Konsequenzen des Milani-Konzeptes für die heutige interdisziplinäre Betreuung von Kindern mit Entwicklungsstörungen

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 72 - 85
Copyright: © Hans-Michael Straßburg 1996

Kinder mit Entwicklungsstörungen heute

Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen und ihre Familien stehen seit eh und je, vor allem aber in den vergangenen Jahrzehnten, im Spannungsfeld vielfältiger Probleme. Adriano Milani Comparetti ist wie kaum ein anderer ein Symbol für diese Widersprüche und Konflikte, aber auch für einen sinnvollen und realistischen Umgang mit den Problemen, für Hoffnung und Normalität.

So bestehen erhebliche Meinungsdifferenzen darüber,

  • ob die ideale Entwicklung eines Kindes zum Richtwert für weitere Maßnahmen gemacht werden soll oder seine Variabilität,

  • ob die Entwicklung schon früh vorausgesagt oder ob primär eine differenzierte Beobachtung erfolgen soll,

  • ob eine zuverlässige Reflexdiagnostik beim Säugling möglich ist oder ob dies zu einer Überdiagnostik von Entwicklungsauffälligkeiten führt,

  • ob der überwiegende Teil von Entwicklungsstörungen durch organische, insbesondere hirnorganische Veränderungen erklärt werden kann oder ob vor allem Umwelt- und psycho-emotionale Faktoren hierfür verantwortlich sind,

  • ob durch frühzeitige manuelle Therapiemaßnahmen oder mittels einer mehr beobachtenden Entwicklungsförderung "im Dialog" die Prognose verbessert werden kann,

  • ob Therapiemaßnahmen dogmatisch festgelegt werden sollten oder ob ein therapeutischer Nihilismus gerechtfertigt ist und

  • ob ein Effektivitätsnachweis zur Entwicklungsförderung möglich ist oder wegen der individuellen Einzelprobleme letztlich nicht beweisbar ist.

Ich möchte im folgenden anhand einiger Lebensdaten und Zitaten von Milani, die z.T. meinem eigenen Werdegang als Kinderarzt mit einem Schwerpunkt in der Betreuung von entwicklungsauffälligen Kindern gegenübergestellt werden, versuchen, den Einfluß des Milani-Konzeptes auf unsere heutige Arbeit darzustellen.

Lebensdaten

Adriano Milani Comparetti wurde 1919 geboren, er absolvierte eine umfangreiche Fortbildung als Arzt für Pädiatrie, Neurologie, Psychiatrie und Physiater, d.h. Facharzt für überwiegend krankengymnastische Therapiemaßnahmen. Viele Jahre war er Professor für Physikalische Medizin und Rehabilitation an der Universität Florenz. Von Einfluß auf die Entwicklung seines medizinischen Konzeptes war wahrscheinlich auch sein älterer Bruder, ein von der Kirche strafversetzter Priester, der sich intensiv um eine bessere Ausbildung von sozial schwachen und armen Menschen eingesetzt hatte. Seit 1958 war Milani Direktor des Rehabilitationszentrums für Zerebralparesen Anna Torrigiani in Florenz.

Wissenschaftlich hat er sich primär mit der Früh- und Neugeborenen Neurologie beschäftigt, mit der Diagnostik und Therapie von Zerebralparesen und mit ganzheitlichen Rehabilitationskonzepten. Seit 1968 hat er maßgeblich zusammen mit Psychiatern, z.B. dem mittlerweile legendären Professor Bassaglia in Triest, die Auflösung von Sondereinrichtungen für Kranke und Behinderte in Italien betrieben und und die Integration dieser Menschen in die Lebensgemeinschaft konsequent durchzusetzen versucht. Ab Ende der 70er Jahre hat sich Milani u.a. in Zusammenarbeit mit dem Frauenarzt Janniruberto intensiv an Studien über die Bedeutung embryofetaler Bewegungen für die Gesamtentwicklung des Menschen beteiligt. Ich hatte zwischen 1981 und 1985 wiederholt direkte und indirekte Begegnungen mit Milani, die einen wesentlichen Einfluß auf mein heutiges Konzept bei der Betreuung von entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern haben. Ich sehe deshalb diesen Beitrag als eine persönliche Stellungnahme und eine erneute Auseinandersetzung und Reflexion zu wesentlichen Aspekten unserer Arbeit.

Eigener Werdegang als Neuropädiater

Nach dem Medizinstudium wollte ich 1972 primär Allgemeinmediziner werden, interessierte mich aber u.a. auch aufgrund meiner Dissertation bereits früh für psychiatrische und neurologische Fragestellungen. Durch ein Stipendium erhielt ich die Gelegenheit, ein Jahr wissenschaftlich in der Neurophysiologie bei Prof. R. Jung in Freiburg zu arbeiten, anschließend (begann ich 1976 eine kinderärztliche Ausbildung, in der ich mich bereits früh vor allem mit verschiedenen Aspekten von Entwicklungsstörungen und Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems beschäftigte. Wichtig war für mich das Erlebnis, Ende der 70er Jahre in der pädiatrischen Intensivmedizin zu arbeiten, als man gerade begann, extrem Frühgeborene intensiver zu behandeln, z.T. auch maschinell zu beatmen, was oft mit erschreckenden Komplikationen verbunden war. Anschließend war ich mehrere Jahre Mitarbeiter in einer Sprechstunde für sog. Risikosäuglinge, in der diese entsprechend den Konzepten von Karel und Berta Bobath untersucht und ggf. einer hieran orientierten Behandlung zugeführt wurden.

Erste Begegnungen mit Milani

In diesem Zusammenhang machte ich erste Bekanntschaft mit Milani, der u.a. 1967 einen Untersuchungsbogen zur reflexologischen Beurteilung von Säuglingen publiziert hatte, wie das auch von anderen Arbeitsgruppen in jener Zeit erfolgte.

Seit 1980 habe ich mich ausführlich mit den Möglichkeiten des Ultraschalls bei der Erkennung von Hirnschäden im Säuglingsalter und vielen anderen Erkrankungen beschäftigt. Dabei stellte ich fest, daß es keine festen Zusammenhänge zwischen morphologischen Veränderungen, z.B. Hirnblutungen bei Frühgeborenen und ihrer weiteren Entwicklung gab.

1982 erfolgte eine intensivere Bekanntschaft mit Milani durch das Buch von Monika und Götz Aly "Kopfkorrektur", das auch heute noch einen Meilenstein in der Diskussion zur Entwicklungsrehabilitation in Deutschland darstellt. Hier wurde ich mit dem Konzept der "Methode Monika" konfrontiert, erstaunt über die Chancen, die die Abschaffung von Sondereinrichtungen in Italien mit sich brachte und fand meine Vorstellung der Ablehnung dogmatischer Therapieansätze bestätigt. In einem Briefwechsel habe ich 1983 über einige Aspekte, insbesondere über die Einstellung zu der damals aufkommenden krankengymnastischen Behandlung nach Vojta mit den Alys diskutiert.

1984 hatte ich Gelegenheit, eine Woche an einem Seminar in Erice, Sizilien - einem kleinen, mittelalterlichen Ort hoch über dem Mittelmeer teilzunehmen. Es war eine Tagung über die Bedeutung des zerebralen Ultraschalls, an der aber viele hochkarätige Wissenschaftlicher unterschiedlicher anderer Bereiche, z.B. der Neuroanatomie, der Neurobiochemie und der Neurophysiologie sowie führende Neuropädiater aus aller Welt teilnahmen. Milani und der italienische Frauenarzt Janniruberto hielten Vorträge über die Erkennung und Auswertung von Bewegungen des Feten. Hierbei leitete Milani aus der Beobachtung der intrauterinen Kindsbewegungen komplexe Betrachtungen über die Entwicklung der Motorik, ja die gesamte Entwicklung des Menschen, ab.

Milanis Konzept der normalen Entwicklung

"Die fetale Motorik ist von elementarer Bedeutung für das Verständnis von einigen der drängendsten Probleme der Wissenschaft vom Menschen - die Interaktion zwischen dem Individuum und der Umgebung, zwischen genetischen und erworbenen Informationen, zwischen Körper und Geist. ... Die personelle Identität des Individuums im Kontext des Lebens vor und nach der Geburt ist ein globales Kontinuum, das als modulare Struktur von Funktionen und Funktionen von Funktionen aufgebaut wird: ein sich selbst einschließendes System von biologischen und mentalen Kompetenzen in Raum und Zeit. So ist der Geist nicht eine abgetrennte Entität, sondern Teil einer Struktur und die Frage, wann ein Geist sich als Qualität des menschlichen Seins zu differenzieren beginnt, ist nicht fortwährend und kann deshalb nicht beantwortet werden ... Fetale Bewegungen sind deshalb Ausdruck von Verhalten und sie sind somit eine Funktion biologischer Funktionen, d.h. eine komplette persönliche und zwischenmenschliche Erfahrung. Motorik beginnt mit dem Agieren, nicht mit dem Reagieren. Bewegungen des neugeborenen Kindes sind also keine Reflexe - ein Reiz- Reaktionsschema trifft nur für dezerebrierte Katzen zu." (eigene Notizen bei Vorträgen von Milani)

Beim Kind soll man nicht auf Reizantworten achten, sondern auf die Vorschläge, die das Kind dem Untersucher macht. Die alleinige Beschäftigung mit motorischen Defekten führt in eine Sackgasse. ...

Das Neugeborene hat eine hohe Kompetenz für differenzierte Tätigkeiten. Beim entwicklungsauffälligen Kind gibt es keine pathologischen Muster, sondern nur das Fehlen komplexer Fähigkeiten. Die Prognose eines Kindes muß im Gegensatz zu seiner Diagnose immer flexibel gehandhabt werden. Hier wies er einmal mehr auf das berühmte Konzept des "kreativen Dialoges" hin.

Sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel an Zuwendung und Förderung können für die Entwicklung des Kindes schädlich sein, entscheidend ist das "good-enough", wie es Winnicott formuliert hat.

Milani wies auch auf die Bedeutung der Symbolisation als Vorläufer einer Sprachentwicklung hin.

Milanis Konzept bei Entwicklungsstörungen

1985 nahm ich an einer Tagung des Paritätischen Bildungswerks in Frankfurt teil - Milani hielt hier einen Vortrag mit dem Thema "Von der Medizin der Krankheit zur Medizin der Gesundheit - from cure to care", d.h. von der "Behandlung zur Sorge um die Gesundheit". Seiner Ansicht nach kann das Böse in Form einer Behinderung nicht "wegtherapiert" werden, man kann nur etwas für den Behinderten tun. Umgekehrt kann man zwar gegen die Krankheit, aber nicht gegen den Kranken arbeiten. Der Behinderte ist wie ein Mosaik von Problemen, dessen Aufspaltung gefährlich ist. Therapie ist oft die Abwehrmaßnahme der Therapeuten und nur nützlich gegen die Angst, sich in der Realität zu stellen. Krankengymnastik ist demnach keine "heilende Macht", sondern der "Versuch, Normalität zu fördern".

Eindringlich warnte Milani vor Therapieübertreibungen und der "perversen Allianz" von Therapeuten und Eltern sowie vor der totalen Institutionalisierung der Behinderten. Auch hier teilte er wieder seine Begeisterung über die komplexen Bewegungsmöglichkeiten des ungeborenen Kindes mit. Aus dieser Beobachtung kommt er zu einer strikten Ablehnung von Reizüberlastungen des Säuglings und betont demgegenüber die Förderung von Eigeninitiative.

Beim Umgang mit dem Kind sollen keine Antworten gesucht werden, sondern Vorschläge - der Dialog mit dem Kind ist meist nonverbal, sein Geheimnis ist intentional - , das führt wieder zu der Bedeutung der Symbolik.

Nach seiner Ansicht sollten keine "neuen Methoden gesucht werden, sondern eine zusammenfassende Methologie gefunden werden - ein ganzheitliches Pattern". So wie das Neugeborene "ein Bereitschafts-Pattern" für eine normale Weiterentwicklung braucht, benötigt dies auch der ältere Behinderte. Korrigierende Schuhe oder Schienen sind deshalb von untergeordneter Bedeutung, viel wichtiger ist jede Vermittlung von Freude an Bewegung einschließlich Spiel und Tanz. Deshalb führt die Vermittlung therapeutischer Techniken an Familienangehörige oft zu Beziehungsstörungen, wobei ein "Mehr an Therapie" nicht ein "Mehr an Ergebnis" bedeutet. Reize sind nur im Kontext einer Beziehung zu verstehen - Übungen zerstören die Wünsche der Kinder. Nicht Übungen, sondern Erfahrungen sind entscheidend! Er nennt dies "das Prinzip des autonomen Lebenswillen des Kindes". Krankengymnastik soll also Teil einer "Medizin der Gesundheit" sein, das die Absichten des Kindes und die indirekten Absichten der Mutter (Metaintentionalität) mit einschließt.

Aussagen zur Prognose sollten nur dann gemacht werden, wenn diese vernunftbegründet und reell sind. Er plädiert für eine differenzierte Art der Mitteilung an die Eltern, die u.U. auch sehr hart sein kann. Nicht die Prognose einer Diagnose, sondern die Fähigkeiten des Kindes sollten aber immer im Vordergrund stehen. "Wir sehen in der Computertomographie das, was fehlt, aber nicht das, was das Kind hat. Dies kann zur Gefahr der fixierten Diagnosen führen. "Ähnlich äußerte er sich auch zum Stellenwert diagnostischer Aussagen mittels des zerebralen Ultraschalls. Von besonderer Bedeutung ist für ihn die Gesamtsituation der Familie, nicht nur der Mütter, sondern auch der Väter, der Großeltern und der Großfamilie, wobei vor allem die Schuldzuweisungen untereinander und gegenüber Dritten berücksichtigt werden müssen.

Deutliche Kritik äußerte er an der organisierten Behindertenbetreuung. Behinderte werden benutzt, um Berufsgruppen zu rechtfertigen und Funktionärsaktionen zu fördern. Deshalb lehnt er auch eine "Behinderten-Olympiade" ab. Seiner Ansicht nach gibt es wahrscheinlich nirgends in der Medizin so viele heimtückische Risiken ärztlich bedingter Störungen wie bei Eingriffen der rehabilitativen Medizin im Kindesalter. Im Gegensatz dazu äußerte er sich überraschenderweise aber vehement für eine medikamentöse und eventuell auch operative Therapie bei spastischen Bewegungsstörungen im Kindesalter.

Eine ausführliche Darstellung des Entwicklungskonzeptes von Milani und seine Bedeutung für die klinische Beurteilung findet sich in der Arbeit "The neurophysiological and clinical implication of studies on fetal motor behavior". Wiederholte Überlegungen, diese Arbeit zu übersetzen, scheiterten - überwiegend auch an sprachlichen Problemen.

Beziehung zu anderen Konzepten

Aus meinem eigenen Werdegang möchte ich zu diesen Thesen noch einige Beispiele anführen: Die ungarische Kinderärztin E. Pikler hat seit den 40er Jahren ein Konzept entwickelt, in dem die selbständige Bewegungsentwicklung des Säuglings im Vordergrund steht, was u.a. in dem Buch "Laß mir Zeit - die selbständige Entwicklung bis zum freien Gehen" zusammengefaßt ist. Obwohl viele Aspekte dieses Konzeptes mit den Vorstellungen von Milani übereinstimmen, wurde es von ihm barsch zurückgewiesen, da seiner Ansicht nach die Rolle der Mutter, die immer "alles richtig macht", zu wenig berücksichtigt würde.

Bei den besonders seit Mitte der 80er Jahre in Deutschland einsetzenden Bemühungen engagierter Eltern, ihren Kindern mit Entwicklungsstörungen z.B. aufgrund eines Down-Syndromes, den Besuch der Regelschule zu ermöglichen, spielten die Vorstellungen von Milani nur indirekt eine Rolle. Zwar galten integrative Einrichtungen in Italien, z.B. in Florenz und Arezzo, immer wieder als beispielhaft, dennoch wurde von den Kritikern auf viele Unzulänglichkeiten im italienischen Betreuungssystem hingewiesen.

Auch bei den integrativen Schulen in Deutschland spielten die Ansätze Milani weniger eine Rolle als z.B. die Pädagogik von Maria Montessorie, wie dies z.B. von Theodor Hellbrügge am Kinderzentrum in München eingeführt wurde.

Sozialpädiatrische Zentren

Nach dem Gesundheitsreformgesetz von 1989 wurden in Deutschland rasch viele Einrichtungen zur interdisziplinären Diagnostik und Therapieeinleitung von Kindern mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, die Sozialpädiatrischen Zentren, gegründet.

Eines davon, das "Frühdiagnosezentrum Würzburg" konnte ich ab 1992 neben meiner Tätigkeit als klinischer Oberarzt mit Schwerpunkt Neuropädiatrie an der Universitäts-Kinderklinik Würzburg aufbauen. Hier arbeiten Kinderärzte mit neuropädiatrischer Zusatzausbildung, Psychologen, Krankengymnasten, Logopäden, Ergotherapeuten und Sozialberater intensiv zusammen, um eine umfassende Diagnose zu erstellen und daraus sich entwickelnde Therapiemaßnahmen einzuleiten. Es hat sich gezeigt, daß in vielen dieser Einrichtungen nicht nur die typischen Körperbehinderungen, z.B. in Form einer Zerebralparese, vorgestellt werden, sondern vor allem Kinder mit Verhaltens- und Lernproblemen. Nicht selten muß dabei die Diagnose einer bleibenden geistigen Entwicklungsstörung im Sinne einer Behinderung festgestellt werden. Trotz intensiver organischer und psychologischer Diagnostik läßt sich häufig keine befriedigende Erklärung finden. Neben der wesentlichen Bedeutung genetischer Einflüsse spielen schwerwiegende Interaktionsstörungen bis hin zum sexuellen Mißbrauch, aber auch demonstrative Präsentationen von Symptomen bei Kindern, die eigentlich gesund sind, im Sinne eines "Münchhausen-Syndroms durch Verwandte", eine Rolle. Um diese Störungen zu diagnostizieren, ist eine besonders differenzierte und feinfühlige psychologische Diagnostik notwendig.

Wie in vielen anderen spezialisierten Einrichtungen haben die Krankengymnastinnen des Frühdiagnosezentrums abgeschlossene Ausbildungen sowohl in der Bobath- als auch in der Vojta-Methode, haben sich darüber hinaus aber auch mit unterschiedlichen anderen Verfahrensweisen, z.B. der Motopädagogik und dem Feldenkrais-Konzept beschäftigt. Ganz im Vordergrund krankengymnastischer Therapiemaßnahmen steht die individuelle Anpassung an die spezifischen Probleme des Kindes. Das bedeutet, daß es zunehmend klare Indikationen für den Einsatz verschiedener Methoden gibt.

So wird die Vojta-Methode vor allem bei jungen Säuglingen nach dem ersten Lebensmonat mit fixierten Gelenkkontrakturen, Rumpfasymmetrien, muskulären Dystonien und auch muskulären Hypotoniesyndromen, spastischer Zerebralparese, einer Gefährdung zur Hüftluxation und einem ausgeprägten gastro-ösophagealen Reflex eingesetzt. Unabdingbar ist dabei aber immer die Forderung, daß die Eltern die Maßnahme verstehen und akzeptieren und daß wir uns bei jeder Vorstellung aufs neue fragen, ob die Interaktion und das Familienleben störende aggressive Therapiemethoden durch andere Maßnahmen bis hin zum vollständigen Absetzen jeder Therapie oder richtige Handhabung im Alltag ersetzt werden können. Dabei müssen auch viele lokale Gegebenheiten, z.B. qualifizierte Krankengymnastinnen in Heimatnähe oder Möglichkeiten verschiedener anderer Institutionen, z.B. von Frühförderstellen, berücksichtigt werden.

Praktische Konsequenzen des Milani-Konzeptes heute

Welche Konsequenzen hat das Milani-Konzept heute im Alltag der Klinik und unseres Sozialpädiatrischen Zentrums:

Vielen Eltern versuchen wir, auch im Sinne von E. Pikler, zu erklären, daß es vor allem auf die selbständigen Aktivitäten des Kindes ankommt, daß sie sich nicht vorschreiben lassen sollten, was im Umgang mit dem Kind richtig und was falsch sei. Wir versuchen also immer wieder die Kompetenz der Eltern, insbesondere der Mütter, zu stärken, aber auch bestimmte Grundsätze im Umgang zu vermitteln, die z.T. denkbar einfach sind. So sollten die Säuglinge so wenig wie möglich zugedeckt sein, sondern sich aktiv auf einer Bodendecke bewegen können. Kein Kind sollte passiv in Positionen gebracht werden, die es aktiv nicht erreichen kann, dies gilt insbesondere für das Hinsetzen und Hinstellen, auch sollten die Kinder nicht mit einem Bombardement mechanischer Reize, z.B. Mobiles, Tonbändern, Aktionsbrettern usw. traktiert werden.

Die differenzierte Beobachtung der Spontanmotorik des wachen Säuglings, letztlich jeden Kindes, ist die wichtigste Grundlage für die Entwicklungsbeurteilung. Die Beobachtung der fetalen Bewegungsabläufe hat uns im Verständnis der Spontanmotorik des jungen Säuglings entscheidend gefördert.

Wir haben eine Zurückhaltung gegenüber einseitiger apparativer Diagnostik: So ist der Nachweis einer strukturellen Anomalie des Gehirns nicht identisch mit einer definierten Funktionsstörung, Veränderungen im Elektroenzephalogramm erlauben oft keine alleinige Erklärung für Krankheits- und Beschwerdebilder. Auf keinen Fall dürfen alleine nur apparative Untersuchungsergebnisse dazu führen, unkritisch Medikamente wie Psychopharmaka, Stimulantien oder Antiepileptika, evtl. sogar operative Eingriffe, einzusetzen.

Auch wir stehen allen dogmatischen Therapiemethoden, insbesondere denen, die dem Kind wenig eigenständige Entfaltung ermöglichen, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Ebenso stehen wir Aktivitäten sog. caritativer Organisationen, von z.T. monopolisierten Sondereinrichtungen und anderen, die Eltern einnehmenden Institutionen, zurückhaltend gegenüber. Entscheidend ist für uns immer die Stärkung der elterlichen Kompetenz und die Motivation der Betroffenen, ihr Leben positiv und realistisch zu gestalten. Deshalb unterstützen wir viele verschiedene Selbsthilfeorganisationen und das Bestreben von Eltern, Kontakte mit anderen Betroffenen anzuknüpfen. Auch unterstützen wir immer wieder realistische Bestrebungen, Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen in Regeleinrichtungen zu integrieren und ihnen ein Leben in Würde und Normalität zu ermöglichen. Dies kann auch durch die Aufnahme gesunder Kinder in Sondereinrichtungen geschehen. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin eine offene und verständliche Absprache mit den Eltern, welche Therapiemethode bei ihrem Kind von ihnen als sinnvoll und erträglich akzeptiert werden kann. Deshalb versuchen wir die Eltern in großem Umfang dadurch mit einzubeziehen, indem wir den Arztbrief über die Vorstellung in unserer Einrichtung nachrichtlich auch an sie senden. Schließlich ist für uns von entscheidender Bedeutung, alle präventiven Maßnahmen, insbesondere Informationen in der Öffentlichkeit, in Schulen, bei Fachtagungen und in Journalen zu verbreiten, aber auch durch frühzeitige Kontakte mit Schwangeren, auf der Intensivstation, bei Hebammen, Erzieherinnen, in Horten und Schulen Einfluß zu nehmen.

Heutige Differenzen zum Milani-Konzept

Bei der Betreuung von Kindern mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, wie sie heute erfolgt, gibt es sicher eine ganze Reihe von Maßnahmen, denen Milani nicht ohne weiteres zugestimmt hätte. So ist es ein intensives Bemühen, bei allen ungeklärten Krankheitsbildern und ausgeprägteren Entwicklungsstörungen differenzierte Diagnostik der Ursachen einschließlich des Einsatzes apparativer und laborchemischer Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, EEG, Kernspintomographie usw. vorzunehmen. Dies gilt insbesondere für die sich geradezu explosionsartig ausbreitenden Möglichkeiten der Humangenetik. "Geistige Behinderung" oder gar der Begriff "frühkindlicher Hirnschaden" sind für uns keine abschließenden Diagnosen, vielmehr eine Aufforderung zu einer differenzierten Suche nach den Ursachen. Dennoch müssen wir immer wieder Eltern darauf hinweisen, daß eine einzelne Blutentnahme, Kernspintomographie oder Muskelbiosphie in der Regel nicht sofort eine klare Diagnosestellung ermöglicht. Der richtige Untersuchungszeitpunkt, die richtige Technik und die Berücksichtigung vielfältiger Störfaktoren bei der richtigen Interpretation sind wesentliche Grundvoraussetzungen für den Einsatz dieser Maßnahmen, die in keinem Fall undifferenziert nach einem "Gießkannenprinzip" durchgeführt werden sollten. Zum Teil muß man, trotz eines klinischen Verdachtes, Eltern darauf hinweisen, daß dies vielleicht aber in kurzer Zeit mit verbesserten Methoden erfolgen kann. Dies gilt z.B. bei den zunehmend differenzierteren Aussagen der molekulargenetischen Veränderungen des fraglichen X-Syndroms und vielen anderen genetischen Erkrankungen, die sehr wohl weitergehende Konsequenzen bei der Familienplanung und -beratung haben können.

Aggressive Therapieformen werden grundsätzlich abgelehnt, wenn sie mit einem sinnvollen Effekt und einer Verbesserung der Lebensqualität einhergehen. Dies gilt z.B. für die krankengymnastische Behandlungen mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die Behandlung mit modernen Antiepileptika bis hin zum epilepsie-chirurgischen-Eingriff und der Verordnung von Psychopharmaka einschließlich den Amphetaminen beim hyperkinetischen Syndrom.

Die Zusammenarbeit mit engagierten Sportwissenschaftlern hat viel von der Skepis gegenüber einer "Behinderten-Oiymipade" vermindert, wie dies nicht nur von Körperbehindertengruppen, sondern z.B. von Kapustin auch für Geistigbehinderte ausgerichtet wird. Hierdurch kann z.T. eine erhebliche Motivation und Freude an Sport und Bewegung ausgelöst werden.

Bewertung und Ausblick

Die Begegnung mit Adriano Milani war das Erlebnis einer charismatischen, eigenwilligen Persönlichkeit mit einer spezifischen Entwicklung, die viel durch seine Zeit und seinen Ausbildungsweg gekennzeichnet ist. Viele seiner z.T. schroffen Ansichten waren notwendig, um seine Zeitgenossen aufzurütteln, sie sind aber auch zeitlos, weil er die Grenzen der Möglichkeiten bei der Behandlung behinderter Kinder klar erkannt, benannt und akzepiert hat. In der Geschichte der medizinischen Rehabilitation in diesem Jahrhundert ist er ein mindestens ebenso wichtiger Vertreter wie Berta und Karel Bobath, Vaclav Vojta und in Deutschland, Theodor Hellbrügge - obwohl deren Konzepte überwiegend nicht mit den Vorstellungen von Milani übereinstimmen.

Offensichtlich werden bleibende Prinzipien in der Rehabilitation entwicklungsauffälliger und behinderter Kinder vor allem von der Persönlichkeit der Erstautoren geprägt. Ihr Charisma gleicht zum Teil einem Dogma. Sie fordern eine Entscheidung für oder gegen sich heraus, die z.T. sehr divergent und damit für die Betroffenen verwirrend sein kann. Dies gilt auch für Vertreter nicht allgemein anerkannter Therapiemethoden, wie Doman, Petö, Kosniavkin, Tomatis und viele andere.

Gerade diesen Methodengläubigen steht Milani mit seinen Überlegungen z.T. diametral entgegengesetzt, dennoch ist er nicht weniger kompromißlos und konsequent. Dies mag Betroffene z.T. abschrecken, es bleibt aber vor allem eine wichtige Herausforderung.

Viele meiner Kollegen neigen heute dazu, Kompromisse zwischen den verschiedenen Methoden aufzubauen, wir wollen uns "das Beste von allem, was die Entwicklung des Kindes fördert" heraussuchen und verschiedene, evtl. sich gegenseitig ausschließende Methoden miteinander verbinden. Vielleicht brauchen wir aber auch einen längeren Lebens- und Erfahrensweg, um eine eigene, persönliche Konzeption zu entwickeln.

Auch Milani ist mit seiner der Konzeption nie stehen geblieben, er war bis zuletzt offen für neue Vorstellungen. Dennoch hat er sich mit den ungeahnten Möglichkeiten der differenzierten Gewebediagnostik und er Molekulargenetik nicht mehr ausreichend beschäftigen können. So müssen wir heute versuchen, mit den unterschiedlichen Fachdisziplinen intensiv zu kooperieren und die z.T. schwer zu interpretierenden Befunde in einen praxisbezogenen Einklang zu bringen. Dies bedeutet vor allem, die subjektiven Beschwerden und die klinischen Symptome als Einheit im Vordergrund zu sehen und nicht aus Einzelbefunden einseitige Erklärungen abzuleiten. Dabei müssen wir uns bemühen, in der Wortwahl angemessen und in den Erklärungen verständlich zu sein, sollten nicht von "Mißbildung, Primitivreflexen und drohender Behinderung" sprechen. Denn, wie man spricht, denkt man und wie man denkt, so handelt man.

Sicher gibt es immer Eltern, die sich marktschreierisch angepriesenen, wissenschaftlich aber unlauteren und unhaltbaren Diagnostik- und Therapieritualen anvertrauen. Andererseits bin ich aber überzeugt, daß immer mehr Menschen aufgeklärt und kompetent sind und sich letztlich doch rational mit bleibenden Erkenntnissen auseinandersetzen. Je besser möglichst viele Eltern über die biologischen Grundlagen des Menschen aufgeklärt sind, um so besser werden wir mit ihnen die Ursachen der Störungen bei ihrem Kind besprechen können. Und das hindert uns ja nicht daran, neuen Fragen und Konzepten nachzugehen, wie z.B. der Bedeutung von Umweltbelastungen.

Wir können, und das wird auch niemand verlangen, keinen Standpunkt aufrecht erhalten, der dem von Milani identisch ist. Deshalb sollten wir verstehen, zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen Brücken für sinnvolle Wege zu finden, aber Sackgassen zu erkennen, falsche Wege abzusperren und Umleitungen anzubieten. Auch in der Zukunft brauchen wir immer wieder warnende Hinweise und Visionen über die Integration der verschiedenen Systeme zu einem Gesamtkonzept.

Literatur

Aly M, Aly G, Tummler M (1991) Kopfkorrektur oder der Zwang gesund zu sein - ein behindertes Kind zwischen Therapie und Alltag. Rotbuch - Verlag, Berlin (2. Aufl.)

Bobath K (1980) Neurophysiological Basis for the Treatment of Cerebral Palsy. Clinics in Developmental Medicine 75. Heinemann, London

heIlbrügge T (1981) Klinische Sozialpädiatrie - Ein Lehrbuch der Entwicklungsrehabilitation im Kindesalter. Springer, Berlin, Heidelberg, New York

Kapustin T (1981) Familie und Sport - Spiel - Spaß - Gemeinschaft. Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Lüpke H von (1985) Auffällige Motorik - Versuch einer Erweiterung der Perspektive. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 34:219-225

Lüpke H von, Voss R (1997) Entwicklung im Netzwerk - Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Centaurus, Pfaffenweiler (2. Aufl.)

Milani Comparetti A (1981) The Neurophysiologic and Clinical Implications of Studies on Fetal Behavior. Seminar in Perinatologie 5:183-189

Milani Comparetti A, Gidoni EA (1967) Pattern Analysis of Motor Development and Its Disorders. Develop.Med. Child Neurol. 9:625-630

Milani Comparetti A, Gidoni EA (1967) Routine Developmental Examination in Normalität and Retarded Children. Develop. Med. Child Neurol. 9:631-638

Milani Comparetti A, Roser O (1982) Förderung der Normalität und Gesundheit in der Rehabilitation. In: Wunder M, Sierck U (Hrsg.) Sie nennen es Fürsorge. Berlin

Pikler E (1988) Laß mir Zeit - Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Pflaum, München

Straßburg HM (1988) Kinder mit "Risiko" - Symptomen und "Behinderungen" in unserer Gesellschaft. Der Kinderarzt 19:1152-1156

Straßburg HM, Dachenender W, Kreß W (1997) Entwicklungsstörungen bei Kindern -Grundlagen für ein besseres Verständnis und eine gemeinsame Betreuung. Gustav Fischer, Stuttgart

Vojta V (1988) Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. Frühdiagnose und Frühtherapie. Enke, Stuttgart

Quelle:

Hans-Michael Straßburg: Konsequenzen des Milani-Konzeptes für die heutige interdisziplinäre Betreuung von Kindern mit Entwicklungsstörungen

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 72 - 85

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005

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