Das Porträt / The Portrait

Autor:in - Wolfgang Stange
Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Interview
Releaseinfo: Erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 62, Sommer 1999
Copyright: © Orff Schulwerk Informationen 1999

London, im Gespräch mit Shirley Salmon

Viele Leser und Leserinnen werden Wolfgang Stanges beeindruckende künstlerisch-pädagogische Arbeit von Kursen, Symposia, Aufführungen oder von seinem Film »Rückblick« kennen. Ich habe das Glück gehabt, öfters auf Kursen mit Wolfgang zusammenzuarbeiten, wo ich nicht nur manchmal teilnehmen konnte, sondern auch vor, zwischen und nach dem Unterricht vieles mit ihm austauschen konnte. Dieses »Interview« konnte nicht live stattfinden, sondern fand ungewöhnlicherweise mit Hilfe unserer beiden Faxgeräte statt. Meine Fragen möchten Wolfgangs Hintergrund und Entwicklung näher beleuchten, sein Menschenbild und seine künstlerische Arbeit verstehen.

Hattest Du irgendwelche prägende, beeindruckende Erlebnisse, die Dich als junger Mensch zum Tanz führten?

Als ich als kleines Kind meine erste Tanzaufführung sah, wollte ich Tänzer werden. Mein Vater, ein guter Mensch der Arbeiterklasse, wollte davon nichts wissen und wies es mit den Worten ab, daß Tanz nur etwas für Mädchen wäre. Ich war verwirrt, da ich auch Buben auf der Bühne sah, wollte aber meinen Vater, den ich liebhatte, nicht verärgern und verschob das Gefühl. Tanz war aber mit der Bühne verbunden, und somit entwickelte ich ein Gefühl für das Theater. Während meiner Lehrlingsausbildung als Koch leitete ich mein eigenes Laientheater. Eine Woche nach einer unserer Aufführungen »Die Kleider des Maître Patelin« sah ich den Ballettfilm »Romeo und Julia« mit Margot Fonteyn und Rudolph Nureyev. Das war das Erlebnis, das mich endgültig zum Tanz brachte. Ich war mir plötzlich bewußt, daß Ausdruck durch Musik und Bewegung so stark wie oder sogar noch stärker als Ausdruck durch Worte sein kann. Von diesem Moment hatte ich einen unwahrscheinlichen Drang und ein Verlangen, Tanzerfahrungen zu sammeln.

Wie waren Deine ersten Kontakte mit behinderten Menschen?

Meine ersten Kontakte entwickelten sich 1970, als ich Student bei Hilde Holger in London war. Hilde Holgers Sohn hat das Down-Syndrom, und Hilde gab mir Freistunden, um ihren Sohn Darius im Lesen und Schreiben zu unterstützen. Hilde selber gab Tanzunterricht für eine Gruppe junger Männer mit Down-Syndrom. Eine Einladung Hildes, dieser Stunde beizuwohnen, nahm ich dankend an und war überrascht, daß Hilde auch hier ihrem Temperament freien Lauf ließ und losschimpfte, wenn etwas nicht klappte, wie sie es aufgetragen hat. Ja, warum auch nicht, dachte ich, sie behandelt diese Menschen nicht anders als uns. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Idee, daß ich diese wunderbaren Menschen einmal selber unterrichten würde.

1974, als ich im zweiten Jahr meines Tanzstudiums an der Martha-Graham-Schule »London School of Contemporary Dance« war, unterrichtete ich einmal in der Woche in einer Tagesklinik für Menschen mit psychiatrischen Problemen. Gina Levete, die Gründerin der »SHAPE«-Organisation in Großbritannien, hörte von meiner Arbeit in der Tagesklinik und bat mich, in einer Institution für geistig behinderte Menschen kreative Tanzklassen abzuhalten. Das war der Anfang meiner Arbeit mit behinderten Menschen.

Du verwendest eine riesige Sammlung von Musikarten aus aller Welt. Wie entwickelte sich Deine Beziehung zur Musik - was war ausschlaggebend?

Meine Arbeit entwickelte sich auf diese Weise, und meine Schüler wurden meine Lehrer. Da ich in verschiedenen Krankenhäusern und Tagesstätten unterrichtete, hatte ich natürlich keinen Zugang zu Live-Musik, also mußte ich eine Lösung finden. Am Anfang nahm ich meine Schallplatten mit und später dann Kassetten, die ich von meinen Schallplatten überspielte. Mein Interesse, meinen Schülern neue Erfahrungen zu übermitteln, lag im Zentrum dieser Idee. Also fing ich an, Musik von der ganzen Welt zu sammeln. Popmusik war nie in meiner Sammlung. Das hat mehrere Gründe. Ich wollte, daß meine Schüler sich frei ausdrücken. Popmusik war sehr einschränkend, da meine Schüler versuchten, das zu imitieren, was sie im Fernsehen sahen. Ich wollte aber, daß meine Schüler sich ihrer eigenen Bewegungen bewußt wurden, sie entwickeln und daß sie stolz auf das Eigene wurden. Imitation hatte hier keinen Platz.

Wenn ich dann Musik aus Vietnam oder Japan zum Beispiel spielte, hatten sie keine Möglichkeiten, zu kopieren und folgten nur ihrem Instinkt. Ich werde nie vergessen, als ich an einem Abend japanische Gäste in der Gruppe hatte und eine meiner Schülerinnen mit Down-Syndrom zur japanischen Musik tanzte. Meine Gäste fragten, wie lange diese junge Frau japanischen Tanz studiert hatte. Sie wollten nicht glauben, daß diese Frau zum ersten Mal zu dieser Musik getanzt hatte.

Deine Gruppe AMICI ist schon sehr bekannt. Wie ist die Gruppe entstanden und welche Anfangsschwierigkeiten gab es?

AMICI wurde 1980 gegründet. Die Zukunft AMICIS war aber nicht geplant. Ich unterrichtete wie gesagt in (der Tagesstätte) Normansfield. In London hatte ich schon meine blinden Schüler mit meinen sehenden Schülern integriert. Meine Normansfield-Gruppe hatte schon mehrere Aufführungen hinter sich. Diese Aufführungen fanden in der Institution statt, und das Publikum waren Freunde, Familienmitglieder und Angestellte. Ich wollte aber, daß sie ihr Können außerhalb der Institution zeigen und wollte sie mit meiner London-Gruppe integrieren.

Mein Enthusiasmus war so groß, daß meine Londoner Gruppe die Idee akzeptierte. Meine blinden Mitglieder waren zuerst einmal nervös, weil sie glaubten, daß wenn sie mit geistig behinderten Menschen zusammenarbeiteten, könnte das Publikum sie auch für geistig behindert halten. Aber schon nach dem ersten Workshop hatten sie diese Angst verloren, weil ihnen bewußt wurde, daß jedes Individuum im positiven Licht stand und daß der Schwerpunkt auf der Zusammenarbeit lag.

Wie sieht die Zusammenarbeit bei AMICI aus? Welchen Anteil haben die Gruppenmitglieder an der Entstehung eines Tanzstücks? Tragen sie zum inhaltlichen oder choreographischen Gestaltungsprozeß bei?

Der Gedanke, das Gefühl und letztlich die Idee für eine Choreographie kommen von mir. In Improvisationen lasse ich die Gruppe an meiner Idee teilnehmen. Ich beobachte die Gruppe und auch individuelle Tänzer und notiere, was meiner Idee und meinem Gefühl am nächsten ist. Wenn mir etwas besonders gefällt, obwohl es vielleicht im Augenblick nicht ganz in meine Planung paßt, wenn es aber in seiner Ausführung einen hohen künstlerischen Wert hat, dann versuche ich einen Weg zu finden, der es ermöglicht, diesen Beitrag mit einzubauen, ohne von der Originalidee abzukommen.

Wenn ich spezielle Bewegungen für die Entwicklung einer bestimmten Szene brauche, dann lernen die Gruppenmitglieder das natürlich, geben aber oftmals ihre persönliche Note. Da sie ja alle am kreativen Prozeß teilnehmen, ist es relativ einfach, die oftmals komplizierten Choreographien ohne Schwierigkeiten auszuführen. Der Rahmen der AMICI-Stücke ist fest und stark, aber innerhalb des Rahmens gibt es viele Möglichkeiten, sich selbst zu sein und etwas Persönliches zu geben. Das macht die Aufführung mit AMICI so lebendig.

Wie wird integrative Arbeit mit künstlerischen Medien in England geschätzt? Ist sie auch grundsätzlich in Schulen verankert und welche Unterstützung gibt es für diese Arbeit?

AMICI wird für ihre Arbeit im Theaterbereich sehr geschätzt. Es gibt aber auch Gegner. Die kommen von Gruppen, die die Behindertenkultur vertreten. Für diese Vertreter sollen die Behinderten ihre Kultur allein aufbauen, ohne Einfluß von Nichtbehinderten. Daß ich als Nichtbehinderter eine Gruppe wie AMICI vertrete, ist ein Dorn in ihren Augen. Was ich versuche ihnen klarzumachen, ist, daß AMICI keine Behindertengruppe ist, sondern eine Gruppe von Menschen, die sich im kreativen Tanz ausdrücken wollen. AMICI ist nicht aus einer politisch korrekten Bestimmung entstanden, sondern hat sich organisch entwickelt.

Integration in Schulen wird teils ausgeübt, hat aber nicht die richtige finanzielle Unterstützung, die es braucht, um wirkliche Integration entwickeln zu können. Viele Eltern haben Angst, daß ihre Kinder akademisch zurückgehalten werden, sollten Kinder mit geistiger Behinderung in derselben Klasse sein. Das kann natürlich vorkommen, wenn Lehrer nicht die richtige Unterstützung bekommen. Man kann Kinder, die andere Lernmethoden brauchen, nicht ohne Unterstützung in irgendeine Klasse schicken. Mit der richtigen Unterstützung kann Integration in den Schulen nur etwas Positives sein. Schüler mit hoher Lernpotenz sollen und werden sich akademisch entwickeln, aber zur gleichen Zeit lernen sie, was sie an keiner anderen Schule lernen - Menschlichkeit. Eltern sollten sich überlegen, was sie für sich und ihr Kind wünschen - nur eine erfolgreiche Karriere oder ein erfolgreiches Kind, das sich auch Gedanken über andere macht, vielleicht sogar Gedanken über die Eltern im hohen Alter. Das hängt natürlich alles von der individuellen Schule ab und auch von der richtigen Unterstützung.

Du arbeitest auch mit verschiedensten Materialien. Kannst Du einige beschreiben und auch Deine möglichen Gründe für den Einsatz von solchen Medien erläutern?

Materialien im Unterricht dienen einfach dazu, dem Schüler einen Anhaltspunkt zu geben. Man kann dazu wirklich alles nehmen. Eine Kastanie, einen kleinen Stein, ein Tuch, bunte Bänder, einen Stuhl, eine Handtasche, wirklich alles. Es hilft, einen Fokus zu finden. Es kann eine Verbindung mit einer anderen Person oder sogar einer kleinen Gruppe herstellen. Es hilft, neue Bewegungen zu erforschen. Exotische Masken und Fächer können kleine Bewegungen zu großen Theatererfahrungen werden lassen. Scheue Schüler öffnen sich oft mit Hilfe dieser Materialien, und es hilft ihnen im Aufbau ihrer Zuversicht.

Peter Radke hat vor einigen Jahren ein Kapitel geschrieben mit dem Titel »Warum die Gesellschaft den ›Behinderten‹ braucht« Hast Du dazu Gedanken?

Viele Menschen sehen Menschen mit Behinderung als Last. Das ist eine ganz oberflächliche Bemerkung. Aber diese Bemerkungen kommen sehr oft von Menschen, wo man glaubt, daß sie eine Bildung genossen hatten, die solche Bemerkungen nicht zulassen würde. Aber nein, alles, was anders ist, wird als Last oder »nichts Gutes« angesehen. Es ist Angst, Angst vor dem »Nichtwissen«. Hätten diese Menschen eine integrierte Schulbildung genossen, glaube ich kaum, daß sie in dieser Angst leben würden.

Ich bin dankbar, daß Menschen mit Behinderung meine Lehrer waren. Für mich sind sie Lehrer unserer Gesellschaft. Ohne ihren Einfluß wäre unsere Welt in einem noch schlimmeren Zustand. Innere Kraft, Stamina, aber vor allem Aufrichtigkeit, sind einige der Eigenschaften, wo wir uns alle eine Scheibe abschneiden sollten. Sie können sich nicht hinter Schminke verstecken. Ein neuer Rollstuhl mag besser aussehen und vielleicht auch besser fahren, aber er bleibt ein Rollstuhl. Es ist nicht der Rollstuhl, die Gesichtszüge eines Menschen mit Down-Syndrom oder die Bewegung eines Menschen mit einer spastischen Lähmung, auf die wir uns konzentrieren sollen, sondern auf seine Persönlichkeit.

Infos

Orff-Schulwerk-Informationen; Nr. 63, Sommer 1999

Herausgegeben von: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst "Mozarteum" in Salzburg, "Orff-Institut" und Orff-Schulwerk Forum Salzburg;

Frohnburgweg 55, A-5020 Salzburg

Schriftleitung: Barbara Haselbach

Quelle:

Wolfgang Stange: Das Porträt / The Portrait

Erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 62, Sommer 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.05.2006

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