nur wenige Hinweise; ausführlicher werden diese vorgestellt, wenn wir in zwei oder drei Jahren etwas weiter sind; der Schulversuch ist bis zum Schuljahr 2004/ 05 befristet.

    Ich, JUTTA SCHÖLER, habe bisher meine wesentliche Aufgabe darin gesehen, als „Begleitforscherin“ bei der Weiterentwicklung dieser beiden Schulen auf allen angesprochenen Systemebenen in zahlreichen Gesprächen die täglich vor Ort Handelnden zu beraten und zu unterstützen, d.h. die zuständige Schulrätin, die Schulleiter, die Lehrerinnen und Lehrer, die Pädagogischen Unterrichtshilfen und die Schülerinnen und Schüler – sowie gemeinsam mit KATRIN DÜRING über die weitere Konzeptentwicklung und die Lösung aktueller Konflikte zu beraten.

    Meine Aufgabe als Schulversuchsleiterin (KATRIN DÜRING) ist es, die Kommunikation zwischen allen Beteiligten und den Auftraggebern des Schulversuchs zu befördern, dafür Sorge zu tragen, dass der Qualitätsanspruch „Schulversuch“ eingelöst wird und dass die Geschäfte des Projektes am Laufen gehalten werden. Ich unterstütze im Besonderem Prozesse pädagogischer Schulentwicklung, denn „Schule für alle“ zu sein impliziert genau genommen einen hohen Anspruch an Schule als „lernende Organisation“. Daneben haben wir weitere Kolleginnen und Kollegen für wissenschaftliche Evaluationen und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer hinzugezogen:

    • PETRA GEHRMANN z.B. vom Institut für Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund mit dem Schwerpunkt „Werteverständnis und Lehrerhandeln im gemeinsamen und kooperativen Unterricht“.[6]

    • CLAUS BUHREN vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Uni Dortmund zum Thema „Steuergruppenarbeit, Leitbildentwicklung und schulinterne Evaluation“.[7]

    Auf der Basis von Werkverträgen sind etliche Teilfragen durch Interviews mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern erhoben worden. Hierzu liegen bisher drei ausführliche Zwischenberichte vor.

    Es ist unser Ziel, dass in der kleinen Stadt Birkenwerder bei Berlin in absehbarer Zeit eine gesellschaftliche Realität Wirklichkeit wird, die ALFRED SANDER Anfang der 80er Jahre in Volterra kennengelernt hat[8]: Jedes Kind hat das Recht, in der Sicherheit seines Kind-Umfeld-Systems gemeinsam mit allen anderen Kindern des Wohnortes den Kindergarten, die gemeinsame Grundschule und die gemeinsame Gesamtschule zu besuchen, und es hat auch die Sicherheit, nach der Schulzeit einen anerkannten Platz im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich zu finden. – Von diesem gesellschaftlichen Ziel sind wir in Deutschland noch weit entfernt; andererseits müssen wir auch nicht mehr unbedingt nach Italien reisen, um uns selber Mut zu machen, dass wir trotz aller Hindernisse und Erschwernisse auf dem richtigen Weg sind.



    [6] PETRA GEHRMANN hat mit den Lehrerinnen und Lehrern der Grund- und der Gesamtschule Gruppendiskussionsverfahren durchgeführt und ausgewertet (vgl. GEHRMANN 2001).

    [7] CLAUS BUHREN berät die Steuergruppen und Evaluationsgruppen beider Schulen mit Akzeptanz und Erfolg bei der Gestaltung des Prozesses pädagogischer Schulentwicklung.

    [8] vgl. SANDER 1983 und 1985

    Literatur

    DÜRING, KATRIN: Die Weichen werden am Anfang gestellt! Integrativ-kooperative Schulen als eine Entwicklungsperspektive für mehr sonderpädagogische Kompetenz in allgemeinen Schulen. Berlin 2002

    GEHRMANN, PETRA: Gemeinsamer Unterricht – Fortschritt an Humanität und Demokratie – Literaturanalysen und Gruppendiskussionen mit Lehrerinnen und Lehrern zur Theorie und Praxis der Integration von Menschen mit Behinderung. Opladen 2001

    HENTIG, HARTMUT VON: Die Schule neu denken, München und Wien 1993

    HEYER, PETER; PREUSS-LAUSITZ, ULF; SCHÖLER, JUTTA (Hrsg.): „Behinderte sind doch Kinder wie wir!" Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland Berlin 1997

    HILDESCHMIDT, ANNE & SANDER, ALFRED: Der ökosystemische Ansatz als Grundlage für Einzelintegration. In: EBERWEIN, HANS (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam. Weinheim 1999

    SANDER, ALFRED: Notizen aus den Schulen von Volterra. In: Behindertenpädagogik 22 (1983) 4,329-335

    SANDER, ALFRED: Ein zweiter Besuch in Volterra. In: Behindertenpädagogik 24 (1985) 1,53-59

    SANDER, ALFRED: Integration behinderter Schüler und Schülerinnen auf ökosystemischer Grundlage. In: SANDER; ALFRED & RAIDT, PETER (Hrsg ): Integration und Sonderpädagogik. Referate der 27. Dozententagung für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern im Oktober 1990 in Saarbrücken. St. Ingbert 1991.

    Quelle

    Katrin Düring, Jutta Schöler: Vom Schulversuch zum Regelfall – die integrativkooperativen Schulen in Birkenwerder als eine Perspektive für die sonderpädagogische Förderung im Land Brandenburg

    Erschienen in: Schnell, Irmtraud [Hrsg.]; Sander, Alfred [Hrsg.]: Inklusive Pädagogik. Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 08.08.2018

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