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Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung in Hessens Grundschulen. Ein Lesebuch zu 10 Jahren Integrative Schule Frankfurt


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zum Schuljahr 1985/86 hat die "Integrative Schule - Grund- und Sonderschule" in Frankfurt ihren Unterricht aufgenommen. Vor also nunmehr 10 Jahren, im August 1985, haben sich die Evangelische Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt und der Evangelische Regionalverband Frankfurt als Träger dieser Schule zur Verwirklichung der Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder im Schulbereich gestellt, aufbauend auf den Erfahrungen der Integration Behinderter und Nichtbehinderter im Integrativen Kindergarten der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde. Bereits seit Oktober 1977 bestand der Integrative Kindergarten, hatte im Kindergartenbereich über Frankfurt hinaus initiativ gewirkt und gab den Anstoß zur Weiterführung dieser diakonischen Aufgabe in den Schulbereich.

Wie war es möglich, daß eine kleine evangelische Kirchengemeinde aus eigener Entscheidung eine solche Initiative ergreifen konnte? Die Antwort ergibt sich aus der historischen Entwicklung und der daraus resultierenden Rechtsstellung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde. Als Flüchtlingsgemeinde von wallonischen Protestanten 1554 gegründet war sie stets auf die Duldsamkeit der Frankfurter Bürger und Prädikanten angewiesen und hat über 200 Jahre die Probleme einer Minderheit zu spüren bekommen, die auch heute noch den Mitgliedern der Gemeinde bekannt sind. Auch hat die seit der Gemeindegründung mit geringen Änderungen gültige Gottesdienst- und Gemeindeordnung in ihr ein Diakonieverständnis geprägt, das sich der besonderen Probleme der Gegenwart und in eigener Verantwortung der Integration Behinderter und Nichtbehinderter annimmt. Aber erst die über Jahrhunderte erhaltene eigenverantwortliche finanzielle Selbständigkeit, die auch als Mitglied der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau weiterbesteht, gab der Gemeinde die Möglichkeit Integration zu verwirklichen. Beide Träger der Integrativen Schule haben einen nicht unbedeutenden finanziellen Beitrag jährlich aufzubringen und könnten ohne die Hilfe von Land, Stadt, Landeswohlfahrtsverband, Elternbeiträgen und Spenden die Schule nicht in ihrer jetzt schon geprägten pädagogischen Form erhalten.

Das integrative Pädagogikkonzept wurde durch die wissenschaftliche Begleitung des Instituts für Sonder- und Heilpädagogik an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität bestätigt und ist richtungweisend nicht nur für Politik und Verwaltung sondern gibt auch der Schulpraxis hilfreiche Impulse. Die von der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde herausgegebene Schriftenreihe "Lernziel Integration" berichtet ausführlich über die wissenschaftliche Begleitung im Integrativen Kindergarten und der Integrativen Schule.

Die Erfahrungen der Integrativen Schule haben in der Gesetzgebung des Landes Hessen bereits den Gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern festgeschrieben. Allerdings bedarf es noch vieler Anstöße zur Weiterentwicklung von Integration, deren Genehmigungsverfahren und erforderlicher Notwendigkeiten im Schulbereich. Hier will die Integrative Schule mit ihrer Pilotfunktion Wege für den schulische Primarbereich aufzeigen, aber auch zum weiteren Ausbau der Integration im Sekundarbereich und darüber hinaus. Integration darf keine Sackgasse sein!

Die Träger fühlen sich dieser diakonischen Aufgabe verpflichtet in der Hoffnung, daß gemeinsames Leben und Lernen Behinderter und Nichtbehinderter zum Selbstverständnis wird. Dank sei allen gesagt, die dieser Verwirklichung von Integration, in welcher Weise auch immer, bisher geholfen haben. Wir sind auch weiterhin auf Hilfe und Unterstützung angewiesen.

Heinz Mulot

Vorsitzender des Aufsichtsrates der Schul-GmbH, Mitglied im Konsistorium der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt

1. Einleitung

Foto: Größeres Kind hält Kleineres Kind im Arm (Beschriftung von bidok eingefügt)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Gemeinsamer Unterricht ist der Versuch einer pädagogischen Antwort auf ein Bündel sozialer Probleme:

Menschen, die sich nicht von selbst in den Prozeß von Bildung, Produktion und Konsum integrieren, sind isolierenden Bedingungen unterworfen.

Menschen, die in diesen Prozeß integriert sind, verlieren oft den Blick für die Spannbreite anderer Lebensrealitäten, da sie in extreme Abhängigkeit von ihrem wirtschaftlichen Funktionieren und ihrem gesellschaftlichen Erfolg geraten.

Große Teile unterschiedlicher Lebensrealitäten werden somit aus der Wahrnehmung und dem Erfahrungshorizont genommen. Jeder bleibt in seiner Lebensrealität gefangen und es gibt immer weniger Bereiche sozialer Begegnung.

Zur Bewältigung der sozialen Probleme werden spezielle staatliche Institutionen herangezogen, die wenig Möglichkeiten zum Ausprobieren und Einüben gemeinschaftlicher Lösungsmöglichkeiten bieten.

Es zeigt sich aber, daß soziale Probleme, die aus dem Alltag der Gemeinschaft ausgeblendet werden, in anderer Form geballt auf sie zurückfallen.

Im Bewußtsein dieser Problematik und mit dem Wunsch auf Veränderung öffnete die Integrative Schule Frankfurt am 26.08.1985 ihre Türen und nahm ihre ersten 15 Kinder auf. Ein Tag voller Euphorie, aber auch voller Ängste : Das Ziel, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten war erreicht, aber würden die Erfahrungen des gemeinsamen Lebens und Lernens aus dem Kindergartenbereich auch in Schule umsetzbar sein ?

Heute - 10 Jahre später - hat die Integrative Schule einen Grund zum Feiern. Die Schule hat sich als Schule etabliert und einen festen Stand in der bildungspolitischen Schullandschaft, das gemeinsame Unterrichten von behinderten und nichtbehinderten Kindern ist zur Normalität geworden, das pädagogische Konzept ist ausgereift und die Nachfrage von Elternseite groß.

Das vorliegende Buch, das aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Integrativen Schule entstanden ist. will jedoch nicht nur aus der Integrativen Schule Frankfurt berichten - die Beschäftigung mit der Idee an sich und deren Ausbreitung steht im Mittelpunkt der Ausführungen.

Die anfänglich vereinzelten Modellversuche des Gemeinsamen Unterrichts in Hessen, die wissenschaftlich begleitet wurden, zeigten sich für alle Kinder so gewinnbringend und erfolgreich, daß der Gemeinsame Unterricht in der Grundschule inzwischen gesetzlich verankert ist.

Somit konnte sich der Gemeinsame Unterricht flächendeckend ausbreiten und die Integrative Schule als Schule in freier Trägerschaft muß sich fragen, welche Funktion sie nunmehr im Rahmen des allgemeinen Kontextes innehat. Die anfängliche Definition einer Pilotschule, die aufzeigen will, daß Gemeinsamer Unterricht möglich ist, hat sich glücklicherweise überholt. Als neue Funktion kristallisiert sich heraus, den reichhaltigen Fundus an konzeptionellen und pädagogischen Überlegungen im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen weiterzugeben, auf Probleme in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen und Ergebnisse des Gemeinsamen Unterrichts zusammenzutragen und zu veröffentlichen.

Aus dieser Intention heraus ist in diesem Buch ein großes Kapitel für Praxisberichte vorbehalten.

Bei genauer Beleuchtung der Praxisbeispiele werden sowohl Gemeinsamkeiten in der Herangehensweise an den Gemeinsamen Unterricht als auch individuelle Lösungswege sichtbar. Somit stellt jede Schule aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und ihrer Kinder ein Unikat dar, das heißt, es kann bei der Gegenüberstellung der verschiedenen Beispiele nicht um eine Bewertung von richtig oder falsch gehen, sondern um Problemanzeigen auf unterschiedlichen Wegen zu einem gemeinsamen Ziel.

Deutlich wird jedoch bei allen Praxisbeispielen die unbedingte Einbettung des Gemeinsamen Unterrichts in Öffentlichkeit, Politik und gesellschaftliches Bewußtsein: Das vorherrschende Bild des "anderen Menschen" und seiner Bewertung ist der Schlüssel zur Weiterentwicklung integrativer Bemühungen. Dagegen erscheinen innerschulische Probleme wie Didaktik, Methodik und Organisation vergleichsweise geringfügig, wenngleich ihre Lösung oder ihr Mißlingen ein ziemlich genaues Spiegelbild der äußeren Situation ist.

Von daher ist ein weiteres zentrales Anliegen dieses Buches das Anderssein von Menschen aus unterschiedlichen Blickrichtungen zu beleuchten.

Das Buch steht in einem Spannungsfeld zwischen Utopie und Realität, gesellschaftlichen Idealen und politischen Grenzen, pädagogischen Ideen und konkreter Unterrichtsarbeit.

Da die beiden Pole des Spannungsfeldes sich gegenseitig bedingen und somit Motor für eine Weiterentwicklung sind. haben wir, um ein Zeichen zu setzen, an den Beginn des Buches einen Beitrag gesetzt, der auf individueller Ebene dieses Spannungsfeld zwischen Wollen und Können beleuchtet. Die Frage der Weiterentwicklung ist sowohl auf individueller als auf schulpolitischer und gesellschaftlicher Ebene nach wie vor von größter Bedeutung, da noch viele Fragen wie z. B. die des Gemeinsamen Unterrichts in der Berufsschule und die berufliche Integration, um nur zwei zu nennen, noch vollkommen ungeklärt sind.

Wir laden Sie, liebe Leserin, lieber Leser ein, in dieses Spannungsfeld zwischen Utopie und Realität einzutreten. Sie müssen dieses Buch nicht unbedingt von Anfang bis Ende lesen - suchen Sie sich einzelne Aufsätze oder Kapitel aus, die Ihre Neugier wecken. Spüren Sie beim Lesen den Autorinnen nach, wo Sie sich jeweils in diesem Spannungsbogen befinden. Und: prüfen Sie, wo Ihr Standort jeweils ist !

Wir wünschen Ihnen viel Spaß!

Friedrich Fabriz, Grund-, Haupt- und Sonderschullehrer, seit 1988 Leiter der Integrativen Schule Frankfurt. Vorher Leiter einer (Heim-) Schule Jür geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Mein alter Traum: "Solch eine Schule müßte man gründen! Und nun gab es sie schon, in Frankfurt...

Stefanie Rinck, Sonderschullehrerin für Lernbehinderte und Praktisch Bildbare; 4 1/2 Jahre Sonderschullehrerin an einer Schule für Erziehungshilfe, 4 Jahre an der Integrativen Schule Frankfurt; 4 1/2 Jahre Pädagogische Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt am Main; seit diesem Schuljahr mit halber Stelle im Gemeinsamen Unterricht in der Sek 1 an der Carlo-Mierendorff-Schule und mit halber Stelle an der Informations- und Koordinationsstelle für sonderpädagogische Förderung.

Michael Tettenborn, Grund- und Hauptschullehrer, Diplom-Pädagoge (Sonder- und Heilpädagogik); 1986 von der Montessori-geprägten Anna-Schmidt-Schule in die Integrative Schule Frankfurt gewechselt. Mitwirkung am Aufbau der neuen Schule unter demokratischen Vorzeichen; Bedürfnis nach Teamarbeit, d.h., Kooperation und Austausch unterschiedlicher Vorerfahrungen und Standpunkte.

Wir danken der Stiftung Integration und der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt für die finanzielle Unterstützung, die die Herausgabe dieses Buches erst möglich gemacht hat!

Birgid Oertel: Gemeinsamer Unterricht in Hessen

Der Gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf findet in Hessen seit 1991 in größerem Umfang statt. 100 Lehrer und Lehrerinnen stehen pro Schuljahr bereit, um rund 400 Schüler und Schülerinnen mit unterschiedlichen Behinderungen in der allgemeinen Schule zu fördern.

1992 werden die Grundlagen zur sonderpädagogischen Förderung neu formuliert und finden 1993 Eingang in das Hessische Schulgesetz. Vom Begriff der "Sonderschulbedürftigkeit" wird Abschied genommen. Kinder und Jugendliche "mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf" können entweder in der Sonderschule oder in der allgemeinen Schule unterrichtet werden.

Bis zum 01. August 1994 stieg die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf rund 1.500 im Grundschulbereich. Dabei sind auch Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen aufgenommen worden. Der Gemeinsame Unterricht hat bisher ein Drittel aller hessischen Grundschulen erreicht. Rund 16.000 Schulpflichtige mit und ohne Behinderungen lernen mittlerweile gemeinsam an hessischen Grundschulen.

Neben dem Gemeinsamen Unterricht erhalten verhaltensauffällige und sprachauffällige Schüler und Schülerinnen zusätzliche Hilfen durch die Förderangebote der Kleinklasse für Erziehungshilfe und der Sprachheilklasse.

518 Schüler und Schülerinnen mit Sinnesbehinderungen (274 Hörgeschädigte und 244 Sehgeschädigte) werden durch ambulante Hilfen der sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentren erreicht.

Immer mehr Schüler und Schülerinnen konnten in den letzten Schuljahren aus dem Gemeinsamen Unterricht des Grundschulbereichs in den der Mittelstufe überwechseln. 167 Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden zusätzlich im sogenannten zielgleichen Unterricht gefördert. 35 Schulen arbeiten mit 144 lernbehinderten und praktisch bildbaren Schülerinnen und Schülern nach einem individuellen lernzieldifferenten Konzept in einem Schulversuch.

Die Informations- und Koordinationsstelle für sonderpädagogische Förderung des HIBS (Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung) hat die Erfahrungen der sonderpädagogischen Förderung an allgemeinen Schulen in der Reihe: "Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler" in den Ausgaben 1 - 3 dokumentiert.

Birgid Oertel, Referentin für den Gemeinsamen Unterricht im Hessischen Kultusministerium

Josef Grubmüller: Zwischen Wollen und Können

Die Ambivalenz von Lehrerlnnen in der Integration

Zwischen Wollen und Können liegen die Spannungsfelder und Problembereiche des Gemeinsamen Unterrichts. Einige will ich aus eigener Erfahrung beschreiben und Ambivalenzen im Umgang damit benennen. Lösungen will und kann ich nicht anbieten. Dennoch denke ich, daß ein ganz subjektiver, nachdenklicher Beitrag eines Betroffenen Anstöße zur Reflexion der Arbeit von LehrerInnen im Gemeinsamen Unterricht geben kann.

Ich arbeite seit fast zehn Jahren als Sonderschullehrer in Klassen mit Gemeinsamem Unterricht, zunächst an einer staatlichen Grundschule und seit vier Jahren an einer integrierten Gesamtschule.

Diese Arbeit, von den ersten hessischen Anfängen in Rüsselsheim-Königstädten bis heute, da wir SchülerInnen aus Klassen mit Gemeinsamen Unterricht auf ihre ersten Schritte in das Berufsleben vorbereiten, habe ich als eine Zeit der produktiven Auseinandersetzung und des gemeinsamen Engagements von SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen für eine neue humane Schule erlebt. Die Freude an der konkreten alltäglichen Arbeit mit den Kindern, die Sicherheit, eine sinnvolle Arbeit zu tun und die aus der gemeinsamen Arbeit entstandenen, oft sehr intensiven menschlichen Kontakte haben mir immer wieder Kraft und Ansporn gegeben, mit den Problemen, die durch Gemeinsamen Unterricht entstehen, umzugehen.

Ambivalenzen bei der Öffnung der Schule

Über viele Jahre mußten wir immer wieder nachweisen, daß Gemeinsamer Unterricht überhaupt möglich ist und daß behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen in dieser Unterrichtsform besser lernen als im herkömmlichen Unterricht der Regel- und Sonderschulen. Dies führte dazu, daß unsere Arbeit permanent unter Beobachtung sowohl der Befürworter als auch der Gegner des Gemeinsamen Unterrichts stand. Ein ruhiges und reflektiertes Arbeiten wurde nicht selten durch Streß von Außen gestört. Öffnung der Klassenzimmer und öffentliche Diskussion der Probleme des Gemeinsamen Unterrichts, dies war zunächst unser Anspruch. Zugleich fühlten wir uns durch den Ansturm der sehr unterschiedlich motivierten BesucherInnen gestört und fürchteten, den SkeptikerInnen durch offene Diskussion der Probleme Argumente zu liefern.

Eine öffentliche Diskussion der Schwierigkeiten des Gemeinsamen Unterrichts ist bis heute nur sehr selten zu beobachten.

Ambivalenzen im Umgang mit KollegInnen

Teamprobleme führten uns oft in das Spannungsfeld von Wollen und Können. Obwohl ich theoretisch wußte, daß es wichtig ist, mit KollegInnen über persönliche Grenzen und Verletzungen möglichst sofort zu sprechen, brauchte ich oft Monate, bis ich mich dazu durchringen konnte. Unsere Teamsupervision brachte mir dabei persönlich weniger Hilfen und Denkanstöße als eine Supervisionsgruppe außerhalb der Schule mit KollegInnen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Die übergroße Angst, die teilweise schmale Basis der Zusammenarbeit mit KollegInnen nachhaltig zu zerstören, wirkte meinem Anspruch nach offener Auseinandersetzung entgegen. Erst in den letzten Jahren, im dritten Team, konnte ich professioneller mit diesen Problemen umgehen.

Ambivalenzen bei den Übergängen zwischen den Schulformen

Mit Verwunderung bemerkte ich in den letzten Jahren, daß ich jeweils Anteile der negativen Abgrenzungen und der Vorurteile der Schulform übernahm, in der ich arbeitete.

Aus dem Blickwinkel der Sonderschule war ich beispielsweise überzeugt, daß LehrerInnen der Grundschule die Kinder mit Lernschwierigkeiten nicht entsprechend ihren Fähigkeiten fördern können.

Nach dem Wechsel an die Grundschule mußte ich feststellen, daß die Formen der Differenzierung und Individualisierung hier weiter entwickelt waren als ich dies von der Sonderschule für Lernhilfe kannte.

Hier traf ich auf Vorurteile gegenüber den Kindergärten, den Sonderschulen und den weiterführenden Schulen. Aus dem Blickwinkel der Grundschule war ich beispielsweise davon überzeugt, daß die Arbeitsformen der Sekundarstufe den Schülern kaum Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten lassen.

Nach dem Wechsel an die Gesamtschule mußte ich feststellen, daß diese Fragen hier seit Jahren thematisiert wurden und daß offene Unterrichtsformen von der Schulleitung und von einer nicht unbedeutenden KollegInnengruppe unterstützt wurden.

Hier traf ich wiederum auf Vorurteile gegenüber Grundschule, Oberstufe, Berufsbildender Schulen, Lehrgänge der Arbeitsverwaltung und Institutionen des geschützten Arbeitsmarktes.

In Ambivalenzen geriet ich immer dann, wenn ich versuchte mich nicht in diesen Prozeß hineinziehen zu lassen.

Dieses Muster der Herausbildung eines Gruppengefühls einer Schulform über negative Abgrenzung gegenüber anderen Schulformen erlangt in der notwendigen Zusammenarbeit des Gemeinsamen Unterrichts erhebliche Bedeutung.

Schülerbiografien überschreiten im Gemeinsamen Unterricht weitgehender und vielfältiger als im Regelunterricht die Grenzen der Schulformen. SchülerInnen erfühlen die Vorurteile und entwickeln diffuse Ängste.

Die Gestaltung von positiven Übergängen zwischen den Institutionen wird erschwert.

Der Dialog zwischen den KollegInnen der verschiedenen Institutionen und Schulformen mit ihren unterschiedlichen, wichtigen Kompetenzen und Erfahrungen, der ein tragendes Moment der begleitenden Förderdiagnose im Gemeinsamen Unterricht bildet, wird erschwert und bisweilen sogar unmöglich gemacht.

Ich freue mich, daß zwischen den KollegInnen der verschiedenen Schulformen im Frankfurter Nordwesten dieser notwendige Dialog begonnen hat.

Ein Selbstbild der LehrerInmen, das sich weniger über die Schulformen definiert, wird sich möglicherweise als Nebenprodukt einer langjährigen Arbeit im Gemeinsamen Unterricht entwickeln.

Ambivalenzen im Umgang mit Eltern

Die Zusammenarbeit und die Auseinandersetzung mit den Eltern der SchülerInnen war und ist über weite Strecken durch schwer zu fassende Ambivalenzen gekennzeichnet. Immer wieder habe ich erlebt, daß wir LehrerInnen uns gegenseitig bestätigen und den Eltern nicht intensiv genug zuhören. Teilweise haben wir sogar Feindbilder aufgebaut, die von den Persönlichkeiten und deren Argumenten kaum noch durchdrungen werden konnten.

Übertragungen meiner eigenen Pubertätserfahrungen, unverarbeitete negative Schulerfahrungen der Eltern, die auf mich übertragen wurden, Konkurrenz um den schwindenden Einfluß auf die SchülerInnen, Eifersucht auf die Zuwendung, die LehrerInnen von den zu Hause so schwierigen Kindern bekommen usw., all dies könnten Bedingungen dieser oft chronischen Kommunikationsstörungen sein. Besonders im Sekundarbereich fühlte ich mich häufig in den Ablösungsprozeß der SchülerInnen gegenüber ihren Eltern hineingezogen, und es fiel mir schwer, mich ausreichend abzugrenzen.

Auf diesem unsicheren Untergrund müssen viele sensible und angstbesetzte Themen zwischen Eltern und Lehrerlnnen angesprochen werden:

  • Probleme der sozialen Integration,

  • Ablösung von den Eltern,

  • angemessene Förderung,

  • häufig mit der Pubertät nochmals die Akzeptanz der Behinderung usw.

Der Dialog zwischen Eltern und Lehrerlnnen wurde durch die oben beschriebenen Ambivalenzen erschwert und teilweise sogar unmöglich.

Ambivalenzen im Umgang mit den SchülerInnen

Persönliche Stärken und Schwächen bei sich und bei anderen Menschen wahrnehmen und diese allmählich zu einem eigenen positiven Selbstbild und Lebensplan zusammenführen. Diesen wichtigen Aspekt der Sozialentwicklung von SchülerInnen in Klassen mit Gemeinsamem Unterricht will ich mit meiner Arbeit unterstützen.

Um Prozesse in diesem Sinne zu initiieren, ist es wichtig, die vor dem heimlichen Dauerthema der Klassen "Angst vor Versagen und Behinderung" errichtete Mauer des Schweigens vorsichtig abzutragen.

Schon an dieser Stelle gerate ich, wie wahrscheinlich auch andere KollegInnen, in Ambivalenzen. Wie weit darf ich gehen? Aktualisiere ich möglicherweise alte Verletzungen, die ich als Lehrer nicht bearbeiten kann? Wo ist die Grenze zu therapeutischen Arbeitsbereichen? Soll ich den durch SchülerInnen eingeleiteten Gesprächsprozeß doch lieber auf eine "ungefährliche" Bahn lenken?

Hinter der Mauer des Schweigens begegneten wir:

  • Heftigen Aggressionen wegen der Begünstigung oder Bevorzugung behinderter MitschülerInnen. "Meine Schwierigkeiten sieht keiner!"

  • Genzenlose Wut behinderter SchülerInnen darüber, auf Hilfe "von den größten Deppen" angewiesen zu sein und nicht souverän ablehnen zu können.

  • Herber Enttäuschung darüber, daß angebotene Hilfe von behinderten MitschülerInnen "unfreundlich" zurückgewiesen wurde. Oft gekoppelt mit der Konsequenz "nie wieder".

  • Unzertrennlichen FreundInnen "Du bist meine Freundin und wenn du Hilfe brauchst, dann helf ich dir, das ist doch klar. Bei der X. tät ich das nicht."

  • Rationalen Einsichten "Ich kann dich zwar, nicht besonders gut leiden, aber ich sehe ein, daß du Hilfe brauchst, und da helf ich dir halt."

  • Tiefer Trauer über scheinbar oder tatsächlich unabwendbare Einschränkungen und Behinderungen des Alltages aber auch bereits der Lebensentwürfe.

  • Unbändigem Stolz über eine gelungene eigene Leistung. "Ich bin der Größte!"

  • Schwachem Eigentrost "So schlecht wie der bin ich ja doch noch nicht."

  • Nagender Angst: "Wenn ich so weitermache, denken alle, ich bin behindert."

  • "Wenn die Behinderten nicht in der Klasse wären, wäre alles besser."

  • Verzagten Selbstzweifeln "Jetzt hab ich mich so angestrengt, und ich werd' nicht besser. Ich schaff es nicht!"

  • Gelassener Akzeptanz der eigenen Möglichkeiten: "Viel von dem was ihr macht, kann ich nicht machen, aber es bleibt noch viel übrig, was ich kann, und das macht mir Spaß."

Wut, Angst und Trauer, die hinter der Mauer des Schweigens in Klassen mit Gemeinsamem Unterricht versteckt liegen können, verlieren ihren Schrecken, wenn Gefühlsäußerungen nicht unterdrückt, sondern erst mal angehört werden. Schülerlnnen, die angesprochen werden, oder die sich betroffen fühlen, entscheiden selbst, ob sie beispielsweise Vorwürfe annehmen oder zurückweisen wollen.

Positiv mit behinderten Menschen leben und lernen ist für solche Menschen relativ problemlos, die gelernt haben, mit ihren eigenen Verletzungen und Schwächen positiv umzugehen. Dies setzt einen Prozeß der langsamen Annäherung und Abgrenzung voraus, der in einer "dynamischen Balance" des Kontaktes einmünden kann. Wird dieser Prozeß übersprungen oder gar erzwungen, kann die notwendige Entwicklung nicht ablaufen oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren.

Aus diesen Gründen habe ich behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen niemals genötigt, engen sozialen Kontakt aufzunehmen. In Ambivalenzen gerate ich dann, wenn allmählich ein Netzwerk sozialer Verpflichtungen in der Klasse etabliert wird, in das selbstverständlich auch Tätigkeiten für behinderte Mitschülerlnnen eingeschlossen sind, und wenn Schülerlnnen sich dann weigern, solche Aufgaben zu übernehmen.

Ambivalenzen im Umgang mit Ambivalenzen

Im Verlauf meiner Arbeit in Klassen mit Gemeinsamem Unterrricht habe ich mich in vielerlei Situationen begeben, die bei mir aus der Sachlage heraus oder aus subjektiven Gründen ambivalente Haltungen oder Reaktionen auslösten. Solange mir dies bewußt blieb, konnte ich gut damit umgehen und meist bildeten sich nach gelassener Betrachtung ohne Zeitdruck gangbare Wege für den Umgang mit Spaltungen und Doppelwertigkeiten.

Nicht selten wurden von mir aber auch schnelle professionelle Lösungen gefordert, die in einer Art Übersprungshandlung zu Scheinklärungen führten. Dabei blieb bei allen Beteiligten ein ungutes Gefühl zurück. In Ambivalenzen geriet ich dann, wenn ich zwar einsah, daß eine schnelle Lösung im setting der Schule notwendig ist, zugleich aber wußte, daß dies keine gute Lösung sein wird.

In den Ambivalenzen unserer Arbeit stecken noch die alten und zugleich schon die neuen Handlungen und Gedanken. Wir sollten sie nicht beseitigen, verheimlichen und verdrängen, sondern als dynamisches Moment unserer Arbeit offen stehen lassen. Wir sollten sie in Ruhe von allen Seiten betrachten. Möglicherweise finden wir Wege, gut damit zu leben, oder sie lösen sich durch die gelassene Betrachtung auf.

Josef Grubmüller, Ich bin Sozialarbeiter, Grund- und Sonderschullehrer, und arbeitete seit 1985 im erstem hessischen Schulversuch zum Gemeinsamen Unterricht an der Grundschule- Königstädten in Rüsselsheim und seit 1990 im Sekundarbereich an der Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt.

2. Umgang mit dem Anderssein

Annäherungen an ein schwieriges Thema

Foto: Lächelnde Kinder beim Essen. Ein Kind füttert das andere. (Beschriftung von bidok eingefügt)

Norbert Copray: Menschlicher Reichtum, der in die Zukunft trägt.

Kleiner ethischer Streifzug durch die Widrigkeiten, füreinander anders zu sein.

Jeder und jede ist anders. Anders als der oder die Andere. Kerstin ist anders als Christina, Joachim anders als Paul, Manuela anders als Michael. Natürlich haben Kerstin, Christina, Joachim, Paul, Manuela und Michael auch viel gemeinsam. Doch sie unterscheiden sich auch voneinander. Ohne Unterschiede wäre es auch völlig uninteressant, miteinander zu tun zu haben. Den ganzen Tag nur sein eigenes Spiegelbild zu betrachten, ist auf die Dauer langweilig, bereichert nur wenig und trägt auch nicht dazu bei, an sich selbst Neues zu entdecken.

Mustafa ist anders als Michael. Lenja anders als Kerstin. Und Miko ist anders als Christina. Sie empfinden einander als so verschieden, daß es sehr anstrengend sein kann, einander auszuhalten und Interesse aneinander zu entwickeln. Wie gut, wenn es Menschen gibt, die solches Verhalten vorleben und dazu anleiten können. Wie gut, wenn es Situationen wie Kindergarten, Schule, Betrieb gibt, wo sie gemeinsam Interessen verwirklichen müssen und darüber zueinander finden.

Kerstin, Christina, Mustafa und Lenja sind dadurch miteinander verbunden, daß sie auf je eigene Art und Weise Menschen sind. Allen ist gemeinsam, auf jeweils eigene Art Mensch zu sein. So gehören Menschlichkeit und Persönlichkeit eines jeden Menschen zusammen. Würde ich einem anderen absprechen, anders sein zu können oder zu sollen, würde ich mir auch selbst das Recht nehmen, mich von anderen zu unterscheiden. Da ich aber Ich sein will und nicht der Andere, räume ich ein, daß ich auch anders bin und sein will gegenüber dem Anderen. In der Unterschiedlichkeit von mir und dir liegt jedoch nicht nur die Schwierigkeit und die Aufgabe, einander zu verstehen, sondern auch die spannende Chance, voneinander zu lernen und sich gegenseitig bereichern zu können.

Zur Verbundenheit durch die je eigene Art der Menschlichkeit kommen noch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Menschen hinzu, die durch ihre Herkunft, ihre Sprache, ihre kulturellen Werte vorgegeben werden. Innerhalb dieses Rahmens bleiben viele Menschen auch mit ihrer Eigenart und bewahren sich so eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit anderen, ohne die sie in Angst gerieten, nirgends dazuzugehören oder von niemand mehr akzeptiert zu sein.

Menschlichkeit - also die Aufgabe, Mensch zu sein - die alle Menschen miteinander verbindet, ist genauer: Mitmenschlichkeit. Denn niemand kann Mensch sein oder bleiben, ohne sich auf andere Menschen zu beziehen. Und in der Aufgabe, die eigene Mitmenschlichkeit anzunehmen, zu gestalten und zu verantworten, liegt eine große Gemeinsamkeit von Menschen. Denn sie teilen miteinander nicht nur diese Aufgabe, sondern sie können sie auch nur miteinander einlösen.

Niemand kann allein ein Mitmensch sein und ohne ein Mitmensch zu sein, kann niemand Mensch sein. Menschen sind also grundsätzlich auf Menschen angewiesen, wenn sie Menschen sein wollen. Und wer andere braucht, um Mensch durch Mitmenschlichkeit zu werden, zu sein und zu bleiben, der wird dies auch den anderen Menschen einräumen müssen: nämlich für deren Entfaltung von Menschsein durch Mitmenschlichkeit beansprucht zu werden. So entsteht aus der Logik der menschlichen Beziehung ethischer Anspruch: Der gegenseitige Anspruch, einander prinzipiell in seiner Menschlichkeit zu achten, in der Entfaltung der Mitmenschlichkeit nicht zu behindern und die Verbundenheit darin miteinander zu schützen und zu mehren.

Wenn Anderssein ins Auge springt

Gemeinsamkeit in der Menschlichkeit begründet Unterschiedenheit in der Persönlichkeit. Niemand ist mit einem anderen Menschen völlig identisch, sondern jeder unterscheidet sich von jedem. Sonst wäre auch Gemeinsamkeit unsinnig, denn dann wären die Menschen zu einer Einheit miteinander verschmolzen, in der es keine Unterschiede, aber auch keine Verbundenheit mehr gäbe, sondern nur Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. Ein Kind bemerkt, daß es anders ist als die Mutter, daß die Mutter anders ist als der Vater und anders als die Oma, daß es anders ist als der Bruder und daß der Onkel anders ist als der Vater. Ja, es bemerkt sogar, daß die Mutter am Morgen anders ist als am Nachmittag und der Vater im Auto anders als im Garten. Bemerkt ein Kind solche Unterschiede nicht, ist es nicht in der Lage, sich selbst von den anderen zu unterscheiden und dadurch auch einen ersten Schritt in die eigene Freiheit zu tun. Zur Menschlichkeit gehört Freiheit, gehört Eigenständigkeit, gehört Anderssein als die Anderen. Jeder Mensch verwirklicht sein Menschsein in der Mitmenschlichkeit anders als andere.

Das Anderssein zeigt an: Menschen sind veränderlich und nicht immer völlig gleich, unterscheiden sich voneinander, haben die Möglichkeit, Distanz und Nähe in vielen Varianten zu gestalten. Solange wir auf Menschen treffen, die ähnlich aufgewachsen sind wie wir, eine ähnliche Umgebung teilen und auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen, springt das Anderssein nicht so sehr ins Auge. Unsere Wahrnehmung ist auf Gemeinsamkeiten geeicht, weil dadurch der Erhalt der eigenen Gruppe gefördert wird. Lernen wir Menschen näher kennen, gehen mit ihnen gar Lebenspartnerschaften ein, treten Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlicher hervor. Gemeinsamkeiten entdecken heißt dann, einander zu helfen, Anderssein zu ertragen und fruchtbar zu machen; und das Anderssein kann helfen, Gemeinsamheiten zu suchen und zu erhalten.

Bei einem Liebespaar von Frau und Mann beispielsweise ist dieser Zusammenhang auffällig. Gerade weil sich Frau und Mann in ihrer Art, Mensch zu sein, unterscheiden, faszinieren sie einander und ziehen sich an; weil sie wechselseitig Ähnlichkeiten im jeweils anderen sehen, nehmen sie Gemeinsamkeit wahr und wollen sie ausgestalten. Der Rhythmus der Partnerschaft beginnt: sich aufeinander beziehen, um sich voneinander unterscheiden und sich als anders wahrnehmen zu können; sich voneinander unterscheiden, um sich aufeinander beziehen und in Gemeinschaft miteinander wahrnehmen zu können. Freiheit und Bindung, Anderssein und Gleichsein sind die Pole einer Lebensspannung, die Lebensrhythmus, Veränderung, Neuentdeckung und Entfaltung des Lebens ermöglicht.

Bei Menschen aus Lebenszusammenhängen, mit denen wir wenig bis gar nichts zu tun haben, fällt uns das Anderssein schneller und heftiger ins Auge. Daß Andere anders sind, steht dann im Vordergrund und überdeckt leicht das, was wir mit ihnen gemein haben. Das Anderssein kann eine so starke Wirkung in uns auslösen, daß uns die Anderen zu Fremden werden, weil wir das, was uns mit ihnen verbindet, kaum noch wahrzunehmen vermögen. Der Andere stellt uns in Frage, stört uns. In letzter Konsequenz, wenn wir darauf verzichten, den Anderen zu unterwerfen, haben wir ihn zu erleiden, zu ertragen. Die Fremdheit des Anderen kann uns so arg bedrängen, daß wir in ihm nicht mehr nur den Fremden, sondern den Feind sehen. Fremdheit hat nun Bedrohungscharakter für uns; und viele sind nun geneigt, daraufhin mit Abwehr, Haß oder gar Gewalt gegen den anderen vorzugehen, ihn entweder zu verdrängen, zu unterwerfen oder zu vernichten. Der Andere und seine Fremdheit hat in uns Feindschaft ausgelöst, hat uns zum Feind für ihn gemacht. Wir sind der angstmachenden Stimmung der Fremdheit gefolgt, haben unseren Verstand ausgeschaltet, mit dem wir uns und den anderen hätten besser verstehen können, und haben unsere zerstörerischen Anteile der Aggression ausgelebt.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte immer neuer Unterwerfung und Vernichtungen von Menschen, deren Anderssein zum Anlaß genommen wurde, in ihnen zuerst Fremde, dann Feinde zu sehen. Die Geschichte geht von Abel über Juden, Hexen, Indianer, Afrikaner bis zu Türken, Kurden, Sinti und Roma. Sie reicht von Kindern und Frauen über Homosexuelle und Aids-Kranke bis hin zu behinderten, alten und erkrankten Menschen.

Deutlich wird das Versagen der Menschen gegenüber Anderem besonders auch in ihrem Verhältnis zur Natur. Weil die Natur dem Menschen überlegen, undurchschaubar, fremd und feindselig erschien und er seine Abhängigkeit von der Natur kaum ertragen konnte, legte er es darauf an, sie sich zu unterwerfen. In einem Jahrhunderte währenden Prozeß machte er sich die Natur untertan, zu einer Verfügungsmasse seiner technischen und intellektuellen Überlegenheit. Das Anderssein der nichtmenschlichen Natur nötigte den Menschen keinen Respekt ab, der in dem Versuch endete, sich um eine Balance zwischen nichtmenschlicher und menschlicher Natur zu bemühen. Vielmehr sollte das Anderssein der nichtmenschlichen Natur so verwandelt werden, daß die Natur an den Menschen und seine vermeintlichen Bedürfnisse angepaßt wird.

Die Natur wird zum Objekt des Menschen, dessen Anderssein sich der Gnade des Menschen verdankt. Und weil der erobernde Mensch sehr häufig ein Mann, ein Europäer war, identifizierte er Frauen, Kindern und Eingeborene anderer Kontinente sehr häufig mit der Natur. Dies verschaffte ihm in seinem Denken eine Rechtfertigung, das Anderssein von Kindern, Frauen und Eingeborenen allenfalls im von ihm gesetzten Rahmen zu dulden, besser noch wegzuerziehen und verschwinden zu lassen.

Die ökologische Krise lehrt heute den Menschen, wie wichtig das Anderssein der nichtmenschlichen Natur für den Menschen ist und zu welchem Preis die Natur wie eine technisch zu perfektionierende Maschine des Menschen zugerichtet worden ist. Frauen und Eingeborene anderer Länder haben sich auf den Befreiungsweg gemacht und den kolonierenden Stil des europäischen Mannes in die Schranken gewiesen. Sie bestehen auf ihrem Anderssein und wehren sich gegen kulturelle Unterwerfung und Ausbeutung.

Sich selbst Freund sein

In der Ignoranz, Abwehr, Ablehnung und Bekämpfung des Anderen, weil dieser als fremd und feindlich empfunden wird, steckt ein erhebliches Maß an Verdrängung. Verdrängt wird das eigene Nichtverstandensein und Nichtverstehen können. Menschen wollen nicht wahr haben, daß sie selbst für andere anders und fremd sind, daß sie sich selbst gegenüber veränderlich und fremd sind und bisweilen auch sich selbst zum Feind werden. Das eigene, nicht angenommene Anders- und Fremdsein wird auf andere unbewußt übertragen und dort bearbeitet. Da das eigene, uneingestandene Anders- und Fremdsein als unangenehm verdrängt und bekämpft wird, ist eine zerstörerische Einstellung gegenüber der Fremdheit des Anderen die Folge. Wer sich selbst feindlich gesonnen ist, ohne daß er es weiß und sich eingesteht, wird auch gegenüber anderen bevorzugt mit unangenehmen oder gar feindlichen Gefühlen reagieren. Nur, wer mit sich selbst in Freundschaft lebt, kann auch Freundschaft mit anderen leben, folgert in der griechischen Antike 356 v. Chr. der Philosoph Aristoteles.

Die eigene Menschlichkeit kann ein Mensch durch Mitmenschlichkeit also nur dann entwickeln, wenn er willens und in der Lage ist, seine eigene Menschlichkeit mit ihren grundsätzlichen und individuellen Aspekten zu verstehen. Durch solches Selbst-Verständnis gelangt der Mensch zu Selbst-Bewußtsein. Es umfaßt auch die Einsichten, 1. daß ein Mensch sich nicht allein verstehen kann, 2. daß ein Mensch auf andere Menschen angewiesen ist, um sich in der Beziehung mit ihnen durch Gespräch, Verständnis, Streit, Hilfe immer besser verstehen zu lernen, 3. daß kein Mensch sich jemals restlos verstehen wird. Diese Einsichten klären, wie sehr ein Mensch nicht nur auf Mitmenschen angewiesen ist, sondern auch, wie sehr er selbst darauf angewiesen ist, mit eigenem Nicht-Verständnis zu leben und in der eigenen Fremdheit und Unverständlichkeit von anderen toleriert zu werden.

Daraus ergibt sich eine Praxis-Perspektive: Es gilt, soviel wie nur möglich dazu beizutragen, daß Menschen miteinander diese Einsichten gewinnen können. Nur, wenn sich Menschen in dieser Hinsicht so selbst erfahren, ziehen sie über den Tag hinaus dauernde Konsequenzen. Erst, wer erlebt hat, wie fremd er sich und anderen sein kann, bekommt ein tieferes Gespür dafür, auf das Anderssein anderer nicht mit Abwehr, sondern mit Sympathie zu reagieren. Denn der eine ist wie der andere! Dies neu zu entdecken ist eine ganz eigene Art der Verbundenheit: Wir alle sind anders! Jeder und jede ist dem anderen ein Fremder, eine Fremde! Als Fremde auf dieser Erde sind wir uns alle gleich!

Pseudo-Vertrautheit

Anderssein bis hin zur Fremdheit ist schwer zu ertragen. Daher die Verdrängung eigener Fremdheit, die Abwehr der Anderen. Daher viel Pseudo-Kommunikation, die anstelle der Fremdheit Vertrautheit vorgaukelt, die in Situationen der Gefahr sofort in sich zusammenfällt. Dazu gehört die dauernde, simple Anmache in Rundfunk und Fernsehen, die ständige Agitation der Werbung, die uns Ähnlichkeiten Verständlichkeiten (alle wollen sauber, schön, fleißig, erfolgreich... sein) vortäuscht. Dazu gehören die Statussymbole und Gruppenordnungen (bestimmte Autotypen, die Gruppe der Hausbesitzer, die Gruppe der Gymnasialkinder). Sie reduzieren augenscheinlich die unüberschaubare Vielfalt und die undurchschaubare Unterschiedlichkeit auf wenige, undurchscheinbare, manipulierbare Nenner. Werden aber Wiedersprüche in solche Ordnungen hineingetragen, ist es mit dem gegenseitigen Einverständnis und dem Glauben an die wechselseitige Bekanntheit sehr schnell vorbei.

Eigene Fremdheit, Veränderlichkeit wird erträglich und annehmbar, wo ein Mensch erfährt, daß er als der angenommen wird, der er ist, und nicht derjenige, den andere in ihm sehen, sehen wollen oder zu sehen meinen. Wenn ein Mensch nicht anders sein muß als er ist, um angenommen zu werden, kann er das eigene Anderssein und das anderer eher gutheißen und den positiven Aspekt interessanter Unterschiedlichkeit sehen. Nicht übermäßig viele Menschen haben als Kinder eine solche Erfahrung machen können, vielmehr erfahren viele Kinder, daß sie besser nicht Kind sind und nicht so Kind sind, wie sie Kind sind. Wer sich aber nie oder nur selten in seiner Eigenart hat bestätigt erleben können, wird diese Erfahrung später auch anderen nicht gönnen (können). Um so wichtiger, daß im Laufe eines Menschenlebens andere Erfahrungen möglich erscheinen sollte, kann in seinem Freundeskreis, seiner Partnerschaft, seiner Familie, in Beratung, Selbsterfahrung, Kreativität und Psychotherapie dafür sorgen, daß er diese Erfahrung für sich durcharbeitet und nicht ständig anderen, gar anderen Kindern gegenüber, wiederholen muß. Erwachsenwerden und -sein heißt daher, die Verantwortung und Sorge für den konstruktiven Umgang mit eigenem und fremdem Anderssein übernehmen.

Keine Leistungs-, sondern Erfolgsgesellschaft

Der Umgang mit Anderssein und Fremdheit ist nicht allein eine Frage der individuellen Moral. Sie ist eine Frage der gesellschaftlichen Moral, der gesellschaftlichen Strukturen. In diesem Sinne existieren Verhältnisse und Bekenntnisse, die nahelegen, das Anderssein von Menschen zu überspielen, zu verdrängen, zum Anlaß für eigene Profilierung zu mißbrauchen oder ihnen gar einen Strick daraus zu drehen. Da sagt ein bayerischer Ministerpräsident, unsere Gesellschaft sei "durchrasst". Ein Bürgermeister erklärt, um den Stadtetat auszugleichen, müßten »ein paar reiche Juden erschlagen werden«. Ein Fraktionsvorsitzender schlägt zur Lösung der Asylfrage vor: "Kurzen Prozeß, an Kopf und Kragen packen und raus damit." Opfern nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wird bis heute angemessene Wiedergutmachung verweigert. Der Industrie wird immer noch ermöglicht, sich von Behindertenarbeitsplätzen freizukaufen. Der für behinderte Menschen zuständige Experte des Caritasverbands Münster vermerkt, daß Kosten-Nutzen-Rechnungen wieder vermehrt um sich greifen. Da haben behinderte Menschen schnell das Nachsehen. Und beim Wochenendspaziergang mit den Schwerstbehinderten in Ausflugsorten des Münsterlandes sei (wieder) öfter und lauter von "Adolf" zu hören, "bei dem es das nicht gegeben hätte". Die Liste der Beschimpfungen und tätlichen Übergriffe auf behinderte Menschen in Deutschland in den letzten Jahren ist lang.

Der Andere ist jeweils der Störenfried, der Geldneider, der Halsabschneider. Er ist in jedem Fall derjenige, der nicht in bereitstehende Kategorien paßt, nicht verwaltbar ist und von einem bestimmten Standard abweicht. Er hemmt angeblich die Schnellen, Schönen, Starken und Erfolgreichen.

Es ist schwierig genug, in seiner persönlichen Moral der Logik menschlicher Existenz zu folgen. Noch schwieriger ist ein solcher Weg, wenn die gesellschaftlichen Umstände eher in die gegenteilige Richtung weisen, wenn sie die Ausgrenzung, die Konkurrenz, das Übervorteilen und die Unterordnung der Schwachen belohnen. Die perverse Moral der Ergebnis- und Erfolgsgesellschaft belohnt keineswegs die Leistung, sonst müßte sie den individuellen Aufwand des Einzelnen oder von Gruppen in Form sozialer Anerkennung und Entlohnung würdigen, die diese zwischen ihrer Ausgangssituation und ihrem Ergebnis zurücklegen. Doch Zeit ist Geld und nur, was hinten herauskommt, zählt. Wer nicht nur so anders ist, daß sein Anderssein noch verkraftbar, vermarktbar, verwaltbar und für geldwerten Vorteil nutzbar ist, wer gar so anders ist, daß er quer steht oder liegt zum Hauptstrom des gesellschaftlichen Fortschritts, der gerät schnell unter die Räder. Auch diejenigen, die sich - wenn überhaupt - mit ihm solidarisieren, stehen schnell selbst in dieser Gefahr.

Wie Abwehr aufwertet

Anderssein bis hin zu Fremdheit kann Angst auslösen, weil sie zunächst unverständlich und unerklärlich ist. Andere erscheinen uns als unheimlich. Ob sie es tatsächlich sind, wissen wir nicht, sondern wir folgen den Bildern, die unser Gehirn aus den Anhaltspunkten, die wir durch Wahrnehmung gewinnen, konstruiert. Kommunizieren wir mit anderen Menschen, wollen wir diese Bilder überprüfen oder durch neue Information verändert sehen. Menschen gleicher Sozialisation entwickeln sehr ähnliche Konstrukte, was aber nicht vor krankhaften Bildern schützt wie z.B. "alle Juden verdienen viel Geld" oder "Zigeuner klauen" oder "Feministinnen können nicht richtig lieben".... Dabei wird nicht nur Anderssein abgewertet und negativ belegt, sondern auch das eigene Sein auf Kosten der anderen aufgewertet und überhöht. Das schafft ein Gefühl der Identität und hilft, eigene Schwächen zu überdecken.

Sofern die Begegnung mit Anderssein und Fremdheit angstmacht, ist Vorsicht geboten, erhöhte Aufmerksamkeit dem eigenen und dem Verhalten der anderen zu widmen. Wenn aber gesellschaftliche Strukturen so ausgerichtet und Erklärungen von gesellschaftlichen Meinungsführern und Gruppen abgegeben werden, daß die Angst vor Fremdem zu aggressiven Aussagen und Handlungen verleitet, dann sind diese gesellschaftlichen Strukturen verwerflich und die Meinungsführer verantwortungslos. So haben entsprechende Strukturen und Äußerungen über die letzten Jahre hinweg zu einer ablehnenden, gehässigen und gewaltbereiten Haltung gegenüber Fremden sowie Mitgliedern schwacher gesellschaftlicher Gruppen beigetragen.

Wer nicht einer Okay-Moral huldigt, okay ist oder okay-Sein vorgaukelt, hat mit Abstrafung zu rechnen. Der Psychoanalytiker und Arzt Horst-Eberhard Richter glaubt, daß jeder, der nur irgendwie kann, dieses Okay-Spiel mitspielt. Richter: "Natürlich soll für Kranke, Behinderte, Gebrechliche gesorgt werden. Aber man will davon möglichst wenig sehen." Die ganze Unterhaltungsindustrie dient dazu, die Nicht-okay - Gesellschaft zu verdrängen. Doch "die im Kult der Stärke und des Angsttabus vereint sind, zehren von der Ohnmacht der Verlierer - das sind die in den Schatten verdrängten Schwachen, die Bedrückten, die Armen und die Gebrechlichen. Sie bilden das gettoisierte gesellschaftliche Unbewußte. Hier herrschen Angst, Sorge und Tod." In dieses Schattenreich entsendet die Okay-Gesellschaft psychosoziale und medizinische Dienste, Nothilfeorganisationen, Spenden, Modellprojekte. Aber eine unsichtbare Mauer hält diese Ohnmächtigen "auf Distanz". Wenn Anderssein zu vermarkten ist, dann stehen die schwarzen Basketball-Spieler und Rock-Sängerinnen hoch im Kurs. Wenn Anderssein von Menschen Gelegenheit gibt, sich als Almosengeber besser zu fühlen und sich an der Exotik des anderen Menschen zu weiden, dann ist mit Zuwendung zu rechnen. In der Pose der Gönner.

Aus der Geschichte nichts gelernt?

Die Einschnitte in das materielle soziale Netz, das Ausbleiben verbesserter Lebensbedingungen für Kinder, Familien, Alleinerziehende, berufstätige Frauen, Behinderte, seelisch Belastete, Kranke bis hin zu materiell armen Menschen und Kriegsflüchtlingen haben im Zusammenhang mit den entsprechenden politischen Redensarten ein Klima der Entsolidarisierung und des Sozialkampfes aufgebaut, der nun das gesamte Gemeinwesen belastet und es schwer macht, neue Wege der Solidarität in schwierigen Zeiten zu gehen.

Nur wer immer wieder lernen und überprüfen kann, daß seine Angst vor Anderssein und Fremdheit maßlos übertrieben und letztlich unbegründet ist, verlernt Empfindungen und Haltungen, die einem konstruktiven gesellschaftlichen Netz entgegenstehen. Auch hier gilt wieder die Grundregel, daß das, was ein Mensch für sich in Anspruch nimmt oder in Anspruch nehmen müßte, wenn er beispielsweise vor Krieg in ein anderes Land flüchten oder als Behinderter nach einem Unfall weiterleben müßte, er auch anderen einzuräumen hat. Um wieviel mehr gilt dies für deutsche Menschen, deren Geschichte eine tief greifende Selbsterfahrung aufweist. Hans Magnus Enzensberger notierte in einem Essay für den "Spiegel" (46/1992/34,176) in Bezug auf die öffentliche Meinung über die Flüchtlings- und Asylbewerberbewegungen: "Es ist rätselhaft, daß eine Bevölkerung, die innerhalb ihrer eigenen Lebenszeit solche Erfahrungen gemacht hat, unter dem Wahn leiden kann, sie hätte es angesichts heutiger Wanderungen mit etwas noch nie Dagewesenem zu tun. Es ist, als ob das Anderssein und Schwachsein anderer Menschen zum Aufhänger für deren Vernichtung gemacht worden ist. Behinderte, Sinti und Roma, Juden und politische Gegner sind den deutschen Nationalsozialisten, ihren Mitläufern und jenen zum Opfer gefallen, die weggeschaut haben, statt frühzeitig, schon als das Denken und Reden so abwertend wurde und war, hinzuhören, hinzusehen und dreinzureden."

Die - möglichst öffentliche und gemeinsame - Kritik an gesellschaftlichen Strukturen und Meinungsführern, die bei Unsicherheit und Angst von Menschen gegenüber Anderssein und Fremdheit anderer Menschen und Gruppen die destruktiven Aspekte verstärken statt zu mindern, ist gelebte Mitmenschlichkeit. Dadurch helfen Menschen Menschen, nicht von Feindbildern erschlagen zu werden.

Statt einer gönnerhaften eine gerechte Gesellschaft

Positives Ziel einer solchen Kritik ist gesellschaftliche Gerechtigkeit, die allen, die an einer Gesellschaft teilnehmen, die gleichen Chancen einräumt, die eigenen Interessen, Bedürfnisse, Begabungen einzubringen, ohne daß jemand benachteiligt wird. Sie ist darauf ausgerichtet, diejenigen - unabbhängig von ihrer sozialen Stellung - besonders zu belohnen, die ihre emotionalen, sozialen, kommunikativen technischen, intellektuellen, sittlichen und kreativen Begabungen in die Gesellschaft einbringen. Niemand soll überfordert oder benachteiligt werden, so daß auf die 'Individuellen Ressourcen eines jeden Menschen Rücksicht genommen wird. Niemand soll unverhältnismäßig für sich gesellschaftlichen Nutzen haben, ohne einen Beitrag zur Gerechtigkeit zu leisten, weil sonst die Gesellschaft zum Schaden aller bald instabil werden würde. So hat jeder, der hohen gesellschaftlichen Nutzen hat, die Verpflichtung, ihn für die Ressourcen derer zur Verfügung zu stellen, die aus eigener Kraft weniger gesellschaftlichen Nutzen ziehen können, so daß sie überprüfbar mögliche Benachteiligungen überwinden oder vermeiden können.

Dieses Leitbild gesellschaftlicher Gerechtigkeit bietet einen Rahmen, der sowohl auf der Ebene des Gemeinwesens wie der Individuen ermöglicht, das Anderssein von Menschen als Bereicherung und Chance der gesellschaftlichen Vielfalt, des gesellschaftlichen Fortschritts und Zusammenhalts zu sehen. Dieses Leitbild gewährt sowohl dem Kind wie der alleinerziehenden Frau, dem Behinderten ebenso wie dem fremdsprachigen Flüchtling, dem Schulabbrecher ebenso wie dem vom Herzinfarkt, Konkurs und Verlust persönlichen Vermögens außer Gefecht gesetzten Manager soziale Würde, gesellschaftliche Beteiligung und Unterstützung zur angemessenen Entfaltung der eigenen Kräfte. Dieses Leitbild schließt allerdings auch das individuelle gerechte Verhalten des Einzelnen ein, ohne den er seinen Anspruch auf gerechte Behandlung verlieren kann.

Dazu gehört die Bereitschaft und Anstrengung nach dem Maß der eigenen Möglichkeiten, sich mit seinen Ressourcen, Kräften und Begabungen in die Gesellschaft einzubringen und an der Ausbildung der eigenen Fähigkeiten zu arbeiten.

Wer also den Verlust bestimmter, für das Wohlergehen einer Gesellschaft notwendigen Werte bei den einzelnen Menschen, möglichst noch bei jungen Menschen beklagt, der sollte sich zunächst ansehen, wie sich gesellschaftliche Strukturen und persönliches Verhalten von Menschen entsprechen. Die gesellschaftliche Mehrheit ist nicht in der Lage, über den Rahmen der gesellschaftlichen Strukturen hinaus orientiert zu sein und zu leben. Wer hingegen über den gesellschaftlichen Werteverlust insgesamt klagt, um damit eigenes persönliches Versagen zu entschuldigen, der muß sich nach dem Anteil fragen lassen, den er daran durch sein individuelles Denken und Handeln zweifellos hat. Eine Gesellschaft, die den Nutzen Einzelner oder bestimmter Gruppen von Menschen favorisiert und dafür auch bereit ist, die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen und Gruppen zu beschneiden, eine Gesellschaft, die eine Ergebniskonkurrenz bevorzugt, die sich in Mark und Pfennig rechnet, wird sich nicht wundem dürfen, wenn über Mark-und-Pfennig-Prinzipien hinausgehende Werte wenig bis gar nichts mehr gelten.

Der Weg ist das Ziel: Integration

Leben zu bewahren, zu entfalten und in all seinen Dimensionen (physisch, psychisch, geistig, spirituell, kreativ .... ) zu fördern, ist das Grundprinzip einer Moral der menschlichen Gesellschaft. Wer Leben in seinen Dimensionen mindert, beschädigt oder gar zerstört, muß mit aktiver Intoleranz derer rechnen, deren Toleranz er für sein Prinzip in Anspruch nimmt. Die Kommunikation von Menschen ist notwendige Voraussetzung dafür, Moral daraufhin überprüfen zu können, ob sie zu gesellschaftlicher Gerechtigkeit beiträgt oder nicht. In dieser Prüfsituation ist der härteste Testfall für soziale Gerechtigkeit zu sehen. Denn hier muß wiederum jeder ohne Benachteiligung und Überforderung die Chance haben, seinen spezifischen Beitrag in dieser ethischen Debatte zu leisten und damit die Verbindlichkeit kommunikativer Moral mit zu begründen, für sich zu übernehmen und auf diese Weise Gemeinsamkeit zu stiften. Wenn hier Menschen ausgegrenzt werden, nicht alles getan wird, daß sie sich auf ihre Weise beteiligen und äußern können oder wenn hier Anderssein nicht als Chance gesehen wird, eine lebens-, menschen- und gesellschaftsgerechtere Verbindlichkeit zugunsten eines jeden Einzelnen und aller zu entwickeln, dann wird die Qualität der Verbindlichkeit gemindert und der menschlichen Kommunikation mit dem Ziel gesellschaftlicher Gerechtigkeit Abbruch getan.

Da die kommunikative Moral ein Zielprojekt und noch keine volle Realität ist, ist offensichtlich, daß sie als Prozeß verstanden werden muß. Der Weg selbst ist das Ziel. Daher enthält jede kommunikative Situation - und grundsätzlich ist jede Situation kommunikativ, denn wir können nicht nicht kommunizieren - zwei Grunddimensionen: eine Ebene, auf der wir uns aktuell auf bestimmte Werte oder Verbindlichkeiten einigen bzw. auf der wir sie uns wechselseitig bestätigen oder bestreiten, und eine Ebene, auf der wir miteinander im Sinn dieser Verbindlichkeiten handeln. Dadurch entsteht ein Zirkelgeschehen: Denn ein Widerspruch auf der einen Ebene zieht den einer anderen nach sich.

Wird etwa auf der Ebene, auf der Verbindlichkeiten ausgehandelt werden (der Ebene der Ethik) die Nicht-Ausgrenzung von Menschen, also die Beteiligung und Integration aller Menschen zu einer Kommunikationsgemeinschaft als verbindlichem Wert erkannt, so kann im Bereich des Verhaltens nach diesem Prinzip (die Ebene der Moral) nicht desintegrativ gehandelt werden, ohne die vereinbarten Verbindlichkeiten zu Fall zu bringen. Würde hingegen auf der Ebene der Ethik die Einsicht begründet werden, daß es für alle besser sei, wenn bestimmte Menschen oder Gruppen, die sich als Minderheit von einer Mehrheit von Menschen mit bestimmten Merkmalen unterscheiden, ganz oder teilweise auszugrenzen oder zu benachteiligen, so würde die Moral alsbald in sich zusammenbrechen, weil sich dieses Prinzip grundsätzlich gegen jeden Menschen und gegen jede Gruppe richten kann. Denn seine Anwendung ist lediglich von der und den Machtmitteln bestimmter Menschen über andere Menschen abhängig, die die Merkmale definieren, die Zugang zur oder Ausgrenzung von der Gesellschaft bestimmen. Wo Macht jedoch zum eigenen und nicht zum gleichmäßigen Vorteil aller eingesetzt wird, das Prinzip begründet, daß jeder, der Macht hat, dieses für sich und gegen andere einsetzen soll oder darf. Niemand, der derzeit Macht hat, kann als vernünftiges Wesen die Geltung dieses Prinzips wünschen, denn er muß jederzeit aufgrund aller möglichen Umstände mit dem Verlust der Macht rechnen und wird gesellschaftliche Gerechtigkeit durch menschliche Kommunikation in Anspruch nehmen wollen.

Intoleranz gegen Intoleranz

Sowohl Ethik als auch Moral sind grundsätzlich integrativ, weil sie sich sonst in ihrem Bestand gefährden, denn eine desintegrative Ethik und Moral beschädigen Kommunikation, Gesellschaft und Leben und widerlegen sich selbst. Deswegen liegt die Beweislast nicht auf Seiten derer, die für die gerechte und gleichmäßige Anerkennung aller Menschen, die Beteiligung aller Gruppen von Menschen am gesellschaftlichen Leben und seinen Vorzügen, Pflichten und Problemen eintreten. Sie liegt bei denjenigen, die ein derartig fundamentales Prinzip gesellschaftlichen und individuellen Handelns bestreiten. Wer Menschen wegen ihrer Andersheit und Fremdheit von der Teilhabe an menschlicher Kommunikation, an sozialer Gerechtigkeit und an der Entwicklung ihres möglichen Beitrags zur Gemeinsamkeit abhält und ausschließt oder darin behindert oder Behinderung zum Anlaß für Benachteiligung statt zur Förderung macht, hat die Last zu beweisen, diese Praktik für diese Menschen und für alle Menschen kurz-, mittel- und langfristig zum Wohle gereicht.

Es ist ganz entscheidend, daß diejenigen, die für den Vorrang der Gemeinsamkeit von Menschen vor der Unterschiedenheit und für die positive Bewertung der Verschiedenheit als Grund der Gemeinsamkeit eintreten, sich nicht unter Druck und in Not bringen lassen, ihren Standpunkt verteidigen zu müssen. Gegen Intoleranz müssen auch die tolerantesten Menschen aktiv intolerant sein. Wer andere ausgrenzt, verwirkt sein Recht, beteiligt zu werden. Wer meint, anderen intolerant - gar mit Gewalt gegenüber treten zu müssen, der verwirkt seinen Anspruch, tolerant behandelt zu werden. Die Anwendung seines eigenen praktizierten Prinzips auf ihn selbst wird die größte Chance der Selbsteinsicht und -veränderung bewirken. Wer für Desintegration verbal, praktisch, juristisch oder atmosphärisch eintritt, muß die Beweislast aufgenötigt bekommen, daß sein Handlungsprinzip - zu Ende gedacht - zum eigenen und Wohlsein aller beitrage. Er wird die Prüfung nicht bestehen. Und sollte er dennoch wider bessere Einsicht seinem willkürlich gesetzten Prinzip der Intoleranz gegen Andere und für die Benachteiligung der Schwachen praktisch folgen, muß er mit der aktiven Intoleranz von Gegnern rechnen.

Die Sprüche: "Alle sind Ausländer - irgendwo" oder "Willst Du an der Costa Brava wegen Deines Andersseins bestraft werden?" fassen diese Erkenntnis salopp und leicht faßlich zusammen. Weil in jedem anderen Menschen, in jedem Ausländer, in jedem behinderten Menschen mein eigenes Anderssein, Ausländersein, Behindertsein tatsächlicher oder möglicher Weise gegenwärtig ist, ist mein Umgang mit ihrem Anderssein zugleich mein Umgang mit meinem tatsächlichen und möglichen Anderssein.

Zusammengefaßt wird diese ethische Weisheit seit altersher in der "Goldenen Regel". Sie besagt bei Konfuzius: "Was Du selbst nicht wünscht, das tue auch nicht anderen Menschen an" (551 - 489 v. Chr.). Im Judentum heißt es bei Rabbi Hillel: "Tue nicht anderen, was du nicht willst, das sie dir tun" (60 v. - 10 n. Chr.). Jesus formuliert: "Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso". Und schließlich stellt der Philosoph Immanual Kant ins Zentrum seiner ethischen Untersuchungen das Prinzip: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (1878), handle also so, daß dein persönliches ethisches Leitbild jederzeit als Grundlage einer Gesetzgebung der ganzen Menschheit dienen kann. Eingedenk dessen, was das Leben noch an Chancen, Krisen und Nöten für dich bereithält.

Eine Moral der Integration und Förderung aller Menschen, eine Moral gesellschaftlicher und individueller Gerechtigkeit, eine Moral der Bewahrung der Schöpfung für die Kinder und Kindeskinder ist keine Moral der schnellen Mark und der Superrendite. Wo Gruppen und Gesellschaften Rücksicht nehmen auf die Schwächeren, wo sie lehren und lernen, das Anderssein zu achten und als menschlichen Reichtum zu verstehen, wo sie Fremdheit mit Vorsicht, Interesse und Entgegenkommen begegnen, werden sie selbst langsamer, bedächtiger, sorgsamer und umsichtiger. Eine ausgezeichnete Lehre, eine hervorragende Moral, die das Anderssein, das Schwache, das Bedürftige von Menschen den Gesellschaften lehren kann. Es könnte sein, daß so auch ein neuer, schonender und sanfterer Umgang mit der Natur zu lernen ist. Und das Überleben in ganzheitlichem Wohlbefinden für die Zukunft wieder gewisser wird. Es muß so sein!

Norbert Copray, Dr. phil., M.A.phil., Dipl. Theol., Journalist, leitet seit mehr als zehn Jahren ein großes Frankfurter Kultur-, Bildungs- und Beratungszentrum sowie ein Institut für Tiefenpsychologie und Philosophie. Zahlreiche Buchveröffentlichungen und Essays. Seit über zehn Jahren engagierte er sich beruflich und privat für die Integration und die Normalisierung der Lebensbedingungen für ein Zusammenleben der Menschen vor allem im Bildungs- und Kulturbereich. Seine Tochter besuchte nach dem Integrativen Kindergarten in Oberursel (Taunus) die Integrative Schule Frankfurt und geht jetzt in den Integrativen Zweig der Ernst-Reuter-Schule.

Gusti Steiner: "Bei den Nazis wärst längst vergast ..."

Übergriffe auf behinderte Menschen und strukturelle Gewalt

Sommer '89:

Im Mai 1989 kam mir eine Einladung an den australischen BioEthiker Peter Singer in die Hand. Singer wurde von den Sonderpädagogen Anstötz und Leyendecker - Professoren der Universität Dortmund - zu einem Hochschulvortrag gebeten. Thema: "Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben". Die Veranstaltung war als Diskussionsforum ausgewiesen. Aber Raum zur Diskussion gab es nicht. Die Themenstellung schien eine Frage - doch gab es im Original kein Fragezeichen. Im nachhinein findet man in Veröffentlichungen zu den Ereignissen häufig das Fragezeichen eingefügt - Geschichtsfälschung der Chronisten? Der Begleittext zur Einladung enthüllte entwaffnend klar und unmißverständlich worum es ging: "Singer" - so hieß es "verlangt von uns, und zwar mit einsichtigen Gründen, daß wir unseren Umgang mit Tieren und die Idee von der Heiligkeit des menschlichen Lebens aufgeben."

Die Herausgeber des Buches "Zur Debatte über Euthanasie" Hegselmann und Merkel, alles andere als Singer-Gegner - faßten Singers Auffassung 1991 in drei Thesen zusammen:

Das Leben sei nicht heilig oder unantastbar. So sei z.B. unter bestimmten Umständen die Tötung eines schwerstbehinderten Säuglings erlaubt. Ebenso sei es unter bestimmten Umständen moralisch zulässig, eine Person auf deren Verlangen hin zu töten - z.B. dann, wenn sie im Endstadium einer Krebserkrankung einen solchen Wunsch äußert.

Die entscheidenden Gründe dafür, jemandem ein Lebensrecht zuzusprechen, seien abhängig zu machen von der Eigenschaft, eine Person zu sein, nicht aber vor der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch. Es sei auch nicht jeder Angehörige der Gattung Homo sapiens in jeder Phase seines Lebens eine Person.

Zwischen einem Leben, das wert sei, gelebt zu werden, und einem Leben, für das dies nicht gelte, könne unterschieden werden.

Mit einem Schlage stand 50 Jahre nach der Ermordung hunderttausender kranker und behinderter Menschen im Hitler-Faschismus über Nacht das Thema "Vernichtung des Lebensunwerten" wieder zur Diskussion. Betroffene und Sympathisanten, die in den zurückliegenden Jahren im Behindertenbereich politisch gearbeitet hatten, waren von dieser auftauchenden Bedrohung des Lebensrechts von Menschen überrascht, erschrocken, überrumpelt. Diese Bedrohung des Lebensrechts behinderter Menschen schien so unglaublich, daß der Begriff einer "Neuen Behindertenfeindlichkeit" auftauchte.

Herbst '92:

Seit Wochen und Monaten erhält der Begriff "Neue Behindertenfeindlichkeit" zusätzlich Nahrung. Die Medien berichten zunehmend von Übergriffen auf Behinderte:

Der 46-jährige Günter Schirmer nimmt sich das Leben. Er ist seit einem Verkehrsunfall beeinträchtigt. Schüler traten ihn vom Rad, bespuckten ihn, pöbelten ihn an und stießen ihn von einer U-Bahn-Treppe. Man sagt ihm, daß er von "unseren Steuergeldern lebe" und daß er bei Hitler "schon lange vergast worden wäre". Mit seiner Beeinträchtigung - so die Berichterstattung - hätte er leben können, mit solchen Demütigungen nicht.

Auf Spiekeroog werden behinderte Seminarteilnehmer des Strandes verwiesen. Im Museum ist kein Platz für Rollstuhlfahrer. Die Inselpfade sind zu eng für behinderte und nichtbehinderte Touristen.

Blinde werden am "Tag des weißen Stocks" in Hannovers Innenstadt beschimpft.

In Halle schlagen Neonazis fünf Schüler einer Gehörlosenschule krankenhausreif.

In Stendal überfallen Jugendliche ein Bildungswerk und verprügeln Behinderte.

In Mainz bedroht ein Jugendlicher einen Rollstuhlfahrer mit dem Messer und sagt ihm: "Auf Dich könnte ich richtig scheißen!"

Ein 50-jähriger geistig behinderter Mann wird von Unbekannten in Hannover entführt und mißhandelt, unter anderem verbrennt man ihm den Daumen mit einem Feuerzeug.

In Flensburg macht ein Gericht behinderte Menschen zum Reisemangel am Urlaubsort und spricht einer Familie Schadenersatz zu: "Die Kläger und ihre kleinen Kinder können ihre Mahlzeiten im Hotel nicht unbeschwert genießen. Der unausweichliche Anblick der Behinderten auf engem Raum bei jeder Mahlzeit verursacht Ekel und erinnert ständig in einem ungewöhnlichen Maße an die Möglichkeit menschlichen Leides..." urteilen die Richter "im Namen des Volkes".

Jugendliche greifen eine Rollstuhlfahrerin in Hannover an, treten gegen den Rollstuhl und schreien "Du gehörst in die Gaskammer!".

Beim Einkauf fallen Sätze wie "Die Krüppel werden immer schlimmer!". Vergleiche wie "von unserem Geld leben und dann noch fordern, daß Busse zugänglich gemacht werden" sind belegt. Beschimpfungen in Köln und Aachen zeigen das Ausmaß des Klimas.

Wieder greift angesichts dieser Gewalttaten Erschrecken und Entsetzen um sich und wieder ist die Rede von einer "Neuen Behindertenfeindlichkeit".

Was hat die "Euthanasiediskussion", die sich seit fünf Jahren an bundesrepublikanischen Hochschulen wie eine Seuche ausbreitet, mit solchen Übergriffen auf Behinderte zu tun und ist eigentlich etwas "Neues" an all dem?

Im Nachdenken über die heraufziehenden Vernichtungstendenzen müssen wir mit jedem Tage erkennen, daß die Existenz behinderter Menschen in dieser Gesellschaft von vielen Seiten bedroht wird: Forderungen nach Freigabe aktiver Sterbehilfe und von Töten auf Verlangen, Pränataldiagnostik, humangenetische Vernichtungsprävention, Gentechnologie, Entsolidarisierung im Gesundheitswesen entziehen uns Schritt für Schritt die Lebensgrundlage.

Das "Euthanasiedenken" war in unserer Geschichte keine Erfindung der Nazis. Ich sage das nicht zur Verharmlosung der Naziverbrechen! Vielmehr muß uns deutlich werden, daß Wissenschaftler, Sozialprofis und Schriftsteller seit Jahrhunderten Wegbereiter solchen Gedankenguts waren. Sie alle haben damals - wie auch heute wieder - mit ähnlichen Argumentationen und Methoden ihre Gedanken transportiert. Der Hitler-Faschismus hat sie vor fünfzig Jahren konsequent umgesetzt.

Die Argumentation, daß man dem kranken Menschen wie einem kranken Pferd den Gnadentod zuteilwerden lassen müsse, findet sich bei Ricarda Huch, Max Weber und Peter Singer fast gleichlautend. Immer wieder nutzen die Befürworter der Tötungsideologie die Ausnahmen des Tötungsverbots um ihre Gedanken zu transportieren: "Abtreibung ist straffrei - warum nicht das Töten auf Verlangen?" So fragen sie - wohlwissend, daß die Legalisierung des Tötens auf Verlangen das Einfallstor zur gesamten Euthanasie darstellt.

"Durch Zyankali erlöst"

Die "Deutsche Gesellschaft für sogenanntes (Anmerkung: Gusti Steiner) Humanes Sterben" (DGHS) und ihr ehemaliger Präsident Hans Henning Atrott setzten sich mehr als 10 Jahre für die Straffreiheit des Tötens auf Verlangen in unserer Gesellschaft ein.

Die Gesellschaft und ihr Präsident warben damit, Schwerkranken und Behinderten mit Zyankali zur "Selbsterlösung" zu verhelfen: Der "selbstbestimmte" Freitod ist noch heute nach Atrotts Ära Programm.

Der Weg dieser Organisation und ihrer Repräsentanten ist mit der medienwirksamen Verwertung von Behindertenleichen gepflastert: 1987 wurde in der Boulevard-Presse eine querschnittgelähmte Frau mit dem Decknamen Daniela vermarktet, die sterben wollte - so zumindest die Schlagzeilen. Sie war jedoch nicht die erste Leiche dieser traurigen Bilanz!

Im September des Jahres 1987 starb die querschnittgelähmte Ingrid Frank. Todesursache: Zyankali - Daniela folgt ihr im Dezember des gleichen Jahres. Todesursache: Zyankali!

Im Januar 1988 stirbt in Troisdorf in der Nähe von Bonn ein querschnittgelähmter Mann. Todesursache: Zyankali! - Im März 1988 scheidet in der Nähe von Trier eine Frau mit Multipler Sklerose aus dem Leben. Todesursache: Zyankali!

Atrott und seine Gesellschaft zeichneten bei diesen "Freitoden" der Behinderten stets das Bild des absoluten Elends. Sie vermittelten den von lebendig Toten. Das entzieht behinderten Menschen Schritt für Schritt die Lebensgrundlage. Wir geraten zunehmend in Rechtfertigungszwang, warum wir noch leben und uns noch nicht in Selbstbestimmung und -verantwortung das Leben genommen haben.

Atrott und die Gesellschaft machten sich so indirekt zum "Euthanasiegutachter" über Leben und Tod. In der Zeitschrift "Humanes Leben - Humanes Sterben" (Nr. 4/1988) findet sich z.B. bezogen auf die 30-jährige Ingrid Frank der Satz: "Die attraktive junge Frau fristete nur noch eine Existenz als lebender Kopf, denn ihr Körper war gewissermaßen zu einem Leichnam geworden." (Zitat nach E. Klee, Durch Zyankali erlöst, Frankfurt 1990).

Ingrid Frank war schwerbehindert. Sie hatte bei einem Autounfall eine Querschnittlähmung davongetragen. Ein Unfall, wie er sich jährlich zwischen 1.000 und 2.000 mal in der Bundesrepublik in unterschiedlicher Schwere ereignet. Im Zusammenhang mit dem Zyankalitod von Dinah Friedmann, die in den Medien den Decknamen "Daniela" trug, sagte Hans Henning Atrott am 03.03.1988 in der Illustrierten": "Sehen Sie, ihr Bett war ihr Sarg, schon viele Jahre war es ihr Sarg." Solche Zitate ließen sich beliebig fortsetzen.

Atrott übernahm hier nie Verantwortung. Er zog sich auf die Position zurück: "Die Entscheidung trifft ja der Betroffene selbst. Das einzige, worüber ich mich vergewissere, ist, ob das ehrlich ist oder ob ich getäuscht werden soll. Aber wissen Sie, wir haben niemanden getötet, wir haben niemanden umgebracht, die entscheidenden Handlungen mußten die Betroffenen selbst machen." (DIE ZEIT, 11.05.1990) Entscheidungen der DGHS und ihres Präsidenten, Beihilfe zur Selbsttötung durch Reichen des Giftbechers zu leisten, fielen auf der Grundlage von Vorurteilen über Menschen mit Behindererung - Einstellungen über "lebenswert" und "lebensunwert" kamen zum Tragen. Menschen in schwierigen Lebenssituationen - und Situationen wie beschrieben sind äußerst schwierige, langanhaltende Lebenssituationen - brauchen Hilfen zum Leben, nicht Hilfen zum Sterben, um sich und ihr Leben in unserer Gesellschaft wiederzufinden.

Die DGHS verschickte im Rahmen ihrer Zielsetzung nach 1-jähriger Mitgliedschaft eine "Freitodanleitung", die "todsichere" Tips zur Selbsttötung gab und bei der nicht ausgeschlossen ist, daß sie in die Hände verzweifelter, lebensmüder Menschen fällt!

Der für mich gefährlichste Aspekt der Ziele auch in der Verbandspolitik der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten ist aber die Tatsache, daß die gesetzliche Straffreiheit bei "Töten auf Verlangen" gefordert und angestrebt wird. Hinter diesem Anliegen stehe bei der DGHS das Verfügungsrecht des Menschen über sein Leben, das Recht auf Freitod bei voller Zurechnungsfähigkeit und Straffreiheit für denjenigen, der auf Verlangen aktive oder passive Sterbehilfe gewährt (Vergl. DGSH-Selbstdarstellung S. 6). Ein Arzt soll z.B. straffrei bleiben, wenn er einen Sterbenden auf dessen Verlangen tötet. Dieses "Töten auf Verlangen" wird in der DGHS immer an das Verlangen bei "voller Zurechnungsfähigkeit" geknüpft: Die DGHS betont, daß für "den Wunsch zu sterben das Selbstbestimmungsrecht des Patienten maßgeblich ist. Für Menschen, die infolge eines geistigen Gebrechens ihren Willen nicht (mehr) hinreichend äußern können, kann diese Regelung nicht gelten. Die Regelungen, die die DGHS anstrebt, haben stets das Recht des Menschen zum Ziel, über das eigene Schicksal zu bestimmen, nicht aber über das anderer." (DGHS-Selbstdarstellung S. 11) Aber die Begriffe "auf Verlangen", "Selbstbestimmungsrecht", "volle Zurechnungsfähigkeit" enthalten immer die Frage, was ist zu tun, wenn "nicht verlangt" werden kann, wenn "Selbstbestimmung" und "volle Zurechnungsfähigkeit" nicht gegeben sind? Selbst wenn man solche Situationen - wie es die DGHS tut - ausnimmt, stellt sich allein juristisch aus der inneren Logik über kurz oder lang diese Frage und führt sehr schnell zur Tötung hilfloser Menschen, die ihren Willen nicht oder nicht voll erklären können: Menschen im Koma, geistigbehinderte Menschen, Altersverwirrte und andere.

"Töten auf Verlangen" und "getötet werden, weil man nicht verlangen kann", liegen gefährlich eng beisammen und lassen sich nicht trennen. Die Geschichte macht uns das sehr deutlich! (Vergl. Binding, K. und Hoche, A. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form, Leipzig, 1920.)

Wie eng diese beiden Bereiche zusammenliegen und einander nach sich ziehen, zeigt ein Zitat aus dem von Atrott und Pohlmeier dem alten und dem gegenwärtigen Präsidenten der DGHS herausgegebenen Buch "Sterbehilfe in der Gegenwart", Regensburg, 1990. Der Band ist zum 10-jährigen Bestehen der DGHS erschienen. Norbert Haerster, Lehrstuhlinhaber für Rechts- und Sozialphilosophie und Rechtssoziologie an der Universität Mainz, der für die DGHS und die Sterbehilfe wirbt (Siehe DGHS-Selbstdarstellung), schlägt in dem Buch auf S. 60 vor: "Ein Arzt, der einen an einer unheilbar, schweren Krankheit leidenden Patienten tötet, handelt nicht rechtswidrig, wenn der Kranke diese Tötung in einem urteilsfähigen und aufgeklärten Zustand wünscht oder wenn der Kranke, sofern nicht urteilsfähig, diese Tötung in einem urteilsfähigem und aufgeklärten Zustand wünschen würde".

Schon hier wird interpretiert, ob nicht urteilsunfähigen Menschen, also Menschen, die "ihren Willen nicht (mehr) hinreichend äußern können" (DGHS-Selbstdarstellung S. 11), die Tötung in einem urteilsfähigen und aufgeklärten Zustand wünschen würden (N. Hörster, Ravensburg, 1990). Wie soll da das eine möglich und das andere vermeidbar sein? Eine gefährliche, eine tödliche Gemengelage, die nur in Kranken- und Behindertentötung enden kann!

So ist es auch kein Wunder, daß sich in einem Selbstdarstellungsheft der "Initiativgruppe für Humanes Sterben", in der der "Bund für Geistesfreiheit" federführend war und aus der die DGHS hervorgegangen ist, folgender Auszug aus einem Leserbrief abgedruckt ist: "Als vor rund 20 Jahren die Contergan- Kinder geboren wurden, war ich fest entschlossen, sollte meiner Familie gleiches widerfahren, das Kind sofort zu töten und notfalls dafür ins Gefängnis zu gehen. Zum Glück blieb mir diese Entscheidung erspart. ... Der Todkranke hat ein Recht, menschlich zu sterben und der Mißgebildete hat ein Recht zu sterben, bevor er widerwillig unserer unmenschlichen Gesellschaft ausgeliefert wird." (bfg, Initiative für Humanes Sterben nach Wunsch der Sterbenden, Für das Recht, human zu sterben? Euthanasie heute. Eine Dokumentation, Nürnberg, 1978, S. 15) So eng verwoben ist "Sterben auf Verlangen" im "Kranken- und Behindertenmord" in den inneren Zusammenhängen und in den Köpfen der Menschen.

Die DGHS ist in der Bundesrepublik eine mitgliedsstarke Organisation. 16.000 Menschen sollen 1991 der Gesellschaft beigetreten sein (Pfarr, WDR). Sterbehilfe ist in der Bundesrepublik in den letzten Jahren das Thema, das in den Universitäten, in den Medien und in de Auseinandersetzung der Menschen an Boden gewinnt. Dahinter steht eine Menge ungelöster Probleme, denen wir ausgesetzt sind und die uns beschäftigen:

  • Wir sind als Menschen vereinzelt, wir sind alle nicht mehr in tragfähige soziale Geflechte eingebunden,

  • wir haben Angst vor Krankheit, Alter, Behinderung, Pflegeabhängigkeit, wir wissen nicht, wie wir solche Situationen bewältigen können,

  • die Macht einer inhumanen Medizin, die ihre Technik entwickelt und den Menschen nicht berücksichtigt, bedroht uns,

  • der Pflegenotstand ängstigt uns,

  • uns fehlen soziale Einrichtungen und Hilfen zur Bewältigung solcher Situationen wie ambulante Hilfen, Wohnungen für Menschen mit besonderem Wohnbedarf (Behinderte, Alte), Beratung und Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen bis hin zur Begleitung im Sterbeprozeß,

  • notwendige Mittel werden nicht zur Verfügung gestellt,

  • wir erliegen dem Irrglauben, alles wäre technischwissenschaftlich machbar und und und...

Die Existenz all dieser Probleme begünstigt die Existenz und das Mitgliederwachstum der DGHS. Aber die DGHS und ihr ehemaliger Präsident Atrott gaben und geben falsche und höchstgefährliche Antworten auf all diese ungeklärten Fragen: sie geben Anleitung zur Selbsttötung, reichen den Giftbecher und propagieren den Freitod, die Selbstentsorgung, als Lösung. Das darf nicht unsere Zukunft sein! Selbst wenn man heute keine schlüssigen Antworten auf die elementaren Fragen wüßte oder weiß, darf der Tod derer, auf die die Probleme werden, nicht zur Lösung werden!

Die DGHS treibt mit ihrem Programm eine grauenhafte Entwicklung voran - selbst wenn sie anderes beteuert. Das macht diese Gesellschaft so gefährlich für uns alle. Gleich ob wir sind oder nicht! Es ist für uns alle eine Frage der Zeit, wann wir als hinreichend hinfällig gelten und uns bedroht fühlen müssen.

Ich will - um Mißverständnissen vorzubeugen - zwei Dinge klarstellen:

  1. Der Gedanke, Menschen - besonders Kranke und Behinderte zu töten zieht sich durch die Menschheitsgeschichte.- Das ist vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund zu begreifen. So gesehen hat im 19. und 20. Jahrhundert der Nutzen des Krankenmords für die Gesellschaft an Bedeutung gewonnen (Vgl. Chr. Stadler, Sterbehilfe gestern und heute, Bonn, 1991). Wir dürfen der "Tötung Nutzloser" als Lösung gesellschaftlicher Probleme keinen Raum eröffnen!

  1. Ich verdamme niemanden, der Hand an sich legt und den Freitod wählt. Nur, das Töten darf nicht als Lösung für Probleme zur gesellschaftlichen Institution, zur verbrieften, kostengünstigen Antwort auf Probleme werden. Das ist hochgefährlich und zutiefst menschenverachtend.

Die DGHS mit ihrer Organisation und ihren Repräsentanten zu einer solch gefährlichen Entwicklung unserer Gesellschaft bei. Statt den Giftbecher in schwierigen Situationen zu reichen, statt straffreies "Töten auf Verlangen" ermöglichen zu helfen, muß heute die Hemmschwelle zum Töten eher erhöht und Hilfe in schwierigen Lebenslagen zur Verfügung gestellt werden.

Moderne Lösungen für die "Soziale Frage"

Die Argumentationsmuster ähneln sich erschreckend - damals und auch heute wieder: Ob ein schwerstbehinderter Mensch über scheinbar wertneutrale Kriterien zur "NICHT-Person" definiert und als "menschliches Gemüse" (Peter Singer) abgetan wird oder ob 1920 bei Binding/Hoche und später im Faschismus von "leeren Menschenhülsen", "Ballastexistenzen", "geistig Toten" die Rede war, die Bilder gleichen sich!

Augenblicklich etabliert sich die Bio-Ethik in der Bundesrepublik.

Im Januar 1994 gründete sich in Bonn das erste Bio-Ethik-Institut.

Singer scheint mit seinen sehr plakativen und damit angreifbaren Thesen aus der Schußlinie genommen worden zu sein. Die Bio-Ethik-Anhänger zäumen nun das Pferd vom Schwanz auf: sie suchen in ihrem Institut Antworten auf Fragen, die die moderne Wissenschaft mit ihren horrenden Möglichkeiten aufwirft. Jeder kann sich ausrechnen, wie die Bio-Ethik-Antworten aussehen werden - nämlich wie Singers Thesen, die uns so geschockt haben. Vielleicht merkt man es nur nicht auf den ersten Blick.

Seit Beginn der Industrialisierung grenzt man die aus der Gesellschaft aus, auch bei uns, die zur Last fallen, die ihre Arbeitskraft am Arbeitsmarkt nicht verkaufen können. Man grenzt sie aus, versucht sie an vorgegebene Normalität anzupassen - und wenn das nicht gelingt - ermordet man sie. Klaus Dörner nennt das die "Endlösung der sozialen Frage" (Gütersloh 1988).

Die Industrialisierung mit ihrer kapitalistischen, arbeitsteiligen Produktionsform hat jeden, der sein Leben nicht aus der Kapitalverwertung bestreiten kann, gezwungen, zu seiner Existenzsicherung seine Arbeitskraft in den Produktions- und Dienstleistungsstätten zu verkaufen. Bis heute gibt es keine andere Form der Existenzsicherung - außer Kriminalität und Prostitution. Über all die Jahrhunderte der Industrialisierung lautete die zentrale Frage der Gesellschaft: Was machen wir mit denen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können? Was machen wir mit den Behinderten, den vorübergehend und dauerhaft Kranken, den Alten, den Invaliden, den Unfallopfern, den Verrückten?

Heilen, ausgrenzen, behandeln, rehabilitieren oder vernichten waren je nach Theorieansatz und Zeitgeist Lösungen für diese "Soziale Frage" - für die, die ihre Arbeitskraft nicht am Arbeitsmarkt einzusetzen vermochten: Die Unproduktiven, die Störer, die Unnormalen, die Abweichler, die Minderwertigen. Um die jeweiligen Theorien anzuwenden, gab es Regelungen und Vorschriften.

Gesetze bestimmten seit eh und je die Angelegenheiten des Unproduktiven von der Bettelordnung bis zum Bundessozialhilfegesetz. Derjenige, der seine Existenz nicht aus dem Verkauf seiner Arbeitskraft bestreiten kann, ist in hohem Maße von Gesetzen und der Verwirklichung von Rechtsansprüchen abhängig.

Behinderte Menschen sind in unserer Gesellschaft in ihrer Existenzsicherung von einem verwirrenden Rechtssystem, das den Unproduktiven benachteiligt, nur mit großen Problemen verwirklicht werden kann und beliebig manipulierbar ist (Spargesetze), abhängig.

Behinderte befinden sich augenblicklich in einer bedrohlichen Situation. Die Chance ihrer Teilhabe an dieser Gesellschaft sinkt, weil durch wachsende Arbeitslosigkeit unsere mehr oder minder beschädigte Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist. Das wird zu einer umfassenden Ausgrenzung führen - möglicherweise bis zur "Endlösung Tod".

Die "neue Behindertenfeindlichkeit" ist nichts Neues!

Die Euthanasiediskussion ist nichts Neues, keine "Neue Behindertenfeindlichkeit!" Sie ist eine alte Antwort auf die alte soziale Frage.

Übergriffe auf Behinderte - wie oben beschrieben - finden sich auch nicht nur heute, sondern sehr gleichbleibend in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten.

1969/70 machte der sogenannte Fall "Aumühle" Schlagzeilen. Es kam zu Bürgertätlichkeiten gegen ein geplantes Behindertenheim mit zertrümmerten Fenstern, Brandstiftung, Verprügelung des Heimleiters, und alles unter dem Motto: "Wir wollen einen Nationalpark, keinen Idiotenpark!"

1971 kommt es in Schwalmstadt zu einem Badeverbot für 150 geistig behinderte Kinder und Jugendliche. "Ein geistig Behinderter ist kein Mensch im normalen Sinne. Er ist lediglich ein Torso, der so vor sich hinlebt." Und "Irgendwie ist das Wasser nicht mehr in Ordnung, wenn geistig Behinderte darin gebadet haben."

1973 wird in Mölln behinderten Kindern die Benutzung des Kurmittelbades untersagt.

In Hamburg versperren 1974 Rollstuhlfahrer nach Meinung des Deutschen Fußballbundes die Bandenwerbung und sollen deshalb vom Spiel ausgeschlossen werden.

1975 verhindern Hausbewohner in Köln den Zuzug einer Familie mit einem Kind mit Down-Syndrom.

1976 wird in Lüneburg die Scheidung eines Rollstuhlfahrers wegen Unzugänglichkeit des Gebäudes auf offener Straße vollzogen.

1978 wirbt die HUK-Versicherung mit dem Slogan "Verkrüppelt für den Rest des Lebens, ist ein schlimmer Tod!"

1978 erklärt das Kreisgesundheitsamt in St. Wendel (Saarland) eine spastisch gelähmte Frau erst für "schwachsinnig" und dann zur Normalbegabten - beide Male, ohne die Frau gesehen zu haben.

1980 macht ein Frankfurter Gericht mit nahezu den gleichen Worten wie in Flensburg Behinderte zu Reisemangel.

Diese Chronologie (vgl. Ernst Klee, Behinderte im Urlaub, Frankfurt 1980) soll nicht die heutigen Übergriffe auf Behinderte verharmlosen Im Gegenteil! Die langjährige Kontinuität dieser Taten muß unser Entsetzen steigern! W alle haben diese Ereignisse miterlebt, viele haben sie ignoriert, nicht wahrhaben wollen, bagatellisiert. Es waren und sind "alte Antworten" auf die alte "Soziale Frage", Ablehnung Haß, Diskriminierung, Ausgrenzung, Isolation Abschiebung und und und...

Ich bin nicht sicher, ob Häufung und Intensität solcher Ereignisse augenblicklich wachse Ein möglicher Bezug zum wiedererwachenden Rechtsradikalismus ist von der Beobachtung wahrscheinlich, muß aber näher beleuchtet und untersucht werden.

Die "Neue Behindertenfeindlichkeit ist nichts Neues!

Es ist die alte Behindertenfeindlichkeit, die wir vor ihrem historischen wie vor ihrem damaligen und heutigen gesellschaftlichen Hintergrund sehen müssen. Behindertenfeindlichkeit zeigt sich nicht allein in spektakulären "Übergriffen" der beschriebenen Art - damals wie heute, sondern steckt in vielen Erscheinungen, gegen die Betroffene in all den vergangenen Jahren kämpfen, um ihre Lebenslage zu verbessern:

  • Unzugängliche Gebäude und unzugängliche öffentliche Verkehrsmittel,

  • verhinderte Integration in Kindergarten und Schulen,

  • Unzugänglicher Wohnungsbau,

  • Vereitelung einer bedarfsgerechten Absicherung der Pflege und viele andere Erfahrungen.

Neu ist eigentlich nur, daß heute Übergriffe eine größere Verbreiterung in der Öffentlichkeit finden, daß die Situation in den Medien allgemeinverständlich dargestellt werden. An dieser "Popularisierung" haben wir Betroffenen großen Anteil, wir haben immer wieder solche Ereignisse vom "Frankfurter Urteil" über die "Aussperrung aus öffentlichen Verkehrsmitteln" bis zum "Flensburger Urteil" zum Anlaß genommen, in mannigfachen Aktionen auf die den Geschehnissen innewohnende "Diskriminierung" hinzuweisen, sie anzuprangern und zu geißeln. Heute weiß Jeder Journalist, das Verkehrsmittel und Gebäude, die für Rollstuhlfahrer, Gehbehinderte, alte Menschen unzugänglich sind, diesen Personenkreis aussperren. Aber wir als Betroffene haben selbst zu wenig gesehen und der Öffentlichkeit vermittelt, daß in der Verweigerung all dessen, worum wir kämpfen mußten und müssen, Elemente "Struktureller Gewalt" gegen Behinderte liegen.

Diskriminierung und Strukturelle Gewalt gegen behinderte Menschen

1991 ging die Geschichte eines Sehbehinderten, eines Blinden und eines Rollstuhlfahrers aus Kassel durch die Medien! Sie wollten einen Schrebergarten mieten, erhielten aber eine Absage, weil der Vorstand des Vereins fürchtete, sie würden aufgrund ihrer Beeinträchtigungen das Grundstück nicht pflegen könnten. Als die drei die Sache nicht auf sich beruhen ließen, sondern die Öffentlichkeit suchten, Unterschriften sammelten und sich an die Presse wandten, wurde die Pforte des gewünschten Kleingartens eingetreten, die Wege mit Scherben bestreut und die Gartenhütte angezündet.

Sicher war uns allen die Diskriminierung, die wir tagtäglich erfahren, klar, aber wir haben weniger die Elemente der Gewalt struktureller und tätlicher Gewalt - gesehen und angeprangert. Verweigerung gleicher Lebensbedingungen, Euthanasiedenken, Übergriffe sind nicht erklärbar, wenn wir nicht die Strukturelle Gewalt gegen Behinderte in dieser Gesellschaft erkennen, die sich zwar vordergründig direkt gegen Personen äußert, aber in unser gesellschaftliches System als Strukturelement eingebaut ist und permanent wirkt.

Wir können nicht die Übergriffe in Hannover, Dortmund, Bochum, Köln, Aachen, Mainz, Frankfurt, Halle sehen und beklagen, ohne gleichzeitig zu sehen, daß Pflegeabhängigen zum gleichen Zeitpunkt ihre Pflege in dieser Republik nicht in Selbstbestimmung gewährleistet ist, - ohne zu sehen, daß der nach einem Privatunfall Querschnittgelähmte in aller Regel keine Wohnung findet, öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen kann - von der Teilnahme am täglichen Leben ausgeschlossen wird, - ohne zu sehen, daß tagtäglich Behinderte in Heimen verschwinden, ihrer Bürgerrolle weitgehend beraubt zu Insassen gemacht werden, ohne zu sehen, daß der gemeinsame Schulbesuch behinderter und nicht behinderter Kinder - obgleich keiner heute mehr die positiven Effekte einer solchen Integration bestreiten kann und bestreitet, vereitelt wird - aus welchen Gründen auch immer.

Vier aktuelle Beispiele, die die Strukturelle Gewalt gegen Behinderte in unserer Republik verdeutlichen:

Wir kämpfen seit 20 Jahren um die Zugänglichkeit öffentlicher Verkehrsmittel mit Worten, mit der Überzeugungskraft der besseren Argumente, mit Aktionen. In Dortmund haben wir erreicht, daß absenkbare Niederflurbusse angeschafft werden, aber die Bussteige werden nicht niveaugleich angepaßt, Lifte oder Rampen sind nicht in Sicht. Wir bleiben auch weiterhin aus diesem Verkehrsmittel ausgesperrt. Wir werden gewaltsam durch 10cm Höhenunterschied an der Benutzung gehindert. Das ist mehr als Diskriminierung! Das ist Gewalt gegen Behinderte, die nur auf den ersten Blick nicht die Brutalität des Verprügelns erkennen läßt. Der zweite Blick macht die Brutalität dieser gewaltsamen Aussperrung deutlich. Die Situation ist nicht nur für Dortmund zutreffend, sondern charakterisiert die Lebenslage der meisten Behinderten in der Bundesrepublik.

In den 70er Jahren nannte die Stadt Dortmund in ihrem eigenen - Stadtentwicklungsplan Dortmund 1990" einen Bedarf von 660 behindertengerechten Wohnungen. Diese Wohnungen wurden nie gebaut! Die Stadt gab ihre eigenen Planungsvorgaben - trotz der Mahnung Betroffener - aus unerklärbaren Gründen auf und zählte sieben Jahre vor Erreichen der zeitlichen Zielvorgabe des Jahres 1990 - sage und schreibe - 5 behindertengerechte Wohnungen. Ein planerischer und tatsächlicher Fehlbestand von 655 Wohnungen. 1992 fehlen noch immer rund 500 behindertengerechte Wohnungen. Das Amt für Wohnungswesen kann die Nachfrage nicht befriedigen! Eine harmlose Formulierung! Im Einzelfall bedeutet das für jemanden, der durch Unfall oder Krankheit auf den Rollstuhl angewiesen ist, daß er in seiner Wohnung im 3. Stock eines Mietshauses ohne Aufzug eingesperrt ist. Er wird durch diese Gesellschaft seiner Freiheit beraubt. Blanke Gewalt gegen Behinderte. Unübersehbare Gewalt!

Ein weiterer offensichtlicher Gewaltakt gegen Behinderte vollzog sich im vergangenen Jahrzehnt beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit. Schätzungsweise wurden 2.000 bis 3.000 Bluter - etwa jeder zweite Hämophiliekranke - durch verseuchte Blutgerinnungsfaktoren mit Aids infiziert. Ende 1992 schätzte DER SPIEGEL die Todeszahl bundesrepublikanischer Bluter in diesem Zusammenhang auf 500 Menschen. Im ersten Moment könnte man sagen, "Das ist ein tragisches Unglück. Auch bei Operationen sind Menschen durch verseuchte Blutkonserven mit Aids infiziert worden!" Blutern wurden aber "aidsverseuchte Gerinnungsfaktoren auch" dann noch gegeben, als 1983/84 glasklar feststand, was man tat! Selbst unverbrauchte Lagerbestände der verseuchten Gerinnungsfaktoren in Krankenhäusern rief niemand zurück. Die Restbestände wurden aufgebraucht bis spät in die 80er Jahre - trotz Aids-Verseuchung! "Für mich ist das Mord", sagte Elisabeth Gnade, Witwe von Wolfgang Gnade, der bis 1989 stellvertretender Vorsitzender der "'Deutschen Hämophilie Gesellschaft" war. Ihr Mann starb 1991 47-jährig an den Folgen der "Aids-Viren auf Rezept". (Vergl. DER SPIEGEL, 47/1991) Keine Öffentlichkeit schreit auf! Das ist Gewalt - unverkennbar! Strukturelle Gewalt - ohne die die heutig brutalen Übergriffe nicht erklärbar sind!

In den Siebzigern dieses Jahrhunderts erhoben Behinderten- und Krüppelinitiativen in der Bundesrepublik als Selbsthilfegruppen Protest gegen das überkommene Hilfesystem im Behindertenbereich. Aktionen wie die "Frankfurter Straßenbahnblockade (1974), die Demonstration gegen das "Frankfurter Urteil" (1979) oder der "Protes" gegen das "UNO-Jahr der Behinderten" (1981) machten Schlagzeilen. Ausgrenzung, Ausperrung, Diskrimierung, Bevormundung einer zahlenmäßig großen, aber "demütigen" Minderheit prangerten die Betroffenen ohne jede Demut mit unerwarteter unbekannter Härte an. Das Konfliktfeld unserer eigenen Lebenssituation war Gegenstand unserer gesellschaftpolitischen Auseinandersetzung. Kaum einer nahm uns ernst. Wir wurden als "Wirrköpfe" und "Radau-Macher" abgetan. Selbst als sich in den achtziger Jahren Eltern behinderter Kinder zu Wort meldeten und für ihre Söhne und Töchter nicht-aussondernden gemeinsamen Kindergarten- und Regelschulbesuch mit nichtbehinderten Kindern fordert und im Einzelfall auch durchsetzten, erhielt das von den Politikern und sogenannten Fachleuten die Qualität eines "unverarbeiteten Elternsyndroms". Betroffene, die im vergangenen Jahrzehnt "Ambulante Dienste" und die "Selbstbestimmt-Leben-Bewegung" als Alternative zum überkommenen Hilfesystem aufbauten, erhielten verächtlich das Prädikat "Spinner".

20 Jahre danach

Um so erfreulicher mutet es an, daß 1993 - zwanzig Jahre nach den Anfängen dieser Entwicklung - das Wissenschaftliche Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und der Behindertenpolitik in Nordrhein-Westfalen feststellt: "Die letzten zehn Jahre sind geprägt durch ein neues Verständnis von Behinderung. Das Paradigma 'Selbstbestimmt Leben' ist Ausdruck des veränderten Selbstverständnisses behinderter Menschen und Forderrung zugleich: Gegen Entmündigung, Diskriminierung und Aussonderung! Für gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe im Sinne selbstbestimmter Wahl- und Lebensmöglichkeiten! Unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, soll damit das Recht auf gleichberechtigte Lebenschancen in allen Lebenbereichen betont eingelöst werden. Einem weitgehend negativen Fremdbild von Behinderung wird ein positives Selbstbild der Betroffenen entgegengestellt. Das ist mehr als Protest und Ablehnung von Diskriminierung und Aussonderung" (Adam, C., Düsseldorf 1993, S. 11 f.)

Einer zutreffenden Analyse folgt im Gutachten die Skizzierung von Lösungen, die der veränderten Situation und Betrachtung Rechnung tragen: Sozialintegrative Maßnahmen in allen Lebensbereichen, die Selbstbestimmung, Parteiischkeit und Mitbestimmung von unten (vgl. ebenda, S.33) das Wort reden - vom Kindergarten über Wohnen bis zu Arbeit und Mobilität.

Welche Eltern, die sich bei der Bürgerrechtsbewegung "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen" engagieren, stehen nicht uneingeschränkt hinter Passagen wie "Ausgliederung aus dem allgemeinen Bildungssystem beeinträchtigen die soziale Integration behinderter Menschen", da die damit einhergehende Ausgliederung aus alltäglichen Lebenszusammenhängen soziale und Alltagserfahrungen reduziert. Eine Ausgliederung, die häufig bereits im Kindergartenalter erfolgt, kann nur schwer wieder rückgängig gemacht werden und setzt sich im Beruf und anderen Lebensbereichen fort.

"Oberstes Ziel der Bildungspolitik muß es daher sein, durch geeignete Konzepte Ausgliederungsprozesse möglichst frühzeitig zu verhindern. Von Betroffenen und ihren Angehörigen wird der Abbau von Chancenungleichheiten und sozialer Benachteiligung im Bildungssystem durch die Integration Behinderter in reguläre Bildungs- und Ausbildungsensituationen nachdrücklich gefordert, was Neuorientierungen und Reformen bestehender Bildungsmöglichkeiten für behinderte Menschen erforderlich macht" S. 92)

Gusti Steiner, geboren 1938 in Frankfurt am Main, Studium der Sozialarbeit in Heidelberg, lebt und arbeitet in Dortmund, seit 20 Jahren aktiv mit der Behinderten-Selbsthilfebewegung, bekannt als Herausgeber einer Reihe von Büchern (Behindertenkalender, Rechtslexikon für Behinderte, Hand- und Fußbuch für Behinderte) und als Autor von Fachartikeln.

Uwe Saßmannshausen: Vom Begriff der Ware zur Politik der Integration

Soziologische Aspekte des Andersseins

Ware

"Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform."[1]. So der Philosoph aus Trier. In einer Gesellschaft mit einer solchen Grundstruktur ist es logisch, daß auch der Mensch zu Ware geworden ist, um dem Philosophen aus Trier zu folgen zu einer besonderen Ware immerhin" ... deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung."[2] Diese Ware heißt Arbeitskraft, der Mensch ist ihr körperlicher Träger, ihre Wirkung, mehr Wert zu schaffen als sie selber wert ist. Der Mensch, der außer ihr keine anderen Waren besitzt von deren Gebrauch er leben könnte, ist gezwungen eben diese Ware zu verkaufen um vom Erlös des Verkaufes sein Leben zu fristen. Der Käufer der Ware erwirbt das Recht ihrer Vernutzung, d.h. ihren körperlichen Träger zu zwingen, diese Kraft für ihn in Bewegung zu setzen, d.h. zu arbeiten. Er zwingt ihn in die Arbeiterexistenz.

Dieses Arbeiten wird der Käufer der Ware den Arbeiter zu einem gehörigen Maße abzwingen, denn nur dann wird ihm die Vernutzung der gekauften Ware Arbeitskraft gehörig mehr Wert einbringen, als ihm der Erwerb verlustig machte[3]. In der Rechnung des/der Käufers/in der Ware Arbeitskraft drückt sich dies so aus, daß der/der die Arbeiter/in mehr Geld "bringen" muß, als sie kosteten. Unter dem Zwang der Konkurrenz entsteht so ein massiver Druck auf die Arbeiterschaft, ganz egal ob der einzelne Unternehmer (oder die Politik des Unternehmens im Falle einer Kapitalgesellschaft) nun altruistisch oder am maximalen Profit orientiert ist. (Nichtsdestotrotz spielen natürlich derartige Haltungen und Politiken bei der konkret Erträglichkeit der Arbeit am Arbeitsplatz eine wichtige Rolle.)

Wenn nun der Kauf und die Vernutzung der Ware Arbeitskraft eine derartig wichtige Rolle spielen, dann ist es nur logisch, daß die Beschaffenheit der Ware Arbeitskraft - wie der jeder anderen Ware die zum Kaufe ansteht - in den Blickwinkel kommen muß. Jeder Käufer der Ware Arbeitskraft wird bemüht sein, die zu einem möglichst "guten" Standard in Hinsicht auf Gesundheit, Disziplin und Ausbildung zu erwerben, es werden sich gesellschaftliche Normen - eventuell politisch abgesichert und fixiert - herausbilden, was an Beschaffenheit und Gegebenheiten einen Menschen für eine Arbeiterexistenz qualifiziert und was nicht ausreicht. Das Widerständige, Undisziplinierte, Ungebildete, Kranke oder Behinderte wird ausgeschlossen bleiben und staatlichen Disziplinierungsanstalten oder staatlichgesellschaftlicher Fürsorge ausgeliefert werden (oder noch Schlimmerem).

D.h. wer, wie die Integrative Schule Frankfurt Politik zur Aufhebung dieser Ausgrenzung bei Behinderten zu betreiben versucht, wer da beitragen will, die Spaltung der Menschen Nützliche und Unbrauchbare zurückzunehmen, muß diese Machtstrukturen reflektieren.

Zurichtung

Der vorher anhand von Marx beschriebene Zusammenhang wird von Gusti Steiner, selber Rollstuhlfahrer, in einer Analyse über Übergriffe gegen Behinderte wie folgt beschrieben: "Die Industrialisierung mit ihrer kapitalistischen, arbeitsteiligen Produktionsform hat jeden, der sein Leben nicht aus der Kapitalverwertung bestreiten kann, gezwungen, zu seiner Existenzsicherung seine Arbeitskraft in den Produktions- und Dienstleistungsstätten zu verkaufen. Bis heute gibt es keine andere Form der Existenzsicherung- außer Kriminalität und Prostitution. Über all die Jahrhunderte der Industrialisierung lautete die zentrale Frage der Gesellschaft: Was machen wir mit denen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können? Was machen wir mit den Behinderten, den vorübergehend und dauerhaft Kranken, den Alten, den Invaliden, den Unfallopfern, den Verrückten?

Heilen, ausgrenzen, behandeln, rehabilitieren oder vernichten waren, je nach Theorieansatz und Zeitgeist, Lösungen für diese 'soziale Frage' - für die Unproduktiven, die Störer, die Unnormalen, die Abweichler, die Minderwertigen. Um die jeweiligen Theorien anzuwenden, gab es Regelungen und Vorschriften. Gesetze bestimmten seit eh und je die Angelegenheiten des Unproduktiven - von der Bettelordnung bis zum Bundessozialhilfegesetz."[4]. Gerade der Hinweis auf Gesetze und Regelungen in dieser Passage von G. Steiner deutet auf etwas, was über das, was er hier beschreibt, hinausweist, aber in ihm wurzelt. Gesetzte und Regelungen haben nicht nur eine Stoßrichtung gegen die, die sich ausgrenzen und zu Fällen machen, sondern verweisen auch zurück auf die, von denen aus- und abgegrenzt wird. So sie zur Aussonderung des Abweichenden dienen, grenzen sie das Normale ein. Sie dienen damit auch der Bestimmung des Normalen und üben damit auf die Menschen, die sich in der Gruppe befinden, disziplinierenden Druck aus. Die Kehrseite der Ausgrenzung und Diskriminierung ist die Normalisierung und Disziplierung.

Mit dem Heraufziehen und Durchsetzen des Kapitalismus in Europa geht eine Welle von Disziplinierung und Abrichtung der Menschen zu willigen und genormten Arbeitskräften einher. Diese Zugrichtung und Herrichtung der Ware Arbeitskraft war direkt auf die einzelne Person bezogen. Institutionen dieser Politik waren neben dem Staat im allgemeinen das Militär im besonderen genauso wie der Repressionsaparat nach innen mit seinen Gefängnissen und Arbeitshäusern. Für die Bearbeitung der Seelen der Arbeiter sorgte nicht zuletzt die protestantische Kirche mit ihrer Ethik, die sich auch in rabiaten Projekten der Armenfürsorge äußerte, die den vorgenannten Arbeitshäusern ziemlich nahe kamen. Parameter, die es in diesen Disziplinierungsprozeß zu beherrschen galt, waren Raum und Zeit. Spannende Parallen tun sich hier zwischen der mittelalterlichen Klosterarchitektur und der Anlage von Kasernen, Gefängnissen und Arbeitersiedlungen in der Neuzeit aus. Die mittelalterliche Klosterdisziplin und ihre Verregelung des Tages unter strikter Zeitdisziplin gibt das Modell zeitlich normierter Arbeitsgesellschaften der Moderne ab. Spannend ist zu sehen, welcher Bedeutung z.B. die Entwicklung und Durchsetzung einer allgemeinen und verbreiteten Zeitmessung zukam.[5]

Bezüglich der nicht mehr zu Disziplinierenden und Herausfallenden ist hier noch zu bemerken, daß sie im 17. und 18. Jahrhundert, so sie nicht ins Arbeitshaus paßten, allesamt - Verbrecher genauso, wie geistig schwer Behinderte oder an der Seele Kranke - ins Gefängnis gesperrt wurden. Das Hospiz von Charenton, in dem der Schriftsteller Peter Weiss de Sade mit Marat über die Revolution streiten läßt, war ein Reformprojekt der französischen Revolution und zugleich der Beginn der großen Ausdifferenzierung zwischen verschiedenen Typen von Einrichtungen, die sich um die verschiedensten Erscheinungsformen von Herausgefallenen kümmern, wie es heute Zustand ist.

Zu dieser Politik der Disziplinierung des einzelnen Menschen trat nach Foucault am Ende des 18. Jahrhunderts eine Politik auf, die sich auf das Gesamt der Menschen bezieht und die mit Bio-Politik bezeichnet wird. Er bestimmt diese wie folgt in Abgrenzung zu der oben angesprochenen Politik der Disziplinierung am "... Körper-Individuum. Es geht vielmehr um einen neuen Körper. Es ist das Konzept der Bevölkerung. Die Bio-Politik befaßt sich mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem Problem und als Problem der Macht. Ich glaube, daß dies der Augenblick ist, in dem die Bevölkerung in Erscheinung tritt."[6] Diese Bio-Politik befaßt sich z.B. mit Seuchenbekämpfung durch Austrocknen von Sümpfen oder Durchsetzung allgemeiner Hygiene, genauso wie mit dem, was heute unter dem Stichwort Bevölkerungspolitik diskutiert und gemacht wird. Bevölkerungspolitik ist eine aktuelle Variante von Bio-Politik. Damit kennzeichnet Bio-Politik, die sich auf das Leben und Überleben des Kollektivs bezieht, unter der Bedingung der staatlichen Verfaßtheit gesellschaftlicher Kollektive eine neue staatliche Politik. Damit hat sich die Ausübung der Macht in Staaten verändert. Wurde bisher die Gesellschaft von der Macht nötigenfalls mit Gewalt bis zum Tode des Einzelnen, der die Kreise der Macht störte, zusammengehalten, stellt sich nun Politik als eine Strukturierung und Ventilierung der Gesamtbevölkerung dar, zwecks Erhaltung und Beförderung eben dieses Ganzen. Foucault benennt die alte Form der Machtausübung mit "Souveränitätsmacht" und führt aus: "Diesseits dieser großen, absoluten, dramatischen und finsteren Macht, wie sie die Souveränitätsmacht darstellte, die darin bestand, Sterben zu machen, trat jetzt mit dieser Technologie der Bio-Macht, dieser Technologie der Macht über die Bevölkerung als solche, über den Menschen als Lebewesen, eine stetige, gelehrte Macht: die Macht, Leben zu machen. Die Souveränität machte Sterben und ließ leben. Jetzt tritt eine Macht in Erscheinung, die im Gegensatz hierzu darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen."[7] Für Foucault liegt in der letztgenannten Eigenschaft der Bio-Macht der Schlüssel zum modernen Rassismus. Eine Souveränität, deren Ziel ihrer Aktivitäten das Leben ist, schließt den Tod aus. Um doch töten zu können, müssen aus dem sogenannten Volkskörper Gruppen ausgegrenzt und segmentiert werden, auf die dann die Tötungsfunktion des Staates angewandt werden kann.[8] Das Töten wird so zu einer Funktion des "Leben machens", der Volksgesundheit oder, im rechten Jargon formuliert, der Rassenhygiene: "Der Tod des anderen, der Tod der schlechten Rasse, der minderwertigen Rasse (oder des Generierten oder des Anormalen) wird das Leben im allgemeinen gesünder und reiner machen."[9]

In dieser Bestimmung des modernen Rassismus fallen Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit bzw. Fremdenhaß (was normalerweise unter Rassismus verstanden wird) zusammen. Der Holocaust und die Euthanasie im Deutschen Faschismus sind in dieser Sichtweise zwei schreckliche Seiten der einen Medaille. Die Wichtigkeit und Brisanz dieser Feststellung bedarf einer etwas genaueren Beleuchtung der Vorstellung von Rasse.

Rasse ist ein äußerst schillernder Begriff: Einerseits gibt es so etwas wie Rasse bei genau Hinsehen nicht, andererseits wird im Namen von Rasse Krieg und Massenmord der modernen Staaten ermöglicht. Im Rahmen des Konzeptes von Foucault sind moderne Kriege eigentlich nur als Rassenkriege denkbar. Rasse erfährt so eine schreckliche Realität. Adorno Horkheimer schreiben: "Rasse ist nicht, die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die versteckte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv. "[10]

Rassismus wird einerseits über Diskurse andererseits über soziale Praktiken, zu denen die vorher beschriebenen Politiken gehören, durchgesetzt. Heutzutage spielt hier der Begriff d Kulturen eine immer wichtigere Rolle. Rassischtische Praktiken sind Ein- und Ausschlußmechanismen aus dem konstruierten so Volk.[11]

Im Sinne des in dieser Passage Gesagten h sich eine Politik der Integration auf beide Gruppen von Einwohnern in einem Staat zu beziehen, genauso auf die durch Disziplinierung individuell und durch Bio-Politik kollektiv Zu- und Hergerichteten, wie auf die Herausgefallenen und Ausgegrenzten. Integration erscheint in dieser Sicht als ein humanes politisches Unterfangen des Zusammenführens beider Seite der unter den gesellschaftlichen Verwertungsprozeß Unterworfenen.

Modernisierung

Adorno/Horkheimer bemerken über den deutschen Faschismus: "Die Juden werden zu einer Zeit ermordet, da die Führer die antisemitische Planke so leicht ersetzen könnten, wie die Gefolgschaften von einer Stätte der durchrationalisierten Produktion in eine andere zu überführen sind."[12] In diesem Blickwinkel auf die Shoah schwingt das Wissen mit, das die konkrete Aus- und Durchführung der Ein- und Ausschließung bis hin zur Vernichtung sich auch Abhängigkeit von der konkreten Entwicklung der Produktivkräfte befindet. Ohne dieses Verhältnis in bezug auf den deutschen Faschismus genauer bestimmen zu wollen, sei doch auf die moderne sehr moderne und effiziente Bürokratie in Deutschland als notwendige Bedingung der Vernichtung verwiesen und der Blick auf die fatale Ähnlichkeit zwischen einer Produktion nach den Prinzipien von Taylor und den Techniken, die sich mit dem Namen Ford verbinden, einerseits und der praktischen Durchführung der Vernichtung andererseits gelenkt.

Diesen Gedanken der Modernisierung auf die heutige Situation anzuwenden öffnet den Blick auf zweierlei:

Erstens befindet sich die kapitalistische Wirtschaft weltweit in einem Umbruch von einer Produktionsweise in deren Mittelpunkt die Schwerindustrie mit ihren Fließbändern stand, hin zu einer Weise, in der Informations- und Kommunikationstechnologien und ihre Herstellung immer wichtiger werden, genauso wie andererseits die Kopie und Veränderung von Naturprozessen im Rahmen der Gen- und Reproduktionstechnologien als qualitative Weiterung des agrochemischen Komplexes und der Medizin auf einem sehr hohen Niveau befindet. Dieser Umbruch erfolgt krisenhaft mit steigender Arbeitslosigkeit und damit erhöhtem Druck auf die öffentlichen Kassen, flankiert von einer Politik der Umverteilung nach oben, die die öffentliche Finanzkrise noch mehr vorantreibt. Dieser Finanzkrise ist, auch einen dringend notwendigen Stop der fatalen Umverteilungspolitik unterstellt, nicht beizukommen, da sich neuen Produktionstechnologien durch eine geringe Personalintensivität auszeichnen und damit nicht zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit beitragen. Daraus folgend trägt selbst eine geglückte Modernisierung kapitalistischer Produktion permanent das Risiko einer allgemeinen Krise aufgrund mangelnder Massennachfrage in sich.[13] Eine in dieser Situation eskalierende- vor der Folie einer vorhandenen - Diskriminierung von Behinderten bis hin zur offenen Gewalt und einer neuen Euthanasiediskussion ist eigentlich nicht verwunderlich. G. Steiner stellt zu recht fest: "Die 'Euthanasiediskussion' ist nichts 'Neues', keine 'Neue Behindertenfeindlichkeit'! Sie ist eine 'alte Antwort' auf die 'alte soziale Frage'."[14]

Zweitens ist allerdings eine Modernisierung/Neuformulierung der Diskurse zur Bio-Politik festzustellen, wobei die Parallelität zu den "Fortschritten" bei den Gen- und Reproduktionstechnologien geradezu frappierend ist. Reinfeldt/Schwarz verweisen auf eine Tendenz bei der neuen Rechten weg von einem rein biologistischen Diskurs hin zu einem kulturalistischen bei bewußtem Verwenden von Elementen linker Theoriebildung, sowohl in der politischen Konzeption von Diskursen wie in ihrer praktischen Lancierung.[15] Genau diese Anknüpfung an keinesfalls klassisch rechte Diskurse zeichnet meines Erachtens auch das Agieren von Singer/Kuhse an.

Es sei hier nur auf die abenteuerliche Verbindung zwischen dem linken und liberalen Menschenrechtsdiskurs mit dem zur Zeit stark "alternativ" besetzten Tierschutzgedanken und der Euthanasie verwiesen. Es scheint mir schon eine Perversion menschlichen Denkens, einerseits Menschenrechte für Schimpansen einzufordern und andererseits unter bestimmten Bedingungen der Tötung Neugeborener das Wort zu reden.[16]

Tradition

Im vorigen Abschnitt wurde anhand von Adorno/Horkheimer der Faschismus als Teil eines immer weiter eilenden Modernisierungprozesses identifiziert. In diesem Punkt geht es darum, daß der deutsche Faschismus mit Euthanasie und Shoah eben auch Stifter einer fürchterlichen Tradition ist. Der Faschismus wurde in Deutschland nie hinreichend bearbeitet oder gar bewältigt. Trotz (oder wegen) Auschwitz und Euthanasie sind faschistoide Ideologiebruchstücke bis zu geschlossenen Weltbildern in den Köpfen nie hinreichend aufgearbeitet worden, stattdessen nur verdrängt und als Unbearbeitetes in die Sozialisation der nächsten Generation eingeflossen. Dies lastet weiterhin als Hypothek über allen demokratischen und menschenrechtlichen politischen Bemühungen in Deutschland.

Jetzt

Wurde eingangs Integration als tendenziell konträr zu den Anforderungen an eine durchschnittliche Ware Arbeitskraft identifiziert und unter dem Stichwort Zurichtung die Trennung derjenigen, die es zusammenzuführen gilt, beschrieben, so sind in den beiden letzten Abschnitten die beengenden Rahmenbedingungen erörtert worden unter denen eine integrierende Politik derzeit stattfindet: Es sind die sich verschärfenden ökonomischen Rahmenbedingungen, die sich an der Integrativen Schule in permanenter Finanznot niederschlagen, die parallelen modernisierten Diskurse um Bio-Politik, die sich, unter dem Stichwort Bevölkerungspolitik, mit den neuen technologischen Möglichkeiten auf das Gefährlichste verbinden und der unbewältigte Naziterror.

Darüberhinaus ist zur Bestimmung von Integration noch zu bemerken, daß zwar die Integrative Schule Frankfurt, zu deren 10jährigem Geburtstag dieser Artikel erscheint, sich speziell mit der Integration von behinderten und nichtbehinderten Kindern beschäftigt, daß aber der dem Artikel zugrunde liegende Integrationsbegriff sich nicht nur auf dieses Verhältnis bezieht, sondern genauso ausländische Mitbürger/innen oder Menschen, die mit ihrer Homosexualität oder ihrer Drogensucht vom gesellschaftlichen Durchschnitt abweichen, mit einbezieht, auch wenn der Artikel seine Verweise und Beispiele häufig aus dem konkreten Verhältnis von Behinderten und Nichtbehinderten bezieht. Der Begriff ist bewußt darüber hinausgehend und "schillernd" gehalten.[17]

Integration ist vor diesem schwierigen Bedingungskomplex keineswegs hoffnungslos. Erstens ist es grundsätzlich nie falsch sich, egal unter welch schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einzusetzen - und um nichts anderes geht es bei Integration - und zweitens ist die aktuelle Situation z.B. bei der Integration nichtbehinderter und behinderter Menschen von einer widersprüchlichen Parallelität von einerseits zunehmender Einengung - Stichworte sind hier z.B. die neue Kostendiskussion, die Euthanasiedebatte, das fatale Urteil von Flensburg oder das §218 Urteil, das potentiell behindertes Leben ausdrücklich aus seiner leben schützlerischen Tendenz ausnimmt - und andererseits durchaus Fortschritten bei der Emanzipation gekennzeichnet. In unserem eigenen Bereich z.B. müssen wir ein deutliches Vorankommen von integrativer Beschulung in Hessen und in vielen anderen Bundesländern feststellen, auch wenn die BRD sich europaweit weiterhin weit hinten befindet. Diese Fortschritte bei der integrativen Erziehung werden massiv vom Elternwillen beiderseits getragen, was ein wichtiger Indikator für ein sich wandelndes gesellschaftliches Bewußtsein ist. Diese Parallelität in der Widersprüchlichkeit d Tendenzen ist auch aus den USA im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen u ein Antidiskriminierungsgesetz[18], das auch hierzulande bitter notwendig wäre, bekannt geworden. Mit dieser Situation wird weiter umzugehen und eine Politik pro Integration fortzuführen sein. Es geht nicht nur um die politische und ökonomische Möglichkeit, e sprechende Projekte durchführen zu können sondern auch um die kulturelle Hegemonie, um derartige Projekte öffentlich begründen zu können, bzw. einen Zustand zu erzeugen, wo s nicht mehr gerechtfertigt werden müssen, e sie selbstverständlich sind.

Bildung

Auf unseren engeren Bereich einer gemeinsamen Schule für Behinderte und Nichtbehinderte gewendet, muß Integration hinterfragt werden, was sie hier eigentlich bewirkt. Es ist durchaus möglich - und wird in modischen Diskursen durchaus nicht ohne Berechtigung gern gemacht - Schule in einer Reihe mit den eingangs genannten Disziplinierungsanstalten wie Kasernen, Arbeitshäusern und Gefängnissen zu nennen. Diese Sichtweise war in der Schulzeit des Autors durchaus unter älteren Schüler/innen beliebt. Will Integration an der Schule mehr als dies?

Integration kann an Schulen durchaus zweierlei bedeuten, nämlich einfaches Verschieben der Grenze zwischen denen, die noch reinkommen und denen, die ausgegrenzt bleiben mit der Folge, daß bestimmte Gruppen von Behinderten, denen man über eine integrative Beschulung eine Chance zurechnet, Arbeitskräfte zu werden, die dann, so sie nicht das Schicksal der Arbeitslosigkeit ereilt, für sich selber sorgen können. In diesem Sinn verstanden ist Integration dann nichts anderes als eine vorherrschender Rehabilitation und Sonderschulen letztlich überlegene Methode, die aufgrund der Arbeitsperspektive für die von ihr erreichten Behinderten, letztlich Einsparungen beim staatlichen Sozialsystem verheißt. Diese Sicht negiert nicht, daß diese Integration für die betroffenen Schüler/innen trotzdem positiv zu bewerten ist auch nicht die vorhandene Unterstützung bei den Eltern. Aber es bleiben trotzdem weiterhin Gruppen von Behinderten - konkret Schwerst- und Mehrfachbehinderte - ausgeschlossen. Es geht hierbei nicht um Emanzipation und allgemeines Zusammenführen sonder um Sozialtechnologie und Verschiebung der Grenzen zwischen Ein- und Ausschluß.

Andererseits kann Integration an Schulen - wie z.B. an der Integrativen Schule - aber auch so verstanden werden, daß alle dazu gehören, auch die Schwerst- und Mehrfachbehinderten, die kaum eine Perspektive am Arbeitsmarkt haben werden. Integration so verstanden ist ein sozialer Prozeß in dem alle von allen lernen. Dies kann nur unter zwei Bedingungen funktionieren: erstens, daß es kostet und dieses Geld vorhanden ist und zweitens, daß ein gewisser Bildungsoptimismus begründet ist. Im Grunde geht es um die Frage, ob die heroischen Werte der bürgerlichen Gesellschaft - im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - so weit tragen, daß über diese hinausweisen und damit Spielraum für Bildung im emphatischen Sinne gegeben ist, oder ob die Warenförmigkeit und Normalisierung der bürgerlichen Gesellschaft dieses Überschüssige in den Bereich des bloß frommen Wunsches verweist. Adorno beschreibt pessimistisch den Zerfall der Bildungsidee zur Halbbildung, die er als "...der vom Fetischcharakter der Ware ergriffenen Geist"[19] identifiziert, um gleichzeitig weiterhin auf "Erziehung zur Mündigkeit"[20] zu bestehen, mit anderen Worten das Mögliche im Unmöglichen zu wagen. Im Grunde genommen kann die Frage, ob es noch Anlaß zu Bildungsoptimismus gibt, nur praktisch beantwortet werden, indem man versucht in diesem Sinne zu handeln. Ich denke genau hier liegt die Aufgabe der Integrativen Schule Frankfurt für die nächsten zehn Jahre und weiterhin.

The proof of the pudding is in the eating.

Oder anders formuliert, hinter Adornos Minimialansprüche "Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung, ... Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug"[21], kann nicht zurückgegangen werden. Angesichts der Euthanasie ist Integration von behinderten und nichtbehinderten Menschen unabdingbar.

Literaturverzeichnis:

Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz in Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt 1970

Ders.: Erziehung zur Mündigkeit in Dasselbe a.a. 0:

Ders.: Theorie der Halbbildung, in Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt 1975

Ders. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988

Dölle-Oelmüller: Von Menschen und dem Recht auf Leben in PublikForum 3/1994

Eco, Umberto: Der Name der Rose, München und Wien 1982

Foucault, Michel: Leben machen und sterben lassen, Die Geburt des Rassismus in Bio-Macht DISS-Texte Nr. 15, Duisburg 1992, auch Diskuss 1/1992

Frühauf, Theo / Niehoff, Ulrich: Gewalt gegen behinderte Menschen, in Fachdienst der Lebenshilfe 1/1993

Hirsch, Joachim, Roth Roland: Das neue Gesicht des Kapitalismus, Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986

Kuhlmann, Andreas: Über das Recht zu töten in Frankfurter Rundschau vom 29.5.1993

Marx, Karl: Das Kapital Band 1 (MEW 23), Berlin 1975

Reinfelt, Sebastian /Schwarz, Richard: Biopolitische Konzepte der Neuen Rechten in Bio-Macht a. a. 0. Ich bedanke mich bei den Autoren für Hinweise und Hilfen.

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1984

Steiner, Gusti: Bei den Nazis wärst du längst vergast worden..., Übergriffe auf Behinderte, eine Analyse, im allgemeinen Leben, 1/1993

Steinert / Treiber: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen aus Reader Uni Frankfurt zum Seminar Grünberger / Roth: Dehumanisierung der Gesellschaft, 1983

Thompson, Edward P.: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus aus Reader a. a. 0.

Thorwein, Helmut E.: Was haben wir aus der Euthanasie gelernt - Euthanasie und die geschichtliche Aufarbeitung, Gedanken zur Fort- und Weiterbildung im Manuskript eines Vortrags gehalten beim 38. Referentenreffen der Fortbildungsdozentur Süd vom 13.-15.10.1993 in Haslachmühle / Horgenzell

Ohne Autor: Näher zu den Vettern in: Der Spiegel 27/1993

Uwe Saßmannshausen, geb. 2.11.55 in Mainz, Kaufmännischer Geschäftsführer bei der Integrativen Schule Frankfurt, komme aus einer Familie, die eine orthopädische Fachwerkstatt betrieb.

Wolfgang Valet: An der Grenze zwischen Vertrautem, Bekanntem und Unvertrautem, Fremdem

Psychologische Aspekte des Andersseins

"Nur das Wesen, dessen Andersein von mir akzeptiert ist, lebt und sich gegenüberstellt in der ganzen Verdichtung der Existenz, bringt den Glanz der Ewigkeit zu mir. Nur wenn zwei mit allem was sie sind sich sagen: Du bist es, dann ist es das Innewohnen des gegenwärtigen Seins zwischen den beiden." (Martin Buber)

Ziel des Artikels

Im folgenden möchte ich psychologische Aspekte der Begegnung und des Umgangs mit dem Anderssein aufzeigen. Es sollen Modelle sein, die verstehen helfen, was passiert zwischen Menschen und in Situationen, die durch Anderssein und Fremdartigkeit gekennzeichnet sind und welche Bedingungen und Handlungen notwendig sind, das Trennende und die bestehenden Tendenzen zur Aus- und Absonderung zu überwinden.

Welche Theorien sind hilfreich?

Modelle oder Theorien sind Abbildungen der Wirklichkeit, sie versuchen die Gegebenheiten zu beschreiben, vorhandene Wechselwirkungen zu erklären und gegebenenfalls auch zu bewerten. Modelle sind nie identisch mit der Wirklichkeit, so wie Landkarten nie identisch sind mit dem Gebiet auf das sie sich beziehen. Modelle der Wirklichkeit sind abhängig vom Interesse der "Beobachter", die sie entwerfen. Deshalb sind sie auch immer mehr oder weniger einseitig, beschreiben also nicht alle Aspekte der Wirklichkeit, sondern nur die, auf die sich das Interesse bezieht. Andere Aspekte werden daher vernachlässigt oder nicht so gut beschrieben. Dies kann man sich wieder mit dem Beispiel Landkarte klar machen. Eine Straßenkarte der Alpen dient einem Bergsteiger wenig.

Das Interesse Bergsteigen erfordert eine Karte in der die für einen Bergsteiger wichtigen Informationen abgebildet sind.

Das Interesse "Integration von Menschen mit einer Behinderung" erfordert also Modelle Theorien, die beschreiben, welche Wechselwirkungen dafür verantwortlich sind, daß Menschen, die "anders sind", bzw. so erscheinen ausgesondert werden und welche Wege es gibt dieses phänomenale Anderssein zu verbinden, einzuordnen in das Bekannte, Vertraute.

Ich möchte drei Modelle - bleiben wir bei diesem Begriff "Modell" für Theorie - vorstellen, die meiner Meinung nach zum Thema von Relevanz sind, zur Orientierung helfen, und Handlungsperspektiven aufzeigen.

Modell eins bezieht sich auf eine Phase der kindlichen Entwicklung, das "Fremdeln" versucht, auf der Logik dieses Interaktionsphänomens, Schlüsse auf den Umgang mit dem Anderssein zu ziehen.

Modell zwei bezieht sich auf das Thema Kontakt und stellt die Ansätze der Gestalttherapie zu diesem Phänomen vor. Das Thema Kontakt ist deshalb auch von besonderer Bedeutung, die "Kontakthypothese", bei der Diskussion wie Einstellungsveränderungen zu Menschen mit einer geistigen Behinderung erreicht werden können, eine zentrale Rolle spielt.

Modell drei stellt die Sichtweise des "radikal Konstruktivismus" vor, wie sie etwa von Maturana formuliert wird: "Wir haben nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, und nur Liebe ermöglicht uns, die Welt hervorzubringen."[22]

Modell eins: "Fremdeln" als entwicklungspsychologisches Phänomen

"Ich weiß gar nicht, was los ist, seit einiger Zeit fremdelt er." Entschuldigend versuchte eine Bekannte, das Verhalten ihres achtmonatigen Sohnes zu erklären. Ich hatte den Versuch unternommen, das Kind auf meine Arme zu nehmen, was dieses mit Weinen und Abwendung beantwortete. Sehnsuchtsvoll streckte der Junge seine Ärmchen der Mutter entgegen mit einem beleidigten Blick, den man als "Wie kannst du nur zulassen, daß dieser Fremdling von mir Besitz ergreifen will! " interpretieren konnte. Als ich diese Mutter einen Monat früher traf, ließ sich der Kleine ohne Widerstände auf die Arme nehmen. Ich erinnerte mich zurück an die Entwicklung meiner Kinder und das plötzliche Auftreten des Fremdelns, das ich damals gar nicht so toll fand, da damit die Möglichkeit, durch Bekannte, die sich mit den Kindern beschäftigten, ein bißchen Entlastung zu finden von dem ständigen Dasein für die Kinder, jetzt plötzlich nicht mehr gegeben war. Erst später, nachdem ich mich mit Entwicklungspsychologie beschäftigt hatte, verstand dieses Fremdeln eigentlich bedeutet und wie wichtig es für die psychische Entwicklung der Kinder ist.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie kommen nach Hause und irgendjemand hat in Ihrer Abwesenheit alle Möbel umgestellt. Nach einem kurzen Schockerlebnis werden Sie vermutlich Ihre Einrichtung wieder "in Ordnung" bringen die gewohnte Vertrautheit wieder herstellen. Dies Beispiel macht deutlich, was heißt, eine Welt, die die Ordnung hat, die "gewohnt" ist, die sich durch Gewöhnung gebildet hat, bzw. von Ihnen hergestellt worden ist.

In der Entwicklung geht dieser Weg vom Entdecken faszinierender Effekte (Beispiel "Rassel", die das Kind unterhalten und ihm Spaß machen und weil sie Spaß machen, in stereotyper Weise wiederholt werden, zu einer Gewöhnung an diese Welt angenehmer sinnlicher Ereignisse. Werner Haisch, der die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse von Piaget aufgreift und differenziert, schreibt dazu: "Was da so scheinbar - zufällig und spielerisch beginnt: mit der Produktion und Reproduktion von sensorischen Effekten, lebt aus der ständigen Wiederholung derjenigen Effekte, die dem Kind angenehm sind und hat so bedeutende Folgen: Das Kind entdeckt hierüber seine Welt, d.h. wählt praktisch diejenigen Bedingungen seiner Umgebung aus, die ihm zusagen, und läßt die Sensationen, die es abstoßen, einfach dadurch beiseite, daß es sie nicht zu reproduzieren trachtet."

Das menschliche Gesicht nimmt dabei eine wichtige Stellung ein: in einer Phase "aktiver Exploration" (Gibson 1969) enstehen Invarianten, d.h. wiederholt positiv erlebte Gesichter wandeln sich zu "vertrauten" Gesichtern und werden bevorzugt mit Strampeln und Lächeln bedacht.

"Das Kind behandelt damit die Gegebenheiten einer Umwelt unterschiedlich, erlebt also in den wechselnden sinnlichen Erscheinungen seiner individuellen Welt eine bleibende Eigenschaft (Invarianz), die einem Teil der Erscheinungen anhaftet, einem anderen fehlt, die Vertrautheit."[23]

Jeder kennt diesen Prozeß der Gewöhnung. Was anfangs fasziniert, vielleicht erschreckt, zu Beginn vielleicht auch Unsicherheit und Befangenheit auslöst, wird mit dauernder Wiederholung zur Gewohnheit, zum Vertrauten. Beispiel Autofahren. Das Neue, Ungewohnte fasziniert gleichermaßen, wie es erschreckt und befangen macht. Mit zunehmendem Training wird das Kuppeln, Lenken, Gasgeben, Bremsen zur Gewohnheit und erzwingt nicht mehr die Aufmerksamkeit wie zu Beginn. Es wird zu einem Bestandteil der Routine, geht ins Unbewußte ein, wird ein Teil der zu einem gehörenden Welt der Fähigkeiten.

Die Logik ist zwingend: In dem Maß, wie Vertrautes ensteht, bildet sich ein Unterschied zu Nicht-Vertrautem. Und damit gibt es eine Grenze zwischen der mir vertrauten Welt und der Welt des Andersartigen.

Zurück zum Fremdeln. In dem Maße wie das Kind seine Bezugsperson als immer wiederkehrende Befriedigung, Lust und angenehmen Effektes und vermittlendes "Ereignis" erlebt, wird diese Person zu einer Lieblingsperson, von der sich alle anderen unterscheiden. Dieser Art von Vertrautheit sind all die anderen fremd.

Vieles ist uns im Laufe unserer Entwicklung zu Gewohntem geworden. Sofern dieses Gewohnte angenehm ist, kann man von "Heimat", "Geschmack", "Lieblingspersonen" usw. reden.

Bezogen auf diese frühkindliche Phase des Fremdelns schreibt Haisch weiter: " Jedes nicht-vertraute Element des kindlichen Alltags muß sich hier störend auswirken - desto störender, je näher dieses Nicht-Vertraute an Gegebenheiten haftet, die die Befriedigung der kindlichen Grundbedürfnisse gewöhnlich begleiten. Solche Bedingungen sind vor allem die situativen Gegebenheiten der Pflege und hier insbesondere die gewohnte Pflegeperson. Entsprechend der Geschichte seiner individuellen Gewohnheiten ist damit das Kind in seinem Erleben mehr als vorher und mehr als es auch später sein wird, abhängig von seiner Pflegeperson, deren Eigenarten bei der Fütterung, Körperpflege, Beruhigung usw. Daher liegt das Fremdeln in dieser Zeit nahe, bei dem sich das Kind mehr oder weniger befangen zeigt in Anwesenheit fremder Personen."[24]

Mit zunehmender Erfahrung, insbesondere durch die Fähigkeit zu abstrahieren, lernen wir auch im Fremden "Gleiches" zu sehen. Dies schafft für uns Erwachsene - vorausgesetzt diese Fähigkeit des Abstrahierens wird eingesetzt - eine Brücke zum Andersartigen, Fremden.

Dies kann man in der Reisezeit gut beobachten. Viele Menschen brechen auf in für sie neue, fremdartige Welten. Unbestreitbar ist die Tatsache, daß bei diesem Aufbruch viele einen mehr oder weniger großen Teil ihrer vertrauten Welt mitnehmen ins unbekannte Reiseland. Beispiel: der perfekt eingerichtete Wohnwagen, der im Neuen Vertrautheit und Sicherheit garantiert. Vielleicht ist es aber auch nur das vertraute Kopfkissen, das man unbedingt mitnehmen muß, ohne dies würde man sich "unwohl fühlen". Und mit Karten, Reiseführer, Lexikon für die fremde Sprache und vieles andere mehr versucht man Verbindungen zu schaffen zwischen der gewohnten Welt und der fremden neuen Welt. Wo all diese Brücken und "Integrationsmittel" fehlen, wird das Fremde, Neue zur Bedrohung, zur umfassenden, unangenehmen, vielleicht sogar schockierenden Verunsicherung.

Ich hoffe der Bezug zur Einstellung und zum Umgang mit Menschen mit einer Behinderung, aber auch alle anderen "fremden" Menschen, bleiben für diejenigen, die keine Brücke zum Verständnis haben oder nicht die Sicherheit "gewohnter" Erfahrung als Hintergrund für die Begegnung mit dem Neuen, eine Verunsicherung, eine Bedrohung.

Viele soziologischen Untersuchungen belegen die vorwiegend negative Haltung der "Nicht-Behinderten" zu Menschen mit einer Behinderung. Das Spektrum der Reaktionen reicht von interessierter Neugier auf der positiven Seite über psychische Verunsicherung und Angst zu Ekel, Schock, Ablehnung, und Aggression im extremen Fall mit dem Wunsch dieses "unwerte Leben" zu vernichten.

Modell zwei: Das Phänomen "Kontakt" in der Gestalttherapie

Die Gestaltpsychologie und insbesondere Gestalttherapie bietet eine Reihe hilfreicher Modelle für das Verständnis des menschlichen, insbesondere des zwischenmenschlichen Verhaltens. Sie rückt den Begriff des Kontaktes Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen im Bereich der Physiotherapie ihrer praktischen Bemühungen. Sie betont, daß menschliche Verhalten in einem Organismus/Umwelt-Feld stattfindet und niemals isoliert betrachtet werden kann. "Das menschliche Organimus/Umwelt-Feld ist natürlich nicht nur ein physikalisches, sondern auch ein soziales Feld. Also müssen wir in jeder Humanwissenschaft sei es der Physiologie, der Psychologie oder der Physiotherapie, von einem Feld sprechen, in dem zumindest soziokulturelle, sinnliche physische Faktoren interagieren. Der Ansatz (..) ist "ganzheitlich" in dem Sinne, daß wir einzelnen versuchen, jedes Problem als Ereignis in einem sozialen, sinnlichen und physischen Feld zu betrachten. Von daher können z.B. historische und kulturelle Faktoren nicht als erschwerende oder verändernde Bedingungen einer einfachen biophysischen Situation gelten, sie wohnen vielmehr jedem Problem inne, so wie es sich uns darstellt."[25]

Kontakt heißt auf deutsch Berührung. Kontakt entsteht an einer Grenze. Die Grenze ist der Ort der Unterscheidung von mir und dir, von Bekannten und Unbekannten. Die Grenze ist gleichermaßen Berührung, wie auch Isolation. Kontaktgrenze - z.B. die fühlende Haut - nicht so sehr ein Teil des "Organismus", sie essentiell das Organ einer besonderen Beziehung von Organismus und Umwelt ist. Primär stellt sich diese Beziehung,..., als Wachstum dar."[26]

Die Theorie unterscheidet zwischen verschiedenen Formen des Kontaktes bzw. von "Grenzbeziehungen".

Der gute Kontakt (Wachstum)

Die Funktion des "guten Kontaktes" ist Wachstum. Guter Kontakt ist immer dann verwirklicht, wenn zwei Menschen sich an der Grenze treffen, wo der eine "aufhört" und der andere "anfängt". Nur dann, wenn die Integrität des anderen geachtet wird, also die Grenze nicht soweit überschritten wird, daß diese Integrität, Autonomie, Eigenständigkeit zerstört wird, die Erfahrung des Kontaktes "nährend" und bereichernd. Lernen im Sinne der Aneignung von Neuem, Fremden findet an dieser Grenze statt. Erfahrung ist die Funktion dieser Grenze. Innerhalb der eigenen Grenzen gibt es keine neue Erfahrung. Innerhalb der eigenen Grenzen gibt es Sicherheit, Vertrautheit. Neue Erfahrung, Lernen, Wachstum erfordert diese Berührung mit dem Fremden und Unbekannten. Guter Kontakt heißt Anerkennung der Unte4rschiede. Also nicht nur Tolerierung, sondern Anerkennung.

Oft löst das Andere Angst aus. Aber immer nur dann, wenn man nicht im sinnlichen Kontakt zu momentanen Gegebenheiten, zum gegenwärtigen Menschen und seinem realen Verhalten steht, sondern wenn man in Kontakt ist mit seinen Phantasien über die Situation, über den Menschen. Bei Angst sind diese Phantasien immer "Katastrophenphantasien", Vorstellungen von Schäden, die man erleiden könnte. Da die Bedrohung nicht wirklich real ist, kann man sie auch nicht bewältigen. Dieses "eingeklemmt sein" in der eigenen Katastrophenphantasien, die sich auf Situationen beziehen, die nicht wirklich geben sind, auf die der Organismus aber mit Stress reagiert, ist Angst.

Welche Phantasien lösen Menschen mit einer Behinderung bei denen aus, die niemals die Gelegenheit hatten, wirklichen sinnlichen, realen Kontakt zu diesen Menschen zu haben?

Isolation ist dann gegeben, wenn kein Kontakt zustande kommt, wenn die Grenze zum Anderen nicht erreicht wird oder wenn die Grenze so starr und undurchlässig ist, daß kein Austausch möglich ist.

Wir hatten in Deutschland so eine Grenze. Die Mauer war der Ausdruck dieser verhärteten Feindschaft mit dem Ergebnis einer jahrzehntelangen Stagnation der Beziehungen und Entwicklungen.

Wenn Menschen nicht mehr miteinander kommunizieren, ihre Unterschiede nicht mehr miteinander austauschen, tritt diese Stagnation ebenfalls ein.

Einrichtungen für Menschen mit einer Behinderung haben oft Grenzen, die für Normalbürger nicht ohne weiteres überschritten werden können, weil da eine Schranke ist, ein Zaun, ein Pförtner, der verlangt sich auszuweisen oder weil sie weit weg liegen, weg von den Orten, wo man sich "natürlicherweise" trifft. Wie kann da ein "guter Kontakt" entstehen?

Introjektion (Geborgen oder verschluckt)

Als Introjektion bezeichnet die Gestalttherapie die Form von Beziehung in der das eine System oder der eine Mensch vom anderen System bzw. vom anderen Menschen total abhängig ist, also nur Grenzen innerhalb der Grenzen des anderen Menschen bzw. des anderen Systems bilden kann. Das Embryo im Mutterleib ist total abhängig vom Organismus der Mutter. Diese angemessene Form der Symbiose wird aber zum Problem, wenn sie sich nicht auflöst und der erwachsene Mensch immer noch total abhängig ist von seiner Mutter, weil er die Selbständigkeit und die damit verbundenen Mühen scheut oder weil seine Mutter ihn nicht selbständig werden läßt, da ihr Leben ohne den "Versorgungsinhalt" leer und perspektivlos wäre.

Das bleibende Leid von Menschen mit einer Behinderung besteht darin, daß sie in ihrer Lebensführung mehr als Nicht-Behinderte abhängig bleiben von der unterstützenden Hilfe anderer. Diese Abhängigkeit wird oft ausgenutzt durch "Helfer" oder auch "helfende Institutionen", die diese Abhängigkeit für ihre eigenen Ziele mißbrauchen. Der von Goffmann geprägte Begriff der totalen Institution kennzeichnet diese Form der "negativen Introjektion".

Konfluenz (Auflösung der Unterschiede)

Mit Konfluenz wird in der Gestalttherapie die Form der Beziehung bezeichnet, in der sich die Grenzen aufgelöst haben oder so verwischt sind, daß man keine klaren Unterschiede mehr ausmachen kann. Konfluenzerlebnisse können berauschend sein, wenn sich die Ich-Grenzen auflösen in einer Gemeinschaft, im mystischen Erleben, im Orgasmus. Sie können aber auch bedrohlich sein, in der Psychose, in Zuständen der Verwirrung in denen der Mensch nicht mehr weiß, was zu ihm gehört, was zum anderen, was seine Bedürfnisse sind, was die der anderen.

Auch zwischen Menschen mit einer Behinderung und Nicht-Behinderten gibt es diese Verwischung der Unterschiede. Etwa die Behauptung, die von VertreterInnen der "Antipsychiatrie" zu hören war, es gäbe keine psychische Behinderung, es gäbe nur eine gesellschaftliche Stigmatisierung und Aussonderung von unliebsamen Kritikern.

Auch Angehörige von Menschen mit Behinderung leben oft mit der Illusion, die Behinderung ihres Kindes könne "geheilt" werden, wenn nur günstige und fördernde Lernbedingungen bestünden. Hier werden Unterschiede nicht anerkannt, sondern verwischt.

Projektion (Unterdrückung und "Sündenbock")

Dann, wenn Menschen die Grenzen des anderen nicht achten, sondern überschreiten, findet eine Art der Unterdrückung statt. Das was eigenständiger Teil des anderen ist, wird dreist vereinnahmt. Man zieht seine Grenze durch die des anderen, so daß für diesen nur noch ein kleinerer Teil von Selbständigkeit übrig bleibt. Die eigene Welt wird erweitert und vergrößert auf Kosten der Welt des anderen.

In unserer Leistungsgesellschaft ist dieses Verhalten fast schon zur Tugend hochstilisiert. Leben auf Kosten des anderen als "Tugend".

Wenn die Grenze gegen den eigenen Willen von anderen überschritten wird steht natürliche Reaktion Wut und Ärger. Der Organismus stellt sozusagen Energie zur Verfügung, um die "Grenzüberschreiter" wieder in ihre Grenzen zurückzuschieben. Gewalttätige Auseinandersetzungen sind oft die Konsequenz.

Menschen mit einer Behinderung können wenig wehren gegen die permanent stattfinden Formen der Unterdrückung. Viele Menschen mit Behinderung müssen ihr privates Leben - der Ort der Individualität - mit zehn noch mehr anderen Menschen zusammen leben. Menschen die sie sich nicht aussuchen konnten. Überlegen Sie sich einmal, was das für Sie bedeuten würde. In ihrem Privatleben, in ihrer Wohnung müßten Sie mit anderen Menschen, die Sie sich nicht aussuchen konnten, zusammenleben, dabei unterworfen einem System der Gleichbehandlung durch professionelle ErzieherInnen.

Zum Mechanismus der Projektion gehört der von Freud, insbesondere dann von Anna Freud beschriebene Abwehrmechanismus.. projizieren Anteile, die wir an uns selbst nicht haben oder sehen wollen auf andere, die dafür geeignet sind und an denen wir dann diese eigenen Anteile bekämpfen. "In der Projektion verschieben wir also die Grenze zwischen uns und der übrigen Welt ein wenig zu sehr unseren Gunsten - auf eine Art, die es uns ermöglicht, die Aspekte unserer Persönlichkeit zu verleugnen und zu verwerfen, die wir schwierig oder anstößig oder unattraktiv finden."[27]

Viele Aktionen der Feindlichkeit gegenüber «Ausländern, Menschen mit Behinderung, Menschen, die sich durch Besonderheiten auszeichnen, die von der "Norm" abweichen, erfüllen diese entlastende Funktion des Sündenbocks. Man muß sich dadurch nicht mit den eigen Anteilen des Problems und den Schwierigkeiten auseinandersetzen, was belastend und unangenehm wäre, was den eigenen "Glanz" beschädigen könnte, sondern macht andere dafür verantwortlich. Gleichzeitig ist es eine "billige" Form, den Zusammenhalt der eigenen Gruppe oder des eigenen Selbst durch ein Feindbild zu stärken und damit das Selbstwertgefühl zu erhöhen.

Modell drei: Radikaler Konstruktivismus

Der sogennante Radikale Konstruktivismus zieht für verschiedene Ebenen der menschlichen Existenz die Konsequenzen aus den neueren Forschungsergebnissen der Erkenntnistheorie, der Zellbiologie, der Neurophysiologie, der Neurophysiologie, der Anthropologie, Kybernetik usw. Wie der Name deutlich macht, ist die zentrale Aussage des Konstruktivismus, daß wir unsere Welt innerhalb eines gegebenen Rahmens, der nicht direkt erkannt werden kann, konstruieren.

Was wir in Wirklichkeit erfahren, als scheinbare objektive Wirklichkeit, ist das Ergebnis unserer Konstruktion und Gestaltung. Objektiv in diesem Verständnis ist das, worüber Konsens besteht, das, was "mehrheitlich" nicht in Frage gestellt wird. Sprache ist z.B. so ein wichtiger Konsensbereich.

Machen wir uns auf diesem Hintergrund einmal deutlich, was es heißt, wenn wir Menschen mit einer Behinderung als "Behinderte" bezeichnen und ihre Individualität damit erfassen wollen, daß wir beschreiben, was sie im Vergleich zu einem "Nichtbehinderten" nicht haben. Ihnen vorstelle mit dem, was ich nicht habe: was ich verdiene keine 15000 DM im Monat, ich besitze kein Haus in Italien, ich fahre keinen Mercedes, ich bin nicht 1,80 m groß, was wissen Sie dann über mich?

Unsere Wirklichkeit ist immer auch eine sprachliche Wirklichkeit und wird durch Sprache wesentlich mitkonstruiert. In unseren sprachlichen Konstruktionen können wir den Unterschied im Gemeinsamen betonen, wir können aber auch die Gemeinsamkeit im Unterschied betonen.

Der wesentliche Punkt des "radikalen Konstruktivimus" für unser Thema ist die Betonung der Verantwortung, die jeder von uns trägt für die Natur und für die soziale Welt. Ohne beide gibt es kein Überleben. Deshalb möchte ich ausführlich die chinesischen Biologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana und Franciso Varela zitieren:

"Wenn wir wissen, daß unsere Welt notwendig eine Welt ist, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, dann können wir im Falle eines Konflikts mit einem anderen menschlichen Wesen, mit dem wir weiterhin koexistieren wollen, nicht auf dem beharren, was für uns gewiß ist (auf einer absoluten Wahrheit), weil das die andere Person negieren würde.

Wollen wir mit der anderen Person koexistieren, müssen wir sehen, daß ihre Gewißheit - so wenig wünschenswert sie uns auch erscheinen mag - genauso legitim und gültig ist wie unsere. (...)

Die einzige Chance für die Koexistenz ist also die Suche nach einer umfassenden Perspektive, einem Existenzbereich, in dem beide Parteien in der Hervorbringung einer gemeinsamen Welt zusammenfinden. (...) Was die Biologie uns zeigt, ist, daß die Einzigartigkeit des Menschseins ausschließlich in einer sozialen Strukturkoppelung besteht, die durch das Inder-Sprache-Sein zustande kommt. Dadurch werden einerseits die Regelmäßigkeiten erzeugt, die der menschlichen sozialen Dynamik eigen sind, wie z.B. individuelle Identität und Selbstbewußtsein. Andererseits wird die rekursive soziale Dynamik des menschlichen Lebens erzeugt, zu der eine Reflexion gehört, welche uns in die Lage versetzt zu sehen, daß wir als menschliche Wesen nur die Welt haben, die wir zusammen mit anderen hervorbringen - ob wir die anderen mögen oder nicht.

Die Biologie zeigt uns auch, daß wir unseren kognitiven Bereich ausweiten können. Dazu kommt es zum Beispiel durch eine neue Erfahrung, die durch vernünftiges Denken hervorgerufen wird, durch Begegnung mit einem Fremden als einem Gleichen oder, noch unmittelbarer, durch das Erleben einer biologischen interpersonellen Kongruenz, die uns den anderen sehen läßt und dazu führt, daß wir für sie oder für ihn einen 'Daseinsraum' neben uns öffnen. Diesen Akt nennt man auch Liebe oder, wenn wir einen weniger starken Ausdruck bevorzugen, das Annehmen einer anderen Person neben uns selbst im täglichen Leben.

Dies ist die biologische Grundlage sozialer Phänomene: Ohne Liebe, ohne daß wir andere annehmen und neben uns leben lassen, gibt es keinen sozialen Prozeß, keine Sozialisation und damit keine Menschlichkeit. Alles, was die Annahme anderer untergräbt - Konkurrenzdenken über den Besitz der Wahrheit bis hin zur ideologischen Gewißheit - unterminiert den sozialen Prozeß, weil es den biologischen Prozeß unterminiert, der diesen erzeugt. Machen wir uns hier nichts vor: Wir halten keine Moralpredigt, wir predigen nicht die Liebe. Wir machen einzig und allein die Tatsache offenkundig, daß es, biologisch gesehen, ohne Liebe ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozeß gibt."[28]

Konsequenzen - Umgang mit Behindertenfeindlichkeit

Das Entsetzen über feindliche Reaktionen der "Normalbevölkerung" gegenüber Ausländern, Asylsuchenden und anderen Randgruppen und die in letzter Zeit verstärkt zu beobachtende offene agressive "neue" Behindertenfeindlichkeit ist bei denjenigen, die mit diesen stigmatisierten Menschen leben und arbeiten, groß.

Mir liegt viel daran deutlich zu machen, daß moralische Entrüstung darüber zwar verständlich ist, aber den Kern der Problemlage verfehlt. Alle Untersuchungen über Einstellungsveränderung belegen auch die Nutzlosigkeit von Appellen an die "Mitmenschlichkeit". Einstellungsveränderung basieren auf positiven, affektiven Erfahrungen zwischen Menschen mit einer Behinderung und Nicht-Behinderten. Dies gilt gleichermaßen auch für die anderen Gruppen. Diese positiven Erfahrungen können nur gemacht werden, wenn beständig und dauerhaft die Möglichkeiten der Begegnung, der Interaktion, des miteinander Lebens, der gemeinsamen Unterhaltung, des miteinander Arbeitens im normalen vertrauten Umfeld gegeben sind. Diese positiven Erfahrungen werden nicht automatisch gemacht, sondern erfordern eine dauernde Unterstützung und Begleitung durch HelferInnen.

Solange wir Menschen mit Behinderung aussondern - und wir sondern sie auch aus, wenn wir sie in noch so "menschlich gestalteten Einrichtungen" versorgen und begleiten - verhindern wir diese Möglichkeiten und alle unsere Bemühungen für eine positive Einstellung reaktiv, sind "Feuerwehrreaktionen", die leicht das Schlimmste verhindern können, aber nicht die Grundlage des Zusammenlebens verändern.

Integration: eine ständige Anstrengung

Das Bemühen um Integration ist also nicht einmaliges Unterfangen, bei dem man einmal einen Stand erreichen könnte, der dauerhaft und stabil wäre. Immer wieder neu müssen Bedingungen erarbeitet werden, die gemeinsame Erfahrungen und gemeinsames Lernen ermöglichen. Die Integration muß immer wieder erarbeitet werden. Sicher ist es möglich, durch politische Arbeit Rahmenbedingungen zu sichern, die die Integration erleichtern. Die Umsetzung und Verwirklichung der Integration bleibt aber ständige Bemühung gegenüber ständig bleibenden Tendenz der Aussonderung von Menschen, die nicht ins Schema des "Gewohnten" passen.

Vielleicht hilft folgendes Beispiel zu verstehen, was ich meine. Wenn ich mich in einem bergigen Gelände bewege, muß ich immer der die gleiche Anstrengung aufbringen, um Höhen zu überwinden. Die Wege in den Bergen sind steil. Sich darüber zu beklagen, wäre absurd, käme nur einem in den Sinn, der partout nicht abfinden will mit den Bedingungen seiner Lage - sprich der Landschaft, in er sich bewegt. Dies wäre ein absurder Idealismus, ein Idealismus von dem Schiller schreibt:

"Die Idealisten werden an ihren Idealen zugrunde gehen." Wir werden an der Integration verzweifeln, wenn wir dem Ideal nachhängen, irgendwann könnten wir uns der ständigen Anstrengung, sie zu verwirklichen, entledigen.

Wir alle können an uns selbst feststellen, schnell durch die Veränderungen der Bedingungen der Sozialisation, Gewohnheiten verändern und ehemals Selbstverständliches und Vertrautes ungewohnt wird. Beispiel sind Kinder, die nicht mehr in Kontakt mit der Natur groß werden, sondern in Kontakt mit dem Fernsehapparat. Diese Kinder entwickeln nur einen Sinn für die Natur, wenn wir ihnen entsprechende Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten vermitteln und bieten.

Wieweit es gelingt, gemeinsame Erfahrungen die zunächst gegebene Fremd. und Andersartigkeit von Menschen mit Behinderung zu einer vertrauten, gewohnten Erfahrung, zu machen, hängt davon ab, wie entschieden und in welchem Umfang Menschen sich dafür einsetzen.

Wolfgang Valet geb. 1948,

* Studium der Theologie und Psychologie in Tübingen und Heidelberg

* Weiterbildungen in Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, Familientherapie und Supervision

* Seit 1978 Fortbildner bei der Fortbildungsdozentur Süd des Verbandes Evang. Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung e. V. (VEEMB)

* Mitglied des Leitungsteams der Fortbildungsdozentur Süd, Schwäb. Hall und der Evang. Fachschule für Sozialpädagogik Fachrichtung Heilerziehungspflege - Schwäb. Hall.

In der Fort- und Weiterbildungsarbeit verfolgt der Autor folgende Ziele:

* Gestaltung und Verbesserung der Lebensqualität für Menschen mit einer Behinderung.

Lebensqualität meint dabei eine an den menschlichen Bedürfnissen orientierte Gestaltung des Leben von Menschen mit einer Behinderung entsprechend dem gesellschaftlichen Standard und den Wert- und Zielsetzungen der Betroffenen in den Bereichen Wohnen (privates Leben), Bildung (Schule, Erwachsenenbildung), Arbeit, öffentliches Leben und zwischenmenschliche personale Begegnung.

* Arbeitsqualität mit MitarbeiterInnen bei Menschen mit einer Behinderung. Arbeitsqualität meint, einen eingeübten und sicheren Umgang mit den Gesetzmäßigkeiten und praktischen Anforderungen des beruflichen Alltags (Routine), konzeptionelle Klarheit über die Zielsetzungen der Arbeit, einen Freiraum für die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten entsprechend den Zielsetzungen in Verantwortung, Eigeninitiative und Kooperation, eine gute zwischenmenschliche Atmosphäre im Team und gesellschaftlich-soziale und materielle Anerkennung der Arbeit.

Ulrich Bach: Boden unter den Füßen hat keiner

Theologische Aspekte des Anderssein [29]

Wie reden wir von Gott - oder: Die Niedrigkeit Gottes

Es dürfte ein weit verbreiteter Irrtum sein, zu meinen: Auf ein diakonisches Konzept können sich ohne Schwierigkeiten auch Menschen einigen, die in ihrer Theologie sehr verschiedenartig ausgeprägt sind. Ich behaupte im Gegenteil: Unsere gesamte Theologie, schon unser Reden von Gott trifft mindestens eine Vorentscheidung über die Art, in der wir diakonisch denken und leben (oder: nicht diakonisch denken und leben). Fragen wir also: Wie reden wir von Gott? Ernst Käsemann sagte 1967 in einer Podiumsdiskussion auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover: "Gott erscheint in der Bibel immer gleich in einer Alternative, nämlich als Baal und als Jahve, als Gott Jesu oder als der Gott, der in der Gestalt der Götzen auftritt... Ich möchte mich auf den verlassen, den Jesus am Kreuze anruft, auf keinen anderen. Über die Frage, ob es Gott gibt, im allgemeinen zu sprechen, hat keinen Sinn... Die Frage aber, wer Gott sei, ob Jahve oder Baal, die muß unentwegt beantwortet werden."

Wie sprechen wir von Gott? Sagen wir "Jesus" und meinen tatsächlich den Gekreuzigten, oder sagen wir "Jesus" und meinen einen halbwegs verchristlichten Baal? Baal ist der Gott der Stärke, der für stabile Verhältnisse zu sorgen verspricht. Mit Baal kann man sich sehen lassen, Baal sorgt für Rückenwind. Jahve ist dunkel. Jahve führt in die Wüste. Jahve führt ans Kreuz. Jahve verspricht keine abgesicherten Positionen, er ist der Gott des Exodus, der von den "Fleischtöpfen Ägyptens" (vgl. 2. Mose 15,3) wegruft in seinen Bund, wegruft von den Schätzen in die personale Beziehung, wegruft von der Sicherheit zur Gewißheit, wegruft vom Haben zum Sein. - Wenn ich das Neue Testament nicht völlig falsch verstehe, ist einer seiner revolutionärsten Inhalte die durchgehende Behauptung: Gottes Niedrigkeit wird von nicht in einer Reihe von Einzelaktionen gewissermaßen nebenher absolviert, sondern ist Benennung seines Wesens. Darin ist Gott am unverwechselbarsten Gott, daß er in den Tod geht. Krippe und Kreuz sind (in dem Vokabular des Königs-Vergleichs) seine eigentlichen "Regierungsgeschäfte": "Das ist die Höhe Gottes, daß er so herniedersteigt. " (Karl Barth)

Gott ist ein Gott im Unten, daher sind Krippe und Kreuz typisch göttlich.

Wie reden wir vom Menschen - oder Das Defizitäre gehört mit in die Definition des Humanum

Wenn wir in unserer Gesellschaft dauernd dem Zwang stehen, uns sehen lassen zu können; wenn wir dauernd unter dem Zwang stehen, fit zu sein; wenn wir dauernd unter dem Zwang stehen, mindestens so fleißig, so reich und so erfolgreich zu sein wie die anderen; wenn dauernd unter dem Zwang stehen, zu lächeln oder, wenn das einmal nicht geht, dann wenigstens die Zähne aufeinanderzubeißen; wenn wir dauernd unter dem Zwang stehen, stark, Angst, kurz: ein fröhlicher und richtig dufter Typ zu sein; dann sind wir doch einfach gezwungen, die Schwachen beiseite zu lassen; dann sind wir doch gezwungen, den genüßlich zu verachten oder hochnäsig zu bemitleiden der weniger kann als wir; dann sind wir gezwungen, unsere Mitmenschen in irgendwelchen Gettos abzuschieben, wenn sie alt geworden sind, und erst recht, wenn sie an Depressionen, Angstpsychosen oder anderem leiden.

Die Frage ist eben: Stehen wir tatsächlich "unter der Folter eines fortwährenden Müssens" (H.E. Richter, Lernziel Solidarität, S. 45)?

Muß ich wirklich dauernd stark sein, nur zu einem fehlt mir die Kraft: einzugestehen, daß ich schwache Stellen habe? Muß ich dauernd fröhlich und mutig sein; nur zu einem fehlt mir der Mut: zu bekennen, ich habe Angst? Muß mir wirklich alles Mögliche leisten können; nur eins kann ich mir nicht leisten: hin und wieder zu sagen, das kann ich nicht?

Ist das nicht ein unheimlicher, krank machender Krampf, zu meinen: ich muß immer stark sein? Ist das nicht ein fürchterlich verlogenes Spiel, als könne man alles? Keiner von uns kann alles. Welcher Autofahrer kann erklären, wie man aus Erdöl das Benzin gewinnt, mit dem er lustig durch die Lande fährt? Wer kennt die chemische Formel für die Kunstfaser, aus der sein Hemd gemacht ist? Ich habe ein Schwein zu schlachten, aber das Schnitzel schmeckt mir trotzdem. Kaum einer, der zur Operation ins Krankenhaus geht, könnte selbst eine Narkose setzen.

Wohin wir auch blicken: es wimmelt in unserem Leben von Nicht-Können.

Wir sollten das offen ganz neu entdecken: Das Nicht-Können ist eine völlig normale Seite unseres Lebens. Wenn wir ehrlich sind, müßten wir sogar sagen: Das Nicht-Können nimmt in unserem Leben einen wesentlich breiteren Raum ein als das Können.

Darum ist, wenn jemand nicht laufen, nicht arbeiten, nicht ohne Hilfe essen, nicht bis zehn zählen kann, auch dieses Nicht-Können zunächst etwas eindeutig Menschliches, etwas - ich möchte fast sagen völlig Normales. Wir alle waren die ersten Monate unseres Lebens so dran, daß wir das alles nicht konnten; und keiner von uns sagt, wir seien damals noch keine Menschen gewesen. Daß solche Ausprägungen des Nicht-Könnens im Erwachsenenalter den Betreffenden und seine Angehörigen schmerzen, kann niemand bezweifeln. Aber die Frage "Ist das eigentlich noch ein Mensch?", kann ehrlich nur der stellen, der sich selbst und seinem eigenen Nicht-Können gegenüber unehrlich ist.

Wir von der Kirche - oder: Kirche als Leib Christi.

"Ein von Baal herkommendes Verständnis" des dritten Glaubensartikels (der vom heiligen der Kirche handelt) besagt: "Der heilige Geist wirkt in uns, damit wir dem Vorbild Jesu nacheifern können. Er ist die Kraft, die uns stabil sein läßt, die uns sicher macht. Kirche ist dann die stabile Truppe Gottes, seine Horde, die er mit Missions- und Diakonie-Auftrag auf seine Welt losgelassen hat. Sie übernimmt das Ziel Jesu - das Oben aller. Diakonie wird ein imposanter Reparatur-Betrieb: das meiste ist machbar, und für den traurigen Rest bleibt die schöne Hoffnung auf den jüngsten Tag.

Von Jahve her stellt sich der dritte Glaubensartikel dar als das Bekenntnis zu dem Geschwisterkreis Jesu Christi, in den wir durch die Taufe eingefügt sind, in dem wir durch Wort und Abendmahl erhalten werden, zu dem Gott uns alle befähigt und den zu gestalten uns allen aufgegeben ist. Völlig unangebracht wäre nun die Frage, wer von uns größer, wer kleiner ist... Als Kirche Jesu Christi müssen wir uns also davor hüten, uns einzuteilen in Therapeuten und Klienten. Vielmehr müssen wir mit Martin Luther die Kirche als ein Patienten-Kollektiv definieren, in dem es - wir sind schließlich nicht im Himmel - nur Kranke gibt. Jeder ist auf Hilfe angewiesen, jeder kann mittun. Keiner ist nur Belastung für die anderen, und keiner ist nur Lastenträger: "Helft euch gegenseitig dabei, das zu tragen, was es bei euch an Belastungen gibt, denn damit lebt ihr nach den Spielregeln Christi" (so ist sinngemäß Galater 6,2 zu umschreiben).

Wie reden wir von unserem Tun- oder: Mut zu einer behinderten Diakonie.

Ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium dürfte für unser Nachdenken in Sachen Diakonie eine wesentlich größere Bedeutung haben, als ich es lange Zeit dachte, 7,12: "Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten." Wenn ich die Dinge richtig sehe, könnte dieser eine Satz eine "kopernikanische Wende" in unserer heutigen Diakonie bewirken. Denn im Lichte dieses Verses bekommt manches unter uns geläufige und beliebte Denk- und Argumentations-Schema ein recht deutliches Fragezeichen.

Dieser Satz besagt nämlich: Bei der Überlegung, was "ich" jetzt "dem anderen" zu tun habe, soll ich mich in Ihn hineindenken, soll gewissermaßen mit ihm die Rollen tauschen: Was würde ich von meinen Mitmenschen erhoffen, angenommen, ich wäre jetzt in der Lage des anderen? - Aufregend finde ich das "alles nun". Ich würde mich sicherer fühlen, hätte Jesus gesagt: Alles nun, sofern es christlich ist. Jesus sagt: Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen - ohne jeden Zusatz. Die Profanität dieses Verses wird noch verstärkt durch das "die Leute". Hätte Jesus gesagt: Eure Mitchristen, eure Schwestern und Brüder im Herrn, dann wären ja die christlichen Werte vermutlich einigermaßen gesichert. Aber "die Leute"? Ich soll also fragen: Was würde ich von "den Leuten" erhoffen, von meinen Mitmenschen - unabhängig von jedem religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund?

Können wir über unser Tun noch profaner reden als so? Kann es von Jesus wirklich so gemeint sein? Wo bleibt denn unser Proprium? Wo bleiben "Gesetz und die Propheten"? Wenn ich Jesus hier nicht völlig falsch verstehe, meint er: Davon rede ich die ganze Zeit -. "Das ist das Gesetz und die Propheten": Wenn ihr so handelt, wie ich es gerade gesagt habe, dann tut ihr die Taten, die Gott bei euch auslösen wollte, als er dem Mose die Gesetze gab, als er später die Propheten zu euren Vorfahren schickte. Also nicht: Ich studiere die Vorschriften in "Gesetz und Propheten", um mich - auf solche Weise "schlau gemacht" - dem anderen zuzuwenden; sondern: Ich soll mich ihm zuwenden, mich in ihn hineindenken und hineinfühlen, und was ich dann als "gut" erkenne, ist "gut" auch im Sinne des Gesetzes und der Propheten!

Darf das denn wahr sein?! Das hieße doch etwa: Ich denke mich in den Sterbenden hinein, der wegen unerträglicher Schmerzen mich nicht nur anfleht, ihm "beim" Sterben zu helfen, sondern ihm "zum" Sterben zu verhelfen. Da muß ich meine Phantasie nicht einmal ausschöpfen, um mir eine Situation vorstellen zu können, in der ich will, daß der, den ich anflehe, jetzt nicht an den hippokratischen Eid denkt, jetzt nicht mit dem 5. Gebot argumentiert, jetzt nicht irgendeinen Begriff (und sei es der der Unantastbarkeit menschlichen Lebens) wichtiger nimmt als meine Qual. Ich kann mir vorstellen, daß es mir einigermaßen egal werden könnte, ob der andere schuldig wird, ob ihn nachher sein Gewissen plagt, ob man ihn u.U. anklagt - wenn er nur meine Qual beendet.

Ich versuche, mich hineinzudenken in die Mutter und ihre 20jährige geistig behinderte Tochter. Auch diesmal brauche ich nicht sehr viel Phantasie, um mir vorzustellen: In der Lage Mutter würde ich "wollen", daß meine Mitmenschen einen Weg mit uns finden (Ermöglichung der Sterilisation) auf dem meine Tochter sich frei entfalten kann, ohne daß ich dadurch gezwungen bin, für die nächsten zwanzig Jahre ständig am Rande des Nerven-Zusammenbruchs zu leben (vielleicht auch nur an seinem Rande). In der Rolle der Tochter könnte ich es gewiß nicht begreifen, daß ich nicht mehr mit Uwe zusammensein darf, weshalb muß jetzt so viel in der Wohnung sein? Mutter doch immer gesagt, ich solle viel an die frische Luft gehen.

Beim dritten Beispiel möchte ich nicht den Versuch machen, mich in die Schwangere mit sechs Kindern hineinzudenken, sondern nur e erwähnen, daß es mich vor einiger Zeit stark beeindruckt hat, als mir die Beraterin aus einer Evangelischen Beratungs-Stelle erzählte, sie vor längerer Zeit einer Schwangeren in intensiver Beratung Mut machen können, trotz großer Schwierigkeiten ihr Kind auszutragen; was dann aber für alle Beteiligten kam, sei so belastend gewesen, daß diese Beratung noch heute ihr Gewissen beschwere.

Vermutlich wird es jetzt Zeit, mich bei Ihnen zu bedanken, dafür nämlich, daß Sie mich meinen letzten Ausführungen nicht hinausgeworfen haben. Denn ganz so, wie ich es sagte, kann es gewiß nicht stehenbleiben: es war zu undifferenziert. Denn ich habe so getan, als stünde zu lesen: Alles, um das euch die Leute bitten, das tut ihnen. Nein, ich will ja nicht, daß meine Mitmenschen mir sofort Bitte erfüllen, besonders dann will ich nicht, wenn ich um Dinge bzw. Handlungen bitte, die neue, nicht wieder rückgängig zu machende Fakten setzen.

Vor einigen Jahren brachte eine Illustrierte einen Bericht über einen Mann, der durch einen schweren Unfall eine hohe Querschnittslähmung bekam. Das Titelblatt zeigte ihn, im Bett liegend; daneben die Zeile in großen Buchstaben: Herr Doktor geben Sie mir die Spritze. Ich habe mich sehr über diesen Artikel geärgert, die ersten ein bis zwei Jahre nach einem solchen Unfall die mit Abstand schlimmsten sind: Der Wunsch, nicht mehr leben zu müssen, ist in solchen Situationen geradezu "normal", und mancher ist nach drei Jahren froh, daß der Arzt die Spritze nicht aufzog. Geärgert habe ich mich darüber, daß von diesen Zusammenhängen im Text nichts zu finden war. Umso mehr freute ich mich, daß dieselbe Illustrierte etwa zwei Jahren noch einmal einen Artikel über eben diesen Verunfallten brachte: Er war inzwischen Mitarbeiter in einer Unfallklinik und hatte, im Rollstuhl sitzend, die Aufgabe, frisch Verunfallte, die sich den Tod wünschten, zu besuchen und ihnen an seinem Beispiel klarzumachen, daß solche Wünsche nach ein paar Jahren sich ins Gegenteil verwandeln können. Es fragt sich natürlich, ob es für Menschen im End-Stadium von Krebs ähnlich mutmachende Beispiele geben kann.

Auch beim Thema "Sterilisierung schwer geistig Behinderter" kann es nicht darum gehen, jeden vehement vorgetragenen Wunsch zu erfüllen. Vorher ist eine Reihe von Fragen zu stellen; und auch diese Frage darf dabei nicht einfach tabuisiert werden: Ist das wirklich eindeutig klar, daß diese 20jährige niemals Mutter sein könnte? So rasch ich mich in die Ängste der Eltern hineindenken kann, so sehr meine ich: "ich" will, daß in solchen Situationen meine Mitmenschen sehr wohl unterscheiden zwischen dem, was ich im Augenblick wünsche, und dem, wozu ich auch noch nach Jahren sagen könnte: Ja, das habe ich so gewollt. Ich "will" also in solchen Lagen sachkundig und ausführlich beraten, auch hartnäckig mit Gegenargumenten konfrontiert werden.

Auch im Bereich der Schwangerschafts-Konflikt-Beratung scheint mit die Unterscheidung von augenblicklichem Wunsch und reflektiertem, klar ausgesprochenem Willen sehr wichtig zu sein. So muß z.B. unter allen Umständen jeder Drei-Schritt-Automatismus ausgeschlossen sein, der nach dem Schema abläuft: Amniozentese (Fruchtwasser-Untersuchung) / das Ergebnis heißt: Das Kind wird behindert sein / dann nehmen wir "doch natürlich" einen Abbruch vor. Solcher Automatismus kann sich nicht auf mich berufen.

Trotz dieser eben vollzogenen Einschränkungen muß ich gestehen: Die Probleme unserer heutigen Diakonie einmal von Matthäus 7,12 her zu reflektieren, hat mich selber ein bißchen schwindelig gemacht. Gerät da nicht vieles, allzu vieles, ins Wanken? Kommt hier nicht ein neues Reden von Gott in den Blick, ein neues Reden von uns selbst und ein neues Reden von unseren Aufgaben anderen Menschen gegenüber?

Tatsächlich stehen sich zwei Arten, von Gott zu reden, gegenüber; ich kennzeichne sie mit den Wörtern "Betrieb" und "Familie". Unter dem Bild des Betriebes ist Gott der Boß, wir haben zu spuren, jeder Fehler ist gegen die Abmachungen, Ziel ist die Ideal-Lösung. Im Bilde der Familie wäre ganz anders von Gott zu reden: Da gibt es - hoffentlich! - keine Ideale. Nach Max Frisch bedeutet das "Bild", das ich mir vom anderen mache, geradezu das Ende der Liebe. Der andere ist aufregend neu, das schließt ein: er tut mir, ich tue ihm weh; Schuldigwerden ist normal. - Wäre nicht etwa das der Rahmen, in dem wir von Gott reden sollten? Er führt mich in Begegnungen, in denen ich mitunter Wut verspüre, nicht nur Wut auf Menschen (was die einander antun), auch Wut auf Gott (was er Menschen zumuten kann). Und ich weiß, erst recht hätte Gott allen Grund, Wut auf mich zu haben. Aneinander schuldig werden (oder scheinbar schuldig werden) und dennoch beieinander bleiben - nur wenn das trainiert und praktiziert wird, kann Familie wirklich Familie sein.

Übertragen: Einigermaßen erahnen, was alles in der letzten Woche bei mir falsch war und dann mit der Gemeinde im Gottesdienst beten: Gott sei mir Sünder gnädig, und wenige Augenblicke später, das Seufzen über Gott noch spürend, versuchsweise ehrlich mit einstimmen in das gesungene "Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist" sollten wir nicht so von Gott reden und mit ihm? - Ich ertappe mich aber häufig dabei, daß ich vom Bild des Betriebes nicht loskomme: Dann muß ich es richtig machen, ich habe Verantwortung, bin ich denn nicht sozusagen Gottes Abteilungsleiter? Und schon müssen irgendwelche Richtlinien beachtet, irgendwelche Solls erfüllt werden; wer das nicht schafft, nicht annähernd schafft, fliegt raus. Zugegeben, das kann richtig Laune machen, dieses forsche: Ärmel hoch, jetzt kommt Gott und einer seiner tüchtigsten Mitarbeiter! Aber ist das nicht eine Gesetzlichkeit, die mit dem Neuen Testament nichts mehr zu tun hat, und die, auf längere Sicht, uns alle nur krank machen kann?

Und wie reden wir von uns, den Mitarbeitern? Ich möchte noch einmal die Bergpredigt heranziehen und auf den unmittelbaren Textzusammenhang unseres Verses (Matthäus 7,12) hinweisen Vers 7 "Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan." Weiter heißt es, daß wir unseren Kindern geben, warum sie uns bitten. Und dann Vers 11: "So nun ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten. Alles nun, was ihr wollt..." (dieser Satz schließt sich sofort an). "Arg" sind wir, sagt Jesus. "So nun ihr, die ihr doch arg seid...". Das also ist unsere Definition. Wir sind nicht oben, wir sind unten. Aber das nun nicht als uns zerquetschender göttlicher Schmiedehammer von oben, sondern als Evangelium, als Frohbotschaft: Ihr braucht nichts anderes zu sein als Menschen, als schwache und sündige, als "arge" Menschen. Ihr braucht deshalb nicht mehr zu sein, weil euer "Vater im Himmel" dabei ist. Ihn dürft ihr bitten (Matthäus 6,11): Unser tägliches Brot gib uns heute. So sorgt er dafür, daß ihr, "die ihr doch arg seid", euren hungrigen Kindern keine Steine geben müßt, sondern ihnen Brot reichen könnt (Matthäus 7,11). Bleibt in der Rolle der Bittenden. - Ich wittere, wir sollten von dieser Stelle aus eine Anthropologie im Blick auf diakonische Mitarbeiter entfalten. Mogeln wir uns nicht gern in eine andere Rolle? Tun wir nicht so, als hieße es in unserer Bibel: Merkt, wie andere euch bitten, erfüllt ihre Wünsche! Seht, wie andere suchen, zeigt ihnen den Weg! Hört, wie andere klopfen, tut ihnen auf! Natürlich gibt es das alles auch: daß einer den anderen bittet, bei ihm etwas sucht, bei ihm anklopft, und daß der andere entsprechend reagiert (reagieren sollte). Aber das geschieht immer in prinzipieller Wechselseitigkeit: ich gelegentlich gebe, finden lasse, au dann ist das etwas Selbstverständliches (eine Art Eigenliebe auf Gegenseitigkeit); ich kann das eben, denn ich bin augenblicklich in einer günstigeren Situation, was soll's: demnächst muß ich bitten, suchen, anklopfen; dann möchte ich hoffen, daß auch ich nicht auf taube Ohren stoße. Prinzipiell geschehen diese Aktionen Wechselseitigkeit. Mit dieser Bestimmung Rolle, die wir im Blick auf unsere Mitmenschen haben, ist aber noch keine Silbe gesagt über Rolle, die wir in der Beziehung zu Gott ha Da sind wir nicht das eine Mal die Bitten ein anderes Mal die Gebenden, da sind ständig die Bittenden, die Suchenden, die klopfenden. Wir dürfen es sein. Mehr wird uns nicht verlangt. Wir brauchen keine Unmenschen zu sein, erst recht keine Götter, auch keine Halbgötter. Wir dürfen dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein. Wir dürfen Menschen sein. - Wenn wir aber auf diese Weise von uns Mitarbeitern sprechen, ist es dann überhaupt noch berechtigt, daß wir uns "Mitarbeiter Gottes" - das kann nur meinen? "Mitarbeiter Gottes" - das kann nur meinen: Weil Gott der ist, der die Welt aus dem Nichts erschuf, der Tote auferweckt, darum können heidnische Steuerbeamte seine Liturgen sein (Römer 13); darum k das heidnische Assur seine Axt sein (Jesaja 10); darum können die Raben den Propheten versorgen (l. Könige 17). Wirklich nur deshalb könen auch wir seine Mitarbeiter sein; nicht wir wir sind, nur weil Gott Gott ist, kann ich Mitarbeiter Gottes sein im Gespräch mit einem Depressiven - genauso wie der, der mich um das Gespräch bat, Gottes Mitarbeiter an sein kann. Beides im Schema: Gott würdigt die einen, etwas Höheres zu sein als die anderen. Das heißt also: Uns Mitarbeiter in der Diakonie im Unterschied zu den anderen (zu den Alten, zu den Schwererziehbaren zu den anderen (zu den Alten, den Schwererziehbaren, zu den Behinderten ...) "Gottes Mitarbeiter" zu nennen - das scheint mir höchst bedenklich zu sein.

Kurz zu unserer dritten Frage: "Kommt nicht in den Blick auch ein neues Reden von unseren Aufgaben anderer Menschen gegenüber?": Nicht eine vorab gefundene Erkenntnis in der Praxis verwirklichen, sondern mit dem anderen in seine Situation "einsteigen" und den Versuch machen, miteinander zu suchen, so stümpernd und fehlerhaft das dann auch sein mag - das ist die Aufgabe. Anders gesagt: Wir handeln nicht erst dann, wenn wir die "richtige Lösung" gefunden haben, wir wissen, daß es diese in unserer "unerlösten Welt" (Barmen V) ,daß es oft nur die Wahl gibt zwischen mehreren nicht fehlerfreien Alternativen. Dann das tun was ich "will", daß es mir ich in der Situation des anderen fast nur im Glauben an den "Vater", zu dem wir beten: Vergib uns unsere Schuld.

Wie reden wir von unserem Sozial-Engagement - oder: Behinderte Menschen als Vor-Bild der Diakonie

Eine ehrlich solidarische Diakonie wird sich künftig begreifen müssen als eine behinderte Diakonie. Ich denke nicht an Resignation, rede aber davon, daß wir unseren Elan nicht der Tatsache verdanken, daß wir uns etwas vormachen. Die Dinge nüchtern sehen, wie sie sind, und trotzdem mutig weitermachen - darum muß es gehen.

Wir müssen das für uns selber lernen, was wir unseren "Klienten" seit je empfehlen: innerhalb ärgerlich enger Grenzen mutig und ehrlich weiterzumachen.

  • Mutig weitermachen auch ohne "ordentlichen" Schul-Abschluß - und nicht so tun als hätte man mindestens das Abitur.

  • Mutig weiter machen mit einer Depression und nicht so tun, als sei man der Robustesten einer.

  • Mutig weiter machen an zwei Geh-Stützen und nicht so zu tun, als sei man in Freizeit und Sport, im Beruf und im Urlaub absolut konkurrenzfähig.

Dieses Leid kennen wir längst. Wir alle haben "den uns Anbefohlenen" etliche Strophen dieses Liedes gesungen. An der Zeit ist es, daß wir Mitarbeiter der Diakonie weitere Strophen uns gegenseitig vorsingen:

  • Mutig weitermachen, auch wenn wir schuldig werden müssen - und nicht so tun, als stünden sich gegenüber das Asoziale bzw. Undiakonische als sündhaft und das Christliche bzw. Diakonische als sündlos.

  • Mutig weitermachen, auch wenn wir die Wahrheit nicht eindeutig erkannt haben - und nicht so tun, als hielte die Bibel für alle heutigen Fragen eine klare Antwort bereit.

  • Mutig weitermachen auch ohne von uns allen getragene "Lösungen" und nicht so tun, als stünde es in unseren Möglichkeiten, nach gründlichem Überlegen und ausdauerndem Diskutieren den diakonischen Stein der Weisen schon zu finden.

Zurück noch einmal zu Matthäus 7: So nun ihr, die ihr doch arg seid, könnt euren Kindern gute Gaben geben - so nun ihr die ihr schuldig werdet, könnt euren Mitmenschen ein bißchen zurechthelfen - so nun ihr, die ihr selber keine "Lösungen" habt, könnt eure Klienten ein wenig von Angst und Verzweiflung "lösen" - wieviel mehr wird euer himmlischer Vater euer Beistand sein, wenn ihr ihn darum bittet. Das also wird für unsere Diakonie typisch sein: nicht die vorgebliche Stärke - und es tut uns gut, wenn andere uns bitten, sondern ein nüchternes Miteinander von Solidarität, Bescheidenheit und mutiger Ungesichertheit, in welchem wir mit unseren "Klienten" gemeinsam zu Bittstellern werden: Unser Vater im Himmel, gib uns heute unser tägliches Brot; vergib uns unsere Schuld, erlöse du uns (wir können das nicht), uns alle (denn wir alle haben das nötig), erlöse uns von dem Bösen, denn dein ist das Reich; dir gehört die Kraft; nur du stehst da in Herrlichkeit.

Schon vor über 20 Jahren warnte (mein "Vikars-Vater") Johannes Klevinghaus davor, die Menschwerdung Gottes in dem Jesus aus Nazareth, also sein Herniedersteigen aus den Höhen des Himmels in unsere irdische Wirklichkeit (Theologen sprechen von "Kondeszendenz") naiv in Parallele zu bringen mit unserer Zuwendung zum Mitmenschen. Ich lese abschließend ein paar Zeilen aus seinem Vortrag "Diakonie der Kirche heute" von 1966: (zit. nach: Brinkmann, Heil, S, 61 f)

"Wir sollten, wenn von unserer Diakonie die Rede ist, nicht von Kondeszendenz sprechen. Zum Heruntersteigen werden wir in der Schrift zwar oft ermahnt; es ist dann aber an eine vermeintliche Höhe gedacht, die wir verlassen sollen: 'Haltet euch herunter zu den Niedrigen.' Da ist keine Kondeszendenz, da ist kein frommer Schein des Herabneigens und Herabsteigens. Da wird uns der Platz angewiesen, an den wir gehören. Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: 'Herr, erbarme dich unser!' Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: Herr, erbarme dich! das wesentlichste Stück der Diakonie."

Pastor D. Ulrich Bach, geboren 1931, studierte in Wuppertal, Münster und (1952 Kinderlähmung erkrankt, als Rollstuhlfahrer) in Bonn. Nach kürzerer Tätigkeit im Wittekindshof (Einrichtung für geistig behinderte) und Dortmund (Synodalvikar) ist er seit 1962 Seelsorger in den Orthopädischen Anstaltan Volmarstein (jetzt: "Evangelische Stiftung Volmarstein") und (bis 1992) Dozent an der Diakonenanstalt Martineum (Volmarstein, dann Witten/Ruhr. Seit 1983 Lehrauftrag an der Ruhruniversität Bochum (1981 Ehrendoktorwürde der dortigen Evgl.-Theol. Fakultät). Er ist verheiratet und hat zwei (inzwischen erwachsene) Kinder. - Seit 1973 zahlreiche Zeitschriften- und Buch-Veröffentlichungen (zuletzt: "Gesunde "und "Behinderte", gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, Kaiser-Taschenbuch 134), in denen "Integration " nicht nur (1) die Organisation der Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft meint, sondern ebenso (2) die bewußte Eingliederung der Nichtbehinderten in eine Gesellschaft, die normalerweise aus nichtbehinderten und behinderten Menschen besteht ("wechselseitige Integration"); und (3) auch die ehrliche Einbeziehung von Schwäche und Schuld in das eigene Lebenskonzept. Eine mehrfach variierte These: Nur wer auch Schwachpunkte in sein eigenes Leben integrieren (andernfalls könnte er sie nur notgedrungen hinnehmen, wie er sich widerborstig schließlich auch mit seinen eigenen "Macken" abfindet). Hier bestehen eindeutige Zusammenhänge.

Andreas Hinz: Im Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität

Pädagogischer Umgang mit dem Anderssein in der Schule

Diskussionen um Schule - Diskussionen um den Umgang mit dem Anderssein

Die Frage nach dem pädagogischen Umgang mit dem Anderssein ist eine Grundfrage des Schulsystems, der Arbeit in der Schule und des Unterrichts überhaupt. Die schulpolitischen Diskussionen kreisen seit 75 Jahren letztlich um diese Frage, nämlich die Frage der Bildung von Lerngruppen: Sollen Lerngruppen eher mit möglichst ähnlichen Kindern - also homogen - oder gerade mit möglichst unterschiedlichen Kindern - also heterogen - zusammengesetzt sein? Von der Bildung der Lerngruppen in der Möglichkeiten des Kennenlernens und dann auch des Umgehens mit dem Anderssein ab. Hierbei gibt es verschiedene Facetten des Andersseins, um die es immer wieder Diskussionen gab und gibt:

  • Wie gehen wir mit den Kindern aus unterschiedlichen Schichten um - oder verkürzt: Wollen wir eine Gesamtschule für alle oder ein gegliedertes Schulwesen?

  • Wie gehen wir mit Kindern unterschiedlichen Glaubens um - oder: Wollen wir konfessionelle Schulen oder eine "ökumenische Schule" bzw. glaubensvielfältige Schule?

  • Wie gehen wir mit den Kindern unterschiedlicher Herkunft um - oder: Wollen wir Ausländerklassen oder gemeinsame Klassen?

  • Wie gehen wir mit den Kindern unterschiedlichen Geschlechts um - oder: Wollen wir lieber Mädchen-und Jungenschulen oder koedukative Schule?

  • -Wie gehen wir mit Kindern mit unterschiedlichen Fertigkeiten um oder: Wollen wir "Gemeinsamen Unterricht"?

Bisher: möglichst homogene Lerngruppen

Bisher dominiert im deutschen Schulsystem die Logik der möglichst homogenen Lerngruppe. Seit COMENIUS, also seit über 300 Jahren, gilt ein Unterricht als effektiv, der möglichst vielen möglichst "gleichen" Kindern das gleiche Wissen vermittelt, und das im gleichen Verfahren, also quasi im Gleichschritt. Wenn die Bildung möglichst homogener Lerngruppen grundlegendes Prinzip ist, ergeben sich jedoch immer wieder Schwierigkeiten, weil Kinder sich nun einmal nicht gleich entwickeln. Deshalb braucht das Schulsystem Regelungen, die eine möglichst weitgehende Homogenität in den Lerngruppen aufrecht erhalten sollen; und sie führen zu zwei dominierenden Prozessen der homogenisierenden Logik, die sich ergänzen: Prozessen der Anpassung und der Aussonderung.

Einerseits fordert dieses Homogenitätssystem in der Gruppe gleiche Leistungen nach gleichen Anforderungen. Gegebenenfalls bietet sie - wenn sie sich entwickelnde Unterschiede nicht mehr ignorieren kann - Förderkurse an, die Kindern mit Problemen helfen können, vorhandene Defizite auszugleichen und die geforderten, für alle gleichen Leistungen zu erreichen. Diese Mechanismen dienen der Aufrechterhaltung von Gleichheit in der möglichst homogenen Gruppe. Und sie dienen auch der Aufrechterhaltung von gleichen Wertmaßstäben, von Normalitätsvorstellungen, die durch "die anderen" in Frage gestellt werden könnten.

Gleichzeitig stoßen diese Bemühungen andererseits immer wieder an Grenzen. Deshalb muß es in diesem Homogenitätssystem auch Mechanismen der Trennung und der Separierung geben. Dies beginnt bei der Trennung der SchülerInnen nach dem Alter in der Form der Jahrgangsklasse, zeigt sich in der Gesamtstruktur des gegliederten Schulwesens, wird auch deutlich in Regularien der Rückstellung und des Sitzenbleibens wie schließlich auch in der Aussonderung von Kindern in Sonderformen und -schulen. Die Unterschiedlichkeit ist einfach zu groß, Gemeinsamer Unterricht mit den so "Verschiedenen", den "Andersartigen" und ihren speziellen Interessen, Lernbedürfnissen, Lernvoraussetzungen und Zugängen erscheint nicht mehr sinnvoll - "die anderen" brauchen für ihre Entwicklung eigene Klassen und Schulen, und "die einen" brauchen sie auch, damit sie nicht aufgehalten werden.

Kritik aus unterschiedlichen Richtungen

In verschiedenen pädagogischen Bereichen gibt es Kritik an dieser homogenisierenden Logik und Ideen für einen anderen Umgang mit der Heterogenität in den Lerngruppen: Dies gilt nicht nur für Ansätze der integrativen, sondern z.B. auch für solche der interkulturellen und der feministischen Pädagogik. Sie werden meistens formuliert als Kritik an einer männlich orientierten Schule, die Jungen mehr wahrnimmt und Mädchen vernachlässigt, oder als Kritik an einer einsprachig deutschen Schule, die wesentliche Bildungsbedürfnisse von Kindern anderer Herkunft ignoriert, was in der Regel bereits bei der Muttersprache beginnt. Obwohl diese Kritiken in je eigenen Diskussionen um die Mädchenbildung oder um die Ausländerförderung geäußert werden, so haben sie doch einen gemeinsamen Kern. Der Kern dieser scheinbar getrennten Diskussionen liegt in der Forderung, daß nicht nur die "gleichen" Kinder zusammen leben und lernen können sollen, sondern daß dies auch gerade für die "anderen", "ungleichen" Kinder gelten muß - und daß es auch für die "gleichen" Kinder wichtig ist, alltäglich mit dem "Anderssein" zu tun zu haben. Die verschiedenen Kritiken vertreten einen Ansatz der "Gemeinsamkeit des Verschiedenen" (THEODOR ADORNO),bei dem das Verschiedene auch verschieden bleiben können soll. Demzufolge fordern sie eine gemeinsame, vielfältige Schule für alle Kinder, also eine Schule für Mädchen und Jungen, für Kinder unterschiedlicher Herkunft, für Kinder mit und ohne offiziell festgestellte Behinderungen.

Den gemeinsamen Kern der so unterschiedlich scheinenden und meistens auch getrennt geführten Diskussionen um Integration, Interkulturelle Erziehung und Koedukation kann eine Tabelle (vgl. Tab. 1) weiter verdeutlichen. Dabei bilden die üblichen Argumentationsmuster (Denk-) Modelle: das Anpassungs- und das Separierungsmodell ergänzen sich in der Zielrichtung der möglichst hohen Homogenität Lerngruppen, den Gegenpol dazu bildet das Ergänzungsmodell, das gerade die Unterschiedlichkeit der Kinder in der heterogenen Lerngruppe und die Chancen und Möglichkeiten aus dieser Vielfalt heraus betont.

Tab. 1: Strategien im Umgang mit Heterogenität im Feld der Schule (HINZ 1993, 399)

Modell

Koedukationsdebatte

Interkulturelle Debatte

Integrationsdebatte

Separierungsmodell

radikalfeministische Position

isolierende Position

segregative Position

Anthropologische Annahme

Andersartigkeit des Weiblichen

Andersartigkeit des Ausländischen

Andersartigkeit des Behinderten

Konsequenz

spezielle Schulen für Mädchen

spezielle Schule für Ausländer

spezielle Schulen für Behinderte

Ziel

Förderung der Eigentümlichkeit der Geschlechter

Förderung der Eigentümlichkeit der Kulturen

Förderung der Eigentümlichkeit der Begabungen

Anpassungsmodell

konservative / verdrängende / nivellierende Position

ignorierende / positiv diskriminierende Position

assimilative Position

Anthropologische Annahme

Normalität des Männlichen

Normalität des Deutschen

Normalität des Nichtbehinderten

Konsequenz

a Ausblendung

Orientierung am Männlichen

Orientierung am Deutschen

Orientierung am Nichtbehinderten

Konsequenz

b Minimierung

spezielle Förderung von Mädchen in der allgemeinen Schule

spezielle Förderung von Ausländern in der allgemeinen Schule

spezielle Förderung von Behinderten in der allgemeinen Schule

Ziel

Förderung der Gleichheit in Bezug auf das Geschlecht

Förderung der Gleichheit in Bezug auf die Kultur

Förderung auf Gleichheit in Bezug auf die Begabung

Ergänzungsmodell

dialektische Position

interkulturelle Position

integrative Position

Anthropologische Annahme

Verschiedenheit und Gleichheit der Geschlechter

Verschiedenheit und Gleichheit der Kulturen

Verschiedenheit und Gleichheit der Begabungen

Konsequenz

Eigenheit von Mädchen in der allgemeinen Schule, eine Schule für alle Geschlechter

Eigenheit von Mädchen in der allgemeinen Schule, eine Schule für alle Kulturen

Eigenheit von Mädchen in der allgemeinen Schule, eine Schule für alle Begabungen

Ziel

Förderung der Verschiedenheit der Geschlechter in Gemeinsamkeit

Förderung der Verschiedenheit der Kulturen in Gemeinsamkeit

Förderung der Verschiedenheit der Begabungen in Gemeinsamkeit

Vorschläge für einen anderen Umgang mit dem Anderssein - bewußt heterogene Lerngruppen

Die Vorschläge für einen integrativen, koedukativen und interkulturellen - oder man könnte auch einfach sagen: einen allgemeinen (allen gemeinsamen) und kindgerechten Unterricht - weisen ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. In Anlehnung an die Theorie integrativer Prozesse, die von der Arbeitsgruppe um Helmut Reiser entwickelt wurde (vgl. REISER U.A. 1986, KLEIN U.A. 1987, DEPPE-WOLFINGER U.A. 1990, REISER 1991, COWLAN U.A. 1991, 1993), kann diese Zielrichtung auf fünf Ebenen holzschnittig beschrieben werden: Es sind die Ebenen der Person, der Interaktion, der Handlung, der Institution und der Gesellschaft, die sich wechselseitig beeinflussen (vgl. Tab. 2 sowie HINZ 1992 und ausführlich HINZ 1993).

Tab. 2: Integrativer Umgang mit Heterogenität in der Schule (HINZ 1993, 401)

Ebenen

Integrative Bewältigung von Heterogenität in der Schule

Person:

AKZEPTANZ

(versus Verleugnung

Verfolgung)

Hinwendung zum 'Fremden' in der eigenen Person, zu den eigenen dunklen, ungeliebten, schwachen Seiten und zu den eigenen Verstehensgrenzen:

  • zur eigenen Unvollkonunenheit bzw. zu den je eigenen Gaben;

  • zur eigenen geschlechtlichen Fixiertheit (zu Weichheit und Abhängigkeit bzw. Durchsetzungs-

  • fähigkeit und Aggresivität)

  • zur eigenen kulturellen Beschränktheit durch ein so bestehendes gesellschaftliches Umfeld

Interaktion:

BEGEGNUNG

(versus Distanzierung / Verschmelzung)

Hinwendung zum 'Fremden' in Anderen, Kontakt und Konfrontation mit den 'ganz' Anderen:

  • mit ihren je individuellen Gaben, mit Können und Nicht-Können,

  • mit ihren je individuellen Ausformungen geschlechtlichen Seins,

  • mit ihren je individuellen kulturellen Ausdrucksformen

Handlung:

KOOPERATION

(Versus Verweigerung Vereinnahmung)

Allgemeine Didaktik mit spezifischen Qualitäten: Eingehen auf die Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit in den Voraussetzungen und Möglichkeiten der Anderen unter dem Aspekt

  • unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kontexte,

  • weiblicher und männlicher Existenzweisen,

  • behinderter und nichtbehinderter Entwicklungsmöglichkeiten;

Individualisierung eines allgemeinen, d.h. internationalisierten sowie geschlechts- und begabungsbezogen diversifizierten Curriculums; Primat unterrichtlicher Gemeinsamkeit mit den Möglichkeiten flexibler Differenzierung; Komplexitätsreduktion durch ein Mehr-PädagogInnen-System

Institution:

GEMEINSAMKEIT

(versus Aussonderung

Anpassung

Administrative Öffnung der Schule und des Schulwesens für alle, verbunden mit Autonomisierung;

Dabei insbesondere

  • Verzicht auf die Verpflichtung zum Erreichen kognitiver Niveaugleichheit,

  • Eingehen auf Mehrsprachigkeit und Multikulturalität,

  • Berücksichtigung von verschiedenen Zugängen und Interessen

Gesellschaft:

NORMALISIERUNG

(versus Exotisierung

Kolonialisierung)

Kritik an monistischen, hierachischen und damit auszugrenzenden und abwertenden Normalitätskonzepten an

  • Rassismus im Sinne der Überlegenheit des Deutschen,

  • Sexismus im Sinne der Überlegenheit des Männlichen,

  • Sozialdarwinismus im Sinne der Überlegenheit des 'Starken',

sowie Kritik an entsprechenden sonderpädagogischen, ausländerpädagogisch und feministisch orientierten kompensatorischen Förder- und Therapieansätzen

Auf der Ebene der Person geht es um die Herausforderung, nicht nur die "Hochglanz-Seiten" der eigenen Person wahrzunehmen, mit denen wir uns gerne nach außen präsentieren, sondern sich auch den "dunklen Seiten", den Seiten der Kleinheit, des Zweifelns, des Nicht-Könnens, der Ratlosigkeit - letztlich die Seiten unseres eigenen "Andersseins" - zuzuwenden. Häufig versuchen wir diese Seiten aggressiv von uns zu weisen (und bei anderen um so schärfer zu verfolgen) oder sie zu verleugnen. Beide Strategien ermöglichen jedoch nicht etwas wie Akzeptanz der eigenen Person. Es gilt also, sich hinzuwenden zum "Fremden" in der eigenen Person, zum inneren "Anderssein" und es als zu uns zugehörig zu akzeptieren.

Auf die unterschiedlichen Dimensionen Heterogenität bezogen bedeutet dies, zu versuchen, sich von der einengenden Fixiertheit Selbstwahrnehmung zu befreien: Es gilt, Menschen mit Behinderungen auch und vor allem ihre Kompetenzen in den Blick rücken zu helfen und bei denen ohne offensichtliche Behinderung Prozesse zu unterstützen, die dazu verhelfen, daß sie auch ihre eigene Unvollkommenheit sehen lernen. Gleiches gilt für die geschlechtliche Dimension: Wer vor allem bei sich auf Durchsetzungsfähigkeit und Aggressivität - typischerweise dem männlichen Verhaltensspektrum zugeordnet - setzt, ist herausgefordert, auch die eigenen Seiten der Weichheit und Abhängigkeit - typischerweise als weibliches Verhalten gesehen - zu entdecken und umgekehrt. Und schließlich ist von der Illusion der Vorurteilslosigkeit Abschied zu nehmen und zu lernen, daß wir alle einer kulturellen Beschränktheit unterliegen, einfach schon deshalb, weil wir unter bestimmten kulturellen Bedingungen aufgewachsen sind und uns nur in gewissem Maße anderen Kulturen verstehend annähern können.

Für die pädagogische Praxis ist besonders wichtig, nicht (nur) in richtig-falsch, gutschlecht oder auch harmoniebedürftigen Dimensionen zu denken, sondern den SchülerInnen Zwiespältigkeiten zuzugestehen und ihnen damit mehr Erkenntnisse über sich selbst und andere zu ermöglichen.

Auf der Ebene der Interaktion liegt die Herausforderung entsprechend der Ebene der Person darin, zu einer Begegnung, zu einem Dialog zu kommen, indem wir uns der anderen Person in Ganzheit und Widersprüchlichkeit zuwenden und in diesem Dialog sowohl die anderen Personen verstehen als auch uns selbst treu bleiben. Häufig tendieren wir dazu, uns bei Kontroversen schnell und ganz von anderen zu distanzieren und uns bei Übereinstimmungen mit anderen stark zu verbinden und individuell Unterschiedliches verschmelzend zu übersehen. Beide Verhaltensstrategien sind gleich darin, daß von Homogenität und der Fiktion der Gleichheit ausgehen. Ein ganzheitlicher Dialog im Sinne MARTIN BUBERs wird so nicht entstehen können, denn wenn wir gleich und verschieden sind, gehören zu ihm immer Konsens und Dissens und damit auch harmonische und konflikthafte oder zumindest nicht verstehende Anteile.

Für die verschiedenen Dimensionen von Heterogenität bedeutet dies die Herausforderung, sich den anderen in ihren je individuellen Gaben, also dem Können und dem Nicht-Können zuzuwenden, gleichermaßen, auch die je individuellen Ausdrucksformen geschlechtlichen Seins, also die realen Gestaltungen von Weiblichkeit und Männlichkeit bei anderen wahrzunehmen, und ebenso, die je individuellen kulturellen Ausdrucksformen in den Blick zu bekommen. Bei alledem geht es um die Annäherung an eine innere Logik von Verhaltensweisen und Einstellungen bei anderen und um die eigene individuelle Stellungnahme aufgrund der je eigenen inneren Logik - beide Anteile gilt es in die Betrachtung einzubeziehen.

Für die pädagogische Praxis erscheint mir besonders wichtig, Stärken und Schwächen bei Kindern und PädagogInnen wahrzunehmen und zu akzeptieren, die eigenen Bedürfnisse mit denen anderer abwägen zu lernen und in einen Dialog einzutreten, für den Abgrenzung und Dissens genauso wichtig sind wie Annäherung und Konsens (dabei scheinen mir manchmal fast die Kinder eher als erwachsenen PädagogInnen in der Lage zu sein, z.B. die Leistungsentwicklung von Kindern ihrer Klasse mit einem individuellen Maßstab zu messen und zu kommentieren). Und es ist sehr bedeutsam, zulassen zu können, daß nicht sogleich für jedes sich stellende Problem eine Lösung oder eine Maßnahme gefunden werden kann - und daß es eine wichtige Kompetenz ist, ungelöste Probleme oder Konflikte zunächst stehenzulassen, vielleicht auch auszuhalten und dabei für Kinder wie Erwachsene die so wichtige Funktion der Zeugenschaft (ALICE MILLER) zu übernehmen: Es ist so wie du fühlst, wir reden es dir nicht aus, sondern nehmen es auch so wahr wie du - auch wenn wir im Moment vielleicht nichts verändern können. Dies ist letztlich auch der schmerzliche und entlastende Abschied von pädagogischen Omnipotenzphantasien.

Auf der Ebene der Handlung stellt sich die Herausforderung, Kindern und PädagogInnen im Unterricht Kooperation zu ermöglichen. Weder sollen sie in eine Situation der Verweigerung - noch in eine Situation der Vereinnahmung geraten. Im Bereich des Unterrichts geht es damit nicht um verschiedene Spezialdidaktiken für unterschiedliche Kinder in einer Klasse, sondern um eine allgemeine Didaktik mit spezifischen Qualitäten: Sie soll bei gleichzeitiger Wahrung von Gemeinsamkeit auf die Voraussetzungen und Möglichkeiten aller Kinder eingehen. Dementsprechend kann es nicht die Aufgabe sein, verschiedene individuelle Curricula oder "Förderpläne" zu entwickeln, sondern die Herausforderung liegt gerade in einem gemeinsamen, allgemeinen Curriculum, das die Unterschiedlichkeit der Lerngruppe berücksichtigt. In der konkreten Unterrichtsgestaltung wird das Primat deutlich beim Gemeinsamen Unterricht liegen, jedoch sind auch Möglichkeiten flexibler, zeitlich begrenzter, in der Zusammensetzung u.U. wechselnder Differenzierung in verschiedenen Lerngruppen wichtig und sinnvoll. Schließlich ist der Aussage hohes Gewicht beizumessen, daß mit der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Voraussetzungen, Bedürfnissen, Interessen und Zugängen in einer bewußt heterogenen Lerngruppe eine erwachsene, pädagogisch ausgebildete Person hoffnungslos überfordert ist, wenn sie eine Kultur der Heterogenität pflegen will. Wenn die Komplexität von Unterricht nicht mehr durch Aussonderung von Kindern reduziert werden soll, muß sie durch ein Mehr-Pädagoglnnen-System aufgefangen werden. Die zweite PädagogIn begründet sich damit nicht primär in der Anwesenheit bestimmter "Problemkinder", die Unterstützung durch SpezialistInnen brauchen, sondern in der Problematik der Unterrichtssituation selbst (vermutlich wird Schule überhaupt in einigen Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr nach der Gleichung "eine Lehrerin für eine Klasse" funktionieren, sondern nur noch mit pädagogischer Teamarbeit zu bewältigen sein).

Bezogen auf die unterschiedlichen Dimensionen der Heterogenität wird es unter curricularen und didaktischen Gesichtspunkten darum gehen, die Lebenswelten der Kinder zu berücksichtigen: Bei den unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Kontexten müßte u.a. die Erstsprache der Kinder in den Unterricht der allgemeinen Schule einbezogen und damit endlich als wichtiges Kulturgut anerkannt werden, anstatt ihre Pflege in die Zuständigkeit von Konsulaten abzuschieben. Ebenso müßte implizite Bewertung von Inhalten hinterfragt und verändert werden, wenn etwa bei dem Thema "die Türken vor Wien" häufig nach wie vor unbewußt der drohende Untergang des christlichen Abendlandes durch die Barbaren vermittelt und nicht auch die Morbidität eines europäischen Herrschaftsimperiums thematisiert wird. Bei den weiblichen und männlichen Existenzweisen sollten ebenso wie die Berufswelten auch die Haushalts- und Familienwelten behandelt und es sollte z.B. reflektiert werden, daß die Geschlechter nicht naturgegebenerweise bestimmte Funktionen wahrnehmen, sondern aufgrund gesellschaftlicher Normensetzungen (es sollten z.B. auch mehr NaturwissenschaftlerInnen im Unterricht auftauchen als Madame Curie). Und schließlich sollten nicht implizit immer nur die "normalen", "nie hinderten" Lebenswelten im schulischen Leben und Lernen erscheinen, sondern das ganze Spektrum menschlichen Lebens mit seinen Möglichkeiten und Erschwernissen - und das nicht nur unter dem Thema "Randgruppen" im Sozialkunde-, Ethik oder Religionsunterricht.

In der pädagogischen Praxis scheint mir allem wichtig zu sein, den Unterricht als Spektrum unterschiedlicher Situationen mit einer Balance von Gemeinsamkeit und Individualität und von Strukturierung und Freiräumen zu planen und zu gestalten. Dabei gilt es die Stärken aller Kinder für alle einzubringen, seien es Erfahrungen aus anderen kulturellen Zusammenhängen, geschlechtsspezifische Interessen Zugänge - und dabei nicht nur Computer, sondern auch Tanz zu berücksichtigen - , sei es die Gebärdensprache einer Schülerln oder Wahrnehmungsdominanz einer anderen im Fühlen.

Auf der Ebene der Institution gilt es, Höchstmaß an Gemeinsamkeit in Unterschiedlichkeit zu ermöglichen und Anpassungsdruck und Aussonderungsdrohung zu überwinden. Dazu bedarf es vielfältiger Prozesse administrativer Öffnung: die Überwindung von zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Begrenzungen, die Möglichkeit der Entwicklung zu einer tatsächlichen "Schule für alle", die alle Kinder des Einzugsbereiches aufnehmen kann und nicht aussondern muß; die Erweiterung der Möglichkeiten zur Entwicklung eines pädagogischen Profils für die einzelne Schule im Sinne der Autonomieentwicklung im Rahmen klar gesetzter demokratischer Rahmenbedingungen; die Fortentwicklung des Schulwesens insgesamt von einem hierarchisch strukturierten zu einem integrativen (und nicht nur einem integrierten); schließlich die Überwindung der gleichen Begrenzungen wie in den Schulen auch in der Schulverwaltung. Auf allen Ebenen gilt es, in den so häufigen Konflikten zwischen hierarchischen Entscheidungs- und Verkündungsstrukturen einerseits und kooperativen Beratungsprozessen unmittelbar Beteiligter andererseits der kooperativen Beratung den Vorrang zu geben.

Für die verschiedenen Dimensionen von Heterogenität gilt es administrativ abzusichern, daß nicht alle Kinder die gleichen kognitiven Leistungen erbringen müssen, um in einer Klasse bleiben zu können, daß die vorhandene Mehrsprachigkeit und Multikulturalität zu ihrem Recht kommt und daß Mädchen und Jungen auch unterschiedlichen Interessen und Zugängen nachgehen können - und dies unter Umständen phasenweise auch in selbstgewählten, unter bestimmten Aspekten homogen zusammengesetzten Gruppierungen.

Mit Blick auf die Praxis erscheint es besonders wichtig, die Entwicklungsprozesse in Teams und Kollegien auf dem Weg zur Öffnung als "eine Schule für alle" zu unterstützen. Dabei erscheint mir fast zweitrangig, in welchem Schultyp dieses vordringlich stattfinden sollte, denn zwar bietet die Gesamtschule als "Schule für alle nichtbehinderten Schülerlnnen" zunächst bessere Voraussetzungen als die Haupt- und Realschule, denen das Anregungspotential von sog. GymnasiastInnen fehlt, aber auch mit der real existierenden Gesamtschule ergeben sich Passungsprobleme mit der Integration, wenn sie ab der 7. Klasse zunehmend durch Wahlpflicht- und stärker noch durch Fachleistungsdifferenzierung immer homogenere Lerngruppen zu bilden sucht und damit ebenso wie das gegliederte Schulwesen - wenn auch schulintern, aber dafür u.U. noch schärfer - selegiert.

Auf der Ebene der Gesellschaft und ihrer Normen schließlich stellt sich die Herausforderung der Normalisierung - nicht etwa in dem Sinne, daß alle "normal werden" sollen, sondern daß der Begriff von Normalität ein immer größeres Spektrum von Menschen, ihren Verhaltensweisen, Einstellungen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten umfaßt. Hier gilt es, normativ ausgrenzende Prozesse der Exotisierung wie unterdrückende Prozesse der Kolonialisierung zu überwinden. Dieses schließt insbesondere die Kritik an solchen Konzepten von Normalität ein, die alle Menschen an einem Maßstab messen, damit eine "Normalität", gleichzeitig mit ihr eine Hierarchie von Wertigkeiten schaffen und Ausgrenzung und Abwertung produzieren.

Bezogen auf die Dimensionen von Heterogenität gilt es, diskriminierenden Normalitätskonzepten mit rassistischen, sexistischen und sozialdarwinistischen Tendenzen entgegenzutreten. Sie frönen der Überlegenheit des Deutschen, des Männlichen und des Starken und erlebten in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Blütezeit, doch auch heute wirken sie im Gewand anderer Formen weiter, z.B. im Bereich der Gentechnologie und vorgeburtlichen Diagnostik (vgl. HINZ 1993, 395-397). Darüber hinaus sind wir aufgefordert, alle jene Förder- und Therapieansätze zu hinterfragen, die Kinder mit kompensatorischen Absichten an bestehende Standards heranführen wollen, sei es mit sonderpädagogischem, ausländerpädagogischem oder feministischem Hintergrund. Dies gilt, obwohl dabei ein Dilemma besteht: Einerseits hat jedes Kind Anspruch auf die möglichen und hinreichenden - ich spreche bewußt nicht vom verbalen Ungetüm der "optimalen" - Hilfen, andererseits gerät es schnell unter Anpassungsdruck, allgemeine Leistungsnormen erfüllen zu sollen. Es ist jenes Dilemma "positiver Diskriminierung", das am stärksten in der interkulturellen Debatte thematisiert worden ist (vgl. CZOCK & RADTKE 1984). Zu hinterfragen sind die - häufig auch unbewußten Normalitätsstandards bei solchen speziellen Förder- und Therapiekonzepten, die gleichzeitig auch Abweichung definieren - seien es nun spezielle Kurse für "technikferne Mädchen", Intensivkurse für "Sprachanfänger" (gemeint ist in der Regel die deutsche Sprache) oder Präventionsmaßnahmen für "von Behinderung bedrohte Kinder", Anders formuliert: Es geht auch um die kollektiv vorhandenen kleinen Rassismen, Sexismen und Sozialdarwinismen bei uns PädagogInnen, die sich vielleicht in solchen kompensatorisch eingefärbten Förderkonzepten widerspiegeln.

Für die pädagogische Praxis halte ich für besonders wichtig, die Förderung der Schülerlnnen in einer Lerngruppe auf die gleichen Ziele für alle hin zu hinterfragen, sich mit den eigenen Wünschen nach Weiterentwicklung der SchülerInnen und Erfolg der eigenen Arbeit und schließlich auch mit dem Phänomen von Aktivität und augenscheinlicher Passivität auseinanderzusetzen. Besonders für die Situation schwer-mehrfachbehinderter Kinder in der Schule ist existentiell wichtig, daß alle Beteiligten akzeptieren, daß zu menschlicher Entwicklung auch Stagnation und Regression gehören, daß es also legitim sein kann, wenn ein Kind seinen Bedürfnissen entsprechend im Unterricht für alle offensichtlich schläft - wenn dies mit zu wenig angemessenen Angeboten zusammenhänge, wäre es natürlich etwas anderes. Dabei muß berücksichtigt werden, daß es zweierlei sein kann, was wir gerne für das gleiche halten: die reale Entwicklung von Kindern und unsere Wahrnehmung ihrer Entwicklung (auch hier gilt es, sich der Beschränktheit eigener Wahmehmungs- und Interpretationsprozesse bewußt zu sein). Weiter ist zentral, daß spezifische Verhaltensweisen und Bedürfnisse keinen Grund darstellen, jemanden für weniger wertvoll zu halten und die Anwesenheit in der Lerngruppe in Frage zu stellen.

Schluß

Die Überlegungen zum pädagogischen Umgang mit dem Anderssein weisen weit über die bisherige Diskussion um die Integration hinaus. Es sind viele verschiedene Dimensionen des "Gleichseins" und des "Andersseins", die in der Schule bedeutsam sein können - und wie weit sie es sind oder werden, hängt sehr von ihrer gesellschaftlichen Bewertung ab.

Letztlich ist jeder Mensch ein Stück weit anders - und das nicht nur in bezug auf andere Menschen, sondern auch in bezug auf sich selbst. Pädagogisch kommt es vor allem anderen darauf an, daß wir mit diesen Unterschieden anders umgehen als hierarchisch. Wir haben die Wahl, als Kinder weiterhin vor dem "schwarzen Mann" in uns und anderen (was für ein rassistisches Bild!) wegzulaufen, wenn er kommt, oder uns ihm - und damit uns - zuzuwenden.

Literatur

COWLAN, Gabriele, DEPPE.-WOLFINGER, Helga, KREIE, Gisela, KRON, Maria & REISER, Helmut: Der Weg der integrativen Erziehung vom Kindergarten in die Schule. Bd. 12 der Schriftenreihe Lernziel Integration. Bonn: Reha 1991

COWLAN, Gabriele, DEPPE-WOLFINGER, Helga, KREIE, Gisela, KRON, Maria & REISER, Helmut: Gemeinsame Förderung Behinderter und Nichtbehinderter in Kindergarten und Grundschule. Endbericht der Wissenschaftlichen Begleitung. Bd. 13 der Schriftenreihe Lernziel Integration. Bonn: Reha 1995

CZOCK, Heidrun & RADTKE, Frank-Olaf: Der heimliche Lehrplan der Diskriminierung. Päd. extra 12, 1984, H. 10, 34-39

DEPPE-WOLFINGER, Helga, PRENGEL, Annedore & REISER, Helmut: Integrative Pädagogik in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven der Integration behinderter Kinder in der Bundesrepublik Deutschland 1976-1988. München: DJI 1990

HINZ, Andreas: (Wieder-)Entdeckung der Heterogenität in der Schule? In: SCHLEY, Wilfried,

BOBAN, Ines & Hinz, Andreas (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Gesamtschulen. Erste Schritte zur Integrationspädagogik im Sekundarstufenbereich. Hamburg: Curio 1992 2, 49-74

HINZ, Andreas: Heterogenität in der Schule. Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation. Hamburg: Curio 1993

KLEIN, Gabriele, KREIE, Gisela, KRON, Maria & REISER, Helmut: Integrative Prozesse in Kindergartengruppen. Über die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern. München: DJI 1987

REISER, Helmut: Wege und Irrwege zur Integration. In: SANDER, Alfred & RAIDT, Peter (Hrsg.): Integration und Sonderpädagogik. Referate der 27. Dozententagung für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern im Oktober 1990 in Saarbrücken. St. Ingbert: Röhrig 1991, 13-33 REISER, Helmut, KLEIN, Gabriele, KREIE, Gisela & KRON, Maria: Integration als Prozeß. Sonderpädagogik 16, 1986, 115-122 und 154-160

Andreas Hinz; Jg. 1957, Dr. phil., Sonderpädagoge (ursprünglich für körper- und geistig behinderte Schülerlnnen), Mitglied der Arbeitsstelle Integration der Universität Hamburg, tätig in der Wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs "Integrative Grundschule" und seines Vorläufers "Integrationsklassen" seit 1986. Die Zeit als Zivi in einer Gruppe für Schwerst- und Mehrfachbehinderte an einer Schule für Geistigbehinderte ließ mich an der Sinnhaftigkeit des Sortierens von Kindern nach ihrer Ähnlichkeit zweifeln (und das direkt nach dem Abitur in einer dreifachen Sonderschule, einem humanistischen Gymnasium für Jungen). Während des Studiums ergaben sich Kontakte zu Elterninitiativen für Integration und die üblichen Pilgerfahrten nach Berlin, Italien etc. Ich habe das Glück, die Integrationsentwicklung in Hamburg von der Anfangszeit konspirativer EIterntreffen an bis heute miterleben - und vielleicht ein bißchen beeinflussen - zu können.



[1] Karl Marx: Das Kapital Band I (MEW 23), Berlin 1975, S. 49

[2] Ders., ebenda., S. 181

[3] Vgl. ders., ebenda, S. 49- 213; Bis an diese Stelle wurden im Text bewußt keine weiblichen Formen verwandt, da erstens Marx referiert wird und er diese Formen auch nicht benutzt und zweitens hiermit auch darauf verwiesen werden soll, daß der Kapitalismus "Männerwirtschaft" ist. An dieser Stelle sei auch noch angemerkt, daß nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus der Kapitalismus die alleinige hegemoniale Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur ist und von ihm also auch die Rede ist.

[4] Gusti Steiner: Bei den Nazis wärst du längst vergast worden.... Übergriffe auf Behinderte- eine Analyse, in Gemeinsam Leben, 1/1993, S. 6 Prostitution würde der Autor dieses Artikels im Gegensatz zu G.Steiner unter Lohnarbeit fassen.

[5] Vgl. Steinert/Treiber: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen, S. 23ff und Edward P. Thompson: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, S. 65ff, beide Texte aus Reader Uni Frankfurt zum Seminar Grünberger/Roth: Dehumanisierung der Gesellschaft, 1983; Zum historischen Vorlauf vgl. den mit viel Freude zu lesenden Umberto Eco: Der Name der Rose, München und Wien 1984 Ein historisches Beispiel einer Herrschaftstechnologie und ihrer Durchsetzung aus meinem beruflichen Bereich - ich bin Kaufmann - ist die, dem großen Reichtum dort geschuldete, Entwicklung der doppelten Buchführung in den oberitalienischen Klöstern im ausgehenden Mittelalter, eine Technik, die vom expandierenden Handelskapital in den dortigen Stadtrepubliken oder auch in Augsburg begierig aufgesogen wurde.

[6] Michel Foucault: Leben machen und sterben lassen, Die Geburt des Rassismus in Bio-Macht DISS-Texte Nr. 25, Duisburg 1992, S. 33; Vgl. Sebastian Reinfeldt / Richard Schwarz: Biopolitische Konzepte der Neuen Rechten in Bio-Macht a. a. 0., S. 12ff

[7] Michel Foucault, Leben machen .... a.a. 0., S. 34

[8] Vgl. ders., ebenda S. 35ff

[9] Ders., ebenda S. 43

[10] Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988, S. 178

[11] Vgl. hier auch die Überlegungen von Sebastian Reinfeldt / Richard Schwarz: Biopolitische Konzepte .... a.a.O., S. 17ff

[12] Theodor W. Ardorno / Max Horkheimer: Dialektik .... a. a. S. 178

[13] Vgl. auch Joachim Hirsch / Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus, Vom Fordismus zum Postfordismus, Hamburg 1986; Der im Untertitel dieser vorläufigen Studie angesprochene Fordismus ist der Kapitalismus der Fließbänder und der Schwerindustrie. Konkrete empirische Studien über diesen Umbruch in Westdeutschland sind z.B.: Michael Kern / Horst Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung, Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1986 oder Martin Baethge / Michael Oberbeck: Zukunft der Angestellten, neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung, Frankfurt 1986

[14] Gusti Steiner: Bei den Nazis ..., a. a. 0. S.6 Ich folge in diesem Zusammenhang allerdings - aus den Prinzip der Vorsicht heraus - nicht Steiners These, daß konkrete Diskriminierungen und Übergriffe gegen behinderte Menschen eigentlich gar nicht zugenommen haben, sondern, daß es ein Stück weit zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit gekommen sei, obwohl ich allerdings hoffe, daß er Recht hat.

[15] Vgl. Sebastian Reinfeldt / Richard Schwarz: Biopolitsche Konzepte .... a. a. 0., S. 8ff und S.21ff

[16] Vgl: Näher zu den Vettern, Der Spiegel 27/1993, S. 162f, desweiteren Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 1984 mit dem skandalösen Satz: "Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person." (S. 188). Zu Singer ist viel Kritik geäußert worden, qualifiziert aus seinem eigenen Diskurs heraus z.B. Ruth Dölle-Oelmüller: Von Menschen und dem Recht auf Leben, Publik-Forum 3/1994, S. 13f oder auch Andreas Kuhlmann: Über das Recht zu töten, Frankfurter Rundschau vom 29.5.1993 Frappierend aber die "Kritik" die in der Diakonie geübt wurde. Beim Vortrag Helmut E. Thorwein(s): Was haben wir aus der Euthanasie gelernt? (Untertitel: Euthanasie und die geschichtliche Aufarbeitung - Gedanken zur Weiterbildung, Manuskript der Vortrages gehalten beim 38. Referententreffen der Fortbildungsdozentur Süd vom 13.-15.10.1993 in Haslachmühle / Horgenzell) drängt sich dem Leser der Eindruck auf, daß der Autor Singer eigentlich gerne zustimmen würde und somit seine Kritik, spitzt formuliert, darin besteht, daß er dies aus Gründen von Amt und Würde nicht darf. Unabhängig von der Person Peter Singer, selber Sohn jüdischer Eltern ist, wäre im übrigen eine Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen protestantischer Ethik und der von ihm vertretenen utilitaristischen Philosophie spannend.

[17] Ursprünglich war geplant, diesen Aufsatz von einem Vertreter der ausländischen Mitbürger/innen in Frankfurt schreiben zu lassen, um so unsicheren möglichen eigenen Blindheiten und Schranken zu übersteigen. Der ins Auge gefasste Autor musste aus Gründen der Arbeitsüberlastung absagen.

[18] Vgl. Ulrich Niehoff / Theo Frühauf: Gewalt gegen behinderte Menschen, in Fachdienst der Lebenshilte 1/1993, S.9; Mittlerweile ist immerhin das Grundgesetz zugunsten behinderter Menschen verändert worden, was zum ursprünglichen Zeitpunkt de Abfassung dieses Artikels so noch nicht war.

[19] Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung in der Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt 1975, S.81

[20] Ders.: Erziehung zur Mündigkeit in Dasselbe Frankfurt 1970, S.88

[21] Ders.: Erziehung nach Auschwitz in Erziehung zur Mündigkeit a.a. 0., S. 133

[22] MATURANA, H.R./VARELA, F.J.: Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen - die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern, München, Wien Scherz Verlag 1987 3 S.267/268

[23] SCHERMER Franz.J. (Hrsg): Einführung in Grundlagen der Psychologie. Würzburg: Arusin Verlag 1988, S.35

[24] ebd. S.36

[25] PERLS, F.S., HELFERLINE, R.F., GOODMAN, P.: Gestalt-Therapie, Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S.10

[26] ebd., S.11

[27] PERLS, F.: Grundlagen der Gestalt-Therapie. Einführung und Sitzungsprotokolle. München: Verlag J. Pfeifer 1976, S.55

[28] MATURANA H.R./VARELA, F.J.: ebd, S.264ff

[29] Die vom Autor zusammengestellten Texte sind (mit freundlicher Genehmigung der Verlage) Auszüge aus folgenden Veröffentlichungen: Bach, Ulrich -Boden unter den Füßen hat keiner, Göttingen 19862, Vandenhoeck & Ruprecht; Bach, Ulrich -in: Lesebuch "Euthanasie 1992", Luther Verlag Bielefeld, S. 87ff und 179ff; Bach, Ulrich -in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD 1986/87, S. 26ff

3. Gemeinsamer Unterricht in Hessen

Foto: Drei Kinder basteln gemeinsam (Beschriftung von bidok eingefügt)

Ulrike Holler interviewt hessische BildungspolitikerInnen

Interview mit Kultusminister Hartmut Holzapfel, SPD

Der "Gemeinsame Unterricht" ist in den letzten vier Jahren Normalität und ein fester Bestandteil an den Grundschulen geworden. Der nächste Schritt muß - laut Staatsminister Holzapfel - sein, "die bisher getrennt verwalteten Mittel für die Förderung von Behinderten an den allgemeinbildenden Schulen zusammenzuführen und zu bündeln, damit die Integration eine Regelaufgabe der Grundschule wird."

Dies bedeutet, daß man nicht mehr von Einzelfällen ausgehen will, sondern von einer "generellen Öffnung der Grundschule für Behinderte". Die 900 Lehrer die zur Zeit für die sonderpädagogische Förderung an allgemeinbildenden Schulen zur Verfügung stehen (davon 400 für den Gemeinsamen Unterricht), sollen flexibler eingesetzt werden und nicht durch eine bestimmte Organisationsform an einer Schule gebunden bleiben, wenn sich die Bedürfnisse einer Schule ändern. "Wir haben in dieser Wahlperiode die Stellen um 400 auf 900 angehoben, das ist eine große Steigerung, aber jeder weiß, daß in den nächsten Jahren die Zahl nicht noch weiter erhöht werden kann. Deswegen muß man darüber nachdenken, wie man Maßnahmen, die im Augenblick parallel laufen, zusammenführen kann.

Minister Holzapfel verspricht sich von einem solchen "Pool" eine effektivere ambulante Förderung, mehr Prävention und einen Rückgang der förmlichen Überprüfungen, die in der Vergangenheit viele pädagogische Kräfte und viel Zeit gebunden haben.

"Wir haben im Moment eine sehr hohe Zahl an Überprüfungen, dies muß nicht so bleiben, wenn wir mehr flexible Möglichkeiten im Vorfeld haben, bevor man die Überprüfung ansetzt."

Flexibel sollen nicht nur die LehrerInnen, sondern auch die Förderungsformen sein, "also nicht nur Integrationsklassen, sondern auch ambulante Hilfe, die von Förderzentren an Sonderschulen ausgeht, damit das gesamte Stellenvolumen optimal eingesetzt wird."

Durch den "Gemeinsamen Unterricht" hat sich die Grundschule in den letzten Jahren stark verändert. Die Mittelstufen haben eine eher fachgebundene Struktur, Lehrer verstehen sich mehr als "Fachlehrer" undweniger als Pädagogen, setzen auf meßbare Leistung und weniger auf soziales Lernen, all dies bedeutet für Hartmut Holzapfel: "daß ich den Gemeinsamen Unterricht in der Mittelstufe zwar für möglich halte, aber in der weiteren Entwicklung mit vorsichtigen Schritten herangehen werde. Der Gemeinsame Unterricht muß von allen getragen werden. Das behinderte Kind muß in allen Fächern angenommen werden. Ein neues pädagogisches Selbstverständnis ist gefragt. Man muß jeden Einzelfall prüfen, die Möglichkeiten des Abschlusses und die Notwendigkeit der technischen Hilfsmittel. Nicht von jeder Schule kann man erwarten, daß sie schwerbehinderte Kinder aufnimmt."

Holzapfel betont, keine Gruppe dürfe von der Integration ausgeschlossen bleiben. Man habe sehr gute Erfahrungen auch in den Mittelstufen gemacht, aber er plädiert für Überzeugungsarbeit und nicht für das Durchsetzen einer politischen Maxime.

Seine Perspektive ist, daß das Projekt "Gemeinsamer Unterricht" in der Mittelstufe genauso verankert und inhaltlich getragen wird, wie in der Grundschule, daß Integration ein Teil der schulischen Normalität wird. "Das heißt, weiterführende Schulen müssen sich genauso ändern, wie sich die Grundschulen in den letzten Jahren geändert haben, müssen übergreifende Arbeitsformen entwickeln, von dem Gedanken Abschied nehmen, daß "Gemeinsamer Unterricht" nur etwas für kleine Kinder sei und Integration muß zur Grundqualifikation der Lehrer werden. "Aber bis dahin ist sicher noch ein weiter Weg."

Hartmut Holzapfel sagt von sich, er sei ein überzeugter Anhänger des "Gemeinsamen Unterrichtes", das Wort Integration benutze er nur ungerne, weil es ja nicht nur um die Förderung der Behinderten, sondern auch um die Erfahrungen der Nicht-Behinderten ginge.

"Und deswegen halte ich auch immer die Rechnungen für demagogisch die da besagen: Ihr gebt so und soviel aus für ein behindertes Kind, um es zu fördern. Gefördert werden ja auch die nicht-behinderten Kinder in einer solchen Gruppe. Sie lernen etwas, was sie sonst nie lernen würden."

Der Widerstand gegen den "Gemeinsamen Unterricht" hat in den letzten Jahren nachgelassen, die Kultusministerkonferenz hat Richtlinien formuliert, "die sich so anhören, als wären wir überall schon so weit wie in Hessen"; und auch die Opposition im hessischen Landtag stellt den "Gemeinsamen Unterricht" nicht mehr grundsätzlich in Frage, sondern kritisiert die angeblich zu hohen Kosten. "Es gibt zu viele Eltern, die dahinter stehen, Schreckgemälde haben sich nicht bestätigt," also die Haltung, daß Kinder in der Grundschule nichts lernen, wenn ein behindertes Kind dabei ist. Untersuchungen zeigen, daß es sogar sehr förderlich ist, wenn Behinderte und Nicht-Behinderte groß miteinander werden.

Dennoch sieht Minister Holzapfel momentan keine Chance, das Wahlrecht für den "Gemeinsamen Unterricht" zu einem Grundrecht umzuwandeln. "Das braucht noch ein bißchen länger in der Entwicklung", sagt er.

Auch für die Schulaufsicht sei es eine große Umstellung gewesen, doch zu seinen "freudigsten Überraschungen" gehöre es, daß diese Ämter sehr schnell Verständnis und Unterstützung gezeigt und zur Unterstützung bereit gewesen seien, jedenfalls in der Mehrheit, so daß der "Gemeinsame Unterricht" kein exotisches, sondern ein Alltagsthema geworden sei, "zu einem, mit dem man umgehen kann."

Hartmut Holzapfel weiß um die regionalen Unterschiede. In Kassel gibt es zum Beispiel kaum eine Nachfrage nach "Gemeinsamem Unterricht", aber im nordhessischen, ländlichen Bereich umso mehr. Er will dies alles nicht zentralistisch regeln und von Staats wegen vorgeben. Die Regionen sollen autonom entscheiden, deswegen die unterschiedlichen Organisationsangebote. Alles soll wachsen, soll sich an den Bedürfnissen der Eltern und der Bereitschaft der Schulen orientieren, damit der "Gemeinsame Unterricht" keine zwanghafte, von oben verordnete, sondern eine von allen Schichten der Bevölkerung getragene "Selbstverständlichkeit" wird.

Holzapfel hofft, daß er als alter Mann, beim Rückblick auf sein Wirken als Kultusminister, besonders stolz sein wird, auf die Durchsetzung des Gemeinsamen Unterrichts an allen Schulformen. Er hofft, daß diese Reform einen Beitrag dazu leistet, daß die Gewalt gegen Behinderte, die wir neuerdings wieder beobachten und beklagen, bald der Vergangenheit angehört, weil junge Menschen lernen, Behinderte nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu akzeptieren.

Sonderpädagogische Förderung Auszug aus dem Hessischen Schulgesetz

§ 49 Anspruch auf sonderpädagogische Förderung

(1) Kinder und Jugendliche, die zur Gewährleistung ihrer körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung in der Schule sonderpädagogischer Hilfen bedürfen, haben einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung.

(2) Den sich aus diesem Anspruch ergebenden sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllen die Sonderschulen in ihren verschiedenen Formen oder die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen (allgemeine Schulen), an denen eine angemessene personelle, räumliche und sachliche Ausstattung vorhanden ist oder geschaffen werden kann.

§ 50 Gemeinsamer Auftrag der Schulen

Die allgemeinen Schulen und die Sonderschulen haben den gemeinsamen Auftrag, bei der Rehabilitation und Eingliederung der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Gesellschaft mitzuwirken. Insbesondere für die allgemeinen Schulen besteht die Aufgabe, durch vorbeugende Maßnahmen einer drohenden Beeinträchtigung der Schülerinnen und Schüler entgegenzuwirken und ihre Auswirkungen zu verringern; dazu können Maßnahmen zur Vorbeugung und Minderung von Beeinträchtigungen des Lernens, der Sprache und der emotionalen und sozialen Entwicklung in der allgemeinen Schule durchgeführt werden, sofern die personellen, räumlichen und sachlichen Voraussetzungen gegeben sind. In den Sonderschulen sind die pädagogischen Hilfen auch dafür zu geben, daß der Übergang ihrer Schülerinnen und Schüler in die allgemeinen Schulen erleichtert wird.

§ 51 Gemeinsamer Unterricht in der allgemeinen Schule

(1) Gemeinsamer Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und ohne diesen Förderbedarf findet in der allgemeinen Schule in enger Zusammenarbeit mit der Sonderschule als sonderpädagogischem Beratungs- und Förderzentrum statt. Formen gemeinsamen Unterrichts sind insbesondere der Unterricht in der Regelklasse,

1. den eine Sonderschullehrerin oder ein Sonderschullehrer durch regelmäßige Beratung und stundenweise durch eine zusätzliche Förderung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ambulant unterstützt,

2. der durch den zusätzlichen Einsatz von Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrern in einem der Art und Schwere der Behinderung angemessenen Umfang unterstützt und der gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern der Regelklasse geplant und durchgeführt wird.

(2) Formen gemeinsamen Unterrichts lernbehinderter oder praktisch bildbarer Schülerinnen und Schüler in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 der allgemeinen Schule sind unter Beteiligung der Sonderschulen in Schulversuchen zu erproben.

§ 54 Entscheidungsverfahren

(1) Auf Antrag der Eltern oder der allgemeinen Schule stellt das Staatliche Schulamt den sonderpädagogischen Förderbedarf fest. Grundlage der Entscheidung über dessen Art, Umfang und Dauer und über die Voraussetzungen für einen angemessenen Unterricht sind eine sonderpädagogische Überprüfung durch eine Sonderschullehrerin oder einen Sonderschullehrer, eine schulärztliche Untersuchung und in Zweifelsfällen eine schulpsychologische Untersuchung. Die Eltern haben einen Anspruch auf umfassende Beratung.

(2) In der Grundstufe (Primarstufe) entscheiden die Eltern darüber, ob ihr Kind die allgemeine Schule oder die Sonderschule besucht. Dieses Wahlrecht steht den Eltern in der Mittel- und Oberstufe (Sekundarstufe) zu, wenn zwischen dem Besuch der allgemeinen Schule und dem Besuch einer Sonderschule mit entsprechender Zielsetzung (§ 53 Abs. 3 Satz 2) zu entscheiden ist. Das Staatliche Schulamt muß der Entscheidung widersprechen, wenn an der gewählten allgemeinen Schule die räumlichen und personellen Voraussetzungen für die notwendigen sonderpädagogischen Maßnahmen nicht gegeben sind oder die erforderlichen apparativen Hilfsmittel oder besonderen Lehr- und Lernmittel nicht zur Verfügung stehen. Es kann der Entscheidung widersprechen, wenn auf Grund der allgemeinen pädagogischen Rahmenbedingungen erhebliche Zweifel bestehen, ob die Schülerin oder der Schüler in der allgemeinen Schule angemessen gefördert werden kann. Halten die Eltern ihre Entscheidung aufrecht, entscheidet das Regierungspräsidium auf der Grundlage einer Empfehlung des Förderausschusses, sofern dessen Einrichtung nach Abs. 5 beantragt worden ist, endgültig. Kann nicht allen Anträgen auf Besuch der allgemeinen Schule stattgegeben werden, sind vorrangig die Kinder zu berücksichtigen, die in eine Vorklasse aufgenommen werden können oder in das erste oder zweite Schulbesuchsjahr eintreten.

Interview mit Fritz Hertle, bildungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/ Die Grünen

Welche grundsätzlichen und welche langfristigen Vorstellungen hat Ihre Partei in bezug auf den "Gemeinsamen Unterricht" an hessischen Grundschulen?

Wir streben ein Schulsystem an, in dem der "Gemeinsame Unterricht" eine Selbstverständlichkeit ist, so wie in Skandinavien und in großen Teilen der USA. Teile des alten Sonderschulwesens sollen durch Integration ersetzt werden. Die Parallelität beider Systeme kann nicht endlos finanziert werden.

Soll die Sonderschule auslaufen?

Ja, indem Eingangsklassen an Sonderschulen oder Vorklassen an Grundschulen durch klare integrative Maßnahmen an der Regelschule ersetzt werden. Ich halte die Lernbehinderten-Schulen aus pädagogischer und wissenschaftlicher Sicht für überholt. Weder die ausländischen noch die deutschen Kinder müßten in eine Sonderschule, wenn sie im Kindergarten oder in der Grundschule besser gefördert würden. Um das zu erreichen, brauchen wir eine andere Ausbildung der Lehrer, mehr Fortbildung, mehr Mittel und mehr Personal. Wenn aber die Sonderschule in die Regelschule integriert würde, wäre ein großer Teil des Bedarfs schon abgedeckt.

Warum müssen Lehrer und Lehrerinnen besser aus- und fortgebildet werden?

Weil die Universitäten der realen Entwicklung im hessischen Schulwesen hinterherhinken. Schule hat sich verändert, der Integrationsgedanke ist im Grundschulbereich fast eine Selbstverständlichkeit, aber in der wissenschaftlichen Ausbildung und bei der Prüfungsordnung spielt dieses Reformdenken keine Rolle. Die gesamte Ausbildungsordnung muß verändert werden.

Wie kommt es, daß Sie ein so überzeugter Verfechter des "Gemeinsamen Unterrichts" sind

Als von Integration noch keine Rede war, habe ich als Gesamtschullehrer, ohne theoretischen Unterbau, einen schwerstkörperbehinderten und fast tauben Jungen entgegen aller Warnungen bis zum Realschulabschluß gebracht. Diese Erfahrung und dieses Erlebnis haben mich sehr geprägt. Von daher habe ich meine Motivation und die Überzeugung, daß Integration möglich sein wird und möglich sein muß. Aber auch ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt am Beispiel der NS-Politik, der Vernichtung "unwerten Lebens", wie wichtig die integrative Erziehung heute ist, um den geistigen Grundlagen von Ausgrenzung praktisch zu begegnen.

Welchen Gewinn ziehen Eltern und Kinder aus dem Gemeinsamen Unterricht?

Kinder lernen selbstverständlich mit jenen umzugehen, die anders sind. Eltern behinderter Kinder werden vom Makel des Anders-Seins befreit, fühlen sich - da man mit ihren Kindern normal umgeht - nicht mehr ausgegrenzt. Gesellschaftlich gesehen ist es ein wichtiger Beitrag gegen zunehmenden Rassismus. Wer mit Behinderten zusammen gelernt und gelebt hat, wird sie später kaum noch angreifen, wird sich nicht als besser, schöner und überlegener empfinden. Unser größter Erfolg ist, daß die Kultusminister aller Länder sich die hessische Position, was den Umgang mit behinderten Kindern angeht, inhaltlich völlig angeschlossen haben.

Sind das nicht nur Lippenbekenntnisse?

Das hängt vom bildungspolitischem Druck ab, der in den einzelnen Bundesländern entwickelt wird. Auch konservativ regierte Länder haben Ansatzpunkte in Richtung Integration, wenn auch nicht so umfassend wie in Hessen. Integration ist eine Frage der Grundeinstellung, die diese Gesellschaft zu behinderten Menschen hat.

Wenn wir Integration wollen - muß sich dann der Unterricht ändern?

Ja, statt Frontalunterricht - Gruppenarbeit und Differenzierung. Der Lernfortschritt des einzelnen Kindes zählt und nicht der des Kollektivs. Die Schule muß sich öffnen, muß Kontakte in die kulturelle und soziale Umgebung des jeweiligen Ortes herstellen. Diese Reformgedanken müssen auch von der Sekundarstufe übernommen werden.

Hilfreich wäre ein freiwilliges Ganztagsangebot, kein Verwahrangebot, sondern die Möglichkeit, sich musisch, sprachlich, sportlich oder künstlerisch zu betätigen, so daß auch behinderte Kinder einen leistungsfreien Zugang zu anderen Formen des Lernens erhalten.

Widerspricht der Gedanke der Integration unserem Leistungsdenken?

Auf den ersten Blick läßt sich die platte Formel aufstellen, integrative Erziehung senkt das Leistungsniveau, wenn ich Leistung nur am Output und am Faktenwissen messe.

Bei einem zweiten, tieferen Blick muß ich sagen, es ist eine große, nicht in Noten zu messende Leistung, wenn Kinder mit Behinderten normal, fürsorglich, freundlich umgehen. Langfristig gesehen ist dieser humane Umgang, dieser Zugewinn an menschlicher Qualität für eine Gesellschaft von großer Bedeutung. Wer mit Behinderten groß geworden ist, wird sie später nicht aus Rollstühlen kippen.

Kann Integration der Motor für eine notwendige Veränderung und Reform der Schule sein?

Ja, die Integration hat jetzt schon sehr viele Verkrustungen und starre Formen aufgebrochen, auch durch das Engagement der Eltern. Ich hoffe, daß sich das fortsetzen wird.

Wo liegen die Gefahren?

Im Zeitgeist. Es heißt, wir könnten uns diesen gesellschaftlichen Luxus nicht mehr leisten, diese Spielwiese der Grünen sei ein verzichtbares Projekt. Billiger wäre die Angliederung von kleinen Sonderschulzweigen an die Gesamtschule. Ich halte das für eine Krückenlösung. Die hessische CDU hat ja bereits das Ende der Integration angekündigt, doch auf diese Auseinandersetzung lassen wir uns ein und thematisieren dies im kommunalen Landtagswahlkampf. Eine humane Gesellschaft darf auf Integration nicht verzichten.

Welche Passagen im jetzt gültigen hessischen Schulgesetz müßten verändert werden, um Integration voranzubringen?

Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Es fehlt die Priorität des Elternwunsches. Die Fortsetzung der Integration ist gebunden an einen Schulversuch, an die Zustimmung des Kollgiums, beziehungsweise der Gesamtkonferenz, das hat sich zunehmend zu einer Hürde enwickelt.

Behinderte Kinder müssen einen gesetzlichen Anspruch haben, in die Sekundarstufe zu wechseln.

Zweitens: Die integrative Schule muß Teile des Sonderschulwesens ersetzen, weil eine Parallelität weder pädagogisch gerechtfertigt, noch finanzierbar ist.

Blockieren die staatlichen Schulämter die Entwicklung hin zur Integration?

Eher die Schulen direkt vor Ort, da ist das Eis im Kopf noch nicht ganz geschmolzen.

Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle?

Groteskerweise nicht. In Nordhessen gehen mehr behinderte Kinder in die Sekundarstufe I. In Südhessen gibt es zwar mehr integrative Klassen, aber es gibt kein Gefälle Stadt-Land. Es wird sich ähnlich entwickeln wie in Dänemark. In Hessen gibt es eine mächtige gesellschaftliche Mehrheit und einen gesellschaftlichen Konsens, die Integration weiter zu entwickeln, so wie es in Skandinavien der Fall ist. Ich hoffe, wir werden uns in der Verteilungsdiskussion durchsetzen, weil dies ein Bereich ist, der die Schule im echten Sinne reformiert, menschlicher und humaner gestaltet.

Auszüge aus den Ausführungsbestimmungen zum Hessischen Schulgesetz

§ 4: Ziele des gemeinsamen Unterrichts

Der gemeinsame Unterricht soll Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ermöglichen, zusammen mit den Schülerinnen und Schülern ohne diesen Förderbedarf die allgemeinen Schulen wohnortnah zu besuchen. Allen Schülerinnen und Schülern, die am gemeinsamen Unterricht teilnehmen, sollen durch diese Form des Unterrichts über kognitives und emotionales Lernen hinaus erweiterte soziale Lernerfahrungen ermöglicht werden.

Räumliche und sachliche Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht:

(1) Sonderpädagogische Förderung kann in der allgemeinen Schule stattfinden, wenn die Schule räumlich und sachlich, insbesondere mit apparativen Hilfsmitteln und besonderen Lehr- und Lernmitteln, so ausgestattet ist, daß der sonderpädagogische Förderbedarf der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers angemessen berücksichtigt werden kann.

(2) Soweit zusätzliche Baumaßnahmen und Sachleistungen erforderlich werden, ist die Zustimmung des Schulträgers notwendig; es muß gewährleistet sein, daß die Bau- und Sachleistungen rechtzeitig erbracht werden.

§ 6: Personelle Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht

(1) in Klassen mit gemeinsamem Unterricht können bis zu drei Schülerinnen oder Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen werden. Der Höchstwert dieser Klasse beträgt in der Regel 20. Für die Vorklassen soll der Höchstwert 18 für die Klassenbildung nicht überschritten werden.

(2) Für die Klasse sind je nach Art und Umfang des Förderbedarfs folgende zusätzliche Lehrer- und Erzieherstunden vorzusehen:

- bei einem Kind fünf bis zehn Wochenstunden,

- bei zwei Kindern acht bis sechzehn Wochenstunden.

- bei drei Kindern zwölf bis vierundzwanzig Wochenstunden.

Das Regierungspräsidium kann in begründeten Ausnahmefällen einer Überschreitung der Zahl der zusätzlichen Stunden zustimmen.

Interview mit dem bildungspolitischen Sprecher der F.D.P.-Fraktion im Hessischen Landtag, Heiner E. Kappel.

Die F.D.P. ist wie auch die CDU- für eine Stärkung der Sonderschule und einen Abbau des Integrationsmodells an Regelschulen. Begründung:

"Es gibt keine Lehrer mehr, also ist die Versorgung der Schulen mit zusätzlichen Sonderschullehrern nicht mehr möglich. Der Markt ist nahezu erschöpft. Die Sonderschulen ihrerseits brauchen aber auf jeden Fall dringlich weiter Lehrer, weil die Gruppen zu groß, die Behinderungsgrade bei vielen stärker sind und anderes mehr. Von da aus gesehen, ist das Integrationsmodell materiell nicht realisierbar."

Will die F.D.P. den "Gemeinsamen Unterricht" wieder auf Null fahren?

Heiner Kappel, der bildungspolitische Sprecher, verneint. Die bisherigen Programme bis Ende der Grundschule könnten weiterlaufen. Dennoch sind sie in seinen Augen verzichtbar, weil auch die Sonderschule den Auftrag hat, die Kinder auf die Regelschule vorzubereiten. "Also muß der Weg von der Sonderschule durch intensive Hilfe in die Regelschule gehen."

Ähnlich wie die CDU will die F.D.P. die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Schulformen verbessern: "Das kann von gemeinsamen Veranstaltungen bis zu Lerneinheiten gehen, das kann auch so laufen, daß Sonderschulzweige an den Regelschulen eingerichtet werden."

Welche Kritik übt die FDP an den bisherigen Integrationsmodellen?

Die Wahlfreiheit der Eltern habe nur Gültigkeit "solange der Vorrat reicht ", der Übergang von der Klasse 4 auf weiterführende Schulen sei nicht garantiert.

Behinderte Kinder würden nicht tatsächlich integriert "sondern durch den Leistungsanstieg und die Vorbereitung auf die nachfolgende Schulform in die Ecke gesetzt. Das heißt, gemeinsam in einer Klasse und tatsächlich doch nicht. Von daher bleibt dies Modell ein wenig mehr im Schein denn im Sein."

Sieht die F.D.P. denn keine Vorteile für die Gesellschaft und die Kinder, wenn Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam unterrichtet werden?

"Wenn man unbegrenzte Mittel hätte, dann ließe sich sicherlich manches machen", meint Heiner E. Kappel, aber er sieht dennoch die pädagogischen Grenzen. "Ich bin nicht der Meinung, daß die Menschen von der Umwelt geschaffen werden. Es gibt leistungsstarke, fähige, hoch intelligente Kinder, denen man anders begegnen muß als den Behinderten. Die Doppelbesetzung ist nicht immer garantiert, es gibt viele Notlösungen, Mangel an Bereitschaft und innerer Offenheit. In der Therorie wird gesagt, jedes behinderte Kind kann in der Regelschule dabei sein. Aber dann muß eine Pädagogik so verdreht, so völlig verändert werden, daß sie mit der derzeitigen nahezu nichts mehr zu tun hat."

Hat der bildungspolitische Sprecher der FD.P. Angst davor, daß der "Gemeinsame Unterricht "Motor einer Veränderung innerhalb der Schulen und der bisherigen Pädagogik sein könnte?

Nach seiner Meinung ist unsere Gesellschaft noch immer auf Leistung aufgebaut. Wer die Leistung verteufele, der habe nicht nachgedacht. "Der Leistungsstarke ist meiner Ansicht nach dringend notwendig. Wenn ich keinen habe, der leistet und produziert, kann ich den nicht bezahlen, der Hilfe braucht."

Befürchtet die F.D.P., daß Kinder, die mit Behinderten zusammen lernen, in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden?

"Na, ich will nicht sagen, Leistung geht verloren, sondern eine bestimmte Leistungsfähigkeit ist nicht zu erreichen. Zum Beispiel das rein wissenschaftliche Arbeiten und damit das Leisten. Der naturwissenschaftliche Bereich braucht Höchstleistungen, um etwas Neues zu entdecken. Diese Fähigkeiten erreiche ich nur, wenn ich von vornherein auch auf Förderung der Begabten setze."

Wer ausschließlich auf die Förderung der Begabten setzt, muß die Behinderten im Schulsystem ausschließen.

"Nein, das habe ich nicht gesagt," antwortete der bildungspolitische Sprecher der der F.D.P., "Es gibt Lebensformen, wo man sehr wohl gemeinsam lebt. Im Kindergarten sehe ich überhaupt kein Problem. Aber der Bereich des Lernens ist etwas anderes, da geht es ja nicht um Leben und Erleben, sondern um Förderung der geistigen Fähigkeiten. Das bedeutet: die Stärkeren und die Schwächeren fördern. Dafür reicht eine Schulform nicht aus."

Kommentar:

Diese deutliche Stellungnahme für das traditionelle, an Leistung orientierte Schulsystem war überraschend, da auch die F.D.P. bisher nur argumentierte, daß die behinderten Kinder in der Regelschule nicht angemessen gefördert würden und deswegen die Sonderschule der bessere Weg wäre. In den öffentlichen Erklärungen vermied man es bisher, von Seiten der CDU und der F.D.P., die Behinderten als "Bremsblöcke" der Begabten zu bezeichnen. Eltern aus allen Parteien haben behinderte Kinder und wünschen sich eine Integration in Schule und Gesellschaft. Diese potentiellen Wähler darf man nicht verlieren. Inge Velte von der CDU sagte deswegen:

"Interessanterweise sind die ersten Anregungen für den "Gemeinsamen Unterricht" von Eltern der Mittel und Oberschicht ausgegangen, die ein behindertes Kind hatten und die ein Stück Normalität gewinnen wollten. Und so ist eine Gemeinschaft entstanden, die für einen integrativen Unterricht kämpft."

Und so wird es bleiben, egal welche Bedenken die einzelnen Parteien vorbringen, Behinderte können nicht mehr völlig ausgegliedert werden, das Schulsystem wird sich verändern und es muß sich verändern, wie andere Lebensbereiche auch.

Interview mit Inge Velte MdL, Vorsitzende des Arbeitskreises Sonderschulen der CDU Hessens

Inge Velte ist eine Gegnerin des Gemeinsamen Unterrichts in seiner jetzigen Form. Die Wahlfreiheit der Eltern zwischen Sonder- und Regelschule bezeichnet sie als Etikettenschwindel, weil die gesetzlichen und faktischen Einschränkungen zu hoch seien.

Statt elterlicher Wahlfreiheit will sie Einzelfallprüfung mit Gestattungsanträgen "weil dann dem einzelnem behinderten Kind Rechnung getragen wird." In der Regelschule würden behinderte Kinder teilweise von unausgebildeten Kräften unterrichtet. Unterschiedliche Behinderungen brauchten unterschiedliche Förderungen, dies sei nur in der Sonderschule zu leisten, nicht in einer Regelklasse, schon gar nicht landesweit.

Inge Velte will keine Integration um jeden Preis, aber eine engere Zusammenarbeit der Sonder- und Regelschulen.

"Man kann zum Beispiel Sportunterricht zusammen machen, aber die spezielle pädagogische Seite muß getrennt bleiben und das, was die behinderten Kinder an besonderer Förderung brauchen, muß in den dafür speziell eingerichteten Schulen, von speziell ausgebildeten Lehrern erfolgen. Man kann nicht alles verwischen."

Trennung in einzelne Schulformen ist nach ihrer Meinung besser als die sogenannte "Binnendifferenzierung", wo drei behinderte Kinder in einer Ecke sitzen und 17 nichtbehinderte Kinder in der anderen. Damit würde keine Integration hergestellt.

"In einer Sonderschule wird ein behindertes Kind immer in einem Bereich ein Erfolgserlebnis haben, in der Regelschule wird es das Letzte sein, immer eine Sonderstellung haben, es wird empfinden, daß es nicht kann, was die anderen können".

Inge Velte möchte, daß man zwischen den Behinderungen differenziert. Blinde und taube Kinder zum Beispiel müßten in einer Sonderschule auf die Welt der Sehenden und Hörenden vorbereitet werden. Auch körperbehinderte Kinder könnten sich in der Regelschule zurechtfinden, nicht aber die geistig Behinderten, die brauchten eigene Lehrpläne und spezielle Therapien.

Inge Velte ist außerdem der Meinung, daß der "Gemeinsame Unterricht" mit der dazu notwendigen Lehrerausstattung zu teuer ist.

"Es muß erstmal der reguläre Unterricht nach Stundentafeln abgedeckt werden, bevor wir uns Dinge leisten, die vielleicht wünschenswert - aber nicht bezahlbar sind."

Auf die Frage, ob es um die Finanzen oder ob es um eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Gemeinsamen Unterricht geht, sagte Inge Velte:

"Es ist beides. Es wird in manchen Fällen möglich sein, mit einer entsprechenden Ausstattung den Gemeinsamen Unterricht zumindest im Grundschulbereich zu machen. Aber dann muß gewährleistet sein, daß das behinderte Kind so gefördert wird, wie es in einer entsprechend ausgestatteten Sonderschule gefördert würde. Dies aber kann in der Regelschule kaum geleistet werden, weil in der Klasse ja meistens Kinder mit verschiedenen Behinderungsarten von einem Lehrer unterrichtet werden, der nur für eine bestimmte Fachrichtung ausgebildet ist. Einem Kind, aber nicht allen dreien kann er gerecht werden."

Ein weiteres Problem ist für Inge Velte der Übergang in eine weitergehende Schule. Wenn der nicht gelingt, sei es für die Eltern nur schwer verkraftbar, ihr Kind doch wieder auf eine Sonderschule zu schicken. Deswegen müsse man sich überlegen, ob mit dem "Gemeinsamen Unterricht" nicht Hoffnungen geweckt würden, die man nicht einlösen könne.

"Wenn dieser Gemeinsame Unterricht mit den leichter behinderten Kindern noch verstärkt wird, dann werden die Sonderschulen mit der Zeit zu Restschulen für Schwerstbehinderte. Und da im Moment der Gemeinsame Unterricht bei der Versorgung mit Sonderschullehrern bevorzugt wird, ist die Gefahr umso größer, daß die Sonderschulen ihren Auftrag immer schlechter erfüllen können. Die Grundversorgung der Sonderschulen muß Vorrang haben vor anderen Dingen, auch vor dem Gemeinsamen Unterricht."

Nach ihrer Meinung ist es notwendig, das Gesetz wieder zu ändern, die absolute Wahlfreiheit, die den Eltern nur vorgegaukelt würde, zu ersetzen durch Einzelfallprüfung mit Gestaltungsanträgen, "weil dann dem Kind Rechnung getragen wird. Für viele Kinder wird es nach wie vor besser sein, für ihre persönliche Entwicklung, wenn sie in einer Sonderschule betreut werden, die jenen Anforderungen entspricht, die genau diese Kinder brauchen."

Inge Velte zweifelt daran, daß sich durch den "Gemeinsamen Unterricht" das soziale Verhalten der Nichtbehinderten verändert. Sie zitierte den Leiter einer Sonderschule, der ihr einmal gesagt hatte: "Man darf nicht unbedingt die Behinderten zum Transmissionsriemen für die Toleranz in der Gesellschaft machen."

4. Schule - wohin?

Foto: Drei Kinder sitzen gemeinsam an einem Tisch und schreiben (Beschriftung von bidok eingefügt)

Richard Meier: Grundsätze einer "neuen Schule" vom Kinde aus gedacht

Wenn Sie diesen Text lesen und dabei den Eindruck gewinnen:

"Der schreibt sich mit einer Utopie den Frust vom Leib."

Dann bedenken Sie bitte zwei Tatsachen:

1. Tatsache: Wir brauchen dringend eine Utopie der Schule.

2. Tatsache : Es gab und gibt solche Schulen.

"Schule wohin?" - Eine Frage, die zu jeder Zeit hartnäckig zu stellen ist.

Diese Frage wird aus unterschiedlichen Interessen gestellt.

Eine regierende Partei stellt sie, um ihre Interessen und Ideologien durchzusetzen. Eltern stellen diese Frage vor allem im Interesse ihres eigenen Kindes. Lehrerinnen und Lehrer stellen sie, um einem Konzept, einer Idee Nachdruck zu verleihen und um sinnvolle und wirksame Arbeitsbedingungen zu sichern.

Politisch engagierte Menschen stellen sie, um die Aufgaben der Schule und ihre sinnvolle Entwicklung zu sichern, wenn die Schule in knappen Zeiten zum Spielball des Spareifers zu werden droht.

Diese Frage muß immer und immer wieder gestellt werden. Schule ist ein Teil der Gesellschaft. Der Satz: "Jede Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient" mag eine komplizierte Beziehung verkürzen, aber er weist auf einen Zusammenhang, der uns alle als politisch bewußt lebende und handelnde Menschen verpflichtet, diese Frage immer wieder zu stellen und nach Interessen und Absichten zu fragen, mit denen diese Frage an die Schule gestellt wird.

Schule wohin? Als Schlüsselfrage zur Idee der Integration

Diese Frage muß in Verbindung zur "Aufgabe Integration" mit besonderem Nachdruck gestellt werden. In diesem Zusammenhang gestellt, deckt sie Grundstrukturen, Ängste, Abwehrhaltungen und Wertstellungen in der Gesellschaft auf. Verfolgt man das Ziel, allen Menschen eine lebenswerte und humane Lebenssituation zu sichern, ist diese Frage gerade in Verbindung zum Gemeinsamen Unterricht aller Kinder und zum gemeinsamen Leben in der Schule mit gelassener Hartnäckigkeit zu stellen.

Wie tief die Frage in Verbindung zur Integration greift, welche Erschütterung sie auslöst, zeigt diese Begebenheit:

Es ging um die Frage, ob ein behindertes Kind nach dreijähriger gemeinsamer Kindergartenzeit mit allen Kindern der Gruppe zusammen in die Grundschule eingeschult werden kann. Die Eltern und die politischen Gremien der Gemeinde hatten zugestimmt. Der Kultusminister hatte abgelehnt. Alle Möglichkeiten der Einflußnahme waren ausgeschöpft. Als letzte Hoffnung ging der Fall an den Petitionsausschuß des Landtages. Beim Besuch des Bittausschusses vor Ort gewann die Mehrheit der Gruppe den Eindruck, daß in diesem Fall ganz selbstverständlich alle Kinder gemeinsam in das erste Schuljahr kommen sollten. Dieser Absicht trat der anwesende Staatssekretär mit dieser Aussage entgegen:

"Meine Damen und Herren, was immer sie beschließen, sie müssen wissen, der Kultusminister wird den Antrag wieder ablehnen. Stellen sie sich vor, was dieser Schritt bedeuten würde. Ein kleines behindertes Kind würde unser bewährtes, dreigliedriges Schulsystem zum Kippen bringen." Er hat recht, der Herr Staatssekretär.

Die Frage: "Schule wohin?" in Verbindung mit der Idee des Gemeinsamen Unterrichts, ja des gemeinsamen Lebens stellen heißt, nach den Wurzeln und Gründungen unserer Gesellschaft zu fragen. Ich will hier diesen Gedanken nicht weiter verfolgen, nur auf ihn hinweisen und damit einen Erklärungsansatz bieten zur Erfahrung, daß ein Teil der Menschen, die mit Integration befaßt werden, so heftig und elementar reagieren. Offensichtlich wirken wir in einem Bereich, der Grundfragen der Gesellschaft berührt.

Eine neue Situation braucht eine neue Schule

Wir stehen heute in einer Situation, die sich als Aufgabe so noch nicht gestellt hat. Die sozialen, wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und damit politischen Veränderungen der letzten fünfunddreißig Jahre haben einen weitgreifenden und grundlegenden Wandel der Lebens- und Weltverhältnisse erzeugt. Wir stehen vor der Frage, ob und wie es unter Schonung der Umwelt und auf friedliche Weise mit der Welt weitergehen soll.

Kinder sind von diesem Wandel auf besondere Weise betroffen. Sie wachsen in einer anderen Lebenswelt auf, sie werden andere Kinder. Vor etwa zehn Jahren beginnend, ist dieser Wandel an vielen Stellen und mit unterschiedlichen Perspektiven beschrieben worden. Es scheint mir nicht sinnvoll, diese teils allgemein dargestellten, teils sorgfältig erforschten Wandlungen der Lebenswirklichkeit hier nochmals zu skizzieren.

Ich greife nur zwei konkrete Beispiele heraus, die ich direkt und bewußt mit der schulischen Situation verbinde. Daraus ziehe ich Schlüsse, die helfen, eine heute angemessene Antwort auf die Frage: "Schule wohin?" zu entwickeln.

Zwei Beispiele der Wandlung

Erstes Beispiel: Kinder brauchen Bewegung.

Körper, Seele und Geist der Kinder und Jugendlichen entwickeln sich nur auf gute Weise, wenn sie, mit den Impulsen ihres bewegten Körpers angeregt, sich selbst und die Welt erkunden und gestalten können. Noch vor fünfunddreißig Jahren konnte man mit wenigen Ausnahmen Kinder für vier und fünf Zeitstunden im Unterricht auf ihrem Platz festhalten. Diese Kinder hatten damals auf dem Schulweg, bei selbst gestalteten Spiel in der Gruppe "auf der Gasse" und auch bei körperlicher Arbeit Gelegenheit, sich die Bewegung zu verschaffen, die sie brauchten. Kinder heute haben zu wenig Bewegung, sie werden transportiert, sie sitzen vor der Bildschirmwirklichkeit, sie bewegen sich, wenn schon, nach der Anweisung von Spezialisten, die nur ganz bestimmte Bewegungen zu ganz bestimmten Zwecken zulassen und üben.

Daraus ist zu schließen:

Es ist weder sinnvoll, noch im Grunde möglich, Kinder heute in der Schule während des Unterrichts auf ihren Plätzen festzuhalten. Ein ganzer Teil der Aggression, die sich in den Pausen auslebt, stammt aus diesem Festhalten des Körpers. Kinder müssen sich im Unterricht auf selbstverständliche Weise bewegen können, weil dies ihr Körper verlangt. Kinder, die sich mit Maß und Regel im Unterricht bewegen können, lernen intensiver, weil sie Bewegung brauchen und weil junge Menschen mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen auf intensivste Weise lernen.

Zweites Beispiel: Kinder müssen zusammen leben können

Nach der Erledigung der Hausaufgaben gingen die meisten Kinder früher zum Spielen "auf der Gasse". Ganz selbstverständlich trafen sie dort eine Gruppe von Kindern. Hier, und eingegliedert in die Gruppe der eigenen Geschwister, hatten sie Gelegenheit, soziale Situationen zu erleben und zu gestalten und ihre eigenen sozialen Fähigkeiten zu üben. Heute sind viele Kinder isoliert. Sie haben keine Geschwister, im Wohnviertel finden sich nur wenige Kinder. Diese Kinder sind mit ihren nachmittäglichen Verwertungsterminen verplant und nicht spontan zu erreichen. Kinder brauchen aber zur sozialen Entwicklung dringend wechselnde und selbst gestaltete soziale Kontakte. Sie sind in Gefahr, auf sich selbst und die sie ständig steuernden Erwachsenen verwiesen zu bleiben, wenn sie nicht Gelegenheit haben, ihre sozialen Fähigkeiten in einer Kindergruppe zu entwickeln.

Daraus ist zu schließen:

Die Schule muß den Kindern heute Gelegenheit geben, in den Klassen, in der Schulgemeinschaft, in spontan sich bildenden Gruppen die sozialen Erfahrungen zu machen, die ihnen in anderen Lebenssituationen nur noch selten offen stehen.

Schule wohin? Schule als Lebenswelt

Vielleicht geht es Ihnen wie mir. Vielleicht faßt Sie ein leichtes Grausen vor dieser Perspektive. Soll die Schule nun zum zentralen Lebensort und zur bestimmenden Lebenswelt der Kinder werden?

Diese Frage ist wichtig, sie benötigt zumindest drei Antworten.

Erste Antwort:

Schule war schon bis jetzt eine sehr wesentliche Lebenswelt der Kinder. Dies ist so, weil ein großer Teil der prägenden Erfahrungen wie Umgang mit Kindern und Erwachsenen, Einordnung in das soziale System, Lernen, Erfahrungen von Können und Nichtkönnen in der Schule sich intensiv und lebenslang prägend vollziehen. Auch aus diesem Grund müssen wir der Schule, ihren Wirkungen und Zielen, ihren Methoden, Inhalten und Ausstattungen mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung widmen, als dies in der Regel heute der Fall ist.

Zweite Antwort:

Es ist und bleibt die Aufgabe jeder Gesellschaft, die Schule so zu gestalten, daß sie für die nächste Generation eine gedeihliche Situation bietet. Zur gedeihlichen Situation aber gehörte auch schon vor dem großen Wandel, daß den Kinder Bewegung möglich ist. Bewegung des Körpers, der Seele, des Geistes. Sie lernen eindrucksvoll und nachhaltig, wenn der ganze Körper beteiligt ist. Sie sind vor allem in der Schule - vor allen Inhalten - am Umgang mit den anderen Kindern interessiert. Die Forderung nach Bewegung und Zusammenleben in der Schule ist nicht nur aktuell drängend, sie entspricht auch den Grundbedürfnissen der Kinder, die - zu unser aller Ungunsten - bisher in Schule und Unterricht meist unterdrückt wurden und werden.

Dritte Antwort:

Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen haben uns tatsächlich in eine Situation gebracht, in der wir dieses Argument prüfen müssen:

Wenn schon die außerschulische Welt der Kinder sich so verändert hat, ist es dann nicht sinnvoll und notwendig, die Schule selbst so umzugestalten, daß sie ihre Reformideen (zum Beispiel Bewegung und Zusammenleben) tatsächlich auf der ganzen Breite umsetzen kann, ist es dann nicht sinnvoll und notwendig, daß die Schule selbst zu einer Lebenswelt wird, in der Kinder sich wirklich bewegen können mit Körper, Seele und Geist. Müssen wir nicht eine Schule schaffen, in der die Kinder wirklich friedliches Zusammenleben einüben können?

Ich bin in dieser heute bestehenden und sich weiter entwickelnden Situation der Auffassung, daß die Schule zumindest für eine Grundschulzeit von sechs Jahren den Kindern eine Lebenswelt bieten muß, in der sie angeleitet und betreut intensiv arbeiten, in der sie aber auch spontan und selbst gestaltend sich bewegen und zusammen leben können. Für dieses Ziel sehe ich drei große Aufgaben die sich der Schule stellen.

Drei Aufgaben in einer veränderten Lebenssituation

Wollen wir die Schule zu einer gedeihlichen Lebenswelt gestalten, stellen sich diese Aufgaben:

  1. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen in der Schule sich selbst "Wollen" und "Können" aktiv erarbeiten.

  2. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen Zeit, Raum und Gelegenheit haben, sich zusammen mit den Erwachsenen einen Lebensraum Schule zu schaffen und wirklich zusammen zu leben.

  3. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen in der Schule zusammen mit den Erwachsenen Menschenbildung gestalten.

An diesen drei Aufgaben versuche ich nun, auf die Frage "Schule wohin?" eine etwas weiterführende Antwort zu geben. Dazu erläutere ich jede dieser Aufgaben und versuche sie mit Beispielen lebendig zu machen.

1. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen in der Schule sich selbst "Wollen" und "Können" aktiv erarbeiten.

Erläuterung:

Menschen müssen lernen. Jede Generation muß neu und original lernen was sie braucht und was ihr die vorhergehende Generation als Aufgabe zu lernen gibt. Über die Inhalte, Ziele und Methoden der Lerngegenstände kann man trefflich streiten. Im Zusammenhang mit der Frage nach Aufgabe und Entwicklung der Schule ist dies auch notwendig. Die Inhalte werden wechseln und sich weiter entwickeln, ihre immer weiter getriebene Anhäufung ist sinnlos und tötet das Leben des Unterrichts. Schule und Lehrer sind in Gefahr (dies besonders in der Sekundarstufe) sich hinter dieser Menge an Inhalt zu verstecken und zu erklären, Veränderungen seien nicht möglich, weil doch der Stoff...

Ich setze dagegen:

Die nächsten Generationen werden nur bestehen, wenn die Methode und der Sinn des gemeinsamen Lernens vor die Menge der Inhalte geordnet werden. Es ist letztendlich nicht wesentlich, wieviel ein Mensch in der Schule lernt. Wesentlich ist, daß er "Wollen" und "Können" entwickelt.

"Wollen entwickeln" heißt, die Kinder müssen das Lernen, die Lernarbeit zu ihrer eigenen Sache machen und diese eigene Sache aus eigenem Interesse betreiben. Das können sie nur, wenn diese Bedingungen gegeben sind:

  1. Lernende brauchen Zeit zur wiederkehrenden Versenkung in den Gegenstand.

  2. Lernende müssen Gelegenheit haben, sich zumindest teilweise die Gegenstände des Lernens nach ihren Interessen zu wählen.

  3. Lernende brauchen Zeit und Hilfe, sich vor allem Methoden des Lernens anzueignen.

  4. Lernende brauchen die Aufgaben und die Form der Anleitung, die jetzt für sie individuell und in kleinen Gruppen passend sind.

  5. Lernende Menschen brauchen Anerkennung ihrer Lernarbeit, die möglich wird, wenn sie passende Hilfen und passende Aufgaben erhalten.

Zur Illustration ein Beispiel:

Ein Kind wird in das erste Schuljahr eingeschult. Es trifft auf viele Kinder, in deren Lebenswelt Bücher und Lesen eine wesentliche Rolle spielen. Auf Anregungen der Lehrerin hin beginnen viele Kinder, erste kurze Texte zu schreiben. Die Texte werden von Woche zu Woche differenzierter und länger. Die teilweise für Erwachsen abenteuerlich wirkende Rechtschreibung behindert das Lesen der Texte nicht und entwickelt sich zunehmend in Richtung der eigenartigen Regeln, die ihr historisch gegeben wurden. Dieses Kind aber kommt aus einer anderen Welt. Hier spielten Bücher, Lesen und Schreiben keine Rolle, hier ging es um Überleben im elementarsten Sinn. Die Lehrerin erkennt die Situation, sie hat Mut und Kraft, mit diesem Kind abzuwarten, Zeit einzusetzen, andere für dieses Kind wirksame und seine vorhandenen Fähigkeiten fordernde Aufgaben zu finden. Sie erlaubt dem Kind ohne jeden Vorwurf, den anderen zuzuschauen bei der Textarbeit und sich an den gelesenen Texten zu erfreuen. Nach sieben Monaten beginnt dieses Kind zu schreiben, seinen Namen, fremd und anders klingend, einzelne Worte aus einer fernen Welt. Nach zwei Jahren ist dieses Kind während der Freien Arbeit meist in der Leseecke zu finden. Zeit gaben ihm die Lehrerin und die durch sie garantierte Situation. Interesse gaben ihm die anderen Kinder. Das Wollen und Können hat dieses Kind selbst entwickelt.

Können wird sehr häufig verwechselt mit Stoffwissen.

Wer viel weiß und in möglichst kurzer Zeit loswird, gilt als - ja was? - als Wisser? - als Könner? - oder gar als gebildeter Mensch? Können ist abhängig vom Wollen. Können entwickelt sich, wenn beschreibbare Grundfertigkeiten und anwendungstaugliche Wissensbestände in strukturierten (sinnvoll geordneten) Zusammenhängen zur Verfügung stehen. Können ist aber vor allem abhängig von der Entwicklung der Methoden. Lernende, die sich durch selbständige Arbeit Methoden aneignen, werden Vertrauen zu sich fassen und immer wieder diese Methode nutzen, sie in der Anwendung üben und damit weiter entwickeln. Wer über einen wohl geordneten Bestand an Methoden einfügt, kann sich mit den unterschiedlichsten Gegenständen einlassen und traut sich dies auch. Diese Methoden schließen ihm die neuen Gegenstände auf. Der Mensch wird, wenn er über Methoden verfügt, im Lernen und in der Arbeit selbständig und selbstbestimmt.

Können entwickelt sich, wenn diese Bedingungen gegeben sind:

  1. Die Methode muß zum Gegenstand des Lernens gemacht werden. Sie muß dazu gemeinsam und individuell auf bewußte Weise entwickelt werden.

  2. Methoden werden nur wirksam, wenn sie in mehreren, oft zahlreichen Durchgängen erfahren, eingeübt, gesichert und variiert werden. Daher ist für die Einübung der Methoden Zeit, gelassene Zeit und ein gegeigneter Gegenstand notwendig.

  3. Der Gegenstand ist geeignet, wenn er in den Horizont dieses Kindes paßt. Daher braucht jedes Kind (wie bei der Entwicklung des Wollens) seine Zeit und seinen Gegenstand, seine Aufgabe.

  4. Können entwickelt sich, wenn der Gegenstand und die Methode möglichst selbständig erworben aber auch mit Hilfe der anderen Kinder und der Erwachsenen erschlossen wird.

  5. Können entwickelt sich nur, wenn das Kind in möglichst vielen Fällen die Bedeutung seines Könnens und den Erfolg seines Wollens konkret erlebt und die Frucht des Mühens auch nutzen kann.

Zur Illustration ein Beispiel.

Die Kinder mühen sich redlich, einfach ist die Sache Flächenberechnung wirklich nicht. Viele haben sich das Verfahren, das zeigt ein "Test", nur mechanisch ("Länge mal Breite") gemerkt und wenden diese Verfahren auch an, wenn die Aufgabe, meist etwas hintertückisch formuliert, anderes verlangt. In der Klasse ist im Materialschrank ein Karton mit verschiedensten Rechenmaterialien verstaut. Die Lehrerin hat diese Klötzchen, Plättchen und gekerbten Stangen am Schulanfang benutzt. Die Kinder sollten über verschiedene Darstellungen und Mittel einen Zugang zur Zahlstruktur gewinnen. Jetzt geht alles auswendig und das Material ist im Schrank verstaut. Jerko hilft eines Tages, den Schrank auszuräumen, um für neue Materialien Platz zu schaffen. Dabei stellt er den Karton mit dem "Mathematerial" auf einen Tisch und schaut neugierig hinein... In den nächsten Tagen befaßt er sich, mit der Lehrerin abgesprochen, sehr intensiv mit diesem Material. Für die Lehrerin plötzlich kann er den Vorgang der Flächenberechnung verstehen und entsprechende Aufgaben lösen. Sie fragt ihn nach dem Weg seiner Einsicht. "Einfach", sagt Jerko, "auf den Platten mit den Schnitten kann man das sehen. Es sind immer soviel Reihen mit soviel Klötzchen und dann weiß man, wieviel das im Ganzen sind." Vielleicht bräuchten Sie jetzt auch diese Platten mit den Schnitten (das ist eine Tafel aus Holz, auf der Quadrate durch Einschnitte abgeteilt sind), um Aussage und Vorgang zu verstehen?

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der ersten Aufgabe "Entwicklung von Wollen und Können aktiv erarbeiten" für die Schule?

Jedes Kind braucht seinen eigenen Lernprozeß in dem es, auf selbstverständliche Weise in seiner Leistungsbereitschaft gefordert, sein Wollen entwickelt und sein Können erarbeitet. Wenn der größte Teil des Unterrichts im gleichen Takt verläuft, die Gegenstände schnell wechseln, die Methoden nicht einsichtig gemacht werden und der Stoff sich häuft, kann das lernende Kind nicht aktiv werden. Deshalb muß ein wesentlicher Teil des Unterrichts differenziert entwickelt werden. Jedes Kind muß an gleichen oder verschiedenen Aufgaben seinen Weg gehen, dazu muß es geeignete, das heißt diesem Kind entsprechende Aufgaben haben. Dazu braucht es Zusammenarbeit und Hilfe von anderen Kindern. Dazu muß es Gelegenheit haben, sein Können an andere Kinder weiterzugeben. (Es gibt keine bessere Sicherung des eigenen Lernens und der Übung als die, anderen etwas "beizubringen"!) Dazu braucht jeder Mensch, nicht nur Kinder, Bestärkung, Zeit, Prüfung, Beratung und Bestätigung. Bestätigung aber läßt sich nur aus Erfolgen gewinnen. Erfolg ist nur möglich, wenn die gestellten Aufgaben für diesen Menschen passen. Daher muß Schule im ständigen Wechsel zwischen gemeinsamer und individueller Arbeit den Kindern Gelegenheit geben, ihre eigenen und ihre gemeinsamen Wege des Lernens zu gehen. Daß diese differenzierte Situation Grundlage integrativer Arbeit ist, sei hier nur erwähnt.

2. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen Zeit, Raum und Gelegenheit, haben, sich zusammen mit den Erwachsenen einen Lebensraum Schule zu schaffen und wirklich zusammen zu leben.

Erläuterung

Die eingeschränkte, mit Bedeutsamkeit aufgeladene Lebenswirklichkeit der Schule

Schule war seit ihrer Gründung in einem eingeschränkten und besonderen Sinn Lebenswelt der Kinder. Diese Lebenswelt hatte für alle Betroffenen wesentliche Bedeutung, die in vielen Biographien lebenslang nachwirkt. Hier kamen und kommen Kinder mit einer offiziellen Welt von besonderer Bedeutung in Berührung. Das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern vor allem zeigt ihnen, daß dieser Einrichtung große Bedeutung zugemessen wird. Hier fanden und finden die Kinder neue Anlässe der Anerkennung, aber auch andere Gründe der Ablehnung. Hier erlebten und erleben sie Erfolg und Versagen unter den Blicken einer bis jetzt weniger erfahrenen Öffentlichkeit. Diese Vorgänge, Einschätzungen, Zeugnisse finden bei den meisten Kindern hohe Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Schule war und ist für das Kind und gesellschaftlich sehr wirksam. Die eigene Atmosphäre und Richtung, die Schulerfahrungen haben, bezieht ihre Wirkung vor allem aus der einseitigen Ausrichtung auf Gehorsam, Einschränkung und Lernarbeit in wechselnden Bereichen und kleinen Portionen, deren Sinn sich oft nur über das Wohlwollen oder Mißfallen erschließt, das die Erwachsenen zeigen, wenn sie über Erfolg oder Mißerfolg richten. Nun ist über diese Schule mit ihrer speziellen Wirklichkeit und ihre deutlichen Ferne vom Sinn der Lebenswirklichkeit viel geklagt worden. Heute aber kommt sie zu einer neuen Bedeutung, die sich aus dieser Wandlung der Lebensumstände unserer Kinder entwickelt:

Die Wandlung der Lebensumstände durch Einschränkung der offenen Zeiten und Räume

Während sich die Kinder früher (siehe die Beispiele Bewegung und Zusammenleben oben) wichtige Bedürfnisse außerhalb der Schule erfüllen konnten, schränken sich heute diese Möglichkeiten zum Ausgleich der schulischen Einseitigkeit immer mehr ein. Aspekte der kindlichen Lebenswelten, zum Beispiel das besonders bedeutsame, nicht von Erwachsenen gelenkte Spiel alleine und mit anderen Kinder, haben sich in den letzten Jahren reduziert und verwandelt. Offene Räume und Zeiten für spontanes Tun, Räume und Zeiten zur Versenkung in eine Sache, Gelegenheit zur Spontaneität, zum Trödeln und Sinnieren verschwinden immer mehr. Neben der Schule greifen andere pädagogische Einrichtungen und verschiedenste Fachleute (Nachhilfe, Vereine, Kurse ... ), die Medien und der Pflichtkonsum nach den Kindern und belegen ihre Zeit und Räume.

Die Schule muß heute den Kindern mehr und mehr diese offenen Zeiten und Räume sichern und mit den Kindern gestalten. Dafür nenne ich zwei Gründe:

Erster Grund:

Zusammenleben und Lernen gelingen wesentlich besser, wenn Spiel, spontanes Tun, Versenken in die Sache, Trödeln... neben dem angeleiteten Unterricht zum Bestand der schulischen Lebenssituation gehören. Diese Erweiterung, ja Lebensnähe, haben Pädagogen schon im 19. Jahrhundert und früher gefordert.

Zweiter Grund:

Die Einschränkung der offenen Handlungsräume und Zeiten der Kinder außerhalb der Schule wirkt sich bedrohlich auf die Lebenssituation und Entwicklung der Kinder aus. Ich sehe als Gegensituation nur die Schule. Sie muß um der Kinder willen und für ihren Auftrag des Zusammenlebens und der Menschenbildung diese offenen Räume und Zeiten bieten und durch die Kinder gestalten. Schule muß, das ist eine geradezu den Hohn der ehemaligen Schülerinnen und Schüler herausfordernde Feststellung, eine Wandlung vollziehen, die sie im vollen Sinn zur Lebenswelt der Kinder werden läßt, in der sie gedeihen können. Dazu sind unter anderem diese Bedingungen notwendig:

Bedingungen einer schulischen Lebenswelt

  1. Einen großen Teil des Tages leben die Kinder in der Schule. In dieser Zeit ist Unterricht eine von verschiedenen Formen des Zusammenlebens und des Tuns.

  2. Den Kindern stehen neben der Pflicht des Unterrichts Möglichkeiten des Spiels und der intensiven Auseinandersetzung mit Sache und Situation zur Verfügung. Sie können als Freie Arbeit, als Arbeitsgemeinschaft, als Werkstatt und anders organisiert sein.

  3. Die Kinder haben Gelegenheit, in wechselnden Gruppen zu arbeiten und zu spielen. Damit wird die künstliche und nicht sinnvolle Trennung in die Jahrgangsklassen aufgehoben. Die Gelegenheit, von Älteren und Jüngeren zu lernen, erweitert sich auf natürliche Weise.

  4. Die Kinder werden von einer Gruppe erwachsener Fachkräfte betreut, die den ganzen Tag anwesend sind, verschiedene Fähigkeitsprofile haben und neben Unterricht auch andere Angebote und Betreuungsformen wie individuelle Beratung und Hilfe leisten.

  5. Die Trennung in lehrende und betreuende Menschen wird aufgehoben. Sie ist nicht sinnvoll, ja gefährlich, weil sich daraus eine noch weitergehende Abtrennung von Unterricht und "anderem" und eine weite Hierachie entwickeln wird. Gerade die Lehrenden müssen die Kinder in ihrer gesamten Tagessituation erleben und in der gesamten Situation mit den Kindern umgehen. Dies ist eine Chance, aus der Ghettorolle der Unterrichter und Unterrichterinnen herauszukommen.

  6. Dieser gestaltete Tag bietet die Möglichkeit, Lernarbeit interessanter, mehr auf die Sache, weniger auf das begrenzte Ziel bezogen, differenziert und gelassen zu gestalten.

  7. Die Kinder haben durch diesen gestalteten Tag Gelegenheit, auf unterschiedliche Weise mit vielen Kindern und Erwachsenen zusammenzuleben und differenzierte soziale Erfahrungen zu machen.

  8. Der gestaltete Tag, die Woche und das Jahr sollten durch Rituale, Feste, wechselnde Angebote und Ereignisse gestaltet werden, die den Kindern eine runde Lebenswelt bieten.

  9. Wenn die Kinder nach Hause entlassen werden, sollte die schulbezogene Lernarbeit beendet sein. Hausaufgaben sind nicht mehr nötig.

Zur Illustration ein Beispiel:

An einer ländlichen Grundschule kommen die Kinder gegen 9.00 zur Schule. Sie werden den ganzen Schultag mit ihren LehrerInnen verbringen und zeitweise mit weiteren Erwachsenen arbeiten. Vier gemeinsame Unterrichtsstunden der Stammgruppe sind in zwei Blöcke aufgeteilt. Dazwischen ist Zeit für individuelle Unterweisung und Übung, für Arbeit an eigenen Themen und für Pausen. Die verbleibende Zeit wird auf drei Weisen genutzt:

  • Die Kinder spannen aus, gehen miteinander um.

  • Sie nehmen Angebote verschiedener Fachkräfte auf, die ihnen vor allem Gelegenheit zum Machen und Handeln bieten.

  • Sie nutzen die Zeit, ihre individuelle Aufgabenpensen zu bearbeiten, sich beraten und unterweisen zu lassen. Sie genießen die Sicherheit, daß jemand da ist, Auskunft gibt, ihnen hilft, mit ihnen übt und zuhört.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Ansatz?

Ohne Zweifel ist dieser Vorschlag eine sehr weit greifende Wende. Ich bezeichne sie als soziale Wende und fordere ihre Einlösung. Sozial nenne ich diese Wende, weil sie den Kindern wirklich einen sozialen Raum eröffnet und mit ihnen gestaltet, in dem sie leben können.

Als Ziele werden in Zukunft im Mittelpunkt unserer Arbeit in dieser Reihenfolge ihrer Bedeutung stehen müssen: Friedlichkeit, sozial orientierte Tüchtigkeit, Arbeit und Gestaltung der Lebenswelt. Eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik, kann und muß diese Wende vollziehen, sie kann und muß sich diese Schule leisten. Es gilt der Satz: "Jede Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient."

Daß eine Schule dieses Profils als Lebensraum integrativ sehr wirksam ist, weil sie nicht nur gemeinsamen Unterricht sondern gemeinsames Leben gestattet, ist hier nur erwähnt.

3. Aufgabe: Die Kinder und Heranwachsenden müssen in der Schule zusammen mit den Erwachsenen Menschenbildung gestalten.

Erläuterung:

"Menschenbildung" ist ein eigenartiges und heute zumindest im Schulalltag fast fremd klingendes Wort. Es meint:

Im Prozeß der Entwicklung muß sich der Mensch in einer gedeihlichen Situation auch unter Mitwirkung anderer Kinder und der Erwachsenen selbst bilden. Das heißt, sein Können und Wollen entwickeln, sozial werden, sich selbst in positive Werte und Orientierungen einbinden, diese Werte weiter entwickeln und tatsächlich leben. Häufig wird Bildung mit "viel Wissen" gleichgesetzt. Wissen, geordnetes, in Bedeutungen gebundenes Wissen ist nur eine Komponente im lebenslangen Prozeß der Bildung. Bildung heißt, die erworbenen Könnenbestände und Einsichten so einsetzen, daß sie zum Wohl der Menschen und der Umwelt wirksam werden. Daran wird deutlich, daß Können und Wollen (Aufgabe 1) und Zusammenleben in einer Lebenswelt (Aufgabe 2) notwendige Substanz der Menschenbildung sind. Ohne Zweifel ist diese Aufgabe Menschenbildung eine umfassende und anspruchsvolle Zielsetzung.

Bildung gegen den Verfall der Werte und gegen das Tagesgeschäft

Da sich die Wirksamkeit traditioneller Werte und Orientierungen abschwächt, da Tagesgeschäfte den Ton angeben und viele Eltern ihre Kinder an die Schule abgeben, ist die Diskussion um Werte und Orientierung, ist die Arbeit an dieser Frage der Menschenbildung im Raum der Schule heute unverzichtbar. Wer im Bereich der Schule tätig wird, wer Schule gestaltet, ist dieser Aufgabe heute verpflichtet.

Bedingungen der Menschenbildung

Als Bedingungen der Menschenbildung lassen sich nennen:

  1. Kinder und Heranwachsende müssen in der Schule Wollen und Können aktiv erarbeiten. (Aufgabe 1) Nur so werden sie die Bildungsarbeit an sich selbst leisten können. Wer in der Schule immer von außen angeleitet wird, läßt sich auch außerhalb der Schule anleiten und von andern bestimmen. Er oder sie wird nicht im Sinn des Wortes demokratiefähig werden.

  2. Die Kinder und Heranwachsenden müssen Zeit, Raum und Gelegenheit haben, sich einen Lebensraum Schule zu schaffen. (Aufgabe 2) Das gemeinsame Erlebnis, für die Gestalt der Schule verantwortlich zu sein, in ihr mitwirken zu können, schafft soziales Können und Verantwortung für sich und andere. Wer immer nur angeleitet und beaufsichtigt wird, kann nicht Verantwortung übernehmen und für andere und aus anderen fühlen, denken und handeln.

  3. Die Arbeit der Erwachsenen mit den Kindern an der Aufgabe "Lernen und Leisten" muß eingebunden sein in die gegenseitige Achtung. Wer nur Schülerinnen und Schüler sieht, fördert ein Zweckdenken, das den anderen Menschen zur Ware degradiert. Wer Lehrerinnen und Lehrer nur in der Rolle der Unterrichter und Unterrichterinnen sieht, nimmt ihnen und sich einen wesentlichen Teil der Aufgabe und Würde.

  4. Die in der Schule tätigen erwachsenen Menschen müssen selbst an ihrer eigenen Orientierung arbeiten und mit den Kindern im Alltag des Unterrichts Werte bewußt entwickeln und leben. Dazu ist eine ständige Auseinandersetzung der Erwachsenen mit der politischen Entwicklung und ethischen Fragen notwendig. Vollziehende Unterrichtsbeamte sind für diese Aufgabe nicht geeignet.

  5. Erwachsene müssen sich mit den Kindern immer wieder neu um die Sache und Aufgabe mühen, damit für die Kinder der Wert dieser Sache und Aufgabe und der Wert ihrer persönlichen und gemeinsamen Arbeit und Leistung deutlich wird.

Zur Illustration einige Beispiele:

1. Beispiel: Jeder Mensch ist ein ganzer Mensch oder: Sich mit Lesen und Schreiben bilden können.

Eine Gruppe von zweiundzwanzig Kindern kommt zur Schule. Sie sollen und wollen jetzt zum Beispiel "Lesen und Schreiben" lernen. Diese Kinder haben sehr verschiedene Voraussetzungen. Die beiden beteiligten Lehrerinnen entwickeln ein Arbeitsangebot zum Gebiet "Lesen und Schreiben" oder besser "Schriftspracherwerb" das jedem Kind die Chance gibt, aber auch die Aufgabe stellt, selbst von seiner Situation der Möglichkeiten aus den Weg in diese faszinierende Welt des Lesens und Schreibens zu finden. Für die Lehrerinnen ist dieser Ansatz eine anstrengende, aber auch sehr befriedigende Aufgabe. Für diese Kinder enthält dieser Ansatz die Möglichkeit, sich wirklich auf den Weg zu machen und tatsächlich eine Chance zu haben mit dieser ersten Begegnung und durch ihre Gestaltung ein lebenslang interessierter lesender und schreibender Mensch zu werden. Werden die Kinder, wie dies noch in einem großen Teil der ersten Klassen üblich ist, mit einem gleichschrittigen Lehrgang überzogen, wird sich für einige oder viele die Chance der Bildung mit Lesen und Schreiben gar nicht eröffnen. Da sie große Mühe mit diesem Lehrgang haben, vielleicht sogar daran scheitern, wird sich ihnen Bildung verschließen. Daß ein so differenzierter Ansatz zur Erschließung der Schriftsprache für integrativ arbeitende Klassen unverzichtbare Basis ist, sei hier nur vermerkt.

Zweites Beispiel: Zeit für Menschlichkeit

In der Klasse ist heute eine unruhige, aufgeregte Stimmung. Seit Tagen schwebt etwas, jetzt wird es deutlich. Die Kinder kommen sehr bewegt aus der Pause, sie sammeln sich nur mühsam, sie werfen sich erregte Blicke zu, kurze Wortwechsel sind Spannungsspitzen. Die Lehrerin nimmt diese Stimmung auf, sie verhält einen Augenblick, wendet sich ab und sagt dann, indem sie sich wieder zu den Kindern wendet:

"Ich glaube, wir arbeiten jetzt erst mal nicht an Mathe, wir müssen erst ausdampfen und miteinander reden."

Es folgt eine erregte und langsam ruhiger werdende Aussprache von zwanzig Minuten. Mit einigen Kindern verabredet die Lehrerin noch ein später folgendes Gespräch. Die Situation entspannt sich und die Lehrerin fragt: "Können wir jetzt wieder an unseren Sachen arbeiten?" - "Ja," sagt ein Teil der Kinder und die Arbeit beginnt.

Dieses von manchen so empfundene Zeitopfer, das keines ist und sich sehr lohnt, wenn man so denken will, gibt den Kindern Gelegenheit, in ihrem Zusammenleben eine notwendige Klärung zu leisten und die Situation wieder gedeihlich zu empfinden. Menschenbildung fordert Menschlichkeit zum Beispiel wie in dieser Szene. Die Kinder werden nicht als Unterrichtsklientel zusammengestaucht und an die Arbeit getrieben, sie erleben sich als ernst genommen und als ganze Menschen. So gewinnen sie Sicherheit und Gelassenheit im Auf und Ab der sozialen Situation. So können sie an sich und an ihren Aufgaben arbeiten.

Drittes Beispiel Zeit für Anstrengung

Mitten in einer intensiven Arbeitszeit am Tisch der Lehrerin irgendwo in der Klasse: "Das lerne ich aber noch!" sagt ein kleines Mädchen entschlossen und geht mit ihrer nicht ganz gelungenen Arbeit wieder zurück zu ihrem Platz.

"Na und ob! " sagt die Lehrerein, lacht etwas und wendet sich dem nächsten Kind zu. Zwei Tage später:

"Na prima", sagt die Lehrerin, "das hast du sehr schön hingekriegt. Nimm dir mal den anderen Kasten, da sind leichte und schwere Aufgaben gemischt."

"Ich mache sie auch ganz gemischt", sagt das Mädchen entschlossen, nimmt sich den Kasten und geht zu ihrem Arbeitsplatz.

Diese und ähnliche Szenen lassen sich in einer Kindergruppe oft beobachten, die Gelegenheit hat, an differenzierten, passenden Aufgaben zu arbeiten und die Hilfe der anderen Kinder oder der Lehrerin in Anspruch zu nehmen, wenn das sinnvoll erscheint. Diese Passung der Aufgaben, das reiche und methodisch wechselnd gestaltete Material, die Gelassenheit der Lehrerin (hoffentlich auch der Eltern) und das Umgehen miteinander schaffen eine Atmosphäre, in der fast alle Kinder bereit sind, sich "richtig" anzustrengen. Sie erfahren die Mühe und das Können, auch das Mißlingen und die Zuwendung, so haben sie Gelegenheit Zutrauen zu sich und anderen zu fassen und etwas zu leisten.

Viertes Beispiel: Über sich und andere nachfühlen und nachdenken

Nachdem zwei Kinder erzählt haben, daß sie jetzt bei den Pfadfindern mitmachen, diskutiert die Klasse im Sinn des Wortes über Sinn und Fall der "guten Tat." Ein Kind beschreibt, wie es einer alten Frau geholfen hat, eine sehr befahrene Straße zu überqueren. Dann sagt sie: "Die Frau hat mir dann einen Zehner geschenkt, wenn ich wieder über die Straße helfe, weil ich denke, die gibt mir einen Zehner, dann ist das keine gute Tat." Am Wort Menschenbildung gemessen scheint dies eine sehr kleine Episode. Sie ist aber Menschenbildung, weil eine Situation bedacht wird, weil jemand Stellung nimmt und weil die Beteiligten Gelegenheit haben, sich selbst zu befragen: "Wie würde ich handeln?" Daß die Aufgabe und Arbeit der Menschenbildung in der Schule durch integrativen Unterricht eine neue und höhere Realität erhält, sei hier nicht nur erwähnt, sondern mit Nachdruck betont.

Nur so machen wir einen konkreten Schritt weiter, hinaus aus unserem "bewährten, dreigliedrigen Schulsystem", aus unseren Unterrichtsstunden, aus den Stoffpensen, aus der Abwicklung von Unterricht, aus der Trennung der Kinder durch Zuweisung zu bestimmten Tüchtigkeitsgruppen und hinaus aus der Tüchtigkeit, die für uns alle das Ende werden kann.

Letztes Beispiel: gemeinsam eine Situation gestalten

Alle Klassen der Schule treffen sich regelmäßig am Freitag zur letzten Stunde. Es werden Informationen gegeben, eine Klasse zeigt ein Beispiel ihrer Arbeit, alle Kinder singen zusammen, für die nächste Woche wird ein Vorhaben vorgestellt. Ein Schulfest soll vorbereitet werden. Alle Kinder kennen dieses schöne und wiederkehrende Ereignis. Was werden die Klassen dazu beitragen?

Schulleben, Gemeinsamkeit über die Klassen hinaus zeigt sich in dieser Situation. Man hat miteinander an der gemeinsamen Aufgabe zu tun. Auch die Erwachsenen haben miteinander auf gute Weise zu tun. Die Kinder erleben diese Übereinstimmung in den Absichten und im Verhalten, das schafft Vertrauen und Sicherheit, alle Erwachsenen gestalten Schulleben mit den Kindern zusammen.

Zum Schluß

Dies sind nur Beispiele durch die Menschenbildung möglich wird, in denen Menschenbildung geschieht. Allgemein formuliert ist die Grundlage dieser Bildung so zu sehen: Wollen und Können, Zusammenleben in einem gedeihlichen Lebensraum sind Grundlagen der notwendigen Menschenbildung. Die Frage an welchen Werten man sich orientiert, ist auf Dauer und ohne endgültige Lösung gemeinsam zu bearbeiten. Aber: Orientierung und Werte sind nicht verzichtbar. Die Schule und der Unterricht müssen von einem gemeinsamen Profil der Orientierungen, der Werte, der Regeln und Traditionen getragen sein. Aus diesem Profil heraus sind Schulleben und Unterricht zu gestalten. Alle Erwachsenen müssen sich, gerade in ihren selbstverständlich unterschiedlichen Möglichkeiten des Könnens, ein gemeinsames Wollen erarbeiten. Sie müssen sich in ständiger Arbeit gemeinsamen Zielen verpflichten.

Guter Unterricht und eine für Kinder gedeihliche Schulsituation haben mit Arbeit, Humor, Ideenreichtum und Bescheidenheit zu tun. Dazu ist viel individuelle und soziale Anstrengung notwendig. Jeden Tag und immer wieder an diesen Aufgaben gemeinsam zu arbeiten und in ihnen zu leben, das ist die notwendige Leistung der Kinder und Erwachsenen. Dabei bestimmt ein Paradoxon die Arbeit der Erwachsenen in diesen pädagogischen Zusammenhängen: Sie müssen sich mit ihrer Kraft und Bereitschaft immer wieder diesen Zielen im Bewußtsein widmen, daß sie nicht im vollkommenen Sinn zu erreichen sind.

Ein guter Schluß dieses skizzierten Entwurfes ist:

Eine Schule, in der alle Kinder gemeinsam leben und lernen können, hat eine neue Stufe, eine andere Qualität auf dem Weg zu diesen Zielen erreicht.

Richard Meier, Jahrgang 1937. Zehn Jahre tätig als Volksschullehrer. Seit 1968 am Institut für Schulpädagogik der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt. Mitbegründer des Arbeitskreises Grundschule. Neben der Lehrerbildung (1. Phase) gleichberechtigt in der Lehrerfortbildung tätig. Zentrales Thema der Arbeit: Gemeinsamkeit und Differenz. Erste Erfahrungen mit Integrativen Arbeiten um 1965 im Versuch, langzeitlich kranke Kinder aus Kinderkliniken in Grundschulklassen zu integrieren. Seit 1978 Mitarbeiter an Integrationsarbeit im Kindergarten, seit 1983 im schulischen Bereich. Weitere Arbeitsschwerpunkte. soziale Fragen des Grundschulunterrichts, Sachunterricht, offene Unterrichtsformen.

Klaus Rödler: Schule ohne Aussonderung

Aus dem Konzept der (geplanten) Reformpädagogischen Grundschule Frankfurt am Main

Integration im Regelschulwesen

In Hessen erleben wir derzeit das Scheitern des Versuchs, Integration flächendeckend einzuführen. Dabei schält sich zunehmend die Erkenntnis heraus, daß die Mehrzahl der Schulen - auch bei entsprechender Ausstattung mit Sonderschullehrerstellen und Sachmitteln - nicht in der Lage ist, als Ganzes integrativ zu arbeiten. Das hat Gründe.

Selbst dort, wo einzelne aus Sicht der unmittelbar beteiligten Eltern und LehrerInnen erfolgreich integrativ geführt werden, spricht sich ein Teil der betroffenen Kollegien gegen die Fortführung der Maßnahmen aus. Offensichtlich wird das, was über die I-Kassen in die Schulen getragen wird, von vielen als Bedrohung erlebt, als Verunsicherung oder gar Infragestellung des in der Schularbeit erworbenen Selbstbildes. Drei Punkte möchte ich exemplarisch anschneiden, da sie mit dem gewohnten Selbstbild des Lehrers und der uns vertrauten Vorstellung von Schule zusammenhängen.

Schon der Gedanke an Team-Arbeit setzt Ängste frei. Und dabei geht es nicht nur um die Angst davor, die eigene Arbeit öffentlich zu machen und damit der Kritik auszusetzen, sondern es wird auch als Kränkung empfunden, daß man mit der eigenen Pädagogik nicht mehr der uneingeschränkte Herrscher seiner Klasse ist. Schule ist traditionell das Geschäft eines kompetenten Einzelkämpfers.

Diese Angst ist umso größer, als der sonderpädagogische Blick ja die Aufgabe hat, Akzentverschiebungen im Unterricht ins Spiel zu bringen, also die gefestigte Vorstellung davon, was "guter Unterricht" ist, in Frage stellt.

Vor dem Hintergrund einer einseitig auf Lernzielorientierung und Fachunterricht ausgerichteten Ausbildung und Schulwirklichkeit werden auftretende Schwierigkeiten häufig als persönliches Versagen gedeutet und bedürfen daher umso heftigerer Abwehr.

Bereits bei der Integration lernbehinderter Kinder ist die Notwendigkeit offenkundig, Lerntempo und Lernweg am individuellen Kind auszurichten. Die Integrationsmaßnahme begründet sich ja gerade darin, daß diese Kinder dem Lerntempo der Klasse nicht folgen konnten oder daß sich der angebotene Unterricht für sie nicht als inhaltlich tragfähig erwies.

Nun zeigt sich aber, daß es in jeder Klasse zumindest einige weitere Kinder gibt, die durch die Umgestaltung von Unterrichtselementen ebenfalls von einer individuelleren Pädagogik profitieren. Die ursprünglich auf einige Kinder abzielende Maßnahme stellt also schnell die gesamte bisherige Unterrichtsorganisation in Frage.

Ist man aber in der Arbeit bei einer an der individuellen Entwicklung orientierten Gestaltung des Klassenlebens angekommen, wird offensichtlich, daß die Leistungsbeurteilung durch an einer allgemeinen Norm orientierte Noten obsolet wird.

Fachbezogene Lernzielorientierung, Lernen in Unterrichtseinheiten nach vorgegebenen oder langfristig geplanten Stoffplänen, Lernen in gleichschrittig organisierten Prozessen, die Leistungsvergleich und Benotung zulassen, Lernen unter der Führung eines unumschränkt herrschenden Lehrers, - dies sind tragende Säulen des Schulwesens, und sie passen allesamt nicht zum Ansatz der Integration.

Wie wesensfremd öffentliches Schulwesen in seiner bestehenden Form und Integration sind, wird auch darin deutlich, daß - von Ausnahmen abgesehen - Integration sich auf die Eingliederung solcher Kinder beschränkt, von denen man annimmt, daß sie bei entsprechender Förderung die Lernziele der Gesamtgruppe zumindest in wesentlichen Teilen erreichen und die daher den Grundsatz der Lernzielorientierung des Unterrichts nicht in Frage stellen.

Für diejenigen, die zentrale Lernziele der öffentlichen Regelschule nicht erreichen werden, hat diese Schule keinen Platz. Mit ihnen weiß sie nichts anzufangen. Sie von der "Integration" fast immer ausgeschlossen.

Integration und Grundschulreform

"Vor allem bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende (siehe K.R.) Funktionäre"[30]

Die Regelschule versucht der komplexen Aufgabe, Bildungsprozesse in Strukturen zu fassen, durch bürokratische Organisation Herr zu werden, also über "Zerlegung nach sachlichen Gesichtspunkten" und über Verteilung der Aufgaben auf "spezialistisch abgerichtete Funktionäre", nämlich die Lehrer.

Sie optimiert über Trennung: Trennung nach Begabung, Trennung nach Alter, Trennung nach Fächern. Und für jede Abspaltung hat sie ihre Spezialisten.

Im Unterricht wird das Prinzip der Trennung fortgeführt. Trennung nach Unterrichtseinheiten, Trennung nach Stunden, Trennung nach Schritten und Phasen.

Ganzheit entsteht in dieser Logik auf der Ebene des im Hintergrund stehenden Stoffplans und Fächerkanons, also unabhängig von den Individuen und Einzelsituationen durch eine über allem stehende höhere Instanz, die für eine wohlabgestimmte Mischung der optimierten Teile sorgt.

Integration muß dagegen auf Ganzheit in der unmittelbaren Situation setzen. Sie muß Unterschiedliches zusammenfassen und daher mit dem gemeinsamen Kein arbeiten, der jenseits von Mathematik und Musik, von Wetterkunde und Kommaregeln liegt.

Sie muß danach fragen, was eine Gruppe von Menschen wirklich miteinander zu tun hat. Da reicht nicht das Nebeneinander verschiedener Tätigkeiten in einem Raum.

Wenn man darüber nachdenkt, was ein zum Beipiel geistig behindertes Kind mit einem zum Beispiel nicht geistig behinderten Kind zu tun hat, wird schnell deutlich, daß die lernzielorientierten Kategorien, in denen unsere Schule denkt , keine Antwort bieten. Man dringt zu wesentlicheren Themen vor, die sich schwerer in Worte fassen oder gar in Pläne und Erlasse gießen lassen. Das Ganze wird unhandlich, und man beginnt zu ahnen, warum Schule - und insbesondere Schulverwaltung - sich so schwer tut mit der Integration.

Wenn wir also Integration als Aufgabe ernst nehmen, dann müssen wir die Schule in den Dienst des Lebens stellen, dann müssen wir eine Einrichtung schaffen, die den Lebensbedürfnissen der eingebundenen Kinder und Erwachsenen Rechnung trägt, die ihnen Raum und Anregung zur Entwicklung gibt.

Und das ist der Punkt, an dem sich Integration und die aktuellen Bemühungen um Schulreform, insbesondere Grundschulreform, treffen. Denn darin liegt ja gerade der Motor der Schulkritik, daß die als Unterrichtsanstalt organisierte öffentliche Schule "ihre elementare Unbekömmlichkeit für den Menschen nicht überwunden hat."[31]

Das Einschulungsalter steigt, und zwar teils aus Sorge der Eltern, teils aus Sorge der aufnehmenden Schulen, die schulunreife Kinder auf ein Jahr in die Vorklasse zurückstellen. Die Zahl der Sonderschüler, das heißt derer, die ganz aus dem dreigliedrigen Schulwesen aussortiert werden, wächst. Und dennoch nehmen die Klagen der Schulen über die Schwierigkeiten im Unterricht des Regelschulwesens nicht ab!

Fast scheint es, als würde die elementare Unbekömmlichkeit der Kinder für das öffentliche Schulwesen, für das Konzept "Lernen durch Unterricht", zunehmen.

"Die Schule ... beansprucht die lernfähigsten und vitalsten Jahre im Leben des Menschen. Sie ... frißt nicht die Kinder, wohl aber die Kindheit und Jugend. Sie entläßt den jungen Menschen kenntnisreich, aber erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos, ungebunden, aber auch unselbständig - und einen erschreckend hohen Anteil unter ihnen ohne jede Beziehung zum Gemeinwesen, entfremdet und feindlich bis zur Barbarei."[32]

Schule in ihrer heutigen Organisation krankt demnach daran, daß sie Kinder und Jugendliche vereinzelt und erfahrungsarm, orientierungslos und unselbständig hält. Dementsprechend zielt Schulreform, insbesondere in der Grundschule, heute daraufhin, Schule bewußt als sozialen und sinnlichen Erfahrungsraum zu gestalten, der gleichzeitig individuell bedeutsame Lernwege zuläßt und über die Einbindung in größere Einheiten Orientierung schafft. So schreibt der Hessische Kultusminister:

"Für die Entwicklung in der Jugendzeit sind demzufolge zwei Bedingungen von besonderer Bedeutung: zum einen authentische Erfahrungen zu gewinnen, zum anderen Sicherheit und Anerkennung zu erringen.

Beides verweist darauf, daß sich in der Schule Lebensfragen vor Lernfragen (Hartmut von Hentig) drängen. Die Schule muß elementare Sozialisationsleistungen übernehmen, die früher viel selbstverständlicher innerhalb der Familie vermittelt worden sind, viel selbstverständlicher von selbst stattgefunden haben.

Schule ist zunehmend als Lebensraum der Kinder und Jugendlichen gefragt. Von dieser Anforderung sind sowohl die organisatorische Ausstattung der Schule als auch die inhaltliche Seite des Lernens berührt."[33]

Schule als gestalteter Lebensraum - eine Ganztagseinrichtung

"Zu den wichtigsten Zielen wohnortnaher Integration gehören verläßliche Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern über den Schulvormittag hinaus... Für eine gemeinsame Erziehung erweist sich die herkömmliche deutsche Halbtagsschule, in der die Kinder nur wenige Stunden zusammen sind, als Nachteil. Die Anwesenheit in der Schule beschränkt sich im Grunde auf die Teilnahme am Unterricht, ab Klasse 5 am Fachunterricht."[34]

Sowohl von den Notwendigkeiten der Integration her denkend[35] als auch bei dem Bemühen, Konsequenzen aus den zunehmenden Problemen des Regelschulwesens zu ziehen, in beiden Fällen führt der Weg zu der Erkenntnis, daß eine Schule, die ihre Aufgabe ernst nimmt, sich als Lebensraum verstehen und bewußt gestalten muß. Das hat, wie der Kultusminister oben betont, Konsequenzen für die "inhaltliche Seite des Lernens" ebenso wie für die "organisatorische Ausgestaltung".

Die Schule "muß Kindern Eigenverantwortung geben (für meine Sache), Anlaß für Gemeinsinn (unsere Sache). Sie muß also gegen das eigene Belehren-und-Abfragen-Gesetz Schranken errichten, Bewegung, Gesellung und Alleinsein zulassen und alles tun, was das Kind ermutigt, Subjekt seines Lebens zu sein."[36]

Kindern Eigenverantwortung zu übertragen und Anlaß für Gemeinsinn zu geben, das mag im Rahmen didaktischer Konzepte in Grenzen möglich sein.

Aber "Bewegung, Gesellung und ALLEIN-SEIN"? Dafür bietet der in Unterrichtsstunden gegossene Vormittag nun wirklich keinen Raum.

Nein, wenn man solchen Analysen und Forderungen nicht den Sinn rauben will, dann muß man ernsthaft die Frage stellen, welcher Art eine Institution sein muß, damit sie wirklich auf Lebensäußerungen aufbaut, auf authentischem Verhalten, daß sie Erfahrungen zuläßt, ungefiltert, mit allem Ernst.

Wenn dem "Leben" Raum gewährt werden soll, dann braucht man mehr Raum, mehr Zeit und weniger(!) pädagogische Dichte, als es Schule heute bietet. "Schule als gestalteter Lebensraum" ist nur als Ganztageseinrichtung denkbar. (Und das heißt nicht Ganztagsschule!)

Das, was heute als außerschulische Pädagogik in Horten und Jugendhäusern, in Erziehungsberatungsstellen und Therapien durchgeführt wird, muß seinen Platz im "Lebensort Schule" ebenso finden wie ein Teil des selbstorganisierten Freizeitlebens. Erst wenn die "Schule" von den Kindern als ihr Ort begriffen wird, als Ort, den sie durch ihre Tätigkeiten wirklich mitgestalten, der sie zum Tun herausfordert und an dem Interessenskonflikte immer wieder die Setzung von Regeln und Beachtung von Werten verlangen, erst dann wird auch die im engeren Sinne unterrichtliche Arbeit als Teil und Chance der eigenen Lebensgestaltung erfahrbar werden. Erst dann wird der Unterricht nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern darüber hinaus der Stärkung der Subjekte dienen.

Die Schule neu denken - einige Konsequenzen

Die "Schule", die zugleich ihren lernzielorientierten Auftrag erfüllen und den Lebensbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen in ihrer Breite Raum geben will, muß also traditionell schulische und außerschulische Pädagogik vernetzen. Indem sie sich zu dieser Aufgabe bekennt, erwirbt sie zugleich die Mittel, die für die Realisierung notwendig sind.

Nimmt man die Ressourcen, die heute für die Kinder einer innerstädtischen Grundschule aufgewandt werden, und bezieht dabei diejenigen Kosten mit ein, die für Betreuung, Hort, Erziehungsberatung, Nachhilfen und sozialpädagogische Sondermaßnahmen von privaten, kirchlichen oder städtischen Trägern aufgebracht werden, so läßt sich mit diesem Gesamtvolumen leicht eine andere Institution entwerfen, die der dargestellten Anforderung, ein Lebensraum zu sein, besser gerecht wird, als die Schule, die wir kennen.[37] Merkmale dieser anderen Institution sind:

Stammgruppen statt Klassen

Statt nach Jahrgangsklassen ist die Schule, wie an Jenaplan-, Montessori- und Freien Schulen üblich, nach altersgemischten Gruppen strukturiert.

Auf der Vorschulgruppe (Drei- bis Sechsjährige) bauen die Unterstufe (Klasse 1-3/Sechs- bis Neunjährige) und die Mittelstufe (Klasse 4-6/ Neun- bis Zwölfjährige) auf.[38]

Stammgruppen: Zeit- und Strukturplan (Beschriftung von bidok eingefügt)

Stammgruppen

offene Angebote

-

7.40 - 8.30

Offener Anfang,

freies Spiel und

Freie Arbeit

7.40 - 8.30

Offener Anfang,

freies Spiel,

Frühstück

Im offenen Anfang können Kinder wahlweise ihre Stammgruppe aufsuchen, frei spielen oder am angebotenen Frühstück teilnehmen.

8.30 - 10.30

Kernbereich I

8.30. - 10.30

Keine offenen

Angebote

Freitags:

8.30 -12.00

Teambesprechung und Elterngespräche

Alle Kinder sind ihren Stammgruppen.

Von Montag bis Donnerstag nehmen diejenigen Mitarbeiter des sozialpädagogischen Bereichs, die den offenen Anfang gestaltet haben, am Unterricht der Stammgruppen teil.

10.30 -11.30 Pause

10.30 -11.30 Pause

Die Kinder haben eine Stunde zur freien Verfügung.

11.30 - 13.00

Kernbereich II

12.00 - 13.00

Bock I: offene

Angebote, AG's,

Essenvorbereitung

Ab 12.00 Uhr können die Kinder in Absprache zwischen der Fortführung der Arbeit in der Stammgruppe und Angeboten des offenen Bereichs wählen.

Auch Lehrer können offene Angebote machen.

13.00 - 14.00

Mittagessen

13.00 - 14.00

Mittagessen

Jeden Mittwoch ist von 13.00 Uhr bis 15.00 Uhr Teamsitzung der Stammgruppenteams, einmal im Monat mit Supervision. Am ersten Mittwoch im Monat tagt von 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr die Schulkonferenz.

Die Kinder haben an diesem Tag bereits um 13.30 Uhr Schulschluß.

Dienstag und

Donnerstag

14.00 - 15.15

Kernbereich III

14.00 - 15.15

Block- II: Offene

Angebote, AG's

Die Kinder wählen frei zwischen offenen Angeboten, freiem Spiel. Dienstags und Donnerstags besteht außerdem die Möglichkeit der Arbeit im Rahmen der Stammgruppe.

-

15.15 - 15.45

gleitender

Schluß

Am Freitag endet die Schule um 14.00 Uhr.

Die kostenneutral zu verwirklichende Arbeit in altersgemischten Stammgruppen birgt vor allem vier Vorteile:

  1. Das soziale Element wird im Unterricht gestärkt. Jüngere Kinder lernen, wie in der Familie oder im Kindergarten, von älteren Kindern. Sie sind dadurch weniger auf den Erwachsenen fixiert und orientieren sich stärker an der Kindergruppe. Die älteren Kinder erfahren sich durch die Helferdienste und in ihrer den Gruppengeist prägenden Funktion als für die Gemeinschaft besonders wichtige Persönlichkeiten.

  2. Durch dieses soziale Gefüge der Kindergruppe werden Selbstbildungsprozesse gefördert. Der Erwachsene ist weniger als Be-Lehrer gefragt, denn als Organisator von Gruppenprozessen und unterstützender Helfer bei und Begleiter von individuellen Lern- und Entwicklungsprozessen.

  3. Ungünstige Rollenfestschreibungen sind weniger dauerhaft, da jährlich ein Drittel der Kinder (die ältesten und meist bestimmendsten) die Gruppe verläßt, während ein anderes Drittel (jünger und in bezug auf das Gruppenleben noch unerfahren) neu hinzukommt. Damit haben einerseits Außenseiter die Chance, ihre Position jährlich neu zu bestimmen, wie andererseits dominierende Kinder spätestens beim Wechsel in die nächste Stammgruppe die Erfahrung des (noch) unterlegenen Neuen machen, der seinen Platz erst erobern muß.[39]

  4. Die Kinder orientieren sich am Lerntempo und Arbeitsverhalten derjenigen Kinder, die (unabhängig von der Klassenstufe) vergleichbare Interessen und Fähigkeiten haben. Aufnahmefähige und schnell lernende Kinder sind in der altersgemischten Gruppe weniger unterfordert. Sie haben den Vorteil, daß sie sich an den Themen und Arbeitsweisen der älteren Kinder orientieren können, wodurch sie nicht nur angemessener gefordert sind, sondern auch ihren Lernprozeß weitgehend selbständig organisieren können. Langsam lernende Kinder erfahren sich in der altersgemischten Gruppe. nicht mehr dauerhaft als unterlegen, stagnierend und der Mehrheit hinterherhinkend, sondern sie sehen durch den Vergleich mit den nach einem Jahr neu hinzukommenden Kindern deutlicher die Fortschritte ihres Lern- und Entwicklungsprozesses. Sie können sich einer ihrem Tempo angemessenen Lerngruppe zuordnen und verbleiben dadurch, wenn notwendig, einfach vier statt drei Jahre in einer Stammgruppe, was faktisch dem Sitzenbleiben entspricht, sie aber vor der entmutigenden Erfahrung der Aussonderung bewahrt.

Vernetzung von stammgruppenbezogenen und offenen Strukturen

Die stammgruppenbezogene Unterrichtsarbeit findet im rhythmisierten Wechsel mit offenen Strukturen und teilweise parallel zu inhaltsbezogenen oder sozialpädagogisch motivierten Angeboten statt.

Dieses Geflecht von gruppenbezogenen und inhaltsbezogenen Tätigkeiten nimmt die Tatsache ernst, daß eine Schule, die Lebensraum sein will, nicht der Versuchung erliegen darf, das Schulleben in seiner ganzen Komplexität organisieren zu wollen.

Die Schule als Organismus, als ein sich entfaltendes Schulleben, hat nur dort eine Chance, wo Selbstorganisationsprozessen von Einzelnen und Gruppen Raum, Zeit und Material in Form vielfältig gestaltbarer Teilstrukturen zur Verfügung stehen. Gefordert ist daher eine Gesamtstruktur, die von dynamischen Elementen nicht zerstört wird, sondern die Bewegungsprozesse integrieren kann.

Die dargestellte Gruppen- und Zeitgliederung weist Elemente mit unterschiedlich hohem Organisatonsniveau und in bezug auf die Kinder unterschiedlich hohem Verbindlichkeitsgrad auf.

Stammgruppenarbeit im gemeinsamen Raum

Hier ist ein von den Erwachsenen und der Kindergruppe gestalteter und während der Kernzeit I verbindlicher Rahmen gegeben. Der gemeinsame Kreis, die themen- oder projektorientierte Arbeit am gemeinsamen Gegenstand, das individuelle Üben im Rahmen von Wochenplänen oder Kursen, das gemeinsame Spiel, gemeinsame Ausflüge und Feiern prägen dieses Gruppenleben im eigenem Gruppenraum.[40]

Die für alle verbindliche Kernzeit I garantiert dabei die soziale Einbindung aller Kinder.

Inhaltsbezogene Wahl nach Absprache

Ab 12 Uhr können die Kinder nach Rücksprache in ihrer Stammgruppe zwischen der Fortführung ihrer Aktivitäten im Rahmen dieser Gruppe und der Teilnahme an offenen, das heißt, stammgruppenunabhängigen Aktivitäten wählen.

Inhaltsbezogene Wahl ohne nötige Rücksprache

Während des gleitenden Anfangs sowie dienstags und donnerstags können die Kinder sich frei zwischen Angeboten des offenen Bereichs, freiem Spiel und Aktivitäten im Rahmen der Stammgruppe entscheiden. Dabei schließt der offene Bereich die ganze Palette möglicher Angebote vom Frühstück zum Tagesanfang, über Werkstattangebote, eine Theater-AG, ein Tischtennisturnier, die Vorbereitung des Mittagessens bis hin zu Rechtschreibförderkursen oder 1 x 1-Training alles ein, was Kinder im Rahmen des Schullebens interessiert.

Entscheidend ist, daß die Auswahl zu diesen Zeiten erstens freiwillig und zweitens inhaltsbezogen getroffen wird.

Zeiten und Räume ohne Erwachsene

Während des gleitenden Anfangs, eine Stunde während der großen Pause, im Anschluß an das Mittagessen und am Nachmittag ab 14 Uhr haben die Kinder die Möglichkeit, einen Teil der Räume und das Gelände ohne direkte Aufsicht, nicht angeleitet und nicht kontrolliert zu nutzen.

Ohne direkte Aufsicht heißt, es sind Erwachsene zugänglich und ansprechbar in der Nähe, aber diese verzichten darauf, das ganze Geschehen im Blick zu behalten.

Vielgliedrig gestaltetes Schulgelände und Schulhaus

Eine Schule, die als Lebensraum wirken und lebensweltliche Erfahrungen ermöglichen will, muß als formbar und gestaltbar erfahren werden. Nur ein Ort, der die Spuren der Beteiligten aufnimmt und bewahrt, ist ein Ort, der Identifikation zuläßt. Damit diese "Bearbeitung" der Schule auch unabhängig der stark von Erwachsenen geprägten Stammgruppenaktivitäten und der offenen Angebote möglich ist, gilt es im Schulhaus und auf dem Gelände "erwachsenenfreie Räume" bestehen zu lassen.

Insbesondere ist notwendig, ein Schulgelände zu schaffen, das mit Ecken und Nischen, Hügeln und Büschen zu Spiel und Eroberung herausfordert.

Teamarbeit und Supervision

Sowohl die nicht mehr auf Lehrgänge, sondern auf dynamische Prozesse ausgerichtete Pädagogik, wie auch das hohe Maß an Bewegungsfreiheit, das den Kindern zugestanden wird, setzen auf Seiten der Erwachsenen eine kooperative Planung voraus. Um dafür die sachliche Basis zu schaffen, bilden die Mitarbeiter von zwei bis drei Stammgruppen ein Team unter Hinzuziehung einzelner Mitarbeiter des offenen Angebotsbereichs.

Das gemeinsame Gespräch über die gemeinsam anvertraute Kindergruppe erleichtert eine klare Sicht eventueller Probleme und hilft, das richtige Gespür für die anstehenden nächsten Schritte zu entwickeln. Der Möglichkeit der Kinder, sich in verschiedenen Zusammenhängen zu bewegen, entspricht die Rückkopplung der in diesen Zusammenhängen überwiegend beteiligten Pädagogen. Das macht es möglich, das Verhalten des Kindes im Blick auf Entwicklungsfortschritte oder Gefährdungen umfassend zu diskutieren.

In dieser berufsgruppenübergreifenden Gesprächsstruktur liegt ein entscheidender Vorteil zum bestehenden Nebeneinander getrennt arbeitender Institutionen, da sie nicht nur die Professionalität aller Beteiligten steigert, sondern durch die engere Rückkopplung auch eine höhere Effizienz der pädagogischen Arbeit, insbesondere bei Problemen, sichert.

Schließlich schafft die Bildung von Teams durch die Möglichkeit gruppenübergreifender Aktivitäten nicht nur eine breitere Handlungspalette, sondern sie entlastet darüberhinaus die schuleigene Selbstverwaltung.[41]

Einbeziehung der Eltern in das Schulleben

Legt man der Schule eine auf Entwicklungsprozesse ausgerichtete Pädagogik zugrunde, so ist die Einbeziehung der Eltern von doppelter Bedeutung.

Zunächst ist die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ein zentrales hemmendes oder förderndes Element der kindlichen Entwicklung Grenzen, die hier begründet liegen, kann keine Schule überschreiten. Räume, die hier eröffnet werden, lassen sich mit unterrichtlichen Mitteln nicht gewinnen.

Die Frage, mit wieviel Selbstbewußtsein ein Kind seine Arbeit angeht und in welcher Form es sich auf Gruppenprozesse einläßt, hängt wesentlich von der Einstellung ab, die die Eltern ihrem Kind und seiner Schularbeit entgegenbringen.

Daher ist eine enge Elternarbeit mit dem Ziel, Verständnis für den pädagogischen Ansatz der Schule herzustellen, die Eltern an den positiven Entwicklungen ihres Kindes teilhaben zu lassen und bei Problemen gemeinsam Ursachenforschung zu betreiben, von zentraler Bedeutung. Elternabende und Elterngespräche sind dafür ebenso geeignet wie Vorführungen der Klasse, die den Eltern einen Ausschnitt aus dem Leben der Gruppe und der Arbeit ihres Kindes vermitteln.

Dazu kommt ein zweites Moment

Eine Schule, die nicht nur durch Unterricht, sondern durch ihr gesamtes Schulleben bildend wirken will, kann dies nur in dem Maß, wie sich die Kinder positiv mit der Schule identifizieren. Nur wenn die Schule als Ganzes positiv besetzt ist, werden sich in dem Geflecht von Stammgruppen, Angebotsstrukturen und freien Bereichen Lebensformen bilden, die man als "kindgemässe Formen einer demokratischen Lebenskultur"[42] bezeichnen könnte, also Formen, die sich durch die Existenz von individuellem Ausdruck, freier Entscheidung, und demokratischen Formen der Konfliktregelung beschreiben lassen.[43]

Diese Identifikation gelingt aber umso besser, je deutlicher den Kindern wird, daß die Schule von den Erwachsenen insgesamt positiv besetzt ist, wenn sichtbar ist, daß nicht nur die angestellten Pädagogen, sondern auch ein Teil der Elternschaft ein Interesse am Schulleben hat.

Die Schule als gestalteter Lebensraum der Kinder muß also in gewissem Sinne auch ein Lebensraum der Eltern sein. Sie muß ihnen etwas bieten, daß es sich für sie(!) lohnt, ein Teil dieses Schullebens zu sein.

Dies kann in den schon angesprochenen Festen und Feiern bestehen, in der unbürokratischen Einbeziehung interessierter Eltern in die Selbstverwaltung oder in Unterrichtsaktivitäten[44] oder auch in der Möglichkeit, dauerhafte Ansprechpartner bei familiären - oder Erziehungsproblemen zu finden. Die Einbeziehung von ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen durch die Vernetzung von schulischer und außerschulischer Pädagogik schafft hierfür die Grundlage.

Nichtaussonderung als notwendige Konsequenz:

Eine Schule, welche die individuellen und gemeinschaftlichen Entwicklungsprozesse zum Kern ihrer Arbeit erklärt, hat einen pädagogischen Ansatz, der Aussonderung verbietet, da sie sich nicht mehr pädagogisch rechtfertigen läßt. Die Begründung, daß behinderte Kinder in einer Klasse nicht mitbeschult werden können, weil sie keine Chance haben, die gesetzten Lernziele zu erreichen, entfällt, weil ja gerade nicht mehr von gesetzten Lernzielen ausgegangen werden soll.

Hinzu kommt: Eine Schule, die den Anspruch hat, als gestaltete Lebenswelt bildend zu wirken, müßte, um Kinder davon auszusondern, diese als nicht in dieser Lebenswelt lebensfähig kennzeichnen, was einerseits die Frage in den Raum stellt, ob es sich bei dem Entwurf überhaupt um eine Lebenswelt handelt und andererseits die Frage nach dem "Lebenswert" der angeblich nicht integrierbaren Kinder aufwirft. Das darf nicht sein, gerade in einer Zeit, in der Gewalt gegen Ausländer, Juden und Behinderte von einem zumindest in Teilen der Gesellschaft vorhandenen "Verlust der humanen Orientierung" (R. GIORDANO) zeugen.[45]

Die Kölner Schule "Am Rosenmaar" oder die Integrative Schule Frankfurt sind der Beweis, daß Integration nicht nur eine Frage optimaler Förderung im Sinne gezielter sozialer, pädagogischer oder therapeutischer Maßnahmen ist, sondern daß ein nichtaussondernder Lebenszusammenhang mit seinen vielschichtigen Impulsen und Anregungen eine Fülle impliziter Förderungen wirken läßt.[46]

In Permanenz unfertig

Der dargestellte Entwurf einer Schulstruktur, die der Forderung "ganztägig gestalteter Lebensraum" zu sein gerecht zu werden versucht, ist als Denkanregung zu verstehen, nicht als fertiger Plan. Und das aus drei Gründen:

Erstens steht keine Einrichtung im luftleeren Raum, das heißt, jede findet Bedingungen vor, die den Gestaltungsmöglichkeiten Anregungen geben, aber auch Grenzen ziehen. Jedes konkrete Konzept muß also "vor Ort" entwickelt werden.

Zweitens hängt diese Konzeptentwicklung von den beteiligten Menschen, ihren Interessen und Fähigkeiten ab. Und dies ist hier umso offensichtlicher, als es im dargestellten Ansatz um die Stärkung des subjektiven Faktors geht, ohne die ein Lebensraum seine Grundlage verliert.

Vor allem aber ist eine Schule, die nicht mit Lernzielen und lernzielorientierter Erfolgskontrolle beginnt, die auf einer entwicklungsbezogenen "Mathematik"[47] beruht und sich daher eine dynamische, also auf Veränderung ausgerichtete Struktur gibt, wie jeder lebendige Organismus "in Permanenz unfertig".[48]

Sie erhebt den Status einer Versuchsschule zum Prinzip ihrer Arbeit. Dies ist die Konsequenz des Versuchs, der eingangs zitierten "elementaren Unbekömmlichkeit" der Schule durch ihre Umwandlung in einen gestalteten ganztägigen Lebensraume zu begegnen.

Literatur:

Otto HERZ: Bei uns müssen die Kinder viel 'organisieren', in: Erziehung und Wissenschaft 5/91

Peter HEYER u. a. (Hg): Zehn Jahre wohnortnahe Integration, Frankfurt 1993

Hartmut HOLZAPFEL: Schule im Wandel, in: Hessische Lehrerzeitung 9/92

Klaus RÖDLER: Vergessene Alternativschulen, Weinheim 1987

Hartmut VON HENTIG: Die Schule neu denken, München 1993

Dr. Klaus Rödler, geboren 1956, Diplompädagoge und derzeit Lehrer an einer innerstädtischen Grundschule in Frankfurt. 1980 Studium britischer free schools, 1980-1983 Mitarbeiter an der Freien Schule Frankfurt, Referendariat an den Jenaplanversuchsschule in Ulmbach, 1986 Promotion "Geschichte und Praxis der Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen." Seit 1992 Vorsitzender des Vereins "Reformpädagogische Grundschule e. V."

Integration ist für mich die notwendige Konsequenz aus dem Bemühen, Lernen als Teil der Lebensgestaltung zu akzeptieren und Schule auf diesen Begriff von Lernen hin auszurichten.



[30] Max WEBER, 'Wirtschaft und Gesellschaft', Tübingen 1976; Zit. nach: Klaus RÖDLER, 'Vergessene Alternativschulen', Weinheim 1987

[31] Hartmut VON HENTIG, "Schule neu denken", München 1993, S. 9

[32] ebda., S. 10

[33] Hartmut HOLZAPFEL, 'Schule im Wandel', in: Hessische Lehrerzeitung 9/92, S. 9

[34] Peter HEYER u.a., 'Zehn Jahre Erfahrungen mit der wohnortnahen Integration an der Uckermark-Grundschule', in Peter HEYER u.a., 'Zehn Jahre wohnortnahe Integration', Frankfurt 1993, S. 20

[35] SANDER unterscheidet zwischen schulischer Integration, sozialer Integration, Integration im Freizeitbereich und psychischer Integration. "Schulische Integration ist also nicht alles." (Alfred SANDER, 'Wohnortnahe Integration - Grundzüge, Probleme, Erfahrungen', in: ebda., S. 11)

[36] Hartmut VON HENTIG, a. a. 0., S. 68

[37] Ein ausgearbeiteter Konzeptentwurf ist gegen 6 DM beim Verein REFORMPÄDAGOGISCHE GRUNDSCHULE, Reuterweg 69, 60323 Frankfurt/M. zu beziehen. Grundlage des Entwurfs ist eine Grundschule, aus der 15% der Kinder an der schuleigenen Betreuung teilnehmen, 35% einen gesonderten Hort besuchen, 15 % in Erziehungsberatungsmaßnahmen oder sozialpädagogische Sondermaßnahmen eingebunden sind und ebenfalls 15% der Klassen als Integrationsklassen geführt werden. Angeschlossen ist ein Kindergarten mit zwei bis drei Gruppen. Die Grundschule ist um die Förderstufe erweitert, so daß die Einrichtung als Ort für Kinder ab dem gruppenfähigen Alter (etwa 3 Jahre) bis zum Beginn der Pubertät (etwa 12 Jahre) versteht.

[38] Die Fortführung durch eine ähnlich strukturierte Oberstufe (Klasse 7-9), Kollegstufe (Klasse 10-12) sowie Abschlußklassen für den Haupt- oder Realschulabschluß (Klasse 10) oder das Abitur (Klasse 13), also durch eine auf den gleichen Strukturelementen aufbauende integrierte Gesamtschule, wie sie derzeit von einer Initiative der Jenaplanforschungsstelle in Gießen vorbereitet wird, ist naheliegend. Ihre Darstellung sprengt aber den Rahmen dieses Aufsatzes.

[39] Diejenigen, die in ihrer ehemaligen Gruppe die Ältesten, also die 'Meister', waren, müssen sich nun aus der Position der Jüngsten, also der 'Lehrlinge', heraus neu orientieren.

[40] Die Vernetzung von zwei bis drei Stammgruppen und ihrer Mitarbeiterteams ergibt dabei einen erweiterten, aber dennoch überschaubaren Rahmen, in dem die dargestellte Arbeit stattfinden kann.

[41] Indem den Teams nicht nur die pädagogische Verantwortung für die ihnen anvertraute Kindergruppe, sondern auch der ihnen zustehende Anteil an personellen und sachlichen Ressourcen zur freien Verfügung überlassen wird, entsteht eine kleine autonome Schule in der Schule, die nur in Notfällen auf die allgemeine Verwaltung zurückgreift. Die Schulleitung wird dadurch frei, die pädagogische Gesamtentwicklung zu fördern.

[42] Der Begriff "Formen demokratischer Lebenskultur" stammt aus einem Vortrag von Frau Prof. Ingeborg Maschmann in Heidelberg, in dem sie den pädagogischen Ansatz und die ersten Erfahrungen der neuen Jenaplanschule in Jena darstellte. Ich erweiterte ihn um die Ergänzung "kindgemaß", um deutlich zu machen, daß wir nicht ungebrochen mit Erwachsenenstandards an die Konfliktregelungsmechanismen von Kindern herangehen dürfen. Sie und wir versagen sonst vor unseren Ansprüchen.

[43] Gelingt es nicht, ein hohes Maß an Identifikation mit dem Schulganzen herzustellen, drohen Verwahrlosungssymptome wie Bindungslosigkeit, Gewalttätigkeit und blinder Aktionismus das ganze Gefüge zu zerstören. Ein Blick auf die Entstehungsphase der Hamburger Gemeinschaftsschulen zeigt gleichermaßen die Gefährdungen des dargestellten pädagogischen Ansatzes auf, wie er auch den Blick darauf schärft, in welche Richtung man die Lösung suchen muß. (Siehe: K. Rödler, "Vergessene Altemativschulen", Weinheim 1987, S. 156-169)

[44] Dabei sind hier weniger Hilfsdienste bei Klassenfahrten oder im Rahmen aufwendiger Projekte gemeint, die ohnehin schon als Möglichkeit von Schulen genutzt werden, sondern gemeint ist, Eltern zu ermutigen, ihre Talente und Neigungen in die Schule als Angebot einzubringen und dadurch gleichermaßen der Schule nützlich zu sein, wie der eigenen Persönlichkeit Raum zur Entfaltung zu geben.

[45] Die beiden Absätze wurden weitgehend aus dem genannten Konzept des Vereins Reformpädagogische Grundschule übernommen.

[46] Siehe dazu: Otto HERZ, "Bei uns müssen die Kinder viel selbst organisieren", in: Erziehung und Wissenschaft 5/91, S. 6-11

[47] Ein Begriff Hartmut von Hentigs. Dazu: K. RÖDLER, a.a.O., S. 314 f.

[48] Hartmut VON HENTIG, "Die Schule neu denken", München 1993, S. 226

5. Streiflichter aus der Praxis

Foto: Zwei Kinder und ein Erwachsener vor einem Computer (Beschriftung von bidok eingefügt)

UNTERRICHT

Richard Meier: Differenzierung als Grundlage der Gemeinsamkeit in Schulleben und Unterricht

Die hier folgenden Erörterungen zur Aufgabe der Differenzierung im Gemeinsamen Unterricht werden als ein fiktives Gespräch dargestellt das aus knappen Fragen, Einwürfen und relativ langen Antworten besteht. Dieses Verfahren hat zwei Vorteile:

1. Vorteil:

Die didaktisch-theoretischen und praktischen Fragen lassen sich durch die Rolle des Fragenden sehr deutlich formulieren.

2. Vorteil:

Das Spektrum der Fragestellungen kann weit entwickelt werden. Tatsächlich oder nur scheinbar naive Fragen lassen sich mit komplexen Problemen der Orientierung und Unterrichtspraxis verbinden. Wichtige Tatsachen und Forderungen lassen sich recht direkt schreiben.

Es sind beteiligt:

Eine Fachfrau, die schon mehrere Jahre in integrativen Klassen arbeitet und dabei ihre Arbeit zusammen mit anderen reflektiert und weiterentwickelt.

Ein interessierter Mensch, der sich mit der Aufgabe und Situation von Gemeinsamen Unterricht zu beschäftigen beginnt und von seiner beruflichen Arbeit her gewohnt ist, analytische Fragen zu stellen.

Der interessierte Mensch:

Was heißt Differenzierung?

Die Fachfrau:

Differenzierung leitet sich ab von Differenz. Differenz kann übertragen werden mit "Unterschied". Wenn Sie zum Beispiel zwischen ihren monatlichen Einnahmen und Ausgaben einen Unterschied erzeugen, entsteht auf ihrem Konto eine Differenz. Im ungünstigen Fall für Sie liegen die Ausgaben höher. Sie müssen sich in diesem Fall mühen, die Differenz auszugleichen. In der Schule, im Unterricht sind Gemeinsamkeit und Differenz die beiden großen Aufgaben.

Das geht mir zu schnell, was hat Differenz mit Schule und Unterricht zu tun?

Wenn Kinder zur Schule kommen, sind sie in einigen Hinsichten gleich, haben relativ viele Gemeinsamkeiten und unterscheiden sich in vieler Hinsicht. Diese Gleichheiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen enthalten die grundsätzlichen Aufgaben des Gemeinsamen Unterrichts.

Das müssen Sie näher erklären. Sagen Sie doch zuerst, wo Sie Gleichheiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen sehen?

Gehen wir der von ihnen genannten Reihenfolge nach vor:

Zuerst die Gleichheiten:

Die Kinder müssen, so bestimmt es das Schulgesetz, mit Beginn ihres siebten Lebensjahres eingeschult werden. Das ist eine Gleichheit ohne Rücksicht auf Differenzen.

Was meinen Sie mit "ohne Rücksicht auf Differenzen"?

Die Kinder dieser Gruppe haben zwei gleiche Merkmale, zwei Gleichheiten. Sie sind sieben Jahre alt und sie sind dadurch schulpflichtig geworden. Dabei ist nicht zu übersehen, daß diese Kinder in ihrem Erscheinungsprofil sehr unterschiedlich sind. Nehmen wir einen sehr deutlichen Fall: Ein Kind ist sieben Jahre alt geworden. In seinem dritten Lebensjahr war es schwer krank. Die Auswirkungen dieser Krankheit überwindet dieses Kind nur langsam. Im Unterricht zeigt es teilweise Verhaltensweisen, die man sonst vierjährigen Kindern zuordnet.

Das ist dann doch ein Kind für die Sonderschule ?

Langsam, nicht so schnell, bleiben wir noch bei Gleichheit, Gemeinsamkeit und Differenz. Gleichheiten sind häufig äußerliche, von Menschen gesetzte Normen, die oft den Zweck haben, die komplizierte Wirklichkeit anscheinend einfacher zu machen.

Wieso "anscheinend einfacher zumachen?"

Naja, wenn Sie diesen sehr verschiedenen Kinder gleiche Merkmale, zum Beispiel "ist schulpflichtig" zuordnen, können Sie diese Kinder leichter handhaben. Sie müssen dann alle zum gleichen Zeitpunkt in die Schule gehen, obwohl dies nicht unbedingt sinnvoll ist und man eigentlich einige dieser Kinder zu deutlich verschiedenen Zeitpunkten einschulen müßte.

Das ist zu viel auf einmal, nennen Sie doch mal eine echte, vorgegebene, Gleichheit, nicht eine. von außengesetzte.

ich frage mich an Ihrer Aufforderung, ob es wirklich "echte Gleichheiten" gibt. Vielleicht die beiden Geschlechter, daß man ein Mädchen oder ein Junge ist, vielleicht daß der Körper bei allen Menschen aus den gleichen Organen, dem Skelett und den Muskeln besteht, vielleicht, daß die Kinder wachsen, sich entwickeln....

Da sind auch schon Unterschiede enthalten. Bleiben wir mal dabei, daß Gleichheiten meist von außen gesetzt werden, damit man mit so einer komplizierten Situation leichter umgehen kann.

Gut, bleiben wir dabei.

Dann zu den Gemeinsamkeiten.

Ja, diese Kinder einer bestimmten ersten Klasse haben viele Gemeinsamkeiten und können sozusagen gemeinsam weitere Gemeinsamkeiten entwickeln. Sie haben Eltern, sie kommen zur Schule, sie wollen etwas lernen, sie wollen miteinander zu tun haben....

So ganz stimmt das doch nicht! Die Eltern sind verschieden, es gibt vielleicht ein Kind, das nicht lernen will. Vielleicht will ein Kind auch mit en anderen nichts zu tun haben?

Sicher, hin und wieder gibt es Kinder, die mit dem Lernen so schlechte Erfahrungen gemacht haben, daß sie in der Schule erklären: "Ich will das nicht lernen, ich will nichts lernen." Sicher gibt es hin und wieder ein Kind, das im Umgang mit anderen Kindern sehr ängstlich ist, weil es wenig Gelegenheit hatte, sich im Umgang mit anderen zu üben. Es drückt dann durch sein Verhalten aus: "Ich will jetzt mit euch nichts zu tun haben."

Wo sind dann die Gemeinsamkeiten?

Gemeinsamkeiten entwickeln sich, wenn der größte Teil der Kinder im Zusammenleben, auch durch das Verhalten und die Arbeit der Lehrerin, einen gemeinsamen Willen entwickelt, gemeinsam etwas tut, gemeinsam etwas erlebt und gestaltet. Dieses gemeinsame Leben und Erleben in der Schule schafft Gemeinsamkeiten, die man pflegen muß.

Das scheint Ihnen wichtig zu sein?

Ja, wir haben in der Schule als Erwachsene die Aufgabe, alle Kinder intensiv zu fördern, das heißt in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Dazu gehört auch die Aufgabe, daß sie lernen, miteinander auszukommen. Nein, nicht nur miteinander auszukommen, sondern auf gute Weise miteinander zu leben.

Das ist aber ein Ziel für eine lange Zeit!

Richtig, obwohl die Kinder im Umgang untereinander schon geübt sind, bleibt es über die ganze Schulzeit und eigentlich für das ganze Leben eine Aufgabe, miteinander auszukommen, miteinander zu leben.

Gleichheit und Gemeinsamkeit, was tun Sie für diese Gemeinsamkeit?

Das ist eine gute und wichtige Frage. Wir müssen das Schulleben und den Unterricht mit den Kindern so gestalten, daß sie viel Gelegenheit haben, Gemeinsamkeit zu entwickeln.

Geben Sie doch mal ein Beispiel.

Also, wenn ich jeden Tag mit den Kindern ein Lied singe und eine Geschichte erzähle oder vorlese, dann entwickelt sich ein Schatz an Liedern und Geschichten, den die Kinder gemeinsam haben. Sie fangen dann auch mal von alleine an zu singen, wenn es ihnen in der Klasse nach Singen zumute ist, oder sie unterhalten sich über eine Geschichte, die sie gehört haben und die sie beschäftigt. Gemeinsamkeit entwickelt sich auch in den Pausen, auf dem Schulweg, manchmals fast gegen den Unterricht, wenn man miteinander zu tun haben will.

Da war doch noch eine andere Gemeinsamkeit, daß die Kinder etwas lernen wollen und sollen, oder ist das eine Gleichheit?

Nein, das ist keine Gleichheit, weil die Kinder unterschiedlich wollen und können. Aber fast alle Kinder wollen etwas lernen, sie wollen viel lernen, wenn sie zur Schule kommen. Sie wollen lernen, weil sie groß, stark, wissend, klug, geschickt, beliebt... und damit auch ein Stück unabhängig werden wollen.

Das widerspricht sich aber, auf der einen Seite Gemeinsamkeiten, auf der anderen Seite Unabhängigkeit.

Das widerspricht sich nicht. Gemeinsamkeit kann man nur haben, wenn man ein Stück weit unabhängig ist. Wer abhängig ist, entwickelt keine Gemeinsamkeit, weil er sich schwach und unterlegen fühlt, weil er von der Willkür der anderen abhängig ist. Das ist in meinem Sinn keine Gemeinsamkeit.

Also gut, wie war das? Gleichheit, Gemeinsamkeit und Differenz. Es sind Mädchen und Jungen in der Klasse, ist das eine Ihrer Differenzen?

Das ist eine Differenz, mit der wir nicht (noch nicht) besonders gut umgehen. Von Kind zu Kind gibt es aber sehr viele weitere Differenzen. Durch ihr Erbe und vor allem durch ihre Aufwachsgeschichte entstehen unter den Kindern viele Differenzen.

Zum Beispiel?

Nehmen wir ein Beispiel, das in der Schule eine große Rolle spielt: Einige Kinder leben in einer Familie, in der Lesen, Schreiben und Bücher eine große Rolle spielen. Bei anderen Kindern hat man (und liest man) auch Bücher, aber eigenes Schreiben ist selten zu erleben und hat eine geringe Bedeutung. In einigen Familien spielen Lesen und Schreiben kaum eine Rolle. Jetzt kommen diese verschiedenen Kinder in die Schule, in das erste Schuljahr. Sie sollen, und die meisten wollen auch Schreiben und Lesen lernen.

Da gibt es also in den Erfahrungen und Voraussetzungen der Kinder eine große Differenz, richtig?

Ja, die Erfahrungen der Kinder mit Lesen und Schreiben erzeugen verschiedene Voraussetzungen. Das eine Kind will schnell schreiben lernen, weil es erlebt hat, wie seine Mutter immer etwas aufschreibt und wie wichtig dieses Aufschreiben für die Mutter ist. Das andere Kind hat seine Mutter...

noch kaum beim Schreiben gesehen. Sie sagen jetzt gleich, es wird in der Schule deshalb am Anfang wenig Interesse für Schreiben und Lesen haben.

So einfach kann man das nicht sagen, das wäre eine fahrlässig Verallgemeinerung.

Gut, lassen wir das so. Es ist mir klar, daß die Kinder verschiedene Voraussetzungen haben und sich recht verschieden verhalten, wenn sie das Schreiben und Lesen lernen sollen. Die Frage ist doch, wie gehen Sie, wie geht die Schule damit um? Bei meinen Kindern war das eine stramme Geschichte. Jede Woche zwei neue Buchstaben und wir Eltern haben sehen müssen, wo wir und die Kinder bleiben.

Das haben Sie schön gesagt, langsam tauschen sich unsere Rollen. Bleiben wir bei ihrer Frage: Wie gehen wir, wie geht die Schule damit, mit dieser Differenz um? Ich trenne meine Antwort in zwei Teile und frage erst:

Wie gehen die Eltern mit diesen Unterschieden um?

Dann frage ich, wie wir, die Schule und in ihr die Lehrerinnen mit dieser Differenz umgehen.

Den Eltern sind die Unterschiede eigentlich vertraut, aber sie übersehen sie gerne. Sie erwarten, daß diese bestimmte Lehrerin vor allem und vor allen anderen ihr Kind bestens fördert. Das führt zu Interessenskonflikten und manchmal auch zu wenig erfreulichen Eingriffen der Eltern in den Unterricht.

Jetzt zur Frage: Wie geht die Schule damit um?

Leider ignoriert die Schule in vielen Fällen diese Differenzen und tut so, als wären alle gleich.

Das ist ja auch viel einfacher. Man macht eine Gleichheit und dann geht's los, Und wer nicht mitkommt, der muß mal sehen.

Richtig, unsere Rollen sind schon wieder getauscht. Sie sagten :.. "und wer nicht mitkommt, der muß mal sehen". An dieser Feststellung will ich die Aufgabe der Schule und zur Unterrichtspraxis zeigen.

Zur Aufgabe der Schule?

Ja, die Schule hat die Aufgabe, alle Kinder von ihrer persönlichen Situation ausgehend möglichst gut zu fördern. Sie muß den Kindern und jedem Kind individuell sachlich, persönlich und sozial passende Aufgaben und Situationen stellen und dadurch jedem Kind wirksame Lernfortschritte und gute Erfahrungen ermöglichen.

Das ist etwas viel auf einmal, aber vielleicht können Sie das an der Praxis zeigen?

Zu Praxis, also:

Da sind zweiundzwanzig Kinder in einer Klasse, neunzehn Grundschulkinder und drei Kinder "mit besonderem Förderbedarf". Alle sind in der Klasse, das ist die Gleichheit. Aber jedes dieser Kinder ist verschieden, das ist die Differenz.

.... jedes dieser Kinder soll, haben Sie gesagt, "optimal gefördert werden".

Ich habe gesagt, "möglichst gut", aber das Wort "optimal" beschreibt die Aufgabe hier auch sehr gut. Diese Aufgabe, jedem der zweiundzwanzig Kinder gerecht zu werden, ist nur zu leisten, wenn der Unterricht differenziert gestaltet wird.

Differenz heißt Unterschied, differenzieren heißt also Unterschiede machen?

Ja, das ist eine anscheinend nicht einfache und im Grunde genommen doch einfache Sache.

Jetzt sprechen Sie in Rätseln, lösen Sie das mal auf.

Lösen sie das mal auf ! Also: Wenn Sie mit einer Klasse so stramm lesen lernen, wie Sie dies geschildert haben, dann kommt bald ein Moment, in dem die Klasse weit auseinanderläuft. Einige konnten schon lesen als sie zur Schule kamen, andere können im November anscheinend ganz plötzlich lesen, einige sind kurz davor, den großen Sprung in die Lesewelt zu tun und manche sind noch in den ersten Anfängen dieser Kunst.

Und jetzt?

Jetzt versucht man meist durch episodische Differenzierung die einen zu beschäftigen, die anderen etwas zu bremsen und den Dritten aufzuhelfen.

So, was ist daran falsch und schwierig?

Schwierig ist, daß die Kinder nicht gewohnt sind, zur gleichen Zeit und im gleichen Klassenzimmer verschiedene Aufgaben zu bearbeiten. Schwierig ist die Organisation dieser Arbeit und schwierig ist es, jetzt das passende Material zur Verfügung zu stellen.

Sicher, wenn etwas neu ist, ist es eine Zeitlang immer schwierig, aber das muß sich doch machen lassen. Und nachher, wenn die einen Kinder aufgeholt haben, dann kann es ja wieder gemeinsam weitergehen.

Das fragt sich, "ob die aufholen" und ob es dann sinnvoll ist, wieder mit allen gleich weiter zu machen.

Hören Sie, wenn Sie nicht irgendwann oder möglichst bald mit allen wieder gleich weitermachen, dann zementieren sich die Unterschiede. Dann können Sie die Kinder ja auch nicht mehr vergleichen im Zeugnis, weil sie im Unterricht ganz verschiedene Anforderungen stellen. Wo kommen wir denn da hin?

Gut, gut, "Wo kommen wir denn da hin? "Die Frage ist gründlich und vor allem gesellschaftlich zu untersuchen. Aber vorher nochmals zu der episodischen Differenzierung über kurze Zeit. Die lohnt sich nicht.

Wieso denn nicht?

Ich habe vorhin diese plötzlich einsetzende unterschiedliche Arbeit mit den Kindergruppen "episodische Differenzierung "genannt. Damit meine ich, daß sie irgendwann - wie eine Episode - anfängt, daß sie vorübergehend ist und wieder aufhört.

Klar, eben eine Episode. Das ist so ein Zwischenstück, aber dann geht es wieder ganz normal weiter.

"Geht es ganz normal weiter", Sie meinen damit daß alle wieder zur gleichen Zeit das Gleiche tun müssen und lernen sollen ?

Ja, jetzt drehen Sie den Spieß um und stellen an mich Fragen! Ja, wenn diese Zeit vorbei ist mit dem Aufholen, dann geht es wieder gemeinsam und gleich weiter, was denn sonst?

Jetzt sind wir am entscheidenden Punkt, an der entscheidenden Frage. Es soll, meine ich, gar nicht gleich weitergehen, sondern die Differenzierung, die Differenz der Aufgaben, Methoden und Anforderungen soll und muß bleiben. Deshalb unterscheide ich ja die episodische von der prinzipiellen Differenzierung.

Jetzt werden Sie wirklich prinzipiell, Sie wollen ernsthaft und auf Dauer so weitermachen, mit verschiedenen Aufgaben. Dürfen Sie das überhaupt vom Gesetz her?

Ja, in aller Deutlichkeit ja. Nehmen wir wieder die Klasse mit neunzehn Grundschulkindern und drei Kindern mit besonderem Förderbedarf. Ich habe gesagt, daß diese episodische Differenzierung, das Unterschiede machen hin und wieder, nicht sinnvoll ist. Es wirkt nicht oder nur schlecht und lohnt den Aufwand und die Aufregung nicht. Einmal kostet es erheblichen Aufwand an Erziehung und Organisation bis die Kinder an verschiedenen Aufgaben arbeiten und die Wirkung ist nicht so, wie man sich das vorstellt. Die einen holen nicht auf und die anderen warten nicht ab. Die Differenz wird größer und den Kindern, die schon lesen können, schaden sie durch den Stillstand und die vielleicht langweilige Beschäftigung. Differenzierte Arbeit lohnt sich nur und ist nur sinnvoll, wenn sie auf Dauer fortgeführt wird. Einmal gewöhnen sich dann die Eltern und die Kinder an diese Situation und die Kinder arbeiten mit der Zeit ganz routiniert für sich und ziemlich selbständig. Dann wird auch für die Lehrerin diese Arbeit zur guten Gewohnheit. Sie gewinnt immer mehr Sicherheit und Routine und kann sich dann mit besonderen Aufgaben und bestimmten Kindern befassen. Wenn man auf die Kinder sieht, hat die prinzipielle Differenzierung die gewünschte Folge, daß jedes Kind seine passenden Aufgaben erhält oder sie sich selbst sucht.

Leuchtet mir ein. Wie geht das denn, diese prinzipielle Differenzierung? Die Kinder sind immer weiter so unterschiedlich, so differenziert an der Arbeit? Wieso reden Sie dann von Gemeinsamem Unterricht? Und... was sollen denn die anderen Kinder, wie sagen Sie, die mit dem besonderen Förderbedarf, in diesem Unterricht?

Langsam, erst zur Frage, ob die immer differenziert arbeiten: Natürlich sind Kinder immer unterschiedlich, aber sie arbeiten nicht immer an differenzierten Aufgaben. Aus verschiedenen Gründen machen sie vieles gemeinsam und manches gleich. Ich gebe gleich dazu zwei Beispiele, vorher aber will ich noch sagen, daß sich die differenzierte Arbeit nur lohnt, daß sie nur wirksam wird, wenn sich ein großer Teil des Unterrichts auf Dauer differenziert entwickelt. Ich sage mal, wenn das auch so hingesagt etwas fahrlässig ist: So 60 bis 70 Prozent des Unterrichts sollten die Kinder differenziert und möglichst selbständig arbeiten,

Sie wollten aber noch Beispiele für gemeinsame Arbeit und gleiche Arbeit geben.

Gemeinsam sind viele Situationen: Die Kinder treffen sich in der Klasse, sie unterhalten sich, sie streiten, sie erzählen, sie beginnen miteinander den Unterricht. Jetzt beginnt der Unterricht für alle zur gleichen Zeit. Dann hören sie vielleicht gemeinsam eine Geschichte, malen an einem großen Bild oder bekommen von der Lehrerin erklärt, warum der Regen oft an den Bergen herunterfällt.

Ist das überhaupt "gemeinsam" und wieso macht man das gemeinsam?

Gemeinsam ist eine Situation und Arbeit, an der die Kinder beteiligt sind und zu der sie etwas beitragen können, das in ihren Möglichkeiten liegt. Die gemeinsame Arbeit an einer Sache oder Aufgabe ist so wichtig für die Kinder, weil sie gemeinsame Erlebnisse stiftet, weil die Kinder zusammen an einer Sache etwas entdecken, das von einem einzelnen Kind nicht entdeckt wird. Gemeinsam müssen sie an einer Sache und Aufgabe arbeiten, weil sie, das ist mir besonders wichtig, weil sie im Gemeinsamen Unterricht zusammen leben. Dadurch haben sie ständig Gelegenheit sich als Menschen im Zusammenleben zu üben. Das ist eine sehr notwendige Gelegenheit und wichtige Aufgabe.

Jetzt werden Sie aber prinzipiell. Bitte für gleiche Aufgaben auch noch ein Beispiel!

Wenn eine Methode neu eingeführt wird, wenn eine kommende Arbeit organisiert wird, wenn ein Lied gelernt wird, wenn eine Übungsaufgabe trainiert wird, dann ist es sinnvoll, daß alle Kinder zuhören, mitmachen oder die gleiche Aufgabe lösen. Einmal sind diese gleichen Organisationsarbeiten, Informationen und Arbeitssituationen in bestimmten Fällen die rationellste und wirksamste Form und dann kann auch jedes Kind merken, was es schon kann, was es noch nicht kann, was andere können, was sie denken und fühlen.

Und die Kinder mit dem besonderen Bedarf, die behinderten Kinder?

Diese doppelte Nennung ist auch doppeldeutig. Beide Wörter lassen sich wirklich verschieden deuten.

Wie meinen Sie das?

Einmal haben nicht nur die Kinder einen besonderen Förderbedarf, die sozusagen behördlich mit einem Gutachten diesen Bedarf bestätigt bekommen und die wir "behindert" nennen. Viele andere Kinder, also auch so genannte Grundschulkinder haben diesen Bedarf auch, sind auf verschiedene Weise behindert. Manche müssen über lange Zeit besonders gefördert werden, andere brauchen über einige Zeit besondere Zuwendung und Hilfe, wenn sich Lernprobleme entwickeln oder zum Beispiel zuhause eine Krise entsteht.

  • Aber das ist doch nicht zu leisten!

  • Mit allen Kindern gleiche Aufgaben und gemeinsame Arbeit,

  • allen Kindern ihre eigenen, differenzierten Aufgaben,

  • für einige Kindern mit besonderem Bedarf sowieso ihre besonderen Aufgaben,

  • und dann noch von Fall zu Fall für andere Kinder auch besondere Aufmerksamkeit und eigene Aufgaben?

Doch, das ist zu leisten, wenn man sich intensiv engagiert und die Umstände stimmen. Auf die Lehrerin hin gesehen sage ich ja zu ihrer Berufslaufbahn deshalb: dreißig Jahre sind genug.

Aber zurück zum Unterricht: Diese vielfältige Arbeit ist nur zu leisten, wenn die Kinder und die Lehrerinnen ganz grundsätzlich gewohnt sind, in einem wesentlichen Teil der Zeit differenziert und individuell zu arbeiten. Das beginnt konsequent mit dem Schulanfang. Die Mädchen und Jungen erfahren als Schulanfänger in diesen Klassen, daß auch in der Schule, in einem erheblichen Teil der Zeit, die Kinder der Klasse Verschiedenes tun, zum Beispiel verschiedene Aufgaben bearbeiten. Diese Gewohnheit setzt sich aus dem Kindergarten fort. So bleibt und ist es für die Kinder in diesen Klassen ganz selbstverständlich, daß sie in der differenzierten Arbeit ihre eigenen, passenden Aufgaben bekommen. Teilweise sind das die gleichen Aufgaben für alle Kinder, aber zu verschiedener Zeit, teilweise und bei Bedarf sind das andere Aufgaben zur gleichen Zeit. Teilweise wählen sich die Kinder ihre Arbeit selbst.

Können die Kinder das, oder fangen Sie mit ihren Anleitungen ganz von vorne an?

Ein großer Teil der Kinder ist schon ein Stück weit gewohnt, an unterschiedlichen Aufgaben und selbständig zu arbeiten. Im Kindergarten haben sie das ganz selbstverständlich so gemacht. Nicht alle waren zur gleichen Zeit am gleichen Material, nicht neben jedem Kind saß eine Erzieherin und die einzelnen Kinder gingen mal so eben auf das Klo oder guckten der Erzieherin bei einer interessanten Arbeit zu. Sie wurden nicht alle an der gleichen Aufgabe oder am gleichen Angebot immer gleich gesteuert.

Das wäre für die Kinder ja auch nicht sinnvoll, die müssen ja lernen, etwas alleine und sorgfältig zu machen!

Richtig, ich will das, weil Sie nach Praxis fragen, wieder am Lesen und Schreiben erklären. Prinzipielle Differenzierung heißt hier, beim Lesenlernen, daß die Kinder unterschiedlich starten, unterschiedlich schnell arbeiten und auch mit verschiedenen Methoden und Materialien arbeiten.

Das muß eine Lehrerin ja verrückt machen, wenn die zur gleichen Zeit Verschiedenes machen und die Eltern auch noch fragen, wann kann denn mein Kind....

Das muß es nicht, die Kinder machen zur gleichen Zeit Verschiedenes und zu verschiedenen Zeiten auch das Gleiche.

Aha, Sie meinen, früher oder später kriegen sie doch die gleichen Aufgaben und sind dann doch irgendwann auf dem gleichen Weg gleich weit gekommen?

Das ist nicht In jedem Fall so. Vereinfacht stellt man sich differenzierte Arbeit meist so vor: Ein Kind ist schon relativ weit auf der Bahn, ein anderes ist noch nicht so weit auf der gleichen Bahn. Dieses Kind arbeitet noch an den früheren, einfacheren Aufgaben. Das andere Kind arbeitet an den späteren, anspruchsvolleren Aufgaben. In der Praxis ist das sinnvollerweise nicht ganz so.

Ist nicht ganz so? Wie ist es dann in der Praxis?

Einmal muß nicht jedes Kind alle Aufgaben machen wie in einem Lehrgang für Maschinenschreiben oder in der Führerscheinprüfung. Wer später zu einer bestimmten Aufgabe kommt, hat vielleicht unterwegs schon soviel nebenher gelernt, daß diese Aufgabe nicht mehr so ausführlich bearbeitet werden muß.

Wer früher an diese Aufgabe kommt, ist vielleicht so geschickt, daß er sie nicht braucht und überspringen kann.

Auch das ist denkbar, aber mit dem Überspringen wäre ich vorsichtig.

Warum das?

Viele Eltern und andere, die Unterricht nur von außen sehen, und sich nur an die eigene Schulzeit erinnern, stellen sich Unterricht wie die Fahrt einer Bahn auf festen Schienen vor. Station für Station wird abgefahren, der Bummelzug kommt eben später an als ein Eilzug oder der ICE. So einfach ist die Arbeit nicht. Ich zähle mal verschiedene Möglichkeiten auf:

  • Die Kinder arbeiten gemeinsam an einer gemeinsamen Aufgabe.

  • Die Kinder arbeiten zur gleichen Zeit alleine an der gleichen Aufgabe.

  • Auch das muß es geben.

  • Die Kinder arbeiten zur gleichen Zeit an verschiedenen Aufgaben.

  • Die Kinder arbeiten zu verschiedenen Zeiten an den gleichen Aufgaben.

  • Die Kinder arbeiten nicht alle die gleichen Aufgaben ab.

  • Die Kinder kehren auch wieder zu Aufgaben zurück, die sie vor einiger Zeit schon bearbeitet haben.

Wieso denn das

Weil sie Spaß daran haben, eine Aufgabe die sie können, immer wieder zu bearbeiten, sie immer schneller und geschickter zu können. Das ist als Übung auch ganz wichtig. Sie machen das auch, weil sie sich mal ausruhen wollen von dem ständigen "Weitergehts" und auch aus reiner Funktionslust, weil das so schön läuft.

Dabei muß man wissen: Wenn die Kinder eine gekonnte Aufgabe immer wieder bearbeiten oder mit dem gleichen Material immer wieder arbeiten, entwickelt sich dabei unbemerkt ein neues Können, das dann ganz plötzlich auf eine neue Stufe führt.

Also, nochmal zurück. In einem Teil des Unterrichts arbeiten die Kinder gemeinsam. In einem Teil des Unterrichts wird auch das Gleiche geübt und gemacht. In einem großen Teil des Unterrichts und das von Anfang an, arbeiten die Kinder ganz verschieden an verschiedenen Aufgaben. Wie behalten Sie denn da die Übersicht, wie finden Sie für das einzelne Kind die richtige Aufgabe und woran orientieren Sie sich?

Das sind drei Fragen auf einmal:

Ihre erste Frage war: "Wie behalten Sie die Übersicht ?"

Ihre zweite Frage: "Wie finden Sie für das einzelne Kind die richtige Aufgabe?"

Ihre dritte Frage: "Woran orientiert sich die Lehrerin ?"

Zu Ihrer ersten Frage: "Wie behält sie die Übersicht?"

Stellen Sie sich die Szene vor. Nach einer gemeinsamen Arbeit beginnt die differenzierte Phase des Tages und die Kinder machen sich an ihre Aufgaben. Nun kann die Lehrerin nicht jedem Kind jedesmal seine Aufgaben verschreiben, das ist nicht zu leisten und auch nicht sinnvoll. Es gibt auf der einen Seite Ketten von Aufgaben. Diese Aufgaben bauen aufeinander auf. Es gibt Aufgabensammlung, die man von da und dort aus und auch auswählend bearbeiten kann und es gibt Materialien, mit denen man sehr verschieden arbeiten kann.

Die Lehrerin gibt dann zum Beispiel an einem bestimmten Tag allen Kindern eine Aufgabe, die aus der gemeinsamen Arbeit entstanden ist. Dann machen die Kinder anschließend an einer Aufgabenkette dort weiter, wo sie am Tag vorher aufgehört haben. Wenn sie mit einer Portion fertig sind, nehmen sie sich ein Material vor und arbeiten an einer Sache, die sie interessiert oder sie machen eine Pause.

Und die Lehrerin?

Ein Beispiel für eine typische Entwicklung: Die Lehrerin beobachtet zuerst einige Zeit die Kinder bei der Arbeit. Dann arbeitet sie mit einigen Kindern, anschließend hilft sie einem Kind und erfindet mit ihm eine neue Aufgabe, danach sitzt sie wieder an ihrem Platz und sieht Arbeitsergebnisse, die ihr von den Kindern gezeigt werden. Dabei hat sie immer wieder Gelegenheit, die Kinder zu beraten, ihnen Tips zu geben, mit ihnen etwas zu probieren.

Das ist aber nicht gerade einfach und auch nicht gemütlich.

Die Wirkungen dieser Arbeitsweise liegen zum Beispiel in diesem Vorgang: Während die Lehrerin so arbeitet, also zum Beispiel die Kinder bei der Arbeit beobachtet, was die meisten Außenstehenden gar nicht als Arbeit anerkennen, gewinnt sie eine sehr genaue Einsicht in den aktuellen Stand und ein differenziertes Wissen über die Arbeitsweise der einzelnen Kinder. So hat sie eine ungewöhnlich gute Übersicht und kann den einzelnen Kindern auch gezielt helfen, wenn es nötig wird. Das ist exakte und wirksame Arbeit im Sinne differenzierter Didaktik.

Und jetzt meine zweite Frage: Wie findet sie für das einzelne Kind die richtige Aufgabe?

Eigentlich habe ich schon die Antwort gegeben. In den Aufgabenketten schreitet das einzelne Kind so voran, wie das für dieses Kind möglich ist. In den Aufgabensammlungen sucht sich das Kind die passende Aufgabe. Mit dem Material lassen sich ganz verschiedene Aufgaben erfinden. Die Kinder sind es selbst, die sich die passenden Aufgaben suchen, sie differenzieren sich sozusagen die Arbeit selbst.

Da entstehen aber Probleme. Die Kinder können ausweichen, die Aufgabenketten müssen nicht so richtig passen und da kann auch viel Leerlauf entstehen.

Sie sehen ein tatsächliches Problem. Auch wenn Sie das als Steuerzahler jetzt gleich für unglaublich erklären, ein guter Anteil Leerlauf im Unterricht ist notwendig und unverzichtbar. Gleichzeitig gilt: Ein gekonnt differenzierter Unterricht bietet viel weniger Leerlauf und fordert die Kinder viel stärker wie der allgemein dahindudelnde Unterricht in dem man leicht abtauchen kann und sich nicht angesprochen fühlt.

Und woher nimmt die Lehrerin ihre Orientierung?

Sie muß so etwas haben wie eine Normvorstellung. Daraus gewinnt sie Ziele, von denen sie sich vorstellt, daß sie von den Kinder erreicht werden. Dazu findet sie in den Lehrplänen entsprechende Ziele und Arbeitsvorschläge. Dann kann sie sich an den entsprechenden Schülerbüchern und Lehrmaterialien orientieren. In den meisten Schulen gibt es auch so etwas wie schuleigene Vorstellungen, welche Ziele und Themen wann bearbeitet werden.

Aber das einzelne Kind, wo bleibt das einzelne Kind?

Ja, das war ja ihre Frage: "Wie findet die Lehrerin für das einzelne Kind die passende Aufgabe? " Einmal steckt in den Aufgaben und Materialsammlungen viel Erfahrung. Dadurch ist dieser Bestand schon relativ passend. Dann bietet gerade der differenzierte Unterricht - das ist ja sein Sinn und sein Ziel - Gelegenheit, dem einzelnen Kind eine Aufgabe oder Hilfe zuzumessen, die es in diesem Moment möglichst gut fördert. "Gut fördern" kann auch heißen, daß die Lehrerin sich sehr zurückhält und das Kind seiner Initiative überläßt oder daß sie andere Kinder zur Hilfe ermuntert oder auffordert.

Geben Sie doch mal ein Beispiel!

Ein Beispiel also: Ein Kind kommt zur Lehrerin, zeigt seinen von der Tafel abgeschriebenen Text. Es zeigt sich, daß uns Erwachsenen einfach erscheinende Wörter falsch geschrieben sind. Die Lehrerin wird auf dieses Problem aufmerksam, sie hilft erst einmal diesem Kind, die Fehler zu finden. Dabei zeigt sie keine Aufregung aber doch den deutlichen Willen, die Leistungssituation zusammen mit dem Kind zu verändern. Dazu beobachtete sie bei ähnlichen Arbeiten, wie dieses Kind Texte abschreibt. Sie sieht, daß es ein Wort oder sogar nur einen Wortteil nach dem anderen kopiert, immer wieder auf die Tafel oder zur Seite sieht und in kleinen Häppchen die Arbeit fortsetzt. Auf diese Weise müssen sich viele Fehler einschleichen, das ist keine sinnvolle Methode. Das Kind kopiert blind und mechanisch. Nach dieser Beobachtung übt die Lehrerin mit dem Kind, etwas längere Textstücke erst anzusehen, sie sich dann vorzustellen und sie dann zügig in einem Vorgang aufzuschreiben. Nach einiger Zeit hartnäckiger Arbeit nimmt die Schreibsicherheit dieses Kindes deutlich zu.

Mich wundert, daß die anderen Kinder da still halten.

Wie meinen Sie das?

Naja, das kann doch nur funktionieren, das ist vielleicht nicht das richtige Wort, wenn die Kinder sich auch so verhalten, wie es jetzt angesagt ist und nicht die Gelegenheit nutzen, nichts zu tun oder zu stören.

Richtig, die Grundlage aller differenzierten Arbeit ist geduldige und gezielte Einübung in die Arbeitsverfahren. Grundlage der Differenzierung ist die Entwicklung der Fähigkeit der Kinder, selbständig zu arbeiten. Dazu gehört, daß die Lehrerin den Kindern zumutet und zutraut, selbständig zu arbeiten und sich angemessen zu verhalten. Kurz gesagt, es geht um Erziehung. Erziehung ist, kann man sagen, die Grundlage der differenzierten Arbeit.

Das leuchtet mir ein, wenn es auch sehr knapp gesagt ist. Jetzt meine dritte Frage: Woran orientiert sich die Lehrerin?

Teilweise habe ich schon eine Antwort versucht. Die Lehrerin hat gewisse Normvorstellungen entwickelt. Sie stammen aus ihrer eigenen Erfahrung und aus den Zielvorstellungen, die an dieser Schule üblich sind. Orientierung kann und muß sie gewinnen aus den Lehrplänen und Richtlinien. Die neuen hessischen Rahmenpläne geben auf der einen Seite sehr klare Hinweise und Hilfen im pädagogischen Bereich. Sie formulieren auch Ziele zu den Gegenständen, Arbeitsweisen und Methoden des Unterrichts. Bei der Wahl der konkreten Themen fordern und fördern sie viel eigene Initiative. Im Blick auf die differenzierte Arbeit in einer integrativen Klasse oder Schule ist sehr viel Initiative und Selbstverantwortung der Lehrerinnen gefragt. Sie müssen sich die gemeinsamen und differenzierten Komponenten des Unterrichts selbst und verantwortlich gestalten, diese Aufgabe kann ihnen niemand und nichts abnehmen.

Und die Bücher, die in der Schule benutzt werden?

Ja, die sind eine wichtige Komponente der Orientierung und des Unterrichts. In der Praxis spielen die Schülerbücher und andere Materialien für die Orientierung im Blick auf Themen und Methoden eine wesentliche Rolle. In den integrativen Klassen allerdings sind sie mehr ein Material unter anderen und nicht so etwas wie das heimliche Programm des Unterrichts. Die Fibel hat zum Beispiel ihre dominierende Rolle für die Leseanfänger weitgehend verloren.

Aber dann muß es doch in einer integrativ arbeitenden Klasse verschiedene Normen geben?

Sie stellen Fragen! Dies ist eine Kernfrage der Integration.

Allgemein und im Zusammenhang mit unserem Thema Differenzierung kann man sagen, daß diese Norm- oder Zielvorstellungen wichtig sind. Auf der einen Seite müssen diese Normen und Ziele der Lehrerin bei der Entscheidung helfen, wohin die Arbeit gehen soll, welche Ziele sie mit den Kindern erreichen soll, will und kann. Auf der anderen Seite müssen diese Normen und die auf sie gerichtete Arbeit in jedem Jahr und zu jedem Zeitpunkt den Leistungsmöglichkeiten der Klasse, den Gruppen der Kinder und der Erziehungssituation angepaßt werden. Dabei muß die Lehrerin die Arbeitssituation der Kinder und der Klasse sehen und zum Beispiel durch Differenzierung darauf eingehen. Auf der anderen Seite braucht sie auch über den Tag und die Situation hinaus gültige Ziele und Gegenstände, an denen sie ihre Planung und die tägliche, gerade die differenzierte Arbeit ausrichtet.

Aber die Kinder sind doch nicht gleich und Sie wollen doch gerade differenzieren, also Unterschiede machen?

Ja, nur dürfen die Unterschiede, die ich mache und die ich bewußt zulasse, nicht so sein, daß ich einen Teil der Kinder sozusagen aufgebe und nach wenigen Wochen Arbeit in eine bestimmte Schublade einordne.

Das verstehe ich so nicht, was meinen Sie mit den Schubladen?

Also: wenn ich die Kinder in verschiedene Gruppen teile, indem ich von diesem Kind zum Beispiel eine relativ hohe Leistung erwarte und mich bei jenem Kind darauf einstelle, daßes vermutlich oder ziemlich sicher eine mäßige Leistung erreichen wird, dann...

Dann?

Dann erfüllt sich diese Einstellung auch ein Stück weit, weil ich dann meine Handlungen und meine Signale diesem Kind gegenüber teilweise sogar unbewußt so gestalte, daß dieses Kind sich auf die geringere Erwartung einstellt und mit einer geringeren Leistung antwortet.

Wenn die Lehrerin aber weiß, dieses Kind ist noch nicht so weit, kann das und jenes noch nicht, was dann?

Dann muß ihr das bewußt sein und sie muß sich so auf diese Situation einstellen.

Sie muß auf der einen Seite durch Differenzierung, durch individuelle Übung und gemeinsame Arbeit diesem Kind ganz gezielt dort helfen, wo es notwendig ist. Auf der anderen Seite muß sie auch für dieses Kind mit gelassener Beharrlichkeit anstreben, sozusagen nach oben offen zu arbeiten und mit diesem Kind immer wieder in der Arbeit auf eine neue Stufe der Qualität zu kommen.

Das ist ja wie die Quadratur des Kreises. Sie weiß, das Kind kann dieses und jenes noch nicht aber sie tut so, als würde es das Kind können.

Nein, das eben nicht. Einmal tut sie nicht so, als könne das Kind dieses oder jenes. Sondern sie strebt mit dem Kind danach, immer wieder Fortschritte zu erarbeiten. Sie sieht die Unterschiede zwischen den Kindern, setzt aber gleichzeitig in dieses Kind weiter und stetig Erwartungen. So entwickeln sich nicht selten gar nicht erwartete Fortschritte und plötzliche Leistungssprünge. Sie hält ihre Erwartung an jedes Kind aufrecht, ist grundsätzlich freundlich, aber entschieden im Umgang und differenziert ihren Unterricht. So erhält dieses und das andere Kind seine passenden Aufgaben. Gleichzeitig hat die Lehrerin Zeit, sich diesem und anderen Kindern zu widmen.

Wie sieht das denn in der Praxis aus, macht die Lehrerin für jedes Kind einen eigenen Zielkatalog und einen eigenen Arbeitsplan?

Da steckt schon wieder ein ganzes Bündel von Fragen drin. Erst zum Zielkatalog: Die meisten Lehrerinnen, die so arbeiten, entwickeln eine Art Korridor der Zielvorstellungen und Arbeitsmöglichkeiten. In diesem Bereich sollte sich jedes Kind mit seiner Arbeit und mit seinen Leistungen bewegen. Diese Zielvorgaben sind für die Lehrerin im Vergleich zu einem gleichschrittigen Unterricht besser zu erreichen, weil sie den einzelnen Kindern gezielt Aufgaben in diesem Arbeits- und Zielbereich zuordnen und sie so auch gezielt und passend fördern kann. Für die Kinder ergibt sich eine sehr wesentlich erweiterte Chance, ihre Leistungen und ihr Verhalten, ihr Arbeitsverhalten in diesem Zielkorridor zu entwickeln.

Das ist ja ganz schön kompliziert und anspruchsvoll. Bis jetzt habe ich die Arbeit nicht so gesehen. Wie sieht der Arbeitsplan dann aus und welche Vorteile und welchen Sinn hat dieses System denn für die Kinder mit besonderem Förderbedarf?

Schon wieder zwei schwierige Fragen auf einmal.

Der Arbeitsplan sieht meist so aus, daß die Lehrerin einen Korridor der Arbeitsmöglichkeiten für die Themen des Unterrichts, ihre Ziele, die daraus folgenden Aufgaben und die Arbeitsmethoden entwirft. Dafür entwickelt sie dann teilweise unter Beteiligung der Kinder die geeigneten Themen und die zugehörigen Ziele. Im Gemeinsamen Unterricht werden dann diese Themen in ihren wichtigen Grundlagen bearbeitet. Die Kinder arbeiten dann individuell oder in kleinen Gruppen an Aufgabenserien, die zu diesem Thema und den möglichen Zielen gehören. Wenn diese Aufgabenserien nicht passen für dieses oder jenes Kind oder nicht genügend differenziert sind, dann kann die Lehrerin den Kindern aus ihrem Fundus passende Aufgaben und Varianten geben oder mit dem Kind aussuchen und gemeinsam entwickeln.

Das ist ja eine bemerkenswerte Arbeit, wenn die anderen Kinder das mitmachen und nicht stören. Aber welchen Vorteil hat die Arbeit für die behinderten Kinder und warum brauchen diese Klassen mit dem Gemeinsamen Unterricht gerade die differenzierte Arbeit?

Ich versuche darauf zu antworten und teile meine Antwort in drei Stücke auf:

Der erste Teil meiner Antwort zielt auf ihre Bemerkung: "Wenn die andern Kinder das mitmachen und nicht stören".

Mit dem zweiten Teil meiner Antwort will ich versuchen zu erklären, warum integrative Klassen ohne differenzierte Arbeit nicht denkbar sind.

Und mit dem dritten Teil der Antwort will ich andeuten, wie der Unterricht und das Schulleben aussehen müssen, damit alle Kinder möglichst intensiv gefördert werden und in der Schule wirklich leben können.

Die erste Antwort zu ihrer ersten Frage... wenn die anderen Kinder nicht stören.

Vorhin habe ich gesagt, daß die Grundlage dieser differenzierten und gemeinsamen Arbeit Erziehung ist. Diese Erziehung muß immer wirksam sein. Das heißt, man darf nicht nur erziehen, wenn sich ein Kind nach der Auffassung der Lehrerin nicht richtig benimmt. Die Erziehung muß Grundlage der Arbeit sein und alles was zu tun ist, muß von dieser Erziehungsarbeit aus bestimmt werden.

Geben Sie ein Beispiel.

Wenn ich mit Kindern der ersten Klasse zum Beispiel einübe, daß sie selbst ein Material aus einem Fach zu holen ohne andere Kinder zu stören, dann darf ich nicht drängen, daß sie das möglichst schnell lernen, damit der Laden dann reibungslos läuft. Ich muß mich bewußt darauf einstellen, daß es seine Zeit braucht, bis fast alle Kinder sich in dieser Situation sinnvoll verhalten. Ich muß mich auch darauf einstellen, daß es für einige Kinder eine schwierige Aufgabe bleiben wird und ich muß wissen, daß ein Teil der Kinder in bestimmten Situationen dieses Können anscheinend vergißt.

Und warum nennen Sie das prinzipielle Erziehung?

Weil sich alle anderen Aufgaben wie die sachliche Arbeit diesen Erziehungszielen und der Erziehungsarbeit nachordnen müssen, und weil die differenzierte Arbeit nur auf der Grundlage ständiger Erziehungsarbeit gelingen kann.

Das braucht, jetzt von der Lehrerin aus gesehen, viel Kraft, gelassene Geduld, Selbstvertrauen und Zutrauen, das auf die Kinder gerichtete ist. Wenn die Lehrerin anfängt, die Erziehungsarbeit nur noch nebenher zu machen, weil sie irgendeinen Stoff sonst nicht durchkriegt, dann entsteht Druck auf die Kinder und dann geht, ich sage das jetzt sehr verkürzt, die Erziehungsarbeit schief und die ruhige Atmosphäre leidet, die für differenzierte Arbeit und für gutes Zusammenleben die Grundlage ist.

Ihre zweite Antwort: Warum ist integrative Arbeit ohne Differenzierung nicht denkbar?

Sie haben gesehen, daß sich die Aufgaben und Arbeitssituationen in einem prinzipiell differenzierten Unterricht sehr gezielt auf kleine Gruppen und einzelne Kinder entwerfen und ordnen lassen. Das gilt natürlich auch für die Kinder, die einen besonderen Förderbedarf haben. Es ist nicht entscheidend, ob es sich nun um sogenannte "behinderte" Kinder handelt, die im Rahmen der integrativen Arbeit in die Grundschule gehen, oder ob es sich um Grundschulkinder handelt, die wesentliche Arbeits- und Verhaltensprobleme entwickeln. Die Ausgangslage ist grundsätzlich gleich und unterscheidet sich nur individuell. Pauschal gesagt kann ich feststellen: Nur dieser Unterricht und dieses Schulleben in ihrem intensiven Zusammenwirken zwischen differenzierten und gemeinsamen Situation ermöglichen eine Arbeit, die für alle Kinder gedeihlich und wirksam ist. Die besondere Förderung, die ein Teil der Kinder benötigen, schließt sich dabei ganz selbstverständlich in die gemeinsame aber differenzierte Situation ein. Wenn alle Kinder in einer Situation arbeiten, können sie oft nicht feststellen, welches nun die behinderten Kinder sind. Meist fallen andere Kinder mehr auf Es leuchtet ein, daß ich in einem so organisierten Unterricht mit dieser Erziehungsgrundlage ganz selbstverständlich auch Situationen organisieren und entwickeln kann, in denen ein großer Teil der Kinder an den gegebenen oder gewählten Aufgaben arbeiten, während einige Kinder direkt mit einem erwachsenen Menschen zusammen tätig sind.

Damit wird nochmals klar, daß integrative Arbeit ohne Differenzierung nicht möglich ist. Es schadet nach meiner Auffassung auch nicht, wenn einige Kinder für einige Zeit außerhalb des Klassenzimmer anderswo tätig sind.

Gut, teilweise kann ich das nachvollziehen. Aber da bleibt doch noch eine Frage: In den Schriften zur Integration liest man, daß das Zusammenleben und Zusammenarbeiten aller Kinder in diesen Klassen die wahre Aufgabe sei. Dann liegt die Frage nahe: Wann arbeiten und leben alle Kinder mal so richtig zusammen, wenn Sie dauernd ihre eigenen Aufgaben alleine bearbeiten?

Alle, das ist so nicht der Fall, das habe ich auch so nicht angedeutet. Ich habe mehrfach wiederholt, daß nur in einem Teil der Zeit differenziert gearbeitet wird. Das können im Höchstfall vielleicht so 60-65 Prozent der Zeit sein. Auch in dieser Zeit können die Kinder und sollen zusammenarbeiten. Der andere Teil des Unterrichts, ich nenne ihn gemeinsamen Unterricht, läßt drei verschiedene Varianten zu:

Die erste Variante:

Die Kinder arbeiten alle gemeinsam am gemeinsamen Gegenstand, zum Beispiel entwickeln sie Ideen, wie und welche Bilder man zu einer vorgelesenen Geschichte herstellen kann.

Die zweite Variante:

Die Kinder haben einen gemeinsamen Gegenstand, zu dem sie unterschiedliche, selbst gewählte oder für sie entwickelte Aufgaben bearbeiten. Zum Beispiel überwinden sie in einer Bewegungsstunde alle einen Hinderniswald in der Turnhalle und wählen sich dabei unterschiedlich schwierige Hindernisse aus.

Die dritte Variante:

Die Kinder sind alle in ihrem Klassenraum zusammen und arbeiten aber an verschiedenen Aufgaben. Auch hier entwickelt sich eine sehr wertvolle integrative Situation, weil die Kinder jederzeit miteinander zu tun haben können, sich gemeinsam an eine Aufgabe machen können, sich ein Material teilen, ein Schwätzchen halten oder auch streiten. Ich schätze diese gemeinsame Situation als genau so wirksam ein, wie die Arbeit an einem gemeinsamen Gegenstand. Hier bringen die Kinder auch die Beiträge, die sie eben leisten können und keine anderen.

Ihre dritte Antwort. Jetzt sagen Sie gleich, Sie haben sie schon gegeben, was ja auch ein Stück weit stimmt.

Ja, sehe ich auch so, dann geben doch Sie die Antwort!

Also, die Kinder der integrativen Klasse sind den größten Teil der Zeit zusammen in einem oder mehreren Räumen. Sie leben so miteinander und werden auch miteinander erzogen. Sie arbeiten teilweise an einem gemeinsamen Gegenstand und da an einer gemeinsamen Aufgabe. Teilweise arbeiten sie auch an einem gemeinsamen Gegenstand aber doch mit unterschiedlichen Beiträgen und vielleicht auch unterschiedlichen Aufgaben. Dann gibt es einen großen Teil der Zeit, in dem die Kinder an unterschiedlichen Aufgaben und in einer etwas unterschiedlichen Situation arbeiten, Weil sie miteinander Kontakt haben, können sie aber auch zusammen arbeiten. In einem kleinen Teil der Zeit können die Kinder, und nicht nur die behinderten Kinder, auch für sich oder mit Erwachsenen in einem anderen Raum arbeiten, das ist möglich. In dem ganzen System scheinen mir zwei Komponenten besonders wichtig.

Welche meinen Sie?

Daß alle Kinder während ihrere ganzen Zeit in der Schule zusammen leben und arbeiten und daß sie dabei die Aufgaben haben, die sie teilweise gemeinsam bearbeiten, daß sie aber auch Aufgaben bekommen, die auf sie passen.

Ganz richtig, so eigenartig das klingt, die Pausen und die Zeiten, in denen die Kinder privatisieren, also nicht direkt in Sinn der Schule lernen und arbeiten, diese informellen Zeiten auch mitten im Unterricht sind besonders wichtig.

Und eines ist mir noch wichtig.

Das wäre?

Es klingt alles so leicht, wenn man darüber spricht. Für alle und vor allem für die Lehrerinnen ist das eine auch sozusagen menschlich anstrengende Aufgabe, die größere Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient und die man nicht nebenher als Halbtagsjob betreiben kann.

Richard Meier, Jahrgang 1937. Zehn Jahre tätig als Volksschullehrer. Seit 1968 am Institut für Schulpädagogik der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt. Mitbegründer des Arbeitskreises Grundschule. Neben der Lehrerbildung (l. Phase) gleichberechtigt in der Lehrerfortbildung tätig. Zentrales Thema der Arbeit: Gemeinsamkeit und Differenz. Erste Erfahrungen mit Integrativen Arbeiten um 1965 im Versuch, langzeitlich kranke Kinder aus Kinderkliniken in Grundschulklassen zu integrieren. Seit 1978 Mitarbeiter an Integrationsarbeit im Kindergarten, seit 1983 im schulischen Bereich. Weitere Arbeitsschwerpunkte. soziale Fragen des Grundschulunterrichts, Sachunterricht, offene Unterrichtsformen.

Johannes Batton & Sigi Gundlach: Ein Blick in die Praxis Gemeinsamen Unterrichts

Wir haben im Schuljahr 1987/88 mit der gemeinsamen Arbeit in einer Integrationsklasse der Grundschule Bad Soden-Allendorf begonnen und 1991/92 erneut zusammen eine erste Klasse übernommen. Unsere gemeinsame Aufgabe hat für uns vieles in Bewegung gebracht. Sie hat unsere tägliche Unterrichtsarbeit und unser Selbstverständnis als Grundschullehrerin bzw. als Sonderschullehrer verändert. Diese Veränderungen vollzogen sich nicht von heute auf morgen. Sie sind Ergebnisse der Entwicklung und Umsetzung eines gemeinsamen Konzepts. Dieser Prozeß war häufig mühsam, er wird von uns jedoch in jedem Fall als bereichernd empfunden. Zusammenarbeit macht Spaß!

Nach unserer Überzeugung stellt Integration für jede Regelschule eine pädagogische Herausforderung dar. Sie ist längst nicht vollzogen durch die bloße Hereinnahme behinderter Kinder und eines Stützlehrers in einen sonst nach herkömmlichem Muster ablaufenden Unterricht.

So sehen sich Kolleginnen und Kollegen vor für sie völlig neuartige Fragen gestellt. Sie sollen geistig behinderte, verhaltensauffällige, autistische, lernbehinderte - und wie auch immer wir Kinder zu klassifizieren gewohnt sind - gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern unterrichten - alles Kinder mit abweichendem Lern- und Sozialverhalten, die "normalerweise" schnell zu Außenseitern werden, bzw. mit denen Regelschullehrer und Regelschüler häufig gar nicht erst in Berührung kommen.

Kolleginnen und Kollegen sehen sich also mit folgenden Fragen konfrontiert:

Wie kann es gelingen,

  • daß auch solche Kinder zu akzeptierten und anerkannten Mitgliedern einer Klassengemeinschaft werden

  • und mit den auf teilweise völlig anderen Entwicklungsniveaus handelnden Mitschülern gemeinsam ins Handeln kommen

  • und wie ist es schließlich möglich, für sie wie auch die anderen Kinder sicherzustellen, daß sie die für sie vorgegebenen Lernziele erreichen ?

Das hieß zum Beispiel zu Beginn des Schuljahres 87/88 - für uns:

Wie kann es gelingen ein Kind zu integrieren,

  • das auf Ansprache in der Regel überhaupt nicht oder mit Stereotypien motorischer oder verbaler Art reagierte,

  • das so gut wie kein Imitationsverhalten zeig te,

  • das auf die anderen Kinder nicht zuging,

  • das sich, wenn man es gewähren ließ, stundenlang in die Leseecke setzte,

  • das gelegentlich lautstark und kaum zu stoppen weinte, schrie oder in der Klasse umherrannte,

  • dessen zielgerichtete Handlungen sich auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse beschränkten und mit dem

  • kein noch so einfaches Gespräch möglich war?

In unseren Augen sind vor allem drei Aspekte für das Gelingen integrativen Unterrichts entscheidend.

Aufbau einer integrativen Kompetenz der Mitschüler

Abweichende Verhaltensweisen zwingen Lehrer in I-Klassen von Anfang an, allen Kindern die Möglichkeit zu geben, diese Verhaltensweisen gedanklich einzuordnen, indem sie kommentiert und interpretiert werden, vor allem um damit verbundene Unsicherheiten und Ängste überwinden zu helfen. Hieraus kann sich nach und nach eine den Unterricht ständig begleitende und mit den Kindern gemeinsame Suche nach Möglichkeiten entwickeln, die behinderten Kinder in die verschiedensten Unterrichtsbereiche miteinzubeziehen.

Einigen Kindern wird dadurch nach unserer Erfahrung bald zu eigen sein, bei allem, was sie unternehmen, die behinderten Kinder mitzudenken und sich zu fragen, wie sie in die entsprechenden Aktivitäten einzubeziehen seien.

Einige Kinder werden in diesem Prozeß erstaunliche Fähigkeiten und viel Phantasie entwickeln. So konnten wir z.B. immer wieder fasziniert beobachten, wie Schüler - sicherlich auch orientiert am Modell ihrer Lehrer -

  • sich im Morgenkreis neben ein behindertes Kind setzen,

  • dieses auf das Unterrichtsgeschehen orientieren,

  • wie sie dabei auf ein einfacheres sprachliches Niveau herunterschalten, und ihm mit sparsamen Worten und Gesten und unter Zuhilfenahme von mitgebrachten oder bereitgestellten Materialien gewissermaßen eine Übersetzung des für das behinderte Kind sonst viel zu komplex bleibenden Unterrichtsgeschehens liefern.

Es ist herauszustellen, daß diese Schüler in diesen Aktivitäten eine hochabstrakte Leistung vollbringen: sie schaffen es nämlich, einen komplexen Gegenstand aufzunehmen, zu verarbeiten und schnell die wesentlichen Informationen herauszufiltern, die für einen anderen aufnehmbar sind. Diese Fähigkeit kann im Unterricht übrigens ständig Anwendung bei der Zusammenarbeit der Kinder finden - nicht nur bezogen auf behinderte Kinder. Kleine Fortschritte der behinderten Kinder werden von fast allen Mitschülern sehr genau wahrgenommen. Diese Sensibilisierung in der Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Verhaltensweisen beschränkt sich übrigens ebenfalls nicht nur auf die behinderten Kinder.

Nun besteht Schule ja nicht nur aus Morgenkreis, Pause und Sport, wo es für jeden relativ leicht vorstellbar ist, daß Kinder auch unterschiedlichster Entwicklungsniveaus gewinnbringend an denselben Aktivitäten teilnehmen.

Wie gelingt es aber, die Kinder im übrigen Unterricht miteinander ins Handeln zu bringen, und zwar so, daß alle davon profitieren, so, daß jedes Kind, das schwächste wie das stärkste, gefördert und gefordert wird?

Dies geht nach unserer Erfahrung - und damit kommen wir zum zweiten Punkt - nur durch veränderte Unterrichtsformen.

Veränderungen der Unterrichtsorganisation

Integration erfordert nach einer Definition von Feuser einen Unterricht, in dem alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau an und mit einem gemeinsamen Gegenstand spielen, lernen und arbeiten.

Eine derartige Arbeit erfordert die weitgehende Abwendung von frontalen Unterrichtsformen und die Öffnung hin zu projektorientierten Formen des Lernens bzw. zur Umsetzung von Binnendifferenzierung etwa im Sinne eines Wochenplans, an dem die Schüler selbstplanend an vorgegebenen überschaubaren Arbeitsaufträgen und Materialien tätig werden.

In einem solchen Unterricht ändert sich auch die Rolle des Lehrers. Er steht weniger als bisher im Mittelpunkt. Das gemeinsame, selbständige Lernen der Kinder untereinander in Partner- und Gruppenarbeit gewinnt an Bedeutung. Der einzelne Schüler bekommt dadurch mehr Lehrerzeit, Zuwendung, Anleitung und flexible - auch sonderpädagogische - Hilfe. Jedes Kind arbeitet in seinem Tempo auf die ihm mögliche Weise und wird dabei individuell beobachtet und unterstützt. Wichtig für einen solch offenen Unterricht ist also einerseits, jedem Kind zu ermöglichen, daß es so viel lernt, wie es kann. Andererseits sollen alle Kinder auch miteinander und voneinander lernen. Allen soll somit die Gelegenheit gegeben werden, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen und die ihrer Mitschüler zu erkennen und akzeptieren zu lernen.

Um es ganz konkret zu machen:

Hätten Sie uns einmal im Unterricht unseres zweiten Schuljahrs besucht, dann hätte sich Ihnen z.B. folgendes Bild bieten können: Auf dem Stundenplan steht "Wochenplanarbeit". Soweit die Kinder nicht gerade eine kleine Pause machen oder sich mit Mathematikaufgaben auseinandersetzen, beschäftigen sie sich auf unterschiedliche Weise mit dem gemeinsamen Gegenstand dieser Woche.

Ein Thema, das uns lange begleitet hat, war damals ein nahe an der Schule gelegenes Feuchtbiotop als Lebensraum. Zu einer näheren Beschäftigung mit den Fischen, die in diesem Teich leben, kamen wir dadurch, daß ein Schüler die Feuerwehr dabei beobachtet hatte, wie sie dem Wasser Sauerstoff zusetzte, weil der Teich "umgekippt", war und schon viele Fische an Sauerstoffmangel zugrunde gegangen waren.

Während ein Kind die Geschichte "Bumfidel hat keinen Fisch gefangen" auf Kassette liest und ein zweites Kind eine vereinfachte Version des gleichen Textes lesen übt, haben sich zwei Kinder zusammengefunden, die sich den bekannten Zungenbrecher von "Fischers Fritze" als Partnerdiktat diktieren.

Einige Kinder wiederum malen für ein Angelspiel möglichst genau einen in unserem Teich vorkommenden Fisch ihrer Wahl auf Karton und schneiden ihn aus, während andere sich in die Leseecke zurückgezogen haben, um sich aus Sachbüchern Informationen über die von ihnen bereits gemalten Fische zu beschaffen, von denen sie uns im Morgenkreis des nächsten Tages berichten sollen.

Wieder andere üben sich im "freien Schreiben", indem sie "ihre Fischgeschichte" zu Papier bringen oder ihre Fragen für den bevorstehenden Besuch des Spezialisten vom Angelsportverein notieren. Jenes schwer behinderte Kind, das eingangs kurz charakterisiert wurde, hätte man in einer solchen Situation z.B. dabei beobachten können, wie es unter starker Anleitung und Führung eines Lehrers oder eines Mitschülers den Teich für unser Klassen-Angelspiel herstellt, indem es Flächen mit Wasserfarben ausmalt oder gerade die Streifen für Gras und Schilf abschneidet und sie aufklebt.

Es bietet sich also eine große Vielfalt von Aktivitäten um einen

  • gemeinsamen Gegenstand

  • mit verschiedenen sich ändernden Sozialformen wie Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit

  • sowie Einzel-, bzw. Kleingruppenbetreuung

  • durch die beiden Lehrer.

Wichtig ist, daß auch die behinderten Kinder einen für die Klasse bedeutsamen und attraktiven Beitrag zum Unterrichtsthema leisten. Dies ist nicht nur für ihre Akzeptanz in der Gruppe von Bedeutung, sondern garantiert darüberhinaus, daß sie bei derartigen Aktivitäten selten allein, sondern meist von ein oder zwei Mitschülern umgeben sind, die mit ihnen zusammenarbeiten wollen.

Die Zusammenarbeit von Grund- und SonderschullehrerIn

Es ist sicher deutlich geworden, daß Gemeinsamer Unterricht - soll er mehr sein als die bloße räumliche Zusammenführung behinderter und nichtbehinderter Kinder - sehr aufwendig zu organisieren ist. Offene Unterrichtsformen, die zunehmend mehr die unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen aller Kinder berücksichtigen sollen, fordern auch so schon eine hohe Kompetenz, einen großen Einsatz und viel Phantasie von den LehrerInnen. Wenn darüber hinaus auch noch die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen beachtet werden sollen, dann ist die Kooperation von Regel- und Sonderschullehrerin neben der gemeinsamen Vor- und Nachbereitung auch im Klassenzimmer unabdingbar notwendig. Die Zahl der doppeltbesetzten Stunden sollte nach unserer Einschätzung in der Regel nahe an der vollständigen Doppelbesetzung liegen. Integrativer Unterricht wie wir ihn skizziert haben, ist Gemeinsamer Unterricht auch in dem Sinn, daß nicht etwa der Sonderschullehrer nur für die behinderten Kinder und die Regelschullehrerin für den Rest der Klasse zuständig wäre. Dies hieße, die Sonderschule durch Sonderbänke in den Klassen abzulösen. Aufgabe des Teams ist es vielmehr, unter Austausch ihrer jeweiligen Kompetenzen einen Unterricht für die gesamte Klasse zu organisieren, in dem sich wechselseitig mal der eine oder der andere mehr einzelnen Kindern oder Gruppen von Schülern zuwendet. Die Förderung behinderter Kinder in Regelschulen in der Form, daß eine SonderschullehrerIn bloß stundenweise "hilft", halten wir für problematisch. Dies ist sinnvoll bei Kindern mit Lernschwierigkeiten, die häufig auf lange Sicht auch ohne zusätzliche Sonderschullehrerin unterrichtet werden könnten und die durch gezielte Hilfen vor Schulversagen und vor dem Ausschluß bewahrt werden können. Daher muß auch dies im Einzelfall möglich sein. Die schwierige Aufgabe, gemeinsam ein integratives Unterrichtskonzept zu entwickeln und umzusetzen, ist bei nur wenigen gemeinsamen Wochenstunden nicht zu bewältigen. Wir erreichen so sicher auch nicht die Schule, die wir uns wünschen und die möglich ist: die Schule für alle, auch für schwerbehinderte Kinder.

Johannes Batton, Sonderschullehrer, Diplompädagoge, seit 1984 an der Grundschule Bad Sooden-Allendorf

Sigi Gundlach, Grundschullehrerin, seit 1 1978 an der Grundschule Bad Sooden-Allendorf

seit 1987 gemeinsame Leitung einer Integrationsklasse, Mitarbeit beim Hessischen Institut für Lehrerfortbildung, Buchveröffentlichung:

Katharina und Tim - zwei behinderte Kinder, der Kampf um ihre schulische Integration und die Folgen, Schwelm 1990

Video-Film (im Auftrag des Hess. Kultusministers):Eine Schule für alle - Gemeinsamer Unterricht - wie geht das? (im Verleih der Hess. Stadt- und Kreisbildstellen, Nr.42 47921)

Hajo Rother-Dey: Vom Schulversuch zur Regeleinrichtung

Vier Jahre im Gemeinsamen Unterricht an der Heiligenstockschule in Hofheim. Ein Erfahrungsbericht

Das In-Frage-Stellen muß nicht vom In-Bewegung-Bringen getrennt sein. Der Zweifel, die Ungewißheit, die Flüssigkeit und der Widerspruch des einen sind von der Gewißheit, der Festigkeit und dem Aufbau des anderen nicht so weit entfernt. Obwohl sie Rivalen sind, ist jede die Bedingung des anderen.

Axelos

Der Beginn: Ein Traum wird wahr

Ich bin Sonderschullehrer für geistigbehinderte und lernbehinderte Kinder. Schon in meiner Ausbildung habe ich mich eingehend mit der Integration behinderter SchülerInnen in die allgemeine Schule beschäftigt. So reiste ich nach Dänemark, um das dortige Schulsystem kennenzulernen und hospitierte in entsprechenden Berliner Schulversuchen. In mir reifte damals der Wunsch, einmal im Gemeinsamen Unterricht zu arbeiten. Da zu dieser Zeit eine Einstellung in den Schuldienst eher unwahrscheinlich war, wurde daraus ein Traum.

Entgegen meinen Erwartungen wurde ich dann doch bald nach meinem Referendariat in den Schuldienst übernommen und arbeitete drei Jahre an einer Schule für Lernbehinderte. In dieser Zeit begann ich, die Integrations-AG der benachbarten Heiligenstockschule zu besuchen und lernte dort Elke kennen, die Grundschullehrerin, mit der ich letztendlich vier Jahre zusammen arbeiten sollte.

So beginne ich 1990 meine Arbeit als Sonderschullehrer im Gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder in einer ersten Klasse an Hofheim, einer Grundschule mit Förderstufe. Es ist bereits der vierte Jahrgang an der Schule, in der eine Integrationsklasse - damals noch als Schulversuch - gebildet werden kann.

Das erste Jahr: Die Integration des Sonderschullehrers in die Grundschule

Mein Einstieg in die Arbeit ist voller Enthusiasmus. Ich freue mich auf die 18 Kinder, die wir vorher fast alle in ihren Kindergärten besucht haben. Ich habe viele Ideen im Kopf, wie Gemeinsamer Unterricht aussehen könnte. Wörter wie Eigenfibel, Wochenplan, Projektunterricht oder die Forderung Feusers nach kooperativem Lernen am gemeinsamen Gegenstand spuken in meinem Kopf. Gleichzeitig bin ich auch unsicher, ich habe noch nie in einer 1. Klasse unterrichtet und nur theoretische Kenntnisse vom Erstlesen und Erstschreiben. Elke wiederum hat noch nie mit behinderten Kindern gearbeitet. Wir beschließen durch Anschauung und Nachahmung voneinander zu lernen. Zudem treffen wir eine Entscheidung, die sich später als richtungsweisend für alle Integrationsklassen an unserer Schule erweist. Entgegen der Arbeit der anderen Klassen verteilen wir die Unterrichtsverantwortung nicht nach Fächern sondern thematisch, d.h., daß wir nach Abschluß eines Themas die Fächer Deutsch/Sachunterricht einerseits und Mathematik andererseits tauschen. Dadurch ist unsere Zufriedenheit mit der gemeinsamen Arbeit weitgehend gewährleistet, da jeder von uns am Gestaltungsprozeß des gesamten Unterrichts bestimmend mitwirken kann.

Dieser Schritt, eher aus dem Bauch heraus getroffen, erweist sich vor allem für meine Zufriedenheit später als unbedingt notwendig. Elke hat viel Erfahrung mit dem Unterricht an der Grundschule, den Grenzen, die Lehrpläne setzen und den Erwartungen von Eltern. Ihr scheint z.B. die Erarbeitung einer Eigenfibel zu unökonomisch. Ich fühle mich ernüchtert. So arbeiten wir mit einer Fremdfibel, die wir sehr differenziert und mit viel Materialeinsatz variieren. Durch unser Fächertauschsystem gewinne ich im Laufe der Zeit immer größere Sicherheit im Unterricht mit den SchülerInnen und kann meine Ideen und Vorstellungen immer besser einbringen. Stefanie, Tobias und Michael, die sogenannten behinderten Kinder, geben mir in diesem Schuljahr viel Halt und sind mein Orientierungspunkt. Da sie nach einiger Zeit z.B. mit der Fibel nicht mehr viel anfangen können, stelle ich für sie eigene Bücher und Karteien her oder bastle Lernspiele. Ihre, Freude darüber, die Fortschritte, die sie machen und die Anerkennung dafür, erfüllen mich mit viel Stolz und sind Antrieb, so weiter zu arbeiten. Auch ist es schön mit anzusehen, wie Tobias und Michael sich in der Klasse wohlfühlen und sich zurecht finden. Stefanie braucht da viel mehr Zuwendung.

Sie ist geistig behindert (Down-Syndrom). Sie zieht sich während des gleitenden Unterrichtsbeginns stets in die Leseecke zurück, um dort zu spielen. Ich trage sie wochenlang in unseren Morgenkreis, wo sie sich auf meinem Schoß sitzend bei mir versteckt. Elke und mir wird ganz warm ums Herz, als sie zum ersten Mal alleine zum Stuhlkreis kommt.

Nicht nur mir gelingt eine zunehmende Souveränität im Umgang mit der Regelschulsituation, auch Elke wird immer selbstverständlicher in ihrer Beziehung zu den behinderten Kindern. Es ist durchaus so, daß ihr z.B. bei Hospitationsbesuchen - die wir in den ersten zwei Jahren zuhauf erleben - die Arbeit mit Stefanie oder Michael Sicherheit gibt.

Zum Ende des Schuljahres führen wir ein über zwei Monate dauerndes Projekt zum Thema Umweltschutz durch, an dessen Produkterstellung (Wandzeitung, Gegenstände aus Abfallmaterialien) wirklich alle Kinder beteiligt sind. Die Ergebnisse werden in einer Hofheimer Buchhandlung ausgestellt.

Ich bin teilweise versöhnt mit meinen anfangs nicht eingelösten Ansprüchen. Elke und ich sind ein kompromißfähiges und gut miteinander arbeitendes Team geworden. Mir ist die Integration in die Grundschule gelungen. Aber ist das das Ziel gewesen? Oder muß sich nicht auch die Grundschule verändern?

Das zweite Jahr: Doch nur ein duales Unterrichtssystem oder: Wo bleibt die Gemeinsamkeit im Unterricht ?

Das zweite Schuljahr beginnt für Elke und mich unter denkbar schlechten Voraussetzungen. Elke ist schulintern und ich bin privat großen Belastungen ausgesetzt. Im Rückblick weiß ich, daß unsere Arbeit darunter gelitten hat. Es dauert immerhin drei Monate bis wir das besprechen können. In dieser Zeit arbeiten die nichtbehinderten SchülerInnen in erster Linie mit ihren Schulbüchern und die behinderten Kinder lernen zwar im gleichen Raum, aber an eigenen Lehrgängen. So stellt der Unterricht nur ein bloßes Nebeneinander dar, ein duales Unterrichtssystem. In mir wächst eine zunehmende Unzufriedenheit. Wo ist denn hier der Gemeinsame Unterricht? Auch glaube ich zu bemerken, daß behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen zu wenig gemeinsame soziale Berührungspunkte während des Schultages haben. Unser beider Beobachtung nach sind die Kinder auch weniger selbständig als wir erwartet haben. Die Kinder aber fühlen sich dabei durchaus wohl. Ist das etwa nur unser Problem?

Endlich finden Elke und ich die Energie, dies gemeinsam zu besprechen. Unser Gespräch wirkt regelrecht befreiend auf unsere Arbeit. Wir beschließen unser Differzierungssystem der "Schubladenarbeit" durch mehr Wochenplanarbeit zu ergänzen. Jede Schülerln unserer Klasse hat ein Schubladenfach, in dem sich Arbeitsmaterialien (Karteikarten, Lernspiele, Partnerübungen, Arbeits- und Leseblätter etc.) befinden, die ihrem Lernniveau entsprechen. Während unserer Differenzierungsstunden können sie aus diesem Angebot frei auswählen, Die Kinder mögen diese Arbeit sehr gerne, und wir wollen sie auch weiterhin beibehalten. Durch die Wochenplanarbeit versprechen wir uns mehr Gemeinsamkeit im Handeln der Kinder. Wir führen zwei fächerübergreifende Unterrichtseinheiten zu den Themen "Die Zeit" und "Die Sinne" durch, die wir in Wochenplanarbeit organisieren, und die zu unser aller Zufriedenheit verläuft. Weiterhin setzen Elke und ich die Idee um, regelmäßig mit jeweils sechs Schülerlnnen schwimmen zu gehen oder für die Klasse zu kochen. Die gemeinsamen Mahlzeiten sind jedesmal ein Fest.

Zuvor haben wir in einem Kreisgespräch die unserer Meinung nach zu geringen Kontakte vor allen Dingen von Stefanie zu ihren MitschülerInnen thematisiert. Lena gibt uns daraufhin eine Antwort, die einfach und aufrüttelnd zugleich ist: "Wir dürfen ja nicht!". Die Schülerlnnen haben den Eindruck, daß wir ihnen ob der Leistungsanforderungen, die wir an sie stellen, keine Zeit lassen, mit Stefanie während des Unterrichts zu lernen und zu spielen. Das bedeutet, es liegt an uns, an den Leistungserwartungen, die wir verspüren und von manchen Eltern auch deutlich gezeigt bekommen und die wir an die Kinder weitergeben. Die Schülerlnnen schließlich finden eine Lösung für diese Situation. Da sie während des Unterrichts nicht alle zur gleichen Zeit mit Stefanie lernen und spielen können, vereinbaren sie eine täglich wechselnde Zuständigkeit für Stefanie. Stefanie nimmt dieses Angebot freudig an und ihre MitschülerInnen zeigen dabei ebenfalls viel Spaß und Engagement. Daß sie ihr Aufgaben viel einfacher und gradliniger erklären können, haben wir zuvor schon oft erlebt. Nun erwächst einzelnen Kindern auch ein Verantwortungsgefühl für Stefanie. Noch etwas müssen wir unserem Lehrerverhalten zuschreiben: Die mangelnde Selbständigkeit der Kinder in ihrem Arbeitsverhalten. Wir sind zu zweit mit 18 SchülerInnen und einer von uns ist immer sofort zur Stelle, wenn ein Kind ein Problem oder Verständnisschwierigkeiten hat. Elke und ich beschließen, uns zurückzunehmen und gegenseitig dabei zu kontrollieren.

Durch die unterrichtsorganisatorischen Veränderungen und die Änderungen unseres Lehrerverhaltens haben wir erreicht, daß wir am Ende des zweiten Schuljahres doch recht zufrieden zurückblicken und optimistisch in die Zukunft sehen. Es war ein schwieriges Jahr.

In diesem Jahr hat mit der 5a gleichzeitig auch die erste Integrationsklasse in der Förderstufe unserer Schule ihre Arbeit begonnen. Die ersten Kontaktgespräche mit der benachbarten Gesamtschule über die Weiterführung der Integrationsklassen nach Klasse 6 werden geführt.

Das dritte Jahr: Es geht also doch oder - Die Verwirklichung einer Idee

Das dritte Schuljahr beginnen wir mit vielen guten Vorsätzen. Wir wollen noch stärker als in den vergangenen zwei Jahren den Unterricht vom Sachthema her vorbereiten; wir werden versuchen' so oft es geht, einen gemeinsamen Lerngegenstand zu entwickeln. Wir treffen eine Themenauswahl. Elke läßt sich dabei stark vom Grundschullehrplan leiten, ich von meinen persönlichen Interessen. Und die SchülerInnen wollen wir dabei auch nicht aus den Augen verlieren.

Nach den Sommerferien beginnen wir ein Unterrichtsprojekt zu meinem Lieblingsthema "Indianer", das uns das ganze dritte Schuljahr begleiten sollte und für mich einen Meilenstein in unserem Gemeinsamen Unterricht darstellt. Wir arbeiten zwei Monate intensiv an diesem Thema, sowohl fächer- als auch stundenübergreifend, mit und ohne Wochenplan. Außer Mathematik sind alle Unterrichtsfächer in das Projekt eingebunden. Wir unternehmen Exkursionen, kochen indianisch und zelten eine Nacht auf dem Schulgelände, mit Lagerfeuer natürlich. Ziel des Projektes ist die Herstellung eines persönlichen Indianerbuches mit den individuellen Geschichten, Bildern und Informationen eines jeden Kindes, sowie die Gestaltung einer Ausstellung mit den angefertigten Indianerutensilien und eines Miniatur-Indianerlagers in der Pausenhalle der Schule. Die Kinder sind mit großer Begeisterung und vor allen Dingen gemeinsam bei der Sache und bekommen viel Anerkennung für ihre Arbeiten. Die Schülerlnnen stehen mit ihrem Projekt in mehreren Zeitungen und bekommen am Ende des Schuljahres einen Preis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Derart motiviert vom Erfolg des Projektes und vom Arbeitseifer der Kinder bearbeiten wir die Themen Wald, Sexualerziehung und Wasser in gleicher oder ähnlicher Weise und lassen dafür einige der von uns eigentlich geplanten Themen fallen. Nicht immer gelingt uns die Umsetzung des Gemeinsamen Unterrichts so eindrucksvoll, aber wir sind auf dem Weg. Am Ende des Schuljahres hospitiert eine Studentin während des Projektes "Wasser" zehn Tage in unserer Klasse und protokolliert für ihre Examensarbeit den Unterricht. Beim späteren Lesen ihres Protokolls stelle ich befriedigt und doch auch erstaunt fest: Es geht also doch!

Michael und einige Zeit später auch Tobias beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema Behinderung und Sonderschule. Ihre eigenen vor allem kognitiven Leistungsrückstände werden ihnen trotz aller individuellen Fortschritte immer deutlicher. Tobias verliert vorübergehend sein so sonniges Verhalten und kommt zeitweise nicht mehr so gerne zur Schule. Seine Eltern beginnen zu zweifeln, ob die Entscheidung, Tobias in eine Integrationsklasse einzuschulen, die richtige war. Wir führen Elterngespräche, versuchen zu überzeugen, daß die Aufgabe der integrativen Pädagogik darin besteht, behinderten Kindern beim Erreichen einer befriedigenden Lebensqualität zu helfen. Das bedeutet für behinderte Kinder auch, die eigenen Beeinträchtigungen zu sehen und zu akzeptieren, was angesichts der Masse von Nichtbehinderten in einer Integrationsklasse eine durchaus schmerzliche, aber notwendige Erfahrung zum Begreifen der eigenen Lebensrealität darstellt. Wir sprechen mit Tobias, auch die Kinder versuchen, ihm über seine Enttäuschungen hinwegzuhelfen. Elke und ich fassen den Entschluß, das Thema "Behinderung" projektartig zu bearbeiten.

Mittlerweile gibt es sechs Integrationsklassen an der Heiligenstockschule, in jedem Jahrgang eine. Schon zwei Klassen wurden nach der neuen gesetzlichen Regelung zum Gemeinsamen Unterricht gebildet. Es arbeiten sechs Sonderschullehrer und die Hälfte des 50köpfigen Kollegiums in Integrationsklassen. Wir beginnen an einer gemeinsamen Schulkonzeption zu arbeiten.

In dieser Situation lehnt die benachbarte Gesamtschule die Weiterführung unserer Integrationsklasse 6 nach der Förderstufe ab. Wir sind geschockt, enttäuscht, entrüstet, wollen dieses Votum nicht akzeptieren. Es werden Podiumsdiskussionen und Informationsveranstaltungen durchgeführt, Briefe geschrieben und Politiker befragt, Presse und Fernsehen eingeschaltet. Die Fronten verhärten sich und letztendlich sind wir machtlos. Diese Klasse wird nicht mehr als Integrationsklasse existieren, nach für manche Kinder 10jähriger gemeinsamer Erziehung in Kindergarten und Schule. Infolge der Gesamtschulentscheidung stellt sich auch an unserer Schule die Frage nach dem Sinn unserer Arbeit. Wir wollen versuchen, neue Perspektiven zu finden oder zu entwickeln.

Das vierte Jahr: Vieles normalisiert und relativiert sich

Das vierte Schuljahr beginnen Elke und ich mit Ruhe und Gelassenheit. Wir haben aus den vergangenen drei Jahren viel Sicherheit und Bestätigung gezogen. Unsere gemeinsame Arbeit funktioniert reibungslos. Unterrichtsmethodisch und -didaktisch haben wir ein gutes Maß zwischen Gemeinsamkeit und Einzigartigkeit, zwischen Gleichheit und Verschiedenheit gefunden. Wir haben erfahren, daß es nicht für alle Kinder vorteilhaft ist, über einen längeren Zeitraum mit dem Wochenplan zu arbeiten. Wir haben erlebt, daß unsere SchülerInnen immer wieder motiviert in einem differenzierten, lehrerzentrierten Unterricht mitarbeiten. Wir haben gelernt, unsere methodischen Vorgehensweisen zu variieren, so daß sich die Kinder interessiert und freudig ein Thema erschließen können. Über allem aber steht die fächerübergreifende, weitestgehend projektartige Erarbeitungsform eines Sachthemas. Hier gelingt es uns am überzeugendsten, allen Schülerlnnen die Aneignung, die Verarbeitung und die Veröffentlichung von gemeinsamen Erfahrungen zu ermöglichen.

In diesem Jahr bearbeiten wir mehrere Wochen - rund um unsere Klassenfahrt zur Burg Breuberg - das Thema "Leben im Mittelalter" in Projektform. Die Kinder wünschen sich das Thema "Tiere" für unsere Schulprojektwoche. Es ist schön und beeindruckend zu sehen, wie gezielt, beständig, ideenreich und kompromißfähig sie dieses Thema entwickeln. In Zusammenarbeit mit einer Klasse der benachbarten Schule für Praktisch bildbare Kinder und Jugendliche führen wir ein Projekt zum Thema "Behinderung" durch (Vorbereitung und Durchführung eines Dschungelbuch-Schulfestes). Innerhalb dieses Projektes lesen wir das Buch "Jakob ist kein armer Vogel". Stefanie, Tobias und Michael identifizieren sich sehr stark mit dem Albatros Jakob, der nicht fliegen kann und bearbeiten - wie uns auch ihre Eltern bestätigen - anhand von Jakobs Geschichte ihre eigene Situation.

Nach wie vor kämpft Tobias mit der Akzeptanz seiner Beeinträchtigungen. Wir können aber beobachten, daß er sich wieder freier und ungezwungener in der Klassengemeinschaft bewegt. Generell stellen wir fest, daß die Klasse sozial immer enger zusammenwächst und zum größten Teil die Verschiedenheit in der Gemeinschaft anerkennt, was nicht nur die behinderten Kinder betrifft. Auch ich gehe jetzt gelassener mit Situationen um, die mich in den ersten beiden Jahren um die Gemeinsamkeit des Unterrichts bangen ließen. So genießen es Michael, Stefanie und Tobias sichtlich, alleine mit einem von uns in unserem Gruppenraum zu arbeiten. Sie fügen sich aber ganz selbstverständlich wieder in die Lerngruppe ein. Sie beziehen sich sehr stark aufeinander, arbeiten aber auch gerne mit anderen Kindern der Klasse zusammen. Nicht alle Kinder zeigen von sich aus Interesse am gemeinsamen Spielen und Lernen mit Michael, Tobias und Stefanie. Einige Schülerlnnen haben daran sehr großes Interesse. Außerdem läßt sich diese Feststellung nicht nur in bezug auf die behinderten Kinder machen. Der Entwicklungs- und Leistungsabstand vergrößert sich. Für das Sozialgefüge der Klassengemeinschaft stellt das kein Problem dar. So haben die nichtbehinderten Kinder Einfühlungsvermögen in die Situation ihrer behinderten MitschülerInnen entwickelt. Stefanie ist beim ersten Besuch der Schule für Praktisch Bildbare deutlich verängstigt. Erst die Umarmungen und der Zuspruch einiger MitschülerInnen geben ihr Halt und Vertrauen. Im Leistungsbereich zeigen alle Kinder individuell deutliche Fortschritte. Auch Tobias und Michael, für die das sehr wichtig ist, erkennen ihr eigenes Vorwärtskommen. Ihr Lernprozeß findet zur Zeit in dem Anerkennen von Leistungsunterschieden statt. Stefanie zeigt hier keinerlei Probleme.

In der Frage der Weiterführung sind wir keinen Schritt vorangekommen. Alle Gesamtschulen im Main-Taunus-Kreis haben die Weiterführung von Integrationsklassen mit großer Mehrheit abgelehnt. Während verschiedene Informationsveranstaltungen in Gesamtschulkonferenzen gewinnen wir den Eindruck, daß es weniger um die Frage der Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Sekundarstufe I geht, als vielmehr um das Problem mangelnden Handlungswissens in bezug auf Differenzierungsmaßnahmen im Unterricht, wie zum Beispiel Wochenplanarbeit, Projektarbeit, Teamarbeit. Es ist auch nur eine geringe Bereitschaft auszumachen, sich diese Kompetenzen anzueignen, zumindest nicht für die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Menschen im Schulsystem.

Für unsere konkrete Arbeit bedeutet dies, daß wir spätestens ab Klasse 6 beginnen müssen, den Übergang der behinderten Kinder auf die Sonderschule vorzubereiten. Wir haben damit in Kooperation mit den benachbarten Sonderschulen angefangen - mit mächtigem Bauchgrimmen. Besonders die FörderstufenlehrerInnen fühlen sich um den Sinn ihrer Arbeit gebracht: denn sie arbeiten nur noch zum Teil integrativ. Einen großen Bereich ihrer Integrationsarbeit nimmt die Separierung ein. Welch ein Widerspruch! Auch hier werden wir uns etwas anderes überlegen müssen.

Der Ausblick: Wie wird es weitergehen?

Zur Zeit sind an der Heiligenstockschule 7 Integrationsklassen mit insgesamt 21 behinderten Kindern in den Jahrgangsstufen 1 bis 6. Die Schule hat 7 Jahre Praxiserfahrung im Gemeinsamen Unterricht und im Umgang mit unterschiedlichen Behinderungsarten (es sind lernbehinderte, geistigbehinderte, körperbehinderte und blinde Kinder an unserer Schule). Unsere Erfahrungen sind durchweg positiv. Die Schule hatte zu Beginn mit einigen Mißständen zu kämpfen, diese Schwierigkeiten gemeistert und befindet sich nun in einem Prozeß, der durch eine zunehmend kompetentere Arbeit gekennzeichnet ist. Diesen Weg werden wir auch fortsetzen. Natürlich entwickeln wir auch Utopien zur Weiterführung unserer Integrationsklassen. Warum sollte es nicht möglich sein, eine Integrationsschule bis Klasse 10 aufzubauen? Wir werden sehen, wie real diese Utopien sind.

Ich beginne wieder mit dem Gemeinsamen Unterricht in Klasse 1. Der Abschied von unserer 4. Klasse fiel mir schwer. Ich habe vieles gelernt und reichhaltige Erfahrungen gesammelt. Ich gehe mit viel Zuversicht und um ein vielfaches sicherer, aber auch gespannt und neugierig an die neue Aufgabe. Ich weiß diesmal genau, was ich möchte. Mal sehen, was sich noch verbessern läßt. Die vergangenen vier Jahre haben viel zu meiner persönlichen Zufriedenheit beigetragen. Ohne den Gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern kann ich mir meine schulische Arbeit nicht mehr vorstellen, und auch nicht die hessische Schullandschaft.

Hajo Rother-Dey, geb. 1958, Diplompädagoge und Sonderschullehrer für lern- und geistigbehinderte Kinder. Arbeitet seit 1990 im Gemeinsamen Unterricht an der Heiligenstockschule (Grundschule mit Förderstufe) in Hofheim.

Peter Hartwig: Das Stacheltier im Streichelzoo

Jeder hat seine Rolle

"Das war schön." Zwanzig Kinder der Klasse Glb sind sich einig. Sie sitzen um einen Fernsehapparat, der eben noch die Videoaufzeichnung ihrer Theateraufführung zeigte. "Das Brüllermännchen" war der Abschluß einer großen Unterrichsteinheit zum Thema Wald. Jetzt hatte sich jedes Kind der Klasse in seiner Rolle gerade noch einmal bewundern können. Auch Felix unser Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf und auch Paul unser besonderes Kind ohne überprüften Förderbedarf.

Felix war als alte Katze zu sehen gewesen, die er pantomimisch darstellte, ohne daß seine Sprachschwierigkeiten ihn dabei hätten beeinträchtigen können und Paul hörte man eben noch sagen: "Den zweiten Vogel spielte Paul."

Der murmelnde Kommentar der anderen Kinder daraufhin zeigt, daß seine Teilnahme am Stück bemerkenswert und keineswegs selbstverständlich war. Noch bei der Uraufführung während der Klassenfeier vor Weihnachten mußte Saskia seine Rolle übernehmen. Paul hatte kurz vor der Aufführung seinen Ausschluß provoziert. Paul wird häufig ausgeschlossen. Auch bei anderen, alltäglicheren Unterrichtssituationen. Er wurde aus zwei Kinderhortgruppen ausgeschlossen, weil er dort nicht mehr tragbar war. Mehrere Tagesmütter gaben nach kurzer Zeit die Betreuung wieder auf. Jetzt arbeitet die Mutter Nachtschicht und betreut ihr Kind tagsüber selber. Paul ist schwierig. "Er ist nicht dumm, aber er ist schwierig.", das sagen alle Lehrerinnen und Lehrer nach der zweiten Unterrichtsstunde mit ihm. Sein Verhalten ist auffällig. Paul ist das Stacheltier im Streichelzoo.

Ist nicht das Maß längst voll?

Meine Sonderschulkollegin und ich kannten die Vorgeschichte Pauls bevor wir die Klasse übernahmen. Die Frühförderstelle hatte eine Überprüfung auf Erziehungshilfe vorgeschlagen.

Die Grundschule folgte dem nicht und nahm Paul statt dessen in eine Klasse mit Gemeinsamen Unterricht auf. Wegen der guten Bedingungen, die in der Klasse geschaffen werden konnten, schien dies für alle ein gangbarer Weg zu sein. Als ich, damals im August 1991, in die neue Arbeit einstieg, fühlte ich mich stark und unverwundbar. Erfolge und die vielfach bestätigte positive Bilanz aus fünf Jahren Schulversuch mit drei geistig behinderten Kindern gaben mir Selbstvertrauen und Zuversicht für die neue Herausforderung. Schon bald merkte ich jedoch, daß mir alte Erfahrungen hier wenig halfen, sondern diese Klasse nach ganz neuen Antworten verlangte.

Nach wenigen Wochen spürte ich die Unterschiede zwischen der Arbeit mit drei "lieben" geistig behinderten Kindern und einem sehr intelligenten, aber in dauernde innere Kämpfe verstrickten Kind, das damit zur ständigen Herausforderung seiner Umwelt wird: Paul bürstet gegen den Strich, wo man liebevoll glätten will. Er hebelt aus, wo man den Zug auf die Schiene setzen will. Er spürt klug und hochsensibel die weiche, verwundbare Stelle von Unterricht oder Lehrerseele auf und verweigert den guten Willen. Er kitzelt unseren Zorn und sei es nur durch sein Lachen. Dieses Lachen weckt Assoziationen. Es erinnert an das Lachen, das der Teufel im Kasperletheater lacht. Er spielt diese Rolle. Er reizt seine Mitschüler und Mitschülerinnen, seine Lehrerinnen und Lehrer und auch seine Mutter, bis er sich immer wieder darin bestätigt findet.

Durch das tägliche Zusammensein mit diesem Kind war ich gezwungen, das eigene Verhalten ständig auf Widersprüche und Inkonsequenz hin zu überprüfen und befand mich in unterbrochener Wachsamkeit und Anspannung. Oft endeten die Konflikte in Zweikampf und Machtprobe. Nach zwei Schuljahren mit begleitender Therapie, konsequenten Verhaltensstrategien, einer Unzahl von Elterngesprächen und Diskussionen im Klassenverband stellte sich schließlich irgendwann die Frage: kann die Integration dieses Kindes überhaupt gelingen oder ist das Leiden für Kinder und Lehrer und die Beeinträchtigung des Unterrichts größer, als es das Ziel noch rechtfertigen könnte.

Wir wissen doch wie es geht

Die Bedingungsfaktoren für eine erfolgreiche Integration kennen meine Sonderschulkollegin und ich beide aus den Jahren im Schulversuch. Wir haben fünf Jahre jeweils in anderen Klassen Erfahrungen mit der Integration geistig behinderten Kinder sammeln dürfen. Von daher bestand eine gemeinsame Vorstellung, wie Integration geht. Erfreulich, weil nicht selbstverständlich, war dabei eine hohe Überstimmung der Unterrichtsauffassungen. Auf dem ersten Elternabend stellten wir stichpunktartig vor, worum es uns im Gemeinsamen Unterricht geht: Aufbau einer Sozialgemeinschaft, eines Ich-stabilisierenden und gemeinschaftsfördernden Gruppengefüges; Gestaltung des Klassenraums zum gemeinsamen Erlebnisraum durch lebensnahen, handlungsorientierten Unterricht, durch Projekte, besondere Vorhaben, Theater, Ausflüge, Feste, differenzierte Förderung gemessen am individuellen Lernstand der Kinder. Außerdem erleichterte unsere Erfahrung in Kooperation und Koordination die Planungsarbeit und brachte im Vergleich zum Neueinstieg eine zeitliche Entlastung. Mögliche Konfliktfelder konnten dadurch vielfach schon von weitem erkannt und umgangen werden. Ein Beispiel vom Beginn des 2. Schuljahres zeigt die Arbeitsweise dieser Klasse, wie integrativ wirksamer Unterricht unserer Ansicht nach realisiert und sonderpädagogische Förderung adäquat umgesetzt werden kann.

Der Paul hat den Markus an der Jake fest gehalten er hat in nicht mer los gelassen erst als der Markus das fünftes mal geschrieen hat

Das Thema Wald

Neben den sachkundlichen naturwissenschaftlichen Aspekten des Themas Wald beabsichtigten wir vor allem auch die emotionale, sinnliche Seite des Lebensraumes Wald in den Unterricht einfließen zu lassen. Neben Bestimmungsübungen und den Merkmalen einzelner Baumarten, Pflanzen und Tiere des Waldes, dem Waldjahr im Lauf der Jahreszeiten stand deshalb ein "Waldtag" im Mittelpunkt der Einheit, der die Kinder über Hören, Fühlen und Tasten mit dem Wald vertraut machen sollte. Folglich stand auch gleich am Anfang der Gang in den nahegelegenen Wald. Ausgerüstet mit Behältnisse zum Sammeln von Fundstücken durchstreiften die Kinder das Unterholz und teilten sich lebhaft ihre Entdeckungen mit. Im Klassenzimmer wurden die Fundstücke ausgestellt und auch verglichen, was wir tatsächlich wiedergefunden hatten, von dem was vorher in einem assoziativen "brainstorming" an der Tafel gesammelt worden war. Felix beteiligt sich im Kreis lebhaft am Gespräch und teilt sich gerne mit. Die Kinder können mit seiner undeutlichen Sprache umgehen, fragen nach, bis deutlich wird, was Felix sagen will. In die Gruppenprozesse war er wie selbstverständlich einbezogen, freute sich über die gefundenen Sachen und zeigte sie Kindern und Lehrern. Paul ärgert die anderen Kinder und ist Ursache für dauernde Beschwerde: "Der hat meine Kastanien weggenommen! " Er kann aber sehr kompetent detaillierte Auskünfte über Tiere des Waldes geben, dabei hört die Klasse aufmerksam zu.

Bis dahin war es ein gemeinsamer Anfang und jedes Kind konnte sich nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im Kreisgespräch und Unterrichtsgang beteiligen. Nun aber verzweigten sich die Aktivitäten und die Aufgabenstellungen, unterschieden sich entsprechend der heterogenen Zusammensetzung der Klasse. Dafür bietet sich die Arbeit mit dem Wochenplan bzw. Tagesplan an.

Beispiel eines Tagesplans

Arbeitsbereiche Lesen, Schreiben, Rechnen und Sachunterricht.

Herbsträtsel: lies und lerne auswendig / Tafeltext Wörter lesen / Bilderbuch: Bei uns im Wald.

(Diese Angebote berücksichtigen die Unsicherheiten mancher Kinder bei der flüssigen Synthese ganzer Sätze und kurzer Texte.)

Arbeitsblatt / Beschriften der Ausstellung / Plakate schreiben (Übungsschwerpunkt ist Übertragung der Druckschrift in Schreibschrift.

Schätzen und Zählen : Wieviele Kastanien und wieviele Eicheln sind im Glas? (Strukturierung des erweiterten Zahlenraums bis 100, bzw. bis 10 für Felix).

Bestimmungsaufgaben : Kennst du die Früchte und Blätter von Eiche, Buche und Kastanien ?

2 Kinder arbeiten in der Druckerei.

Bastelaufgaben : Wichtelhöhle aus Naturmaterial.

Nach einer kurzen gemeinsamen Besprechung arbeiten die Kinder selbständig an ihren unterschiedlichen und vielfältigen Aufgaben. Lehrerin und Lehrer unterstützen einzelne Kinder, geben Hilfen beim Einstieg und beraten bei fachlichen und methodischen Problemen. Die Mehrzahl der Kinder arbeitet gern mit den "Klammeraufgaben", wie der Wochenplan bei uns heißt. Fast alle gehen schon souverän mit dieser Arbeitsweise um, einige benötigen noch Hilfe bei der Auswahl der Aufgaben oder brauchen Hinweise zur Weiterarbeit.

Felix weiß inzwischen, daß er besondere Aufgaben erhält. Er kennt seine Fähigkeiten und Leistungsgrenzen und konzentriert sich auf seine individuellen Fortschritte. Für ihn wird ein eigener Lese- und Rechenlehrgang entwickelt, der seinen persönlichen Lernfortschritten angepaßt ist. Die Auswahlsituation bewältigt er fast ohne Hilfe schon sehr selbständig und behält bei der Kontrolle die Übersicht über sein Pensum. Für Felix war in seinem Tagesplan, neben der inhaltlichen Seite, ein wichtiges Lernziel das selbständige Organisieren von Hilfen oder Helfern.

Vorher hatte er sich durch Stempeln und optische Differenzierung das Wortbild "Wald" erarbeitet.

Nun, das alles ist nicht neu. Öffnung des Unterricht, Differenzierung, individuelle Förderung sind bekannte Schlagwörter, die vielfach zum Schulalltag geworden sind. Im Gemeinsamen Unterricht helfen sie die entsprechende sonderpädagogische Förderung zu gewährleisten. Die Bedingungsfaktoren wie sie auf dem Elternabend genannt waren, konnten in diesem Fall greifen und zum gewünschten Ergebnis führen. Im letzten Zeugnis stand sinngemäß formuliert : Mario ist in die Gemeinschaft aufgenommen und wird von allen anderen Kindern in seinen Fähigkeiten und Schwächen akzeptiert und gewürdigt.

Nur Paul hat größte Schwierigkeiten mit dieser offenen Auswahlsituation. Wenn die Aufgabenstellung erklärt, das Ausmaß der Arbeit erfaßt und die Auswahlmöglichkeiten erkannt sind, stehen die Kinder vor den Körben mit den Angeboten und entscheiden, womit sie beginnen. Die Kinder übernehmen jetzt selber Verantwortung für ihren Lernprozeß. Paul ist hier verunsichert und verwirrt. Kognitiv bieten die Aufgaben ihm keine größeren Schwierigkeiten. Es gelingt ihm aber nicht, seine Konzentration auf die Sache und auf seinen persönlichen Übungsbedarf zu lenken. In dieser Situation verliert der Motor seines Handelns den Treibstoff. Ihm fehlt der eindeutige Wille des Lehrers und die Bestimmtheit der frontalen Unterrichtssituation. Andererseits bietet ihm diese Auswahlsituation viel Raum für Begegnungen mit anderen Kindern. Für ihn sind das dann häufig wieder Gelegenheiten zu Stichelein und Provokationen, zur Erkundung der aktuellen Reizschwelle seiner Mitmenschen. Paul schafft es also selten, seine Arbeit konsequent zu Ende zu führen, sich eine Reihenfolge des Arbeitens zu wählen und die Bedeutung von Pflicht und Küraufgaben richtig einzuschätzen. Er lenkt andere von ihrer Arbeit ab und hindert sie am selbständigen Lernen.

Kein Tag ohne Paul

Bisher hat sich gezeigt, daß Paul in dieser Klasse vielfach die Bemühungen um integrativ wirksame Maßnahmen torpediert. Er trübt durch teilweise bewußte Regelverletzungen das gemeinsame Erlebnis, wie zum Beispiel den Waldtag.

Das Theaterprojekt wurde durch ihn gestört, die sozialen und gemeinschaftsfördernden Prozesse damit beeinträchtigt.

Er erschwert anderen das Erlernen selbständigen Arbeitens. Tatsächlich formuliert er wörtlich die Antithese zum Integrationsgedanken, wenn er zu Felix sagt: " Du bist ja behindert. Du kannst doch nicht schreiben, du gehörst ja auf die Sonderschule." Gepaart mit Hakenkreuzschmierereien zeigt das Wirkung in der Lehrerseele und weckt Zweifel an grundsätzlichen Überzeugungen. Wo ist die Grenze des Zumutbaren? Wo ist die Grenze des Leistbaren?

Tagtäglich ergeben sich Konflikte, bei denen Kinder Schmerzen leiden bis hin zur akuten Gesundheitsgefährdung (Treppensturz).

Wie müssen die anderen Kinder der Klasse ihren Schulalltag erleben? Die permanente Störung des Unterrichts, die Vergiftung einer gerade gewonnen Lernatmosphäre, die Ablenkung in einer spannenden Unterrichtssituation. Die Lehrer und die Lehrerin können oft gegen ihren Willen nicht mehr freundlich und geduldig bleiben. Kann so die Freude am Lernen und der Spaß an der Schule noch überleben? Am Ende des Schuljahres stellte ich beim Blick in die Versäumnisliste fest: Paul hat nicht einen Tag gefehlt. Und ich ertappe mich bei einem Stoßgebet. Wie schön müßte doch die Schule sein an einem Tag ohne Paul.

Christian und Markus Götz und Nuno haben Paul am Schulhof Gergert der Paul. sie haben in an der mauer Wegetan der Paul ist zum Herrn Simon gegangen.

Es geht nicht - es geht um etwas anderes

Die Konsequenz muß also heißen: Es geht nicht. Das bedeutet Ausgrenzung, die Abschiebung zur Sonderschule, in das letzte Auffangbecken, dort wo es keine Hintertür mehr gibt. Das hieße also Abkehr vom Grundsatz der allgemeinen Integrierbarkeit. Es gäbe also doch integrationsfähige und nichtintegrationsfähige Kinder. Gemeinsamer Unterricht also doch nicht ausnahmelos für alle Kinder? An diesem Punkt sollte man doch stutzig werden. Nicht nur, daß unser Schulsystem für Kinder wie Paul kaum geeignete bzw. erreichbare Förderplätze außerhalb der allgemeinen Schule aufweist. Warum sollten für diese Kinder alle Argumente für Integration nicht mehr gelten? Liegt das wahre Problem nicht woanders?

Heißt es nicht einfach Abschied nehmen von einer heilen Inselwelt, die die Schulversuche einmal waren, und statt dessen der Tatsache ins Auge sehen, daß die überwiegende Mehrheit der besonderen Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf für Lern- und Erziehungshilfe aufweisen? Hier liegt doch nun die wahre Herausforderung und die Bewährungsprobe, gerade für diese Kinder, Gemeinsamen Unterricht zu realisieren. In einem Resümee aus Hamburg über zehn Jahre Integration liest sich das so: "Ob die Integrationsklassen ebenso großen Anklang gefunden hätten, wenn man auch lernschwache Förderschüler und verhaltensgestörte Schüler aufgenommen hätte? Nicht den gutmütigen Arztsohn mit Down-Syndrom oder das querschnittgelähmte, hochintelligente Mädchen, sondern das wilde, ungepflegte, lernbehinderte Kind aus der Alkoholikerfamille?" (FR, 26.05.1994)

Was ist schließlich mit der Wirkung auf die anderen Kinder der Klasse? Muß die Angst um eine Beeinträchtigung ihres Schulalltages nicht auch eher unbegründet sein, erwächst sie nicht auch dem gleichen "Heile-Welt-Denken?" Aber die Welt ist nicht nur lieb. Müssen wir die Kinder nicht vielmehr auf eine Welt vorbereiten, in der die Liebe bedroht ist und um ihre Rettung gekämpft werden muß? Das Stacheltier gehört auch zum Zoo. Und die Kinder müssen lernen, seine Stacheln richtig zu streicheln, damit sie nicht mehr stechen.

Die Welt von Paul kannte vielleicht wenig Liebe, gerade als er dringend viel davon brauchte. Warum soll ein solches Kind jetzt von anderen ferngehalten werden? Seine Wege, die verlorene Liebe einzufordern, sind aufreibend für seine Umgebung. Aber in anderen Bereichen müssen wir oft noch weit mehr ertragen. Dort können wir auch nicht abschieben, dort müssen wir uns auch der Auseinandersetzung stellen. Vielleicht stellt sich der Umgang mit einem Kind wie Paul später einmal sogar als Vorteil heraus, weil die Kinder Konfliktbewältigung gelernt haben, den Umgang mit Provokation und Aggression. Da liegt für die Schule und die Lehrer die Aufgabe des pädagogischen Handelns, um diese Prozesse positiv zu kanalisieren.

Die Texte von Petra sind Dokumente eines solchen Lernprozesses. Für sie ist Paul nicht einfach immer der Böse. Sie hat gelernt, genau zu schauen und die Situation unvoreingenommen zu beurteilen. Übertragen auf die Welt der Erwachsenen bedeutet das schon viel. So wie sie, hat die Klasse schon einige Kompetenzen im Umgang mit Pauls Verhalten gewonnen. Sie reagieren recht gelassen auf seine Provokationen. Fehlverhalten wird deutlich verurteilt, das die Lehrer unterstützt, wenn Paul offensichtlich im Unrecht ist. Es wird ihnen aber deutlich widersprochen, wenn ein Sachverhalt verfälscht dargestellt wird. Paul bekommt immer wieder eine neue Chance, sein Verhalten zu ändern und die Kinder geizen nicht mit Lob, wenn ein Tag ohne Streit vorüber geht.

Peter Hartwig, Grundschullehrer, seit 1985 an der Grundschule in Rüsselsheim Königstädten, von 1986 - 1991 arbeitete er im Schulversuch "Gemeinsamer Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder", seitdem im Gemeinsamen Unterricht unter neuen gesetzlichen Bedingungen. Seit 1992 ist er Mitarbeiter der Info-Stelle.

ZUSAMMENARBEIT IM TEAM

Ulrike Meister: Teamarbeit

Prolog

Eigentlich wußte ich ja, worauf ich mich einließ, als ich mich mit vollem Willen und Bewußtsein in die integrative Arbeit stürzte.

Schließlich war ich es schon längst leid gewesen, den Widrigkeiten des normalen schulischen Alltagsgeschäfts zu trotzen, sprich, lauter kleine Individuen mit höchst unterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Voraussetzungen auf engstem Raum in der stoffplangemäßen Zeit durch dasselbe Pensum zu schleusen und ihnen ihren Miß/Erfolg mit 6 Ziffern zu bescheinigen.

Klar, nach Alternativen hatte ich schon gesucht, im gegebenen Rahmen, versteht sich. Und so hatte auch ich, wie viele andere Kollegen, mit dem berühmten Sack voller Differenzierungsideen und Engelsgeduld allmorgendlich aufgewartet.

Bloß, wie sollte man, allein auf sich gestellt, fünf Dinge gleichzeitig demonstrieren, gleichmütig einer Flut von Fragen entgegentreten, besänftigend auf frustgeladene Wüteriche einwirken und dabei alle gleichsam spielerisch zum Lernerfolg führen? Ein schönes Ideal! Also war es oft schon am Vormittag vorbei gewesen mit der Engelsgeduld, zumal keine einzige Differenzierungsidee so recht gegriffen hatte.

Das alles sollte nun endgültig der Vergangenheit angehören, als ich vor fünf Jahren an der Integrativen Schule begann: ein Eldorado individualisierten Lernens, optimal abgepolstert mit dem Viererteam aus Erzieherin, Zivi, Grund- und Sonderschullehrkraft. Wundervolle Aussichten!

Der Leser merkt an der Übertreibung, daß es ganz so rosig nicht werden sollte. Jedenfalls am Anfang nicht und streckenweise auch immer mal wieder zwischendurch nicht. Wie es mir dabei erging, will ich im folgenden nur in einem Punkte darstellen: der Teamarbeit - wie es die Überschrift ja auch verspricht.

Klage

Teamarbeit hatte ich mir immer sehr schlicht vorgestellt: Man teilt sich die Arbeit auf, klärt alle Anliegen rationell und effektiv, bereichert sich gegenseitig mit guten Ideen und kann so den Bedürfnissen der Kinder weitgehend nachkommen. Und in bezug auf unser frisch gebackenes Team, das die damals neue 1. Klasse übernehmen sollte, war ich auch mit gutem Grund guter Dinge: Wir hatten uns schon vor den Sommerferien etwas kennengelernt, fanden uns gegenseitig sympathisch und hatten schon manchen gemeinsamen Lacher getan - was ja bekanntlich auch zusammenschweißt.

Als es nun nach den Sommerferien ernst wurde und wir uns auf den Tag X vorbereiteten - die Ankunft der Erstkläßler - wartete der erste Dämpfer auf. An einem für mich vollkommen unerwarteten Punkt entbrannte eine Grundsatzdiskussion:

V. trat mit Verve für feste Tagesaufgaben der Kinder und Klassenregeln ein, was B. überhaupt nicht gefiel. Ich hatte dazu noch gar keine rechte Meinung, konnte ich mir den Tagesablauf mit so kleinen Kindern eigentlich doch überhaupt noch nicht vorstellen.

Ich hätte so etwas gerne ganz pragmatisch, von heute auf morgen, von Fall zu Fall, entschieden. Andererseits leuchtete mir schon ein, daß eine gewisse gemeinsame Linie hermüsse, wollten vier Erwachsene auf 16 kleine Kinder losgehen und für Harmonie statt für heillose Verwirrung sorgen. Also mischte ich nun, halbherzig und ziemlich methodisch auf einen Kompromiß drängend, auch mit in dieser Debatte. Was dabei herauskam, weiß ich nicht mehr genau. Es war wohl eine Art Minimalkonsens über all das, was täglich nötig war, sollte der Tagesablauf einigermaßen reibungslos verlaufen und unser Klassenraum für alle übersichtlich bleiben. Was darüber hinaus ging, wollte jeder selbst mit den Kindern aushandeln.

Was ich aber noch genau weiß, war, daß mir die Debatten recht lang vorkamen, zu lang eigentlich im Verhältnis dazu, als wie unwichtig ich persönlich dieses Thema empfand.

Fragen wie diese gab es in der folgenden Zeit laufend: "Sollte man den Geburtstagskindern ein Gemeinschaftsgeschenk basteln, oder reicht auch ein Blumentöpfchen?" - "Dürfen die Kinder im Freispiel eigenhändig zum Materialschrank greifen, oder teilt man ihnen selbst das Material zu?" - "Sollen die Kleinen ihre privaten, klebrigen Fruchtsäfte im Raum verkleckern, oder trinken alle sauberes Gemeinschaftswasser?"

Auch wenn viele dieser Fragen rasch erledigt waren - daß sie überhaupt im Raum standen und Einvernehmen darüber herzustellen war, löste in mir inneren Unmut und gewisse Zweifel aus, wie effektiv Teamarbeit eigentlich sei. Was bislang im teamlosen Alltag zum Bereich "belanglose Selbstverständlichkeiten" gehört hatte, war es nun auf einmal wert, besprochen zu werden - schlicht und einfach schon deswegen, weil es nun vier Entscheidungsträger gab.

Die Anzahl der Teammitglieder brachte ganz naturwüchsig eine Reihe weiterer Umständlichkeiten mit sich: Unterrichtsabläufe, Terminabsprachen, Stellungnahmen, Auseinandersetzungen mit Eltern, sämtliche Informationen ... , alles mußte mit vielen koordiniert werden. Das kostete Zeit!

Hinzu kamen die zentralen Fragen, was wir im integrativen Unterricht überhaupt erreichen wollten, auf welche Weise und für wen. Wie redeten wir uns die Köpfe heiß bei Diskussionen wie: "Wie kann man/soll man Sachunterrichtsthemen schwerpunktmäßig von den Bedürfnissen der behinderten Kinder aufrollen?" - "Können gemeinsame Lern- und Arbeitsphasen für geistig behinderte Kinder und Regelschulkinder nicht auch in den 'kognitiven' Fächern Deutsch und Mathe ausschlaggebend für die Themen und Methoden sein?" - "Soll es so etwas wie häusliche Übungen geben in unserer Schule, in der Hausaufgaben nicht vorgesehen sind?" Als mehr oder weniger große Neulinge auf diesem Sektor brauchten wir auch dazu einfach viel Zeit. Und so kam es oft vor, daß wir abends aus der Schule schlichen mit dem etwas mulmigen Gefühl, "My school is my castle, isn't it?".

Heute stehe ich immer noch auf Teamarbeit, ich würde keine andere Arbeitsweise vorziehen! Es muß also auch die andere Seite gegeben haben, und sie muß letztlich die Überhand gewonnen haben. Die Erzählung steuert nun flugs diesem Wendepunkt entgegen!

Konkretionen

Im Laufe der Zeit gerieten unwichtige Fragen immer mehr in den Hintergrund im Vergleich zu wichtigen. Je mehr wir unsere jeweiligen Eigenheiten, Stärken und Macken und die "unserer" Kinder kennen (und schätzen!) lernten, desto häufiger erledigten sich manche Probleme im Vorfeld.

Desto mehr konnten und wollten wir uns aber auch darauf verlassen, daß die Entscheidungen eines Teammitglieds - auch "über die Köpfe des Restteams hinweg" - schon in Ordnung gingen.

Individuelle Unterschiede dabei, welche Umgangsweisen, Arbeitsformen ete. jeder bevorzugte, gab es natürlich nach wie vor. Sie sorgten auch durchaus ab und zu für wechselseitige Ärgernisse. Im großen und ganzen konnte jedoch jeder mit diesen Vorlieben oder Abneigungen des anderen ganz gut leben - auch die Kinder. Sie merkten bald, daß sie uns trotz dieser Unterschiede nicht gegeneinander ausspielen konnten, da wir uns in den wesentlichen Punkten einig waren und die Entscheidungen der anderen respektierten.

Einigkeit erzielten wir aber nur, weil wir zunächst einmal ehrlich waren. Wir sagten uns, was wir uns zutrauten und was nicht, was wir an Vorbereitung nicht geschafft hatten, oder wo uns mal überhaupt nichts Zündendes eingefallen war, so daß wir auf den spontanen Einfallsreichtum der anderen setzen mußten; welche Differenzierungsaufgaben, die man mit anderen Kindern durchgeführt hatte, daneben gegangen waren; welche Arbeiten einem zusagten oder welche einem gar nicht lagen; welche Kinder man phasenweise mal gar nicht ertragen konnte und auch, was uns aneinander störte oder besonders gut gefiel.

Auf diese Weise konnten unsere unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten richtig produktiv füreinander werden. Wo der/die eine lieber Organisatorisches regelte, mochte sich die/der andere lieber um die theoretischen und schriftlichen Fragen kümmern. Wo die/der eine die Ruhe verlor, blieb der/die andere ruhig und souverän und sorgte so auch bei der/dem ersten wieder für größere Distanz und Gelassenheit. Indem man die anderen beim Unterrichten, Streitschlichten, Ordnen oder Spielen beobachten konnte und sich selbst beobachtet sah, gelang es einem viel besser, Hektik oder spontanen Ärger zu reflektieren und sich ruhiger auf die jeweilige Situation zu beziehen.

Eine echte Arbeitsteilung konnte Fuß fassen, die für alle erleichternd und bereichernd war: angefangen bei den Unterrichtsvorbereitungen, für die jeder von uns ein besonderes Fach übernahm und, wechselnd, bestimmte Tagesaufgaben-, bei der täglichen Verantwortung für alle Kinder, die sich auf vier Erwachsene verteilte, weshalb man sich dem Einzelnen viel intensiver und mit Ruhe widmen konnte, bis hin zu Auseinandersetzungen mit Institutionen, Eltern, anderen Pädagogen, Therapeuten etc., in denen man sich sowohl durch das Team unterstützt und bestätigt wie auch ergänzt und korrigiert fühlte, wo es nötig war.

Nur so war es schließlich möglich, daß die Bedürfnisse und Interessen der Kinder in ihrer ganzen Bandbreite weitgehend zum Zuge kamen. Viele konnten eben so zur selben Zeit viel Verschiedenes tun: während z.B. die einen gerade im Tausenderbereich addierten und subtrahierten, waren andere bei Anabel im "Schuhgeschäft" zu Gast und übten gemeinsam mit ihr, linke und rechte Schuhe zu unterscheiden; wieder andere sägten, bohrten und malten in dieser Zeit mit Carlo ein Rechendomino im Werkraum während andere Gruppen mit Mathias auf Entdeckungsreise in die nähere Umgebung gingen, um Piktogramme zu fotographieren und ihre Bedeutung aufzuschreiben. Tage, die so verliefen - und das waren die meisten - waren auch für die Kinder so entspannend wie spannend und dadurch hauptsächlich befriedigend.

Heute arbeiten V. und ich an jeweils einer anderen Schule, B. zieht ihren kleinen Sohn groß und F. studiert. Wir sehen und treffen uns immer noch hin und wieder und wissen, daß unsere gemeinsamen Erfahrungen, unsere Ansprüche an das, wie wir in der Schule arbeiten wollen, geprägt haben: wir wollen nicht anders als im Team arbeiten, weil alles andere eine Zumutung für Erwachsene und Kinder ist! Wir wissen nun auch, daß unser Team nicht einfach ein Glücksfall und deshalb die Arbeit so angenehm war. Jeder von uns hat inzwischen andere Teamzusammensetzungen erlebt - mit ähnlichen Problem wie auch ähnlichen und letztlich entscheidenden Vorzügen!

Nun sollen ein paar Spotlights folgen und für sich sprechen: Szenen aus einem ganz normalen Alltag eines Teams, das sich zusammengerauft hat.

So geht's zu

Montag morgen, 8.15 Uhr. Ich hetze aus dem Auto in die Schule, bepackt mit "echtem" Rechenmaterial, in letzter Sekunde zusammengeklaubt bei HL um die Ecke. B., die Frühaufsicht hatte, empfängt mich mit einer Tasse Kaffee. Die Hektik fällt von mir ab, wir packen in Ruhe mein echtes "Warenangebot" für den Umgang mit Geld im Matheunterricht aus, die Kinder lesen, spielen, erzählen uns was. Der Morgenkreis kann beginnen. B. und ich sind noch allein. F und V kommen später.

Mitten in die erste Erzählung von dem, was so los war am Wochenende, platzt Carlo herein. Er stürmt an seinen Platz, tritt einem Kind, das ihm im Wege sitzt, ans Stuhlbein, der ganze kleine Kerl ein Bild zorniger Erregung. Er ist wieder sauer, daß er zu spät kommt und alle Blicke auf sich zieht, was öfter vorkommt, seit er allein mit der U-Bahn fahren darf. Vor lauter Unsicherheit und Mißstimmung wird erst einmal Radau geschlagen. Die Kinder sind diese Ausbrüche gewohnt. Sie erzählen weiter trotz des Lärms. Als sie die gerade begonnene Rede beendet haben, wendet sich B. ruhig und freundlich an Carlo: "Weißt du, was dem Nick heute morgen passiert ist? Seine U-Bahn stand im Stau." Carlo schaut fasziniert auf. Alles, was mit Gleisen, Bus und Bahn zu tun hat begeistert ihn. "Nick erzählt's dir sicher nochmal, wenn du in den Kreis kommst." Carlo grinst verlegen und setzt sich. Der Bann ist gebrochen. Während B. in ihrer treffsicheren Art Carlos Interesse anspricht, können die Kinder und ich ruhig im Morgenkreis fortfahren.

2. Stunde, Mathe-Unterricht. Nun mein Part: Ich erkläre, worum es heute geht: Die Kinder sollen an Gruppentischen "einkaufen" 'und "herausgeben" und dabei die Kommasetzung beim Geld festigen. Für Carlo, Mathias und Anabel sieht das Lernziel etwas anders aus: Carlo und Mathias üben in Zehnereinheiten zu zählen. Anabel lernt Münzen zu unterscheiden. Sie haben Extra-Preiszettel und -Geld. Sie entscheiden selbst, ob sie diese Aufgaben in der Gruppe oder am Nebentisch durchführen wollen. Die Erwachsenen sind ihre Assistenten. Per Blickkontakt verständige ich mich mit meinen drei Kollegen/Innen, wer sich welcher Gruppe zuordnet. Nahezu eine Doppelstunde lang herrscht geschäftiges Murmeln und Rascheln. Während der Gruppenarbeit habe ich Gelegenheit, von meinem Team Rückmeldung einzuholen, wie es mit den Differenzierungen heute in den verschiedenen Gruppen läuft. Von F. erfahre ich, daß Sandra mit der Kommaschreibweise noch so große Probleme hat, daß das Ergänzen noch nicht möglich ist und das nächste Mal eine weitere Übung dafür vorbereitet werden muß. B. ist nach einer guten Stunde mit Carlo und Mathias, deren Konzentration stark nachließ, in die Küche gegangen, um für durstige Kinder Tee zu holen. Mit ihrer Mathe-Aufgabe waren sie gut zurecht gekommen. V. signalisiert mir, daß Anabel die Zuordnung von Bild und Münze gut schafft, während sie die Münz-Namen noch nicht beherrscht. Wir wissen also, wo wir bei welchem Kind morgen wie weiterzumachen haben.

Pause: V. kommt mit einem großen Zettel aus dem Lehrerzimmer. Sie deutet auf Namen, Uhrzeiten und Pfeile. Sie hat unseren Belegungsplan für den Werkraum mit dem für den Musikraum und dem für die Therapie mit den Belegungsplänen der anderen Teams und denen der Therapeuten sowie denen des Sportvereins abgestimmt. Klasse, Orga-Olga!

3. Stunde: Deutsch: B. gestaltet heute wieder "Anabels Stunde". Sie malt, bastelt und klebt mit Anabel ein Tagebuch, in dem Anabels Erinnerungen und Erlebnisse festgehalten werden. Das ist lustvoll und schön für Anabel, die sich den meisten Anforderungen oft noch heftig entgegenstellt. Die beiden ziehen einträchtig in den Gruppenraum.

V. führt bei den anderen Kindern die Satzunterscheidung "Frage" und "Aussage" ein. Nach der spielerischen Einführung schreiben alle in Partnerarbeit Fragen und Antworten auf. Mathias und Carlo üben mit meiner Unterstützung, Lernwörter zusammenzusetzen. F. unterstützt Sebastian bei einer differenzierten Schreibaufgabe.

Am Ende der Stunde kommen alle wieder zu einem gemeinsamen Quatsch-Spiel mit Fragen und Antworten zusammen.

Die Regie dieser Stunde hat V unmerklich in der Hand. Mit leisen Rückfragen oder Gesten stimmt sie sich mit uns ab, welche neue Unterrichtsphase wann begonnen werden kann.

4. Stunde: Sportunterricht: Wir wollen uns auf den Weg machen zur Turnhalle. Da sehe ich Mathias, wieder einmal ohne Jacke, die er immer nicht anziehen will, weil er die Kälte nicht empfindet. Ich jage zurück zu den Kleiderhaken, treffe dort auf B., unsere Köpfe stoßen fast zusammen, als wir beide hastig nach Mathias' Jacke greifen und vollkommen synchron murmeln: "Mathias hat seine Jacke vergessen". Eine gewisse Symbiose in dem, was wir täglich für nötig halten, läßt uns eben manchmal auch zur selben Zeit dasselbe tun.

Nach dem Mittagessen: Freispiel. F. probiert mit Sebastian den Rollstuhl aus, den er für ihn umgebaut hat, damit er an einem ganz normalen Arbeitstisch sitzen kann. V. stellt den Stundenplan inclusive Belegungsplan fertig. Ich habe eine Pause eingelegt und beobachte B., die mit Carlo, Anabel und drei anderen Kindern im Garten steht, unserem "Bauernhof", wo täglich für alle "Gäste" flotte "Ferienereignisfeste" inszeniert werden. B's Blick schweift suchend umher. Klar, sie sucht Mathias. "Der sitzt schon auf dem Überseeschiff! " rufe ich ihr zu. (Das ist ein Klettergerüst in der andern Ecke des Gartens). Gleich löse ich sie ab. Dann gehe ich ans Klettergerüst, lege meinen Taucheranzug an und schwimme hinaus aufs offene Meer!

Ulrike Meister, Sonderschullehrerin für Lernbehinderte und Körperbehinderte; nach der Ausbildung 4 Jahre als Sonderschullehrerin an einer Sonderschule (Heimschule) für Erziehungshilfe in Dortmund; danach an der Integrativen Schule Frankfurt 4 Jahre als Sonderschullehrerin; seit 1 Jahr als Sonderschullehrerin im Gemeinsamen Unterricht an der Münzenbergerschule.

Susanne Eßinger: Nach vier Jahren Teamarbeit wieder "Einzelkämpferin"

Der Einstieg

Nach vier Jahren Arbeit an der Integrativen Schule stand mein Wechsel an eine staatliche Grundschule bevor. In vier, mitunter anstrengenden, jedoch wertvollen Jahren habe ich die Teamarbeit schätzen gelernt, die Vorteile gemeinsamen Leben und Lernens erfahren und, bedingt durch den Gemeinsamen Unterricht, eine genaue Vorstellung von Differenzierungsmöglichkeiten und deren Umsetzung erhalten. Mit diesen Erfahrungen fühle ich mich so richtig fit für meine neue Aufgabe, die Übernahme und Klassenführung einer 2. Klasse in einer staatlichen Schule.

Doch schon in den ersten neuen Schulwochen packt mich ein regelrechter Praxisschock: ich, alleine mit 24 Kindern, die sich erst an mich gewöhnen müssen, genauso wie ich mich an sie, 24 Kinder zusammen mit mir allein einen langen Vormittag gemeinsam in einen beengten Klassenraum gepfercht.

Ich erinnere mich natürlich sofort meiner positiven Erfahrungen mit Differenzierungen, denn ziemlich bald entdecke ich die Unterschiede in Fähigkeiten und Fertigkeiten. Ich bereite also meinen Unterricht, wie gewohnt, auf verschiedenen Niveaustufen vor und gehe morgens - selbstzufrieden mit meiner Arbeit - mit drei verschiedenen Sorten Arbeitsblättern und den entsprechenden Materialien in den Unterricht. Doch, oh Graus! Recht schnell komme ich ins Rotieren: Die Kinder kennen das Arbeiten mit unterschiedlichen Materialien nicht, und ich realisiere allmählich, daß ich kein Team zur Unterstützung habe. Die verschieden differenzierten Aufgaben haben unterschiedliche Fragen zur Folge, die ich gar nicht alle mit der eigentlich nötigen Zeit beantworten kann. Das Resultat daraus: erstmal wieder mehr frontal, und dann die langsame Hinführung und Gewöhnung der Kinder an das Arbeiten auf vorerst zwei verschiedenen Ebenen.

Ich erinnere mich an einen Montag: Während des Unterrichts beginnen zwei Jungen zu streiten. Ich, gerade mit einem Kind beschäftigt, registriere den Anfang des Streites nicht, bis sich mir aufgeschreckt von wütendem Geschrei, plötzlich folgendes Bild bietet: zwei auf dem Boden liegende Kinder, ineinander verkeilt, sich gegenseitig die Haare ausreißend und dazu ein durch die Klasse fliegender Ranzen. Ich stolpere gerade noch rechtzeitig durch die viel zu eng beieinander stehenden Tischgruppen, bevor Daniel einen Stuhl werfen kann. Der Junge ist außer sich, und ich versuche, ihn festzuhalten, wobei auch ich Tritte und Schläge kassiere. Mein einziger Gedanke: "Hoffentlich habe ich jetzt genug Kraft, um ihn festzuhalten! "

Ich zerre und schleppe uns beide vor die Tür und halte Daniel mit aller Kraft fest, bis ich spüre, daß er körperlich ruhiger wird und wieder ansprechbar ist. Ich setze mich mit ihm auf die Treppe: Wir reden, ich höre zu. Die nötige Ruhe habe ich allerdings nicht, denn im Klassenraum sind 23 Kinder alleine gelassen - was die jetzt wohl anstellen?

Bei einem Streit, der wenige Wochen später mit nicht weniger Heftigkeit ausgetragen wird, fühle ich mich nicht in der Lage, die Situation, nachdem die Streithähne getrennt sind, alleine zu meistern, die Stimmung in der Klasse ist durch Parteinahme so aufgeheizt, daß ich nicht 22 Kinder alleine lassen will, um mit den beiden draußen reden zu können. Kurz entschlossen mache ich die Sekretärin zu meinem "Teammitglied". Ich bringe ein Kind zu ihr, damit es sich dort während der nächsten halben Stunde beruhigt. Befriedigend ist diese Entscheidung nicht, in diesem Moment war sie jedoch die einzig mögliche für mich.

In den letzten Wochen vor den Ferien wird die Schule immer anstrengender, sowohl für die Kinder als auch für mich. Ich habe einfach nicht mehr tagtäglich die Energie, mich mit Geduld, positiver Verstärkung, freundlicher Gelassenheit, Verständnis, positiver Rückmeldung etc. (wir kennen alle diese aus der pädagogischen Literatur liebgewonnenen Begriffe) einem Kind zu widmen, das fast nur noch körperlich im Unterricht anwesend ist und sich ansonsten seiner Müdigkeit und Unlust überläßt. "Ich vermisse eine Teamkollegin, die jetzt die so dringend benötigte Geduld für dieses Kind aufbrächte!" - Ein ungehörter Hilferuf!

Eine andere Situation fällt mir ein: Ich ärgere mich während des Unterrichts über Stefanie, die durch ihr Schwätzen - ich nehme es so wahr - stört. Sie sitzt an einer Tischgruppe, den Rücken mir zugewandt, und ich nehme ihre recht lauten Zischeleien und ihre ausladende Gestik wahr. Ich spreche sie an und äußere meinen Ärger, mit dem entsprechenden Tonfall. Blitzartig verstummt Stefanie für den Rest der Stunde. Danach kommt sie heulend zu mir "Frau Eßinger, das war ungerecht, daß Du mich geschimpft hast! Der Murat hat mir mein Mäppchen weggenommen, und die anderen haben darüber gelacht und mich auch noch geärgert." Ganz erschrocken kann ich mich nur noch bei ihr entschuldigen und hoffen, daß damit ihr berechtigter Kummer gemildert wird. Mit einer Teamkollegin im Raum wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Sie hätte die sich entwickelnde Situation beobachten können, um sich dann rechtzeitig einzuklinken.

Eine erfreuliche Veränderung

Während dieses Schuljahres wurde bei zwei Kindern sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Da auch in der Parallelklasse Kinder diesen Förderbedarf haben, wurden zum Schuljahr 93/94 zwei Integrationsklassen eingerichtet und dafür eine Sonderschullehrerstelle zugewiesen. Welch ein Glück! Mit der Aussicht, wieder im Team arbeiten zu können, auch wenn es nur ein Teil der Stunden sein sollte, ging es mir gleich viel besser. Und als dann auch noch Uli, die Sonderschulkollegin kam, mit der ich mir eine tolle Zusammenarbeit vorstellen konnte (wir kennen uns von der gemeinsamen Arbeit an der Integrativen Schule), freute ich mich wieder richtig auf den schulischen Alltag.

Seit fast einem Jahr arbeiten wir jetzt zusammen, leider stehen ihr nur 10 Stunden für meine Klasse zur Verfügung. Nun nehme ich Unterrichtssituationen in Stunden, in denen wir gemeinsam in der Klasse sind, ganz anders wahr und stelle bei mir eine viel größere Ruhe und Gelassenheit fest: Unterrichte ich gerade und merke, daß an einem Tisch Kinder anderweitig beschäftigt sind, sei es mit Spielzeug, aufkommender Müdigkeit oder Konflikten, so arbeite ich ganz ruhig mit den anderen Kindern weiter, da ich aus dem Augenwinkel sehe, daß meine Kollegin schon auf dem Weg zu diesem Tisch ist und sich mit den Problemen dort auseinandersetzt, ohne daß der Rest der Klasse davon etwas bemerkt, geschweige denn gestört wird. Nun von der anderen Seite:

Meine Kollegin unterrichtet Mathe, ich sitze bei einem Kind. Plötzlich höre ich an der Tischgruppe neben mir ein anschwellendes Gemurmel, das mich in meiner Arbeit stört. Als ich gerade eingreifen will, kriege ich - glücklicherweise - Gesprächsfetzen mit. Da diskutieren vier Kinder doch gerade das Matheergebnis von eben, erklären sich gegenseitig nochmal die Lösungsschritte, und ein Junge erläutert seinen eigenen Rechenweg, der auch zu der richtigen Lösung führt. Ganz schnell sitze ich wieder auf meinem Stuhl und arbeite mit "meinem Kind" weiter. Das Gemurmel stört mich jetzt nicht mehr. Nach der Stunde unterhalten wir uns über meine Beobachtung und kommen zu dem Schluß: Oftmals greift man viel zu schnell ein und unterdrückt oder erstickt somit das Interesse der Kinder am Thema, weil man nicht hört, worüber die Kinder "schwätzen".

Auch bei der Wochenplanarbeit fühle ich mich, mit der Kollegin in der Klasse endlich wieder in der Lage, in Ruhe und mit Zeit mit einzelnen Kindern etwas zu erarbeiten oder mit einer kleinen Gruppe in der Teppichecke ein Spiel zu spielen. Höre ich ein Kind rufen: "Ich bin fertig mit Mathe! Kann ich jetzt mit Fatma das Gedicht lesen? Wir wollen aber raus auf den Flur gehen!", dann registriere ich mit Beruhigung: "Uli ist ja da!"

Susanne Eßinger, Grundschullehrerin; 1983-84 Gehörlosenschule Friedberg; 1984-87 August-Jaspert-Schule, Ffm-Bonames: Förderunterricht für deutsche und ausländische Kinder; 1987-88 Münzenberger-Schule, Ffm-Eckenheim; Förderunterricht 1988-92.Integrative Schule Ffm; seit 1992 wieder Münzenberger-Schule: Klassenführung einer Integrationsklasse; seit 1.5.94 Ausbildungsbeauftragte für das Grundschuldidaktische Seminar beim Studienseminar 11 in Ffm.

Gisela Kreie: Eins Plus Eins ist (nicht) einfach zwei - Teamarbeit im Gemeinsamen Unterricht

Einführung

Seit über 15 Jahren wird im Zusammenhang mit der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung von der veränderten LehrerInnenrolle gesprochen und geschrieben.

Eine besonders bedeutsame Änderung ist die Teamarbeit, die Kooperation von SonderschullehrerInnen und GrundschullehrerInnen, aber auch die Zusammenarbeit im Kollegium. Sie bilden eine wesentliche Grundlage der Integrationsklassen. Ihre Qualität spiegelt sich im Klassenklima wider und hat eine unmittelbare Relevanz für das Gelingen der gemeinsamen Erziehung.

Die Veränderung, die sich durch die Doppelbesetzung in einer Integrationsklasse ergibt, schafft keine grundsätzlich neuen Probleme der LehrerInnenrolle. Teamarbeit von Sonderschullehrerlnnen und GrundschullehrerInnen kann aber dazu führen, daß die systemimmanenten strukturellen und/oder die individuellen Komponenten der Lehrerlnnenrolle deutlicher zum Tragen kommen.

Durch das Öffnen der Klassenzimmertür in der Regelschule für Sonderschullehrerlrinen und behinderte Kinder entsteht ein Rahmen, in dem gesellschaftliche Widersprüche stärker hervortreten. Über den Umgang mit Behinderung im Regelbereich und die Kooperation der LehrerInnen können aber auch neue Lebendigkeit und Bewegung in den Schulalltag kommen und Entwicklungen möglich werden.

Meine langjährige Erfahrung in der Beratung und Supervision von Sonder- und Regelschullehrerlnnen aus Integrationsklassen zeigt, daß bestimmte Themenbereiche in der Zusammenarbeit immer wieder auftauchen. Sie werden zwar - je nach persönlicher und beruflicher Situation - von den LehrerInnen in unterschiedlicher Weise erlebt und verarbeitet. Ihre Relevanz ist jedoch unbestritten.

Mit der Darstellung wichtiger Themen möchte ich über das Individuelle hinausgehende allgemeine Erkenntnisse für Entwicklungsmöglichkeiten von kooperierenden LehrerInnen aufgezeigen.

Exemplarische Geschichte

An einer Grundschule stellen Eltern auf der Basis des §6 Schulpflichtgesetz den Antrag auf Beschulung ihrer behinderten Kinder im Regelbereich. Es geht insgesamt um drei Kinder mit Lernbehinderung, wovon ein Kind zusätzlich eine schwere Körperbehinderung hat. Da eine der Familien bereits über ein Geschwisterkind in Kontakt mit der Grundschule ist, kann sich der Schulleiter nicht entziehen. Er bringt das Anliegen der Eltern in einer Konferenz ein.

Nach längerer Diskussion findet sich eine erfahrene Grundschullehrerin bereit, die Integrationsklasse zu übernehmen.

Das Kollegium stimmt der gemeinsamen Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Kindern zu, wobei sich außer dieser Grundschullehrerin keine/r der KollegInnen vorstellen kann, selbst in der Integrationsklasse zu unterrichten.

Aus der zuständigen Sonderschule läßt sich eine junge Sonderschullehrerin abordnen. Sie hat vor zwei Jahren ihre Ausbildung abgeschlossen und interessierte sich schon während des Studiums für Integration.

Die beiden Lehrerinnen nehmen kurz vor den Sommerferien Kontakt zueinander auf. Sie scheinen sich sympathisch zu sein. In den Gesprächen haben sie den Eindruck, daß ihre pädagogischen Vorstellungen eine breite Basis von Gemeinsamkeit haben. Zu gegenseitiger Hospitation im Unterricht ihrer Klassen finden sie keine Zeit mehr.

Die erste Phase der Zusammenarbeit in der Integrationsklasse zu Schuljahresbeginn wird bestimmt von der Suche nach der jeweiligen Rolle im Team. Die Beziehungen zu den Kindern werden aufgebaut, der gemeinsame Unterricht wird konzipiert und ausprobiert, Erfahrungen von Annäherungen und Abgrenzungen werden gemacht.

Der Schulleiter und das Kollegium sind im neuen Schuljahr schnell zur Tagesordnung übergegangen. Die weitere Entwicklung der Integrationsklasse wird aus der Distanz abwartend, manchmal auch mit Skepsis begleitet. Eine Gesamtverantwortung bzw. kollektive Unterstützung für das Vorhaben des Gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderung gibt es nicht.

Für die Sonderschullehrerin ist das Verhalten des Kollegiums eine Enttäuschung.

Die Grundschullehrerin hatte von vorneherein keine Illusionen, sie kennt ihr Kollegium. Die eigene Angst vor "schlechten Noten" macht sie besonders sensibel für dessen Reaktionen. So z.B. die ganz konkrete Infragestellung der Doppelbesetzung der Integrationsklasse bei Krankheit von KollegInnen oder wenn LehrerInnen der Regelklassen von ihren "lernbehinderten" SchülerInnen sprechen, die sie in den größeren Klassen alleine tragen.

Bald melden sich auch die Eltern mit Fragen und Zweifeln. Manche Eltern nichtbehinderter Kinder nehmen die Parallelklassen zum Maßstab: "Die sind aber schon viel weiter!".

Die Eltern der behinderten Kinder erwarten mehr individuelle Förderung und Fortschritte als in der Sonderschule: "Eigentlich könnte unser Kind ja die Regelschule schaffen! "

Die Beziehung zwischen den beiden Lehrerlnnen der Integrationsklasse erfährt hierdurch eine Herausforderung und Bewährungsprobe. Obwohl sie die Zusammenarbeit mit der Sonderschullehrerin gut findet, ist die Grundschullehrerin doch enttäuscht. Sie will sich aber nicht eingestehen, daß sie sich eigentlich durch die Mitarbeit der Kollegin aus der Sonderschule vorzeigbarere Erfolge versprochen hat. Die Sonderschullehrerin spürt diese Enttäuschung. Sie hat viel von der Grundschulkollegin lernen können, da sie mit Grundschulunterricht keinerlei Erfahrung hatte. Dennoch vermißt sie bei der Kollegin ein Verständnis für die begrenzten bzw. anderen Möglichkeiten der Kinder mit Behinderung und die Geduld, diese Kinder ihre Entwicklung machen zu lassen.

Die Sonderschullehrerin, die schon während ihrer Ausbildung Supervision kennenlernen konnte, nimmt mit Beginn ihrer Integrationsarbeit an einer Supervisionsgruppe von Sonder- und RegelschullehrerInnen teil. Sie möchte mit ihrer Kollegin eine gemeinsame Supervision haben und will diesen Wunsch bald an die Grundschullehrerin herantragen.

Die Grundschullehrerin hat noch keine Erfahrung mit Supervision und deshalb auch keine Vorstellung, wie sich diese auf die Teamarbeit auswirken könnte.

Exemplarische Themenbereiche

Mit der Darstellung von Themen, die sich aus obiger "Geschichte" ableiten lassen, möchte ich den Versuch unternehmen, Verständnis für die mittelbar und unmittelbar an der gemeinsamen Erziehung beteiligten LehrerInnen zu vermitteln. Über die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Empfindungen und Sichtweisen kann ein Weg zu gegenseitiger Akzeptanz - ohne Abwertung von Unterschiedlichkeit - möglich werden.

Dabei erweisen sich die Bereitschaft zu Auseinandersetzung und die Fähigkeit, Konflikte auszutragen als unerläßliche Bestandteile der kooperativen und integrativen Arbeit. Supervision kann für den Aufbau einer Kooperationskultur sehr hilfreich sein.

RegelschullehrerInnen, an die die Frage der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung herangetragen wird - sei es durch Frühförderung, Kindertagesstätte, Eltern oder andere KollegInnen - haben oft ein Argument, das die Integrationsdiskussion grundsätzlich berührt:

Warum sollte ich diese schwere Aufgabe übernehmen? Schule ist ohnehin schon anstrengend genug!

Hinter dieser Aussage verbirgt sich nicht nur die alltägliche Überforderung, die viele LehrerInnen heute unbestritten erleben. Mit der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung entstehen auch andere Anforderungen.

Inzwischen haben Eltern in Hessen laut Schulpflichtgesetz den Anspruch auf gemeinsame Unterrichtung ihres behinderten Kindes in einer Regelklasse. Es ist jedoch bisher kaum in das Bewußtsein von RegelschullehrerInnen gelangt, daß die Integration nun grundsätzlich zu ihren Aufgaben gehört. Wir befinden uns derzeit in einer Übergangsphase. Die Kluft zwischen gesetzlichem Anspruch der Eltern und der Akzeptanz dieses Anspruchs bei Lehrerlnnen ist noch groß. Zum Verständnis der ablehnenden KollegInnen sei bedacht, daß der Umgang mit Behinderung und die unmittelbare Zusammenarbeit im Team nicht dem sozialisierten Berufsbild von GrundschullehrerInnen entsprechen. Verleugnung, d.h. in diesem Zusammenhang, die gemeinsame Erziehung nicht als neue Aufgabe anzunehmen, scheint eine häufige Widerstandsform zu sein.

Ambivalenzen, die innerhalb einer Schule bei der Entscheidung einzelner KollegInnen für Integration aufkommen, beeinflussen die Kooperation im Kollegium, da sie auch desintegrative Prozesse auslösen können:

Die IntegrationslehrerInnen haben es gut! Zu zweit in einer Klasse und auch noch weniger Kinder!

Das Gefühl, die IntegrationslehrerInnen haben es besser, ist bei diesen KollegInnen nicht logisch begründet. Sie hätten es ja auch wagen können. Da bei SkeptikerInnen bzw. AblehnerInnen die Angst im Umgang mit Behinderung und vor der Teamarbeit überwiegen, ist es für sie in der Regel keine Frage der freien Entscheidung. Hinter den Vorbehalten verbergen sich u.U. tiefere Probleme. Erst der Zugang zu ihren Schwierigkeiten könnte diesen Lehrerlnnen eine Wahl für oder gegen integrativen Unterricht ermöglichen:

Sind IntegrationslehrerInnen die besseren LehrerInnen? Das sollen sie erst einmal beweisen!

Wer eine Integrationsklasse an einer Regelschule installiert, rückt darüber bei KollegInnen zeitweise ins Zentrum des Interesses, meist in sehr ambivalenter Form. Integration wird von WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen propagiert, religiöse und humanitäre Appelle bleiben auch den RegelschullehrerInnen nicht verborgen. So ist es nicht überraschend, daß Bewertungen dabei für alle KollegInnen eine Rolle spielen. Die Infragestellung der eigenen nicht integrativen Arbeit wird befürchtet. Krisen im Kollegium können durch Vergleiche, Abwertung bzw. Rückzug verstärkt werden.

Es finden sich immer wieder GrundschullehrerInnen, denen eine solche Aufgabe auch reizvoll erscheint:

Ich habe Lust mich auf Neues einzulassen. Besonders neugierig bin ich auf die behinderten Kinder und die Zusammenarbeit mit der Sonderschullehrerin.

Häufig werden Integrationsklassen von erfahrenen GrundschullehrerInnen übernommen. Es sind dies KollegInnen, die ihre Flexibilität ausprobieren wollen, ausgetretene Pfade verlassen und sich noch einmal unter die Lernenden begeben möchten. Sie versprechen sich eine Bereicherung, u.U. eine Aufwertung ihrer Arbeit und neue Motivation für sich selbst.

Die SonderschullehrerInnen, die sich dafür entscheiden, an die Regelschule zu gehen, erleben noch deutlicher, daß sie Neuland betreten. Hier kann anfangs die Rolle der Lernenden unübersehbar im Vordergrund stehen:

Wie soll ich als SonderschullehrerIn den Grundschulunterricht bewältigen, wo ich das doch gar nicht gelernt habe?

Es ist eine hohe Anforderung an die Kooperierenden, sich in einer neuen Beziehung auch in seinen Schwächen zu zeigen. Üblicherweise werden in der Schule Stärken belohnt und Schwächen führen zu Abwertung. Diese Haltung kann bei der gemeinsamen Erziehung fatale Folgen haben. Behinderte Kinder können in einer Integrationsklasse ausgegrenzt sein, wenn keine Schwächen unter den Erwachsenen gezeigt werden dürfen, Schwächen sozusagen tabu sind.

Die unerfüllten Erwartungen der LehrerInnen aneinander lassen sich auf Dauer nicht verleugnen. Zumindest heimlich stellt sich Kritik ein, und dies belastet die Beziehung:

Eigentlich müßte die Sonderschullehrerin die Verantwortung für die behinderten Kinder übernehmen!

Dahinter steht oft die Hoffnung der RegelschullehrerInnen, daß nur richtig gefördert werden müsste, dann wären die Schwierigkeiten der behinderten Kinder zu beheben.

Die ständige Konfrontation der Grundschullehrerin mit dem eigenen Versagen, das sich bei lernbehinderten SchülerInnen besonders häufig einstellt (Schulschwäche = Schwäche der Schule oder Schwäche der Schüler?), verstärkt den Wunsch, sich zu entlasten, die Verantwortung abzugeben, Zuständigkeiten zu erklären.

Dies ist oft das Ende der ersten Euphorie in der Kooperation. Es stellt sich die Zeit ein, in der verglichen wird, wie weit die Parallelklassen schon sind und heimlich überlegt wird, wer eigentlich für die behinderten Kinder zuständig ist.

Neben dieser Aufteilung der Zuständigkeiten werden auch die Vorzüge der Rolle des anderen zur inneren Abgrenzung und Distanzierung benutzt:

Die Sonderschullehrerin hat es gut! Sie trägt nicht die Verantwortung für die Grundschulkinder.

"Meine Kinder? Deine Kinder?" wird jetzt zu der Frage. Oft kann die Grundschullehrerin die Verantwortung gar nicht abgeben, da zumindest anfangs die Kompetenzen für Grundschulunterricht bei ihr größer sind. Der Kompetenztransfer, d.h. das gegenseitige voneinander Lernen, braucht Zeit. Wenn es gelingt, das prozesshafte des Vorhabens, gemeinsam integrative Unterrichtsformen zu entwickeln, zu sehen und zu akzeptieren, können Unsicherheiten besser ausgehalten werden.

Der Sonderschullehrerin stehen durch ihren Wechsel an die Regelschule noch ganz andere innere Distanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Die Grundschullehrerin hat es gut. Sie gehört an diese Grundschule - ist hier zu Hause. Ich bin ja nur abgeordnet.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit KollegInnen, Eltern und im Kooperationsteam kommt es bei der Sonderschullehrerin u.U. zur fundamentalen Infragestellung der eigenen Rolle. Plötzlich sind die Wurzeln, ist die "ökologische Heimat" wichtig. Das sich einstellende Gefühl der Fremdheit, insbesondere auch gegenüber den Wertvorstellungen der Regelschule, kann ein Weg sein, sich aus der Verantwortung zu nehmen, Entlastung zu finden.

Eine Idealisierung der Sonderschulrealität ist dabei der meist wenig hilfreiche Versuch einer psychischen Stabilisierung.

Eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Befindlichkeit in der Zusammenarbeit wird bei den KooperationspartnerInnen dazu führen, diese psychischen Mechanismen mehr und mehr zu verstehen:

Meine Erwartungen an die Kollegin sind zu hoch. Das kann ich aber (noch) nicht akzeptieren!

In der Kooperationsbeziehung zwischen SonderschullehrerIn und Grundschullehrerln kann sich über diese Erkenntnis eine entscheidende Verbesserung ergeben. Der Zugang zu den eigenen Begrenzungen und Verhinderungsstrategien wirkt entlastend.

Ich kann nicht über meine Schwächen sprechen. Ich mache der Kollegin immer etwas vor!

Auf dieser Stufe der Selbstreflexion läßt sich, durch eine realistischere Selbstwahrnehmung der eigenen Beteiligung an den Problemen in der Kooperationsbeziehung, ein zunehmend offenerer Umgang miteinander gestalten.

Ich kann klare Rückmeldungen geben und akzeptieren.

Wenn die KooperationspartnerInnen für ihre Stärken und Schwächen ein besseres Verständnis haben, können sie auch Schwächen als Teil ihrer Persönlichkeit sehen und akzeptieren lernen. Die Verdrängung und das Verbergen von Schwächen kostet sehr viel Energie, die dann frei wird für die Entfaltung der individuellen und gemeinsamen Fähigkeiten in einer kreativen und produktiven Zusammenarbeit.

Voraussetzung für einen gemeinsamen Lernprozess innerhalb der Kooperationsbeziehung ist bei den Beteiligten die Anerkennung eines persönlichen Entwicklungsauftrages als Lehrer. Es ist sehr unterschiedlich, wie weit der gemeinsame Weg in einem Team gehen kann, da professionelle Entwicklung immer auch individuelle Bedingungen und Grenzen hat.

Eine wichtige Erfahrung kann in einem solchen Prozess die Erkenntnis sein, daß die Kooperation miteinander nicht bzw. nicht ohne Hilfe von außen gelingt. Sich dies einzugestehen - nicht in gegenseitiger Abwertung oder in Resignation zu verharren, sondern Konsequenzen zu ziehen durch Trennung oder den Versuch einer gemeinsamen Supervision/Beratung wären wünschenswerte Beweise dafür, daß Lehrerlnnen nicht alles können müssen und dies auch zugeben dürfen.

Gisela Kreie, Sonder- und Heilpädagogin, 12 Jahre wissenschaftliche Begleitung hessischer Integrationsprojekte in Kindergarten und Grundschule.

Seit 1991 Psychologische Beratung für Kindertagesstätten beim Stadtschulamt Frankfurt am Main.

STRUKTUREN UND MODELLE

Anne Weinmann: Widersprüche - Integration und Schulverwaltung

Seit dem Schuljahr 1991/92 sind integrative Maßnahmen in Hessen landesweit an vielen Grundschulen eingerichtet worden. Die Schulaufsichtsbeamten sind für die Durchführung zuständig. Sie haben große Entscheidungsbefugnisse, da sie nach §54 des Hessischen Schulgesetzes sowohl den sonderpädagogischen Förderbedarf des Kindes festsetzen, als auch entscheiden, ob an der von den Eltern gewünschten allgemeinen Schule die räumlichen und personellen Voraussetzungen gegeben sind, um die Förderung dieses Kindes zu gewährleisten. Sie urteilen also nicht nur, ob das Kind integrativ beschult werden kann, sondern haben auch die Möglichkeit (im Rahmen aller gesetzlichen Bestimmungen) zu entscheiden, ob und wie LehrerInnen dafür eingesetzt werden.

Das Gesetz brachte ihnen einen Entscheidungs- und Machtzuwachs. Wann immer ich mich mit KollegInnen, die in der Integration arbeiten, ausgetauscht habe, kamen wir auf die Schwierigkeiten mit der Schulaufsicht zu sprechen, die eine ergiebige Quelle des Frustes oder zumindest der Irritationen bei uns KollegInnen darstellten. Die landesweite Umsetzung des hehren Zieles "Integration" leidet nach unserer Meinung unter einigen Widerspruchen, die z.T. vermeidbar, z.T. nicht aufhebbar sind.

Erster Widerspruch: Per Gesetz vom Saulus zum Paulus

Die Einstellung zu Integration hat auch mit bildungspolitischen oder ideologischen Einstellungen zu tun. Auch bei Schulaufsichtsbeamten. So gab und gibt es in Hessen Schulaufsichtsbeamte, die Integration als positive Möglichkeit sehen, behinderte Kinder weniger auszugrenzen und zur Innovation von Unterricht beizutragen. Sie haben sich häufig schon vor der allgemeinen Einführung von Integration dafür stark gemacht und die Einrichtung von Maßnahmen unterstützt.

Viele andere aber hatten sich bisher für ein differenziertes Sonderschulwesen stark gemacht und standen integrativen Maßnahmen eher ablehnend gegenüber. Sie fühlten sich den Sonderschulen besonders verpflichtet und bekamen besonders in der Anfangsphase der allgemeinen Integration Druck von ihnen. Sonderschulen hatten zum einen Angst, daß sie gerade die stabileren, leistungsfähigeren SonderschülerInnen an die Integration abgeben würden und sie somit immer mehr zur Restschule würden. Zum anderen fürchteten sie, daß ihre als besonders schwierig empfundene Arbeit durch die "neue Methode" der Integration abgewertet würde. Als Folge dieser Abwertung sahen sie eine personell und sachlich immer schlechtere Versorgung voraus.

Nach drei Jahren flächendeckender Integration ist ein Phänomen festzustellen. Mehr Kinder als in den Jahren zuvor wurden auf die Sonderschulen überwiesen. Dies resultiert daraus, daß die Grundschulen mehr Melde- und Überprüfungsverfahren zum Schulanfang eingeleitet hatten, um jedem "gefährdeten" Kind die Chance einer integrativen Maßnahme zu geben. Für all diese Anträge gab es nicht genügend LehrerInnenstunden. Jedes Kind, das keine Integrationsmaßnahme bekommt wird jedoch in die Sonderschule überwiesen, weil ja sonderpädagogischer Förderbedarf nachgewiesen wurde. Die Sonderschulen haben also von der landesweiten Einführung der Integration nur profitiert, wenn sie es auch nicht so gerne zugeben. Wenn man zudem ihre personelle und sachliche Ausstattung vergleicht mit der integrativer Maßnahmen, so konnte die der Sonderschulen zumindest gehalten, wenn nicht verbessert werden.

Auf der einen Seite gab es bei der Schulaufsicht inhaltliche Bedenken gegen Integration und Befürchtungen bezüglich der angestammten Klientel und auf der anderen Seite gab es den Auftrag des Gesetzgebers, Integration zu organisieren und den hohen Erwartungsdruck von Seiten der Integrationsbefürworter, möglichst rasch möglichst viele Kinder bestmöglichst zu integrieren. Diesen Widerspruch versuchten die meisten Schulaufsichtsbeamten zu lösen, indem sie sich auf die Position des "neutralen" Verwalters von Personalressourcen zurückzogen. Damit gerieten sie aber in den zweiten Widerspruch.

Zweiter Widerspruch: Zuckerbrot oder Peitsche?

Per Gesetz waren nun alle Grundschulen potentielle Integrationsschulen, alle Grundschul- und SonderschullehrerInnen potentielle IntegrationslehrerInnen, ohne allerdings zu fragen, welche Bedingungen und Praxis einzelne LehrerInnen und Schulen haben. Es gab und gibt massive Ängste, in integrativen Klassen zu arbeiten. Gemeinsamer Unterricht ändert Althergebrachtes: Der eigene Unterricht und die Kompetenz werden zur Begutachtung freigegeben, ein Stück Kontrolle muß abgegeben, neue Positionen eingenommen werden.

Es gab und gibt KollegInnen, die diese Veränderungen als Bereicherungen ansehen und sich freiwillig zur Integrationsarbeit meldeten. Dem gegenüber wurden aber viel mehr Anträge auf gemeinsame Beschulung gestellt, als angenommen. Die Zahl der Freiwilligen reichte nicht aus. Die Schulaufsicht reagierte mit unterschiedlichen Methoden: Bei den SonderschullehrerInnen wurde das Problem häufig dadurch gelöst, daß AnfängerInnen gefragt wurden, die froh waren, eine Stelle bekommen zu haben.

GrundschullehrerInnen wurden oft moralisch unter Druck gesetzt mit dem Hinweis, daß sie sonst schuld daran seien, wenn das Kind in die Sonderschule käme. Als ob das nicht vorher auch der Fall gewesen war, nur daß dann die einzelne Grundschullehrerln gar nicht gefragt wurde und sich auch nicht dafür verantwortlich gefühlt hat. Außerdem wurde ihnen gesagt, daß sie gar keine Wahl hätten, da sie durch das Gesetz zu Integrationsmaßnahmen durch Dienstanweisung gezwungen werden könnten. Wenn KollegInnen von ihren "Rekrutierungen" erzählen, wird deutlich, daß kaum jemals mit den positiven Aspekten des Gemeinsamen Unterrichts geworben wird.

Auch eine inhaltliche Vorbereitung auf die Arbeit in integrativen Klassen fand nicht statt. Erst auf massiven Druck der ersten IntegrationslehrerInnen wurde das HILF (Hessische Institut für Lehrerfortbildung) für die Vorbereitung und Begleitung von Integrationsmaßnahmen zuständig gemacht.

Dritter Widerspruch: Entscheidung für mehr Qualität oder mehr Quantität

Auch hier zeigte sich wieder, daß die Schulaufsicht ihre Hauptaufgabe darin sah, die Lehrerversorgung zu sichern. Sie handelte dabei nach dem bewährten Prinzip: Wenn du wenig zu verteilen hast, gib allen ein Bröckchen und weise auf den gemeinsamen Mangel hin. Damit schaffst du die Art von Solidarität, die die Betroffenen ruhig hält.

Konkret bedeutete dies, daß versucht wurde, möglichst viele Kinder in Maßnahmen unterzubringen. Die meisten Maßnahmen der ersten beiden Jahre waren Einzelintegrationen. Die Schulaufsichtsbeamten setzten die sonderpädagogische Förderung je Kind durchschnittlich auf ca. sechs Stunden fest, mit der Variation vier bis acht Wochenstunden. Dadurch sind Lehrerstellen einzusparen. Ein einfaches Rechenexempel: bei 24 Anträgen auf Integration braucht man bei Einzelintegration 24mal 6=144 Stunden Doppelbesetzung = 5,5 Stellen á 26 Stunden. Wenn man Integrationsklasssen einrichtet mit drei behinderten Kindern und voller Doppeltbesetzung erhält man 24:3 = 8 Integrationsklassen = 8 Sonderschullehrerstellen = 208 Lehrerstunden, von denen man zwar einige abziehen kann, da Schüler und Schülerinnen der Grundschule in den unteren Klassen keine 26 Wochenstunden Unterricht haben. Trotzdem können in Einzelintegrationen bei gleicher Anzahl der Lehrerstunden mehr behinderte Kinder integriert werden.

In fast jedem Schulaufsichtsbezirk wurde im ersten Jahr verfügt, daß Sonderschullehrerlnnen an zwei bis drei unterschiedlichen Grundschulen mit jeweils vier bis acht Stunden eingesetzt wurden. Wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es unter diesen Bedingungen ist, gemeinsam Unterricht zu machen, kann man sich vorstellen. Weil es den SonderschullehrerInnen selbst in den Städten unmöglich war, alle drei Schulen an einem Tag aufzusuchen, sahen ihre Stundenpläne häufig so aus, daß sie an jeder ihrer Einsatzschulen ihre Stunden auf einen oder zwei Tage verteilten. Die anderen Tage war die GrundschulkollegIn dann allein mit der Klasse. Eine kontinuierliche gemeinsame Unterrichtsvor- und -nachbereitung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich.

Aus diesen Fehlern hat die Schulaufsicht mittlerweile gelernt. Ein Einsatz an mehreren Grundschulen kommt kaum mehr vor. Es gibt aber trotzdem noch KollegInnen, die aufgrund der Entfernung zwischen der Grundschule und der Sonderschule noch immer vor diesem Problem stehen.

Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß KollegInnen, die in Einzelmaßnahmen arbeiten, unzufriedener sind als solche, die 12 Stunden und mehr Gemeinsamen Unterricht haben. Sie führen das nicht auf die Schwierigkeiten mit KollegInnen oder SchülerInnen oder die Mehrarbeit zurück, sondern auf die unbefriedigenden Bedingungen der gemeinsamen Arbeit. Häufig sind solche Resümees: "Ich arbeite nach Beendigung dieser Maßnahme erst wieder in der Integration mit, wenn eine Doppelbesetzung möglich ist."

Einzelintegrationen kamen in vielen Fällen auch dem Wunsch der Eltern nach, ihr Kind möglichst wohnortnah beschulen zu lassen. Schulaufsichtsbeamte stehen sicher unter besonders großem Druck all der Eltern, die lange dafür gekämpft hatten, daß ihre Kinder allgemeine Schulen besuchen können. Aber auch den Eltern wird sich die Frage stellen, ob sie Integration unter jeder Bedingung wollen.

Viele KollegInnen meinen, daß es den meisten Beamten der Schulaufsicht in erster Linie darum ging, das Gesetz formal zu erfüllen.

Oder, um es anders auszudrücken, sie hatten versucht, Qualität am Merkmal der Wohnortnähe, nicht an den Inhalten und Strukturen Gemeinsamen Unterrichts festzumachen.

Aus den Erfahrungen der integrativen Tagesstätten, aber auch der bisherigen schulischen Maßnahmen wäre eine andere Strategie vielen KollegInnen sinnvoller erschienen. Statt auf die Quantität zu schauen, wäre es zumindest in den Ballungsgebieten möglich gewesen, Ressourcen an benachbarten Schulen zu bündeln. Die Schulen und LehrerInnen, die von ihrem Selbstverständnis und den Unterrichtsformen bereit waren, mit Gemeinsamem Unterricht zu beginnen, hätten besonders unterstützt werden können durch ausreichendes Material, Lehrerstunden, Autonomie und Fortbildungsmöglichkeiten an diesen Schulen.

Qualität statt Quantität. Gute Qualität hat darüberhinaus Aufforderungscharakter für interessierte Kolleginnen. Im Gemeinsamen Unterricht zu arbeiten wäre damit auch erstrebenswert geworden, weil die Arbeitsbedingungen gut sind. Unter jetzigen Bedingungen arbeiten LehrerInnen häufig wegen des guten pädagogischen Gewissens, daß man auch gegen Widerstände das moralisch Richtige tut oder die eigenen Ideale verwirklicht. Diese Motivation trägt bei Konflikten nicht weit und der hehre Anspruch überfordert leicht.

Ein ernstzunehmender Einwand gegen diese Vorgehensweise ist die Befürchtung, daß sich auf diese Weise neue Eliteschulen bilden könnten, auf die nur die besonders cleveren und durchsetzungsfähigen Eltern ihre Kinder bekommen. Es sind dies die Einwände, die auch beim neuen bildungspolitischen Begriff der autonomen Schule genannt werden. Der Widerspruch zwischen Quantität und Qualität wird sich in einem öffentlichen und demokratischen Schulwesen nie ganz lösen lassen. Wir hoffen nur, daß neben der allgemeinen und der Schulöffentlichkeit auch eine aufmerksame Schulaufsicht sich bemüht, die beiden Pole der Schulentwicklung in der Waage zu halten.

Vierter Widerspruch: Anweisen oder Beraten- oder neue Beamte braucht das Land

Dieser Widerspruch scheint vor allem in den Köpfen der Schulaufsichtsbeamten zu stecken. An einem typischen Beispiel wird das besonders deutlich. In fast jeder integrativen Klasse gibt es die sogenannten "U-Boote". Das sind Kinder, die besondere Förderung brauchen, ohne daß dies bei der Einschulung bemerkt worden wäre. In manchen Fällen sind sie vom Verhalten her sehr viel auffälliger als das "Integrationskind". Bei der geringen Doppelbesetzung in der Einzelmaßnahme fühlten sich KollegInnen überfordert und wünschten eine Aufstockung der Doppelbesetzung. Wenn sie sich mit diesem Wunsch an die Schulaufsicht wandten, wurde ihnen gesagt, daß alle Stunden vergeben seien und sie das Kind ja an die entsprechende Sonderschule abgeben könnten. Dieses Ansinnen muß zynisch klingen, wenn im Vorfeld kein einziges Mal versucht wurde, gemeinsam mit den entsprechenden LehrerInnen und der Schulleitung nach anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Die KollegInnen wurden oft erst nach langem Drängen überhaupt angehört und dann mit dem Hinweis auf die Gesetzeslage und die LehrerInnenversorgung abgespeist.

Die meisten Beamten der Schulaufsicht verstehen sich nur als weisungsbefugte Aufsicht, die im Sinne der Gesetze verwaltet. Zeitaufwendige gemeinsame Beratung sehen sie nicht als ihre Aufgabe. Daß Integration Verwaltung schwieriger gemacht hat, weil nun genauer hingesehen und gehört werden muß, welche Bedingungen beim einzelnen Kind, den LehrerInnen und der Schule gegeben sind, ist diesen Beamten nur ein Grund mehr, Integration abzulehnen bzw. abzuwickeln. Die Chancen, die in Integration stecken, Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder und auch für von Vereinzelung bedrohte LehrerInnen gemeinsam zu verbessern, nehmen sie nicht wahr. Aber Gott sei Dank gibt es auch noch andere Schulaufsichtsbeamte, oder?

Anne Weinmann, Grund- Haupt- und Sonderschullehrerin, 4 Jahre Lehrerin an einer Grundschule, 3 Jahre an einer Gesamtschule. 1987 Studium der Sonderpädagogik, seit 1989 Lehrerin an einer Schule für Körperbehinderte; seit 1991 Mitarbeiterin in einer Integrationsklasse und in der Lehrerfortbildung.

Anneliese van den Höövel: Einzelintegration - Erfahrungen und Interviews mit PraktikerInnen

Erfahrungen

Ich bin seit zwölf Jahren Sonderschullehrerin an einer Schule für Praktisch Bildbare und studiere zur Zeit Supervision. Innerhalb dieses Studiums beschäftige ich mich in meiner Forschungsarbeit mit Problemen der Einzelintegration. Ich befragte Sonderschullehrerlnnen, die stundenweise an eine Grundschule abgeordnet sind und deren GrundschulkollegInnen nach ihren Erfahrungen und Sichtweisen bezüglich der von ihnen durchgeführten Einzelintegrationsmaßnahmen. Ausgangspunkt meiner Befragungen waren folgende Annahmen: Gemeinsamer Unterricht bzw. Integration ist nicht abhängig von Art und Schweregrad der Behinderung eines Schülers, sondern von der Integrationsfähigkeit der Schule. Gemeinsamer Unterricht braucht LehrerInnen, die freiwillig und kooperativ einen Unterricht anstreben, in dem "alle Schüler" auf ihrem Niveau lernen können. Um diese Kooperation zu ermöglichen, müssen SonderschullehrerInnen die Möglichkeit haben, sich zu integrieren. Die nur stundenweise Abordnung von Sonderschullehrerinnen führt bei allen Beteiligten zu einer unbefriedigenden Praxis. Den Hintergrund dieser Annahmen bilden meine Erfahrungen als abgeordnete Sonderschullehrerin und Beratungslehrerin. Ich möchte diesen Erfahrungshintergrund zunächst darstellen

Neun Stunden sind nicht genug

Im Februar 1986 war es endlich soweit. Ben, ein siebenjähriger Junge mit Down-Syndrom, wurde in die Grundschule in (ein kleines Dorf in Nordhessen) ins laufende Schuljahr in die Eingangstufe eingeschult. Wir, d. h. allen voran die Mutter, einige GEW-Kollegen und ich (Sonderschullehrerin und zu diesem Zeitpunkt drei Jahre Klassenleiterin an einer Schule für Praktisch Bildbare), hatten die von uns geforderten Bedingungen für eine integrative Beschulung von Ben nicht durchsetzen können.

So war die wohnortnahe Beschulung gescheitert (die Grundschule liegt ungefähr 9 km von Bens Wohnort entfernt) und die geforderten Stunden für die Sonderschullehrerin wurden auch nicht gewährt (9 statt 15 Stunden). Dennoch, wir empfanden Bens Einschulung als Erfolg.

Das Kollegium der Grundschule stand und steht dem Integrationsgedanken sehr aufgeschlossen gegenüber, man hatte der Einschulung von Ben einstimmig zugestimmt. Begründet lag diese Entscheidung sicherlich darin, daß man dort schon seit vielen Jahren didaktisch-methodisch in Richtung selbstbestimmtes, soziales Lernen erfolgreich arbeitete, zum Beispiel in Jahrgangsübergreifenden Projekten, durch Binnendifferenzierung, Tages- und Wochenpläne und freie Arbeit. Seit der Einführung einer Eingangsstufe unterrichten auch Sozialpädagoginnen, so daß man dort an die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen gewöhnt war.

Das pädagogische Konzept dieser Schule schien also eine gute Ausgangsbasis für Bens Integration zu bieten. Trotzdem, ich hatte ganz schön Angst, als es dann tatsächlich losging. Dabei kreisten meine Ängste weniger um Bens als um meine eigene Integration. Ich hatte Angst vor den Erwartungen der Grundschulkolleginnen an mich und meine "Sonder-Kompetenz", gerade auch weil ich wußte, daß es sich um ein pädagogisch sehr engagiertes Kollegium handelte. Würde man mich zum Beispiel als Expertin für problematische Schüler überfordern? Was würde passieren, wenn ich selber unterrichten mußte? Würde es mir gelingen, Ben in laufende Projekte miteinzubeziehen? Inwieweit war ich aufgrund meiner Ausbildung und Erfahrung überhaupt in der Lage, meine Kollegin sinnvoll und effektiv zu unterstützen?

Durch den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu meiner Kollegin gelang es mir, meine Befürchtungen abzubauen. Einmal wöchentlich setzten wir uns zusammen, um den Unterricht der nächsten Woche zu besprechen. Später habe ich den mathematischen Schwerpunkt für eine Kleingruppe übernommen und mit der Kollegin zusammen die Arbeitspläne für Ben innerhalb des laufenden Projektes erarbeitet.

Ben ist während der gesamten Grundschulzeit gerne in die Schule gegangen. Ich hatte nie das Gefühl, daß es für sein Selbstbewußtsein problematisch war, der einzige behinderte Schüler in der Gruppe zu sein. Seine Beziehungen zu den einzelnen Klassenkameraden waren sehr unterschiedlich und natürlich häufig durch die Fürsorglichkeit der Mitschüler geprägt. Dennoch, auch seine Mitschüler haben von seinem großen Einfühlungsvermögen profitiert - seine unmittelbaren körperlichen Zuwendungen ließen ihn schnell zum "Cheftröster" werden.

Bens Fortschritte, vor allem auch im sprachlichen Bereich und seine Beteiligung an Projekten haben mir deutlich die Grenzen der Förderung an der Sonderschule gezeigt. Selbst wenn wir an den Sonderschulen häufiger die Möglichkeit zur Einzelförderung bekämen, das Lernen in einer "normal" gemischten Lerngruppe hat eine völlig andere Qualität! Dies wurde mir besonders dann deutlich, wenn sich Ben durch seine Mitschüler angeregt und zeitweise angeleitet, mit Zusammenhängen beschäftigte, die so niemals Inhalt einer Lerngruppe für praktisch bildbare Kinder geworden wären. Als Beispiel sei hier das gemeinsame Lesen eines Buches in der Klasse und dessen spielerische Umsetzung genannt, Ben hat dadurch Zugang zu Büchern gefunden. Heute besitzt und liest er viele Bücher. Nachdem ich beobachten konnte wie selbsttätig sich Ben die Angebote aus seinem Lernumfeld herausholte, die seinem Entwicklungsniveau entsprachen, habe ich mehr Vertrauen in die Selbstorganisation von Lernprozessen auch bei behinderten Schülern bekommen.

Ich habe Ben fünf Jahre während seiner Grundschulzeit begleitet. Leider wurde es ihm nach seiner Grundschulzeit nicht ermöglicht mit seiner Lerngruppe in die entsprechende Gesamtschule zu wechseln, trotz des starken Engagements der Elternschaft, die für eine weitere gemeinsame Beschulung eintrat. Ben besucht zur Zeit den Hauptschulzweig einer Privatschule an seinem Wohnort. Dort wird er von einem Sonderschulkollegen mit zehn Stunden begleitet.

Trotz positiver Erfahrungen an der Grundschule blieb bei mir bis zum Schluß das Gefühl, die Schüler unserer Gruppe und meine Kollegin an der Sonderschule, mit der ich dort in Doppelbesetzung arbeitete, im Stich zu lassen. Da der Unterricht in unserer Klasse dort nicht an Fächern, sondern an Vorhaben orientiert ist und die Schüler zu unvorhersehbaren Zeiten besondere Hilfe brauchen, ist eine kontinuierliche Anwesenheit eigentlich notwendig.

In der Grundschule konnte Ich zwar viele Ängste bezüglich der Grundschularbeit abbauen, trotzdem habe ich aufgrund meiner nur neunstündigen Anwesenheit nie den Status eines Gastes und einer Fachlehrerin überwunden. Die Hauptlast und Verantwortung der integrativen Arbeit verblieb bei den Grundschullehrerlnnen.

Ich denke, daß Bens gelungene Integration vor allem der didaktisch-methodischen Arbeit der GrundschulkollegInnen zu verdanken ist.

Von der Beratung zur Selektion

Aufgrund der oben beschriebenen Erfahrungen war ich zunächst froh, wieder mit voller Stundenzahl in meiner Stammgruppe in der Sonderschule arbeiten zu können. Jetzt allerdings spürte ich die Beschränkungen der Institution Sonderschule stärker als je zuvor. Vor allem das Fehlen kindlicher Sprachvorbilder (in unserer Gruppe spricht nur ein Schüler in Mehrwortsätzen) läßt mich immer wieder an unseren Möglichkeiten zweifeln.

Als vom Schulamt das Angebot kam, als Beratungslehrerin tätig zu werden, sah ich zunächst eine Möglichkeit, meine Erfahrungen innerhalb des Integrationsprozesses weiterzugeben. Ich wurde drei Stunden pro Woche für diese Aufgabe vom Unterricht befreit. In der Praxis lag der Schwerpunkt meiner Arbeit jedoch nicht in der Beratung, sondern in der Feststellung des "sonderpädagogischen Förderbedarfs" bei Schülern, die für den Gemeinsamen Unterricht vorgesehen waren. Den Wünschen der Eltern konnte seitens des Schulamtes nicht in jedem Fall entsprochen werden, da für den Förderbedarf nicht genügend Lehrerstunden zur Verfügung standen. In unserem Schulamt versuchte man, möglichst viele Anträge zu genehmigen. Aus diesem Grund wurden bevorzugt die Anträge bewilligt, bei denen der Förderbedarf der Schüler sechs Stunden nicht überstieg. Dies bedeutete für mich als Beratungslehrerin, daß ein Antrag um so mehr Chancen auf Bewilligung hatte je weniger Förderbedarf ich diagnostizierte. Durch dieses Vorgehen des Schulamtes hatte sich hinter unserem Rücken ein neues Selektionskriterium durchgesetzt. Der diagnostizierte Förderbedarf des Schülers wurde zum Auswahlkriterium. Damit wurde eine eigentlich äußere Bedingung, nämlich zu wenig Lehrerstunden zu haben, zu einem Merkmal des zu überprüfenden Schülers.

Diese Art der Selektion hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis.

Macht man den Gemeinsamen Unterricht vom Förderbedarf der Schüler und nicht von der Integrationsfähigkeit der Schule abhängig, werden bestimmte Schülergruppen ausgeschlossen.

Die nur stundenweise abgeordneten SonderschullehrerInnen können den GrundschullehrerInnen nicht die notwendige Unterstützung bieten, um den Unterricht im Sinne des Gemeinsamen Lernens (projektorientiert, binnendifferenziert) zu gestalten. Hinzu kommt, daß die eingesetzten SonderschullehrerInnen oft Berufsanfänger sind, deren Einstellung an den Einsatz im Gemeinsamen Unterricht gekoppelt wurde. Es werden Schulen und LehrerInnen mit der Aufgabe des Gemeinsamen Unterrichts betraut, die darauf nicht vorbereitet sind.

Schwerlich vorstellbar, wie sich unter diesen Bedingungen eine Schule ohne Aussonderung entwickeln soll.

Interviews

Im Rahmen meiner Forschungsarbeit befragte ich GrundschullehrerInnen und abgeordnete SonderschullehrerInnen nach ihren Erfahrungen, Sichtweisen und Perspektiven bezüglich der von ihnen durchgeführten Maßnahmen.

Die bisherige Auswertung zeigt deutlich, daß die Rahmenbedingungen für den Gemeinsamen Unterricht unzureichend sind.

Aussagen wie: "Nächstes Jahr läuft diese Maßnahme aus und dann würde ich mich glaub' ich nicht bereit erklären 'ne neue Integration zu machen, einfach weil es zu zerrissen ist." Oder: "Wenn wieder mal so was ansteht, sind aber meine Kollegen mal dran!", deuten darauf hin, daß die gegenwärtige Praxis eher schädlich für eine weitere Entwicklung der Integration ist. Denn dies dürfte klar sein, ohne die Beteiligung der unterrichtenden LehrerInnen läßt sich Schule nicht ändern.

Immer wieder wird in den Interviews die Bevormundung durch die Schulämter beklagt, So wurde zum Beispiel einem Grundschulkollegen ein Sonderschulkollege gegen seinen ausdrücklichen Willen zugeordnet. Oder es wird eine Kollegin nach einem halben Jahr aus einer Abordnung herausgenommen und durch eine neu eingestellte Kollegin ersetzt, ohne mit den betroffenen Lehrerinnen darüber zu sprechen. Unter den Bedingungen der unvorbereiteten zwangsweisen Zusammenarbeit und dem Fehlen von Koordinationsstunden kann kaum eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Grund- und SonderschullehrerInnen entstehen. So beklagt sich eine Sonderschullehrerin, daß ihre Kollegin ihre Vorschläge als "zu wenig niveauvoll" ablehnt. Eine andere berichtet, daß sie sich sehr darüber ärgert, daß ihre Kollegin aus der Sonderschule keinen Unterricht übernimmt, traut sich jedoch nicht, dies anzusprechen. Die SonderschullehrerInnen beklagen ihre Zerissenheit, vor allem dann, wenn sie an ihrer Stammschule noch Klassenlehrerfunktion haben. Sie glauben, daß "ihren" Schülern durch die Abordnung etwas vorenthalten wird. Andererseits sind sechs Stunden Abordnung viel zu wenig, um den Grundschulunterricht mit dem Kollegen kooperativ umsetzen zu können.

Da ist zum Beispiel Frau B., sie ist Sonderschullehrerin und nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit glücklich, endlich eine Stelle bekommen zu haben. Daß diese Stelle an eine sechsstündige Abordnung zum Gemeinsamen Unterricht gekoppelt ist, nimmt sie in Kauf. Immer wieder wird Frau B. von einer Kollegin, die als Fachlehrerin in der Klasse arbeitet, gefragt, ob sie nicht selber sehe, daß dieses Kind nicht in die Grundschule gehöre. Der Unterricht läuft in diesem Fachunterricht lehrerzentriert und frontal, das "Gutachtenkind" bekommt keine Chance, daran teilzunehmen. Dafür, denkt die Kollegin, ist die Sonderschullehrerin ja schließlich da, am besten sie geht mit dem Schüler, damit der Unterricht nicht gestört wird. Frau B. fällt es schwer, sich gegen diese Kollegin durchzusetzen.

In der Sonderschule hat Frau B. Klassenlehrerfunktion. Und obwohl ihre Arbeit dort viel "stressiger" ist, fühlt sie sich an der Sonderschule wohler. Sie findet, daß ihre Abordnung zu Lasten ihrer Schüler an der Sonderschule geht und möchte nach Beendigung der Maßnahme nicht mehr abgeordnet werden.

Zweites Beispiel, Herr 0.: Den Schüler ("das Gutachtenkind") hätte er schon lieber alleine unterrichtet, allenfalls fände er die zeitweilige Doppelbesetzung mit einer ebenfalls in der Klasse arbeitenden Grundschullehrerin sinnvoll. Jemand "von außen" kann ihm da nicht helfen. Die in diese Klasse mit sechs Stunden abgeordnete Sonderschullehrerin, auch ihre Einstellung war an eine Abordnung im Rahmen des Gemeinsamen Unterrichts gekoppelt, möchte unbedingt aus dieser Maßnahme heraus, da die verordnete Zusammenarbeit nicht funktioniert. Sie bekommt keinen Zugang zu dem "Gutachtenkind". Andere Versuche, sich sinnvoll in den Unterricht einzubringen, scheitern an den völlig unterschiedlichen Auffassungen über die Unterrichtsorganisation.

Ich denke, diese Beispiele zeigen, daß die Gestaltung von Gemeinsamem Unterricht bestimmte Rahmenbedingungen zur Voraussetzung hat. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen

  • Die Beratung und Fortbildung von Sonderschul- und GrundschullehrerInnen im Sinne des Gemeinsamen Unterrichts.

  • Die Verankerung von SonderschullehrerInnenstellen an Grundschulen.

  • Die aktive Beteiligung der LehrerInnen bei der Erarbeitung eines Konzeptes für ihre Schule und ihren Unterricht.

  • Begleitende Supervision.

Anneliese van den Höövel, seit 1984 in der GEW, der Lehrerfortbildung und in der Praxis mit Integration befaßt. Seit Oktober 1990 Kontaktstudium "Supervision" an der Gesamthochschule Kassel.

Ingrid Zoller: Kleinklasse und Gemeinsamer Unterricht - zwei mögliche Formen integrativer Arbeit

Kleinklassenarbeit und Gemeinsamer Unterricht sind, betrachtet man sonderpädagogische Förderung als Prozeß, an unterschiedlichen Stellen angesiedelt. Während die Kleinklasse zu den präventiven Maßnahmen gehört, kann der Gemeinsame Unterricht erst dann erfolgen, wenn ein Kind gemeldet, überprüft und sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde.

Bei beiden Maßnahmen aber handelt es sich um integratives Arbeiten in der Regelschule. Kommunikation, sowie Aufbau und Gestaltung einer tragfähigen professionellen Beziehung sind für beide von zentraler Bedeutung für den Erfolg der Maßnahme.

Integrative Arbeit mit Kindern, die verhaltensauffällig, lernbeeinträchtigt oder sprachauffällig sind, findet schon viele Jahre in den Grundschulen statt. Die Lerngruppe mit homogenem Arbeits- und Sozialverhalten, die sich im Rahmen geringer Leistungsabstufungen den angebotenen Lernstoff aneignet, finden wir schon lange nicht mehr.

Veränderte Lebensbedingungen wie

  • Berufstätigkeit beider Elternteile,

  • Kinder, die sich selbst überlassen bleiben oder in Orten organisierten Lebens (Hort, Kinder-, Jugendclub, etc.) untergebracht sind,

  • mangelnde Gelegenheiten auch verkehrsbedingt, Spielerfahrungen zu sammeln,

  • Prägung des Umgangs mit Menschen, anderen Lebewesen und Dingen durch Video und Film,

  • Aufwachsen als Einzelkind bei nur einem Elternteil oder in Stieffamilien,

  • Herkunft aus anderen Kulturkreisen mit anderen Normen und Werten sowie die unterschiedliche Beherrschung der deutschen Sprache

beeinflussen vielfach das Lern- und Leistungsverhalten der Kinder. Je nach Einzugsgebiet und sozialer Zusammensetzung gab und gibt es in vielen Klassen Kinder, bei denen Grundschullehrerinnen und -lehrer bemüht sind, ihnen durch differenzierte Hilfen gerecht zu werden, sie in ihrer Entwicklung zu fördern und ihre Aussonderung zu verhindern. Unterstützende Maßnahmen, sind ambulante Betreuung durch Sprachheillehrerinnen und -lehrer, sowie die Betreuung verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler nach den "Richtlinien für den Unterricht in der Schule für Verhaltensgestörte (Sonderschule) und in Kleinklassen" vom 27.12.1979.

Da Lehrkräfte aus unterschiedlichen pädagogischen Systemen (Sonderschule/Grundschulen) zusammenarbeiten müssen, ist die Kommunikation zwischen den beiden von zentraler Bedeutung für den Erfolg der sonderpädagogischen Maßnahme.

Lehrkräfte, die sich kaum aus anderen Zusammenhängen kennen, müssen nun zusammen in einer Lerngruppe arbeiten. Sie müssen sich über inhaltliche und methodische Fragen verständigen. In der Auseinandersetzung darüber werden bald eigene Wert- und Zielvorstellungen zum Thema.

Die Änderung des Hessischen Schulgesetzes und die darauf basierende "Verordnung über die sonderpädagogische Förderung" vom 27. Mai 1993 ist der Versuch, den gemeinsamen Bildungsauftrag von Regelschule und Sonderschule gesetzlich zu verankern. Leider werden weder im Gesetz noch in der Verordnung die bisherigen Erfahrungen mit ambulanten sonderpädagogischen Maßnahmen aufgegriffen und fortgeschrieben.

Ich möchte im folgenden darstellen, welche Möglichkeiten, eine produktive Kommunikation aufzubauen, in beiden Formen Kleinklasse/Gemeinsamer Unterricht möglich sind. Dabei möchte ich meine eigenen Erfahrungen in beiden Arbeitsbereichen reflektieren (von 1983 bis 1992 Arbeit in einer sog. Kleinklasse, ab 1992 im Gemeinsamen Unterricht, beides an Grundschulen in Offenbach) versuchen.

Rahmenbedingungen

Kleinklassen

Auf Grundlage des "Kleinklassen - Erlasses" können Grundschulen unter Nachweis eines entsprechenden Bedarfs beantragen, daß ihnen eine Stelle für eine Sonderschullehrkraft zugewiesen wird. Auftrag ist, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten so zu fördern, daß sie nicht ausgesondert werden müssen. Art und Umfang des Einsatzes der Sonderschullehrkraft wird in der Schule geregelt, die zu betreuenden Kinder werden zahlenmäßig erfaßt und der vorgesetzten Dienststelle gemeldet. Laut Erlaß haben die Sonderschullehrkräfte 12 Stunden Klassenunterricht zu erteilen, die restlichen Stunden stehen für die sonderpädagogische Förderung zur Verfügung.

Die sogenannte Kleinklasse stellt einen Schnittpunkt zwischen mehreren unterschiedlichen Arbeitsgebieten dar. Steht in den Richtlinien die Verhaltensauffälligkeit im Mittelpunkt, zeigte sich in der Praxis, daß in den meisten Fällen Lernstörungen davon nicht zu trennen sind. Entsprechend breitgefächert müssen die notwendigen sonderpädagogischen Angebote sein.

Im Sinne einer integrativen Arbeit werden keine selbständigen Klassen gebildet, sondern verbleiben die Kinder in ihren Lerngruppen. Die Förderung erfolgt zusätzlich und/oder parallel zum Unterricht, bzw. im Unterricht.

Gemeinsamer Unterricht

Gemeinsamer Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder setzt voraus, daß bei Kindern nach Abschluß des Melde- und Überprüfungsverfahrens ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird,

  • die betroffenen Eltern einen Antrag auf Gemeinsamen Unterricht gestellt haben,

  • die räumlichen, sachlichen und personellen Voraussetzungen erfüllt werden können.

Die Entscheidung liegt beim Staatlichen Schulamt.

Der Grundschule wird, je nach Anzahl der Kinder, ein zusätzliches Stundenkontingent zugewiesen. Laut Verordnung sind das je nach Behinderung bei einem Kind 5 - 10 Wochenstunden, bei zwei Kindern 8 - 16 Wochenstunden, bei drei Kindern 12 - 24 Wochenstunden.

Da häufig nur ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einer Klasse ist, bedeutet das, daß die Sonderschullehrerin nur stundenweise im Unterricht anwesend ist, also von ihrer Stammschule, meist einer Sonderschule, zur Regelschule hin- und herpendelt.

Meine Erfahrungen

Kleinklassen

Meine Anwesenheit als Sonderschullehrerin mit einem besonderen Arbeitsauftrag in einem Grundschulkollegium setzte zunächst unterschiedliche Erwartungen und gleichzeitig Abwehr frei. Sowohl meine Kolleginnen und Kollegen als auch ich brauchten Zeit zum Kennenlernen und für gemeinsame Erfahrungen, um Formen der Kooperation zu finden und zu erkennen, wo unsere persönlichen Grenzen liegen.

Der Schwerpunkt meiner Arbeit wurde auf einer pädagogischen Konferenz festgelegt. Wegen der hohen Schülerzahl arbeitete ich vorwiegend mit Kindern aus den 1. und 2. Klassen. Auch mein zu erteilender Klassenunterricht wurde in diese Klassen gelegt. Dies stellte sich für mich als sinnvoll und diagnostisch ergiebig heraus, da ich die Kinder und die Kinder mich auch in einer anderen Rolle erlebten.

Die Arbeitsformen betreffend, wurden zunächst die gewählt, die sich organisatorisch lösen ließen, z.B. zusätzliche Förderstunden. Der nächste Schritt, paralleles Arbeiten, aber räumlich getrennt, setzte bereits gemeinsame inhaltliche Absprachen voraus. Formen der gemeinsamen Anwesenheit in der Klasse herauszubilden, brauchte die meiste Zeit. Im Unterricht konnte dies unterschiedliche Rollenverteilungen bedeuten:

  • die Grundschullehrkraft unterrichtet, die Sonderschullehrkraft beobachtet unter einer vorher abgesprochenen Fragestellung die Lerngruppe,

  • die Grundschullehrkraft unterrichtet, die Sonderschullehrkraft hilft Kindern, die Schwierigkeiten haben, kümmert sich z.B. verstärkt um das Problemkind,

  • Grundschullehrkraft und Sonderschullehrkraft unterrichten zusammen.

Diese Rollen konnten auch umgekehrt verteilt sein, daß z.B. die Sonderschullehrkraft unterrichtet und die Grundschullehrkraft sich um bestimmte Kinder kümmert.

Dieses gemeinsame Arbeiten in der Klasse, sowohl unter dem Blickwinkel des sozialen als auch des stoffbezogenen Lernens, stellt sicherlich die wichtigste Form des integrativen Unterrichtens dar. Es verlangt neben fachlicher Kompetenz vor allem auch Fähigkeiten wie kooperatives Arbeiten, gegenseitige Akzeptanz sowie kritische Reflexion der eigenen Arbeit und Persönlichkeit.

Andererseits können sich in dieser engen Zusammenarbeit persönlichkeitsbedingte Grenzen ergeben, sowohl bei der Kollegin als auch bei mir. Hilfreich hierbei war meine Zugehörigkeit zum Kollegium und das Sich - Kennenlernen in vielfältigen Situationen, sodaß sich mit der Zeit eine Basis für Offenheit und Vertrauen entwickeln konnte.

Blieben anfangs viele Klassentüren zu und wurde das Herausnehmen des Kindes gefordert, entwickelten sich allmählich offenere Formen der Kooperation, die nicht nur das Kind, sondern auch Lern- und Arbeitssituation der Klasse und die Rolle der Lehrkraft miteinbezogen.

Das Dazugehören zum Grundschulkollegium war für das gemeinsame Entwickeln von Lösungsstrategien, ihre Überprüfbarkeit im Unterricht und eine evtl. notwendige Korrektur, von besonderer Bedeutung. Das Unterrichten konnte so allmählich verändert werden, unter Berücksichtigung der Interessen der Kinder und der Kollegin oder des Kollegen. Entlastungsstrategien konnten gemeinsam gefunden werden. Die Grundschulkollegin, der Grundschulkollege und ich betrachteten den "Fall" häufig aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während für die Grundschulkollegin, den Grundschulkollegen zunächst der Druck der Stoffvermittlung und die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler ihre Sichtweise bestimmte, orientierte ich mich zumeist an der leistungsschwachen Gruppe und der emotionalen Befindlichkeit der Kinder. Der Dialog, das gemeinsame Arbeiten führte meist zu einer Annäherung der Standpunkte, zu einer veränderten Praxis und zu konkreten Hilfen.

Gemeinsamer Unterricht

Nach einem Schulwechsel betreue ich seit dem Schuljahr 1992/93 drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in zwei Klassen einer Grundschule. Dafür stehen mir 14 Wochenstunden zur Verfügung. Für meine restliche Arbeitszeit bin ich an eine andere Dienststelle abgeordnet.

In den beiden Klassen arbeite ich fast ausschließlich im Team - Teaching. Da ich nur zeitweise in der Schule anwesend bin, finden notwendige Absprachen nach der Schule, meist abends, statt. Da das Kollegium seit Jahren das Arbeiten in Doppelbesetzung gewöhnt ist, ergaben sich für mich von Anfang an keine Probleme durch die Anwesenheit zweier Lehrkräfte in der Klasse.

Der Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls im Gemeinsamen Unterricht arbeiten, zeigt aber, daß bei ihnen ähnliche Probleme auftreten, wie die, die ich aus der Kleinklassenarbeit kannte:

  • Versuche das Sonderschulkind extra unterrichten zu lassen,

  • die Sonderschullehrkraft als "Hilfslehrkraft" einzusetzen,

  • Rollenkonflikte, z.B. "Wer hat das Sagen?", usw.

Eine besonders unbefriedigende Lösung sonderpädagogischer Förderung in der Regelschule stellt die - immer noch häufig praktizierte - Einzelintegration dar. Sie bedeutet, daß sich in der Grundschulklasse nur ein Sonder-Schulkind befindet und eine Sonderschullehrkraft in der Regel nur 5 Wochenstunden anwesend ist. Anders als in der Kleinklassenarbeit, bei der man ein Teil des Grundschulkollegiums ist, bestehen hier für Sonderschullehrerin/lehrer und Grundschullehrerin/lehrer in der Regel wenig Möglichkeiten, sich näher kennenzulernen und im Gespräch zu bleiben.

Einerseits ist es schwierig, Kommunikationsstrukturen aufzubauen, das Grundschulkollegium kennenzulernen und dort seinen Platz zu finden. Andererseits führt die zeitweise Abwesenheit in der Sonderschule dazu, daß auch hier persönliche Kontakte verlorengehen. Pausen, die für die Begegnung und den Austausch untereinander sehr wichtig sind, gehen verloren, da sie als "Reisezeit" von Schule zu Schule benutzt werden müssen.

Auch für die Grundschullehrkraft bringt die Form der Einzelintegration Probleme mit sich: aktuelle Schwierigkeiten im Lernprozeß können auch bei noch so gründlicher Planung nicht immer vermieden werden, die Grundschullehrkraft ist aber, ist die Sonderschulkollegin/-kollege nicht zufällig anwesend, mit ihrem Problem alleingelassen. Spontane Änderungen des Stundenplanes oder der geplanten Inhalte sind schwierig, will man nicht die vorab getroffenen Absprachen und Vorarbeiten über den Haufen werfen.

Das Arbeiten in verschiedenen Schulen und Klassen, die Notwendigkeit zur Kooperation und Absprache und die unterschiedlichen Rollenerwartungen bringen bei vielen Sonderschulkolleginnen/-kollegen einen sehr hohen Arbeitsaufwand mit sich, gleichzeitig aber auch das Gefühl, der gestellten Aufgabe nur bedingt gerecht werden zu können. Die Sonderschullehrkraft wird mehr in die Rolle des Beraters in sonderpädagogischen Fragen gedrängt, die Förderung des Sonderschulkindes wird primär als ihre Aufgabe angesehen und die Verantwortung für Erfolg und Mißerfolg liegen bei ihr.

Anders kann es aussehen, wenn beide Kolleginnen/Kollegen kontinuierlich in einer Klasse unterrichten: die inhaltliche und methodische Gestaltung des Unterrichts ist Aufgabe beider, somit auch die Verantwortung für einen erfolgreichen Verlauf des Lernprozesses aller Schülerinnen und Schüler.

Resümee

Betrachtet man Kommunikation und Beziehungsaspekte als wichtige Voraussetzung dafür, kooperative Arbeitsformen zwischen Grund- und Sonderschule zu entwickeln, so ist wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Zusammenarbeit an der gemeinsamen Aufgabe - nämlich der Integration von Kindern mit Lern- und/oder Verhaltensauffälligkeiten - kontinuierlich stattfindet.

Erfahrungen aus der "Kleinklassen" - Arbeit zeigen ebenso wie Maßnahmen sonder-pädagogischer Förderung an Regelschulen, bei denen Sonderschul- und Grundschullehrkraft zusammen unterrichten, daß das Arbeiten an einem Ort hilfreich ist,

  • ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben, die Fachkompetenz der/des anderen zu erfahren und anzuerkennen,

  • voneinander zu lernen und sich beraten zu können,

  • Hilfen anbieten und annehmen zu können.

Deshalb erscheint es mir sinnvoll, will man integrativen Unterricht an Regelschulen fortsetzen, daß die organisatorischen Voraussetzungen verbessert und in der Regel keine Maßnahmen der Einzelintegration durchgeführt werden. Dies würde auch der Unzufriedenheit der Kolleginnen/Kollegen, die in Maßnahmen der Einzelintegration arbeiten, entgegenwirken und neue Bereitschaft wecken, integrativen Unterricht an Regelschulen zu unterstützen.

Ingrid Zoller, Sonderschullehrerin, seit 1983 im Rahmen sonderpädagogischer Förderung an Grundschulen tätig, z.Zt. Arbeit in einer Integrationsklasse, Mitarbeiterin im Hess. Institut für Lehrerfortbildung, Außenstelle Groß Gerau, zuständig für die Bereiche "Sonderpädagogik" und "Gemeinsamer Unterricht".

Ute Heichen: Meine Erfahrungen in der Einzelintegration

Im Schuljahr 1992/1993 begann ich nach einigen Jahren der ausschließlichen Arbeit an einer Sonderschule für Lernhilfe mit Einzelintegration (3. Klasse, 6 Stunden). Angesprochen hatte mich der Grundschulkollege L., von mir aus wäre ich nicht unbedingt auf die Idee gekommen. Inzwischen möchte ich auf diesen Unterricht nicht mehr verzichten.

A., ein Mädchen mit Körperbehinderung (Spastik), wurde und wird lernzielgleich unterrichtet. Besonderen Augenmerk legten wir von Anfang an auf die Förderung ihres Selbstbewußtseins: Für A. war es natürlich eine aufregende Sache, von einer Sonderschule in die Regelschule zu kommen und sich und ihre schulischen Leistungen neu einzuordnen. Gerade in der ersten Zeit hatte sie häufig ( unberechtigte) Zweifel, ob sie es schaffen würde. Mittlerweile steht der Wechsel an eine Gesamtschule fest. Geholfen hat ihr bestimmt, daß Klassenleitung und Klasse sehr aufgeschlossen und positiv eingestellt sind, A. ist wirklich integriert.

Schwierigkeiten, Konflikte für mich als Lehrerin entstanden nicht aus der geschilderten Situation, sondern aus dem Spannungsfeld SONDERSCHULE-GRUNDSCHULE:

Weggehen - Ankommen - Sonderschule-Grundschule

In den ersten 1 1/2 Jahren wechselte ich an drei Tagen in der Woche zwischen zwei Schulen, zur Zeit sind es drei.

Die Sonderschule für Lernhilfe mit problematischem Einzugsgebieten (Klassenführung 8. Klasse) und die Grundschule, es bot und bietet sich mir in puncto Schülerschaft und Unterrichtsmöglichkeiten ein echtes Kontrastprogramm!

Zwei Abläufe bildeten sich heraus:

  • Das Weggehen von der Sonderschule bedeutet:

  • Die Bearbeitung aktueller Probleme in der Klasse muß vertagt oder anderen Kolleglnnen überlassen werden.

  • Ich stellte mir die bange Frage, was vielleicht in meiner Abwesenheit passieren wird.

  • Manchmal empfinde ich auch ganz einfach Erleichterung, einem hektischen Tagesablauf entkommen zu können und Abstand zu finden.

Das Ankommen in der Grundschule dagegen ist wie der Eintritt in eine andere Welt, angenehm und positiv.

Das Weggehen von der Grundschule geschieht:

  • mit Bedauern

  • mit zunehmenden Befürchtungen und "Bauchweh" vor der Ankunft (Was ist in meiner Abwesenheit passiert?)

Das Ankommen in der Sonderschule ist:

  • angespannt

  • mit Negativerwartung.

Besonders im 1. Jahr spielte meine Klasse nicht mit. Ein Schüler zeigte überdurchschnittlich viele negative Verhaltensweisen. Es ist nicht auszuschließen, daß sie auch eine Reaktion auf mein Weggehen waren. Leidtragende war die Fachlehrerin in der Klasse.

Angewiesen auf öffentliche Verkehrsmittel wähle ich für den Wechsel oft den Fußweg: Zwischen beiden Schulen liegen 25 Minuten, eine Strecke, die mir persönlich sehr hilft, Erlebtes abzulaufen, zu verarbeiten und mich auf das Kommende umzustellen.

Kollegium hier - Kollegium da

Um zeitlich den Wechsel ohne Hektik zu schaffen und um zu beiden Kollegien Kontakt zu haben, wechselte ich längere Zeit nicht in Pausen, sondern in Freistunden , Leider wurde manche dieser "freien" Pausen in der Sonderschule von organisatorischen Arbeiten "an-" bzw. "aufgefressen". Einige Reaktionen an der Sonderschule zeigten mir, daß trotz meiner Bemühungen meine Abwesenheit negativ aufgenommen wurde: "Bist du auch mal wieder da!" - "Jetzt fängst du erst an."

Seltsamerweise wurde mit mir nie eine Grundsatzdiskussion über Integration an sich geführt, z.B. über die zur Verfügung gestellten Stunden im Vergleich zum Bedarf an der Sonderschule.

Nur zeitweise da - Lassen sich alle bisherigen Aufgaben erfüllen?

Im Laufe der Zeit wird es immer offensichtlicher, daß ich bestimmte Aufgaben an der Sonderschule (Personalrat, Beratungslehrerin) abgeben sollte. Sie erfordern an unserer Schule ständige Anwesenheit. In der verbleibenden reduzierten Zeit überfordern sie mich.

Meine Integration in die Grundschule

Sicherlich hatte ich besonderes Glück, daß mir die Grundschule (Schulleitung, Teile des Kollegiums) durch mehrjährige Arbeit zu Beginn meiner Tätigkeit bekannt waren. Da ich dort sehr gerne gearbeitet hatte, freute ich mich, wieder hinzukommen.

Auch L., den Klassenlehrer, kannte ich noch von früher, wir hatten uns nie ganz aus den Augen verloren. Er war und ist sehr kooperativ, und ich war von Anfang an eingebunden in den Unterricht (Klassenunterricht, Kleingruppe, Einzelförderung). Ich nahm an Ausflügen und einer Klassenfahrt, an Elterngesprächen und Kontakten zu außerschulischen Institutionen teil.

Wir hatten viele Unterrichtsideen, besonders durch die zeitliche Begrenzung des Gemeinsamen Unterrichts konnte aber nur eine bestimmte Anzahl umgesetzt werden. Auch bei diesen nur wenigen Stunden habe ich aber viele Anregungen erhalten, die "schulische Normalität" ist für mich nach einigen Jahren ausschließlicher Sonderschularbeit wieder greifbarer geworden.

Denkanstöße

Zum Schluß ein paar Punkte/Fragen für mein persönliches "Merkheft":

War es sinnvoll, die Klassenleitung an der Sonderschule zu behalten?

Um einem Verschleiß durch den Wechsel vorzubeugen, mußte ich lernen, meine Kräfte realistisch einzuschätzen, Prioritäten zu setzen und eventuell Funktionen abzugeben. Eine klare Abgrenzung zwischen zwei so unterschiedlichen Schulen und Zeit zum Umschalten sind für mich unbedingt nötig.

Welche meiner Aufgaben als Sonderschullehrerin sollte ich an der integrierenden Schule ausüben? Kann ich als Integrationslehrerin eine Empfehlung zur Einweisung, in die Sonderschule abgeben, oder sollte das Überprüfungsverfahren nicht besser von jemand Außenstehendem durchgeführt werden?

Gerade bei dieser Fragestellung geht es um das Rollenverständnis und eventuelle Widersprüche!

Auch wenn diese Einzelintegration positiv für alle Beteiligten war, wäre es aus meiner Sicht idealer, mit deutlich mehr Stunden an die Regelschule abgeordnet zu werden und damit gleichzeitig erheblich weniger Stunden an der Sonderschule präsent zu sein. Gerade die geschilderten Konflikte würden weniger ins Gewicht fallen.

Eine Möglichkeit ist die Übernahme mehrerer Einzelintegrationen an einer Schule, wie bei mir jetzt geschehen.

Damit ist zumindest die Einbindung in die integrierende Schule verbessert.

Optimaler wäre allerdings die zweite Möglichkeit:

Integrationsschwerpunkt in einer Klasse! Unter der Voraussetzung, daß das Team sich versteht, bietet die Doppelbesetzung mit hoher Stundenanzahl viele Möglichkeiten für den Unterricht - je mehr Stunden desto besser!

Ute Heichen, Referendariat an der Sonderschule für Praktisch Bildbare, seit 1981 in OffenbachlMain tätig, zuerst Abordnung an eine Grundschule, ab 1985 an einer Sonderschule für Lernbehinderte. Seit dem Schuljahr 92/93 Einzelintegration (6 Stunden, 3. Klasse) mittlerweile 2 Einzelintegrationen (je 6 Stunden, 3. und 4. Klasse.

Jürgen Keller: Quo vadis, Integration?

Für Eltern, deren Kinder inzwischen Integrationsklassen weiterführender Schulen besuchen, ist der "Blick zurück" immer auch verbunden mit dem "Blick nach vorne". Der Avantgarde, die Mühen investierte und zugleich die auf der Hand liegenden Risiken eines Schulversuchs eingegangen war, stellt sich permanent die Frage, ob Fehlentscheidungen in der Vergangenheit Ursache für die sich vor ihnen auftürmenden Probleme sind. Ein Bilanzieren immer wieder aufs Neue ist geradezu ein Muß, um hinreichend sicher den weiteren Kurs für die schulische Integration abzustecken. Zu selten wird deutlich gemacht, daß es gerade Eltern nichtbehinderter Kinder sind, die sozusagen "ohne Not" ihre Kinder einem vom Ausgang her zunächst völlig offenen Schulversuch unterworfen haben. In der Grundschulzeit waren es einzig und allein die lediglich in der Theorie für günstig erachteten Versuchsbedingungen, die den Erfolg integrativen Unterrichts einleiten sollten. Natürlich ist ein offenkundig mit Engagement vorbereiteter Schulversuch auch äußerst attraktiv und somit u.U. ebenfalls ein Prestigeobjekt.

Das Engagement der Eltern in der Schule war beachtlich, aber auch unerläßlich. Kann man Eltern behinderter Kinder legitimerweise ein besonderes Interesse an dieser neuartigen Unterrichtsform unterstellen, muß das für Eltern nichtbehinderter Kinder nicht unbedingt in gleicher Weise gelten, stellen sie das Sichern des Lernerfolgs ihrer Kinder doch oftmals nicht gerade hinten an.

Trotzdem gehören sie zu denjenigen Eltern, die überdeutlich die Behauptung widerlegen, das Interesse von Eltern an schulischen Entwicklungsmöglichkeiten und bildungspolitischer Innovation sei ausschließlich darauf gerichtet, den Schulerfolg des eigenen Kindes zu sichern. Zur Kindergarten- und Grundschulzeit gingen pädagogische Konzepte für die gemeinsame schulische Erziehung von noch weitgehend offenen Entwicklungsmöglichkeiten behinderter Kinder aus. Konzepte für den Bereich der Sekundarstufe hingegen müssen auf seelische, körperliche und geistige Entwicklungen Rücksichten nehmen, die man allzugerne vernachlässigt oder gar verdrängt hätte: Nicht erst mit Einsetzen der Pubertät stellt sich die Frage, wie lange und unter welchen Bedingungen ein gemeinsamer Unterrichtsbesuch sinnvoll erscheint.

Eine große zentrale Herausforderung für Eltern, Erzieher, Lehrer und Betreuer besteht auch darin, mit dem unweigerlichen Auseinanderdriften der Entwicklungen im jugendlichen Alter umzugehen, ohne die prinzipiellen gesellschaftlichen Ziele des Zusammenlebens Behinderter und Nichtbehinderter aus den Augen zu verlieren.

Weder dürfen die an diesem Prozeß Beteiligten sich überfordern, noch sollten sie - enttäuscht von der Komplexität der Aufgabe - aus dem Integrationsprojekt aussteigen. Es macht zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn, sich um die Frage zu drücken, ob schulische Integration nicht doch früher als erwartet an ihre Grenzen stößt. Hierbei helfen einvernehmlich getragene pädagogische Konzepte weiter; sie legen einen Rahmen fest, innerhalb dem ein gemeinsames Unterrichten organisiert werden kann und werden muß.

Um eines klarzustellen: Diese Rückbesinnung will keinesfalls den Abbruch schulischer Integrationsversuche. Es geht um ein Überdenken von Versuchsbedingungen, die der Entwicklung unserer Kinder in verantwortungsbewußter Weise Rechnung trägt.

Spätestens jetzt wird klar, daß sich Konzept und Schulwirklichkeit abwechselnd überholen, und somit die bisher erfolgreich praktizierte Integration Gefahr läuft, sich selbst ad absurdum zu führen.

Es darf auch nicht verschwiegen werden, daß ausgerechnet zu Zeiten dieser pädagogischen Gratwanderung die Forderung laut wird, Integration habe sich auch über die erforderlichen Kosten zu legitimieren. Das heißt für alle Eltern, Schüler und Pädagogen: die Zeiten weitgehend wertfreier sozialpolitischer Überlegungen sind vorbei. Und das trifft die Integration an ihrer empfindlichsten Stelle. Gehörte es bisher zu den Grundüberzeugungen jeglicher pädagogischer Voraussetzungen, keine Behinderungen auszugrenzen, wird der neue Pragmatismus neue Ziele setzen.

Die "neue Sachlichkeit" wird nun darin bestehen pädagogische, materielle und finanzielle Rahmenbedingungen für integrativen Unterricht an Regelschulen festzuschreiben, die den Fortbestand integrativen Unterrichts zu Mindestbedingungen und unabhängig von parteipolitischen Konstellationen zu sichern in der Lage sind.

Darüber hinaus zeigen die Erfolge der schulischen Integration, daß der Übergang in traditionelle beschützende Werkstätten sicher nicht länger als adäquate Lösung anzusehen ist. Durch die veränderten bildungspolitischen Voraussetzungen können und müssen auch hier höhere Ansprüche gestellt werden.

Jürgen Keller, Einem Vater einer behinderten und einer nichtbehinderten Tochter, die beide am integrativen Unterricht einer Integrierten Gesamtschule in Frankfurt am Main teilnehmen, eröffnen sich Perspektiven von besonderem Wert. In ganz besonderer Weise bemüht um die bestmögliche Förderung der behinderten Tochter werden Chancen, Grenzen und Risiken integrativer schulischer Erziehung hautnah erlebt. Idealismus und Realität liegen dicht beieinander. Angst vor der Zukunft bestimmt das Handeln.

AUS- UND FORTBILDUNG

Till Hoffmann, Karsten Ripper: "Ausgebildet" - Integration an der Universität aus der Sicht zweier Studierender

Einschränkungen zum Thema

Die allererste und wichtigste Einschränkung besteht darin, daß wir, zwei Studenten, die kurz vor dem Examen stehen, nicht den Anspruch der Objektivität erheben. Wir können nur aus unserer subjektiven - nicht unbedingt repräsentativen - Sicht berichten.

Die zweite Einschränkung besteht darin, daß wir beide Sonder- und Heilpädagogik (mit dem angestrebten Abschluß 1. Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen) studieren. Unsere universitären Erfahrungen machten wir am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe Universität. Inhalte und Struktur des dortigen Studienganges prägen unsere Sicht von Integration.

Die dritte Einschränkung betrifft das Thema: Wir werden nicht über die Integration Behinderter am Studienort und Arbeitsplatz "Universität" schreiben.

Thema soll hier auch nicht die (gerade durch die derzeitige Hochschuldebatte wieder präsentierte) kontroverse Ausbildung versus Bildung an der Universität sein. Da jedoch Studierende eines Lehramtes sich für ein Studium entschieden haben, bei dem, anders als bei vielen anderen Studiengängen, eine detaillierte und exklusive Berufsvorstellung vorgegeben ist, werden wir dazu Stellung nehmen.

Die Frage, die sich jede Studentin und jeder Student irgendwann stellen muß bzw. zu der sie/er eine Haltung finden muß, ist: Soll und kann ich an der Universität zu etwas, im speziellen zum Lehrberuf, ausgebildet werden? Oder bietet ein universitäres Studium eher die Möglichkeit zu Bildung, im speziellen der meiner eigenen Person? Zu Bildung und wissenschaftlichem Denken, die kritische Distanz und damit die Entwicklung neuer Ideen als Antwort auf die drängenden Probleme unserer Zeit ermöglichen. Zu Bildung als einer Chance, das Lernen, und damit das verantwortungsbewußte Umgehen mit immer neuen Situationen, zu lernen. Im Gegensatz dazu steht die Ausbildung, welche sich immer durch Anpassung an bestehende Praxis auszeichnet.

Da die Universität, insbesondere die "Massen"-Universität, vertreten durch die an ihr Lehrenden, in den seltensten Fällen eine (eindeutige) Antwort oder Empfehlung gibt, bleibt es weitgehend den einzelnen Studierenden überlassen, in welcher Form sie ein universitäres Lehrangebot nutzen. Gerade zum Beginn des Studiums, welches wie oben beschrieben schon mit einer klaren Berufsperspektive verbunden ist, werden kaum Orientierungshilfen gegeben. Die häufig sehr früh gestellte Frage, "wo denn in der ganzen Theorie die Praxis bleibe" bleibt als Spannungsverhältnis mehr oder weniger bis zum Ende des Studiums bestehen.

Wir haben uns entschieden, das Bildungsangebot der Universität (dort wo es noch besteht) zu nutzen. Die Frage, ob man im Rahmen des Studiums an der Universität zum Lehren im "Gemeinsamen Unterricht" ausgebildet werden kann, läßt sich aus unserem Verständnis des Hochschulstudiums so nicht beantworten.

Inwiefern jedoch das Thema Gemeinsamer Unterricht bzw. Integration Gegenstand universitärer Lehre ist und war, und wie unsere, durch das Institut für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität stark beeinflußte, Reflexion dazu aussieht, dazu können und wollen wir uns hier äußern.

Integration

Was verstehen wir unter Integration bzw. unter Gemeinsamem Unterricht? Primär, und geprägt durch unser Studium, sehen wir darin die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Schädigung bzw. von Kindern mit und ohne besonderem pädagogischen Förderbedarf.

Dabei darf unseres Erachtens nicht aus dem Blick verloren werden, daß der Gemeinsame Unterricht aller Kinder ebenso für Jungen und Mädchen, für Kinder mit verschiedener kultureller Herkunft wie auch für Kinder aus allen "sozialen" Schichten Integration des Differenten bedeutet.

Integration bedeutet Gleichheit der Verschiedenen, insofern Gleichheit, als das gleiche Recht aller auf Erziehung und Bildung, die Teilhabe am kulturellen Erbe der Gesellschaft aufgefaßt wird. Bei dieser prinzipiellen, demokratischen und humanistischen Idealen verpflichteten Entscheidung darf nicht übersehen werden, daß trotz des Ziels, niemanden auszuschließen, Ausschluß doch immer auch praktiziert wird. Dies ist zum einen im gesellschaftlichen Kontext (fünfgliedriges Schulsystem, Selektionsauftrag der Schule, u.a. mehr) und zum anderen in der Prozeßhaftigkeit (Annäherung/Abgrenzung und Sympathie/Antipathie) von Integration begründet. Es geht bei dem Gemeinsamen Unterricht aller Kinder um die Integrationsfähigkeit der Institution Schule und nicht um die des einzelnen Kindes.

Eine solche Sichtweise führt uns dazu, nicht mehr nach einer speziellen Pädagogik - mit ihren Implikationen für Didaktik und Methode - zu fragen: nicht nach Sonder-, Grundschul- oder beispielsweise multikultureller Pädagogik. Das Vorhaben der Integration muß in seiner Konsequenz zu einer Auflösung der Spezialisierung in der Pädagogik hin zu einer "Pädagogik der Vielfalt" (Annedore Prengel, Opladen 1993), ergo einer allgemeinen Pädagogik für alle Kinder führen.

Studierende: Motivation "Integration"

So verschieden die Motivation der Studierenden, Sonderschullehrerln zu werden, ist, so läßt sich doch verallgemeinernd sagen, daß, schon zu Beginn des Studiums ein Interesse an einer individuumsbezogenen Arbeit vorherrscht. Dieser Focus dürfte es vielen erleichtern, so ging es auch uns, in der Sonderpädagogik notwendige Binnendifferenzierung und Individualisierung des Lernens in heterogenen Gruppen auf den Gemeinsamen Unterricht zu übertragen. Gleichzeitig steckt in der Entscheidung für ein (berufliches) Engagement im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik die Notwendigkeit, sich mit der gesellschaftlichen Situation "Behinderter" auseinanderzusetzen. Eine Reflexion der faktischen Ausgrenzung Behinderter, gerade auch durch das Abschieben in Sonderschulen, führte bei uns zu einem verstärkten Interesse an Integrationsbemühungen.

In der Regel haben Studierende vor ihrem Studium keine Erfahrungen im Integrationsbereich gemacht - Zivildienst, Freiwilliges soziales Jahr und Praktika finden überwiegend in Sondereinrichtungen statt. Trotzdem sind von Beginn an, so z.B. in den Orientierungsveranstaltungen am Anfang des Studiums, eine Neugier und ein Interesse an diesem Thema festzustellen. Sowohl die eigenen Schulerfahrungen als auch Praxiserfahrungen führen zunächst häufig zu Fragen, wie: Geht das überhaupt, daß so verschiedene Kinder in der Schule gemeinsam lernen, werden sie ausreichend gefördert, gerade die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf? Die eigene Schulerfahrung des Lernens in einer vorgeblich homogenen Lerngruppe korrespondiert häufig, in Form einer Abkehr vom selektiven und leistungsorientierten Schulsystem, mit einer "Wendung auf das Subjekt" (Adorno), auf den Einzelnen.

Die Reflexion früherer Erfahrung und exemplarischer Praxisbeobachtung (vor allem auch integrativer Modelle) in Schulpraktika, in Hospitationen und in Videodokumentationen führt den Blick wieder auf die Arbeit mit Kindern in Lerngruppen. Theoretische und wissenschaftliche Überlegungen liefern im Verlauf des Studiums eine fundierte Begründung für eine integrative Arbeit und führen nicht selten zum Berufswunsch/-ziel: "SonderschullehrerIn - aber nicht an einer Sonderschule".

Angebot und Struktur des Studiums

Auf den ersten Blick kommt Integration in Frankfurt an der Universität als Thema so gut wie überhaupt nicht vor. Eine Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse der letzten 6 Semester ergab: Im Fachbereich Erziehungswissenschaft werden ausschließlich am Institut für Schulpädagogik und Didaktik der Elementar- und Primarstufe sowie am Institut für Sonder- und Heilpädagogik Seminare angeboten, die im Titel erkennen lassen, daß Integration Bestandteil des Lehrinhaltes war/ist; in diesem Zeitraum waren es in beiden Instituten zusammen pro Semester zwischen 1 und 6 Veranstaltungen (das entspricht im Höchstfall weniger als 10 %). Integration scheint kein präsenter Schwerpunkt zu sein. Daß er es dennoch ist liegt daran, daß die Lehrenden des Instituts für Sonder- und Heilpädagogik neben den für das Institut traditionellen Schwerpunkten "Sozialpädagogik" und "Psychoanalytische Pädagogik" den Schwerpunkt "Integration" sowohl in der Lehre als auch in der Forschung gesetzt haben. Mit anderen Worten ausgedrückt: Integration ist in den meisten Veranstaltungen implizit oder explizit Thema. Von daher werden wir Studierende im positiven Sinne genötigt, uns mit dem Thema zu befassen und eine Position dazu zu entwickeln.

Die Seminare, in denen Integration ein zentrales Thema darstellt, bieten fast immer die Möglichkeit einer Praxiserfahrung durch eine Hospitation, während dies in anderen Seminaren nicht die Regel ist. Die für die Reflexion so wichtigen Praktika, ebenso wichtig wie theoretische Auseinandersetzung, können leider nur in geringem Maße in integrativen Klassen absolviert werden. Von drei Praktika müssen zwei in einer Sonderschule, in der es in aller Regel keine solchen Klassen gibt, absolviert werden. Möchte man das dritte Praktikum, welches an einer "Regelschule" gemacht werden muß, in einer integrativen Klasse machen, muß man sich selbst darum kümmern.

Der Widerspruch, der im Gemeinsamen Unterricht zum regulären Schulsystem steckt, bildet sich auch in der Organisation des Lehrerstudiums an der Universität ab. Das Studium ist so angelegt, daß LehramtsstudentInnen schulformbezogen studieren müssen. Diese institutionelle Festlegung geschieht durch Prüfungsordnungen und in einzelnen Fächern durch Studienordnungen. Das Dilemma zwischen dem Interesse an einer Auseinandersetzung mit Integration und institutionellen Vorgaben sei an einem Beispiel kurz erläutert: Der Wunsch, Integration zum Thema einer erziehungswissenschaftlichen Vorprüfung zu machen, wurde mit dem Hinweis, dies sei ein sonderpädagogisches Thema (und kein, wie in der Prüfungsordnung verlangt, allgemein erziehungswissenschaftliches), abgelehnt. In der gleichen Prüfungsordnung werden Praktika in integrativen Klassen, wie oben erwähnt, nur im Praktikum an der "allgemeinen" Schule gestattet.

Auf der formalen Ebene der Prüfungsbestimmungen wird Studierenden noch der eine oder andere Stein in den Weg gelegt, auf der Ebene z.B. der Studienzulassungsbedingungen sieht dies (in Frankfurt) anders aus: Ohne Zulassungsbeschränkung kann hier jede/r (die allgemeine Hochschulreife vorausgesetzt) einen Lehramtsstudiengang beginnen. Eine solche Offenheit des Studiengangs betrachten wir als - im weiteren Sinne - integrativ. Hinzu kommt, daß das Studium wenig verschult ist. Das heißt, es bleibt den Studierenden in einem gewissen Umfang die Entscheidung überlassen, wann sie welche Schwerpunkte studieren, was dazu führt, daß die Seminargruppen sehr heterogen sind: Studierende im 2. oder 3. Semester besuchen nicht selten die selben Veranstaltungen wie Studierende im 7. oder 8. Semester (im Unterschied zum Beispiel zu Jahrgangsklassen in der Schule, die noch immer eine gewisse Homogenität der Lerngruppe vorgaukeln). Die Zusammenarbeit gestaltet sich selbstverständlich nicht immer reibungslos, doch birgt sie die Chance, daß Eigenschaften wie Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen und Toleranz erlernt bzw. befördert werden. Wobei unterstellt wird, daß in manch einer Veranstaltung eine Auseinandersetzung zwischen VertreterInnen verschiedener Positionen stattfindet, was unseres Erachtens leider immer noch zu selten der Fall ist.

Kooperation

Nach unserer Kenntnis, aus privaten Erfahrungen, aus Lektüre sowie aus unserer Erfahrung in Praktika gewonnen, ist die Fähigkeit zur Kooperation in Teamarbeit eine wesentliche Voraussetzung für einen produktiven Unterricht in Integrationsklassen. Dies scheint eine Fähigkeit zu sein, die man hat oder eben nicht. An der Universität wird relativ wenig getan, um das kooperative Zusammenarbeiten zu befördern. Wenn Leistungen in Form von Referaten oder Hausarbeiten erbracht werden, werden Vortragende selbst dann nicht kritisiert, wenn eine Gruppe ein Thema in verschiedene Unterthemen zergliedert und ihre Einzelteile zusammenhangslos und gebetsmühlenartig herunterleiert. Daß bei der Erarbeitung in irgendeiner Art und Weise zusammengearbeitet worden wäre, wird nicht mehr erkennbar. Dies klingt nach einer Beschimpfung der Kommilitonlnnen - ist aber nur im geringeren Maße so gedacht, wir haben es oftmals an der Schule nicht anders gelernt. Doch an der Uni ist uns in 9 Semestern kaum einmal ein/e Dozentln begegnet, der/die ausdrücklich Wert auf gemeinsame Erarbeitung und kooperativen Vortrag legte und gegebenenfalls auch den Studierenden beigebracht hätte, wie so etwas gehen kann, worauf dabei zu achten ist. Sicherlich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, doch Ausnahmen sind bei einer so wichtigen Qualifikation, die ja für wissenschaftliches Arbeiten ebenso unabdingbar ist wie für die Schule, zu wenig.

Da in Integrationsklassen für gewöhnlich GrundschullehrerInnen mit SonderschullehrerInnen zusammenarbeiten, wollen wir noch einen Blick auf Verbindungen zwischen diesen beiden Studiengängen werfen. Um mit dem Positiven zu beginnen, sei hier das von beiden Instituten gemeinsam eingerichtete und betreute Lernzentrum erwähnt. In diesem können Studierende, vornehmlich zur Mittagszeit, an selbstbestimmten Projekten arbeiten, sich Praxis im Umgang mit Materialien verschaffen und manches mehr. Aus uns unbekannten Gründen wurde das Lernzentrum (vormals Pädagogische bzw. Didaktische Werkstatt) bislang wenig frequentiert, so daß dort nur in geringem Umfange eine Kooperation zwischen Studierenden der beiden Schulzweige stattfand.

Wir können zwar einige Veranstaltungen des jeweils anderen Studienganges besuchen (SonderschullehramtsstudentInnen im Grundstudium) und dort qualifizierte Scheine machen - was durchaus geschieht, doch kommt es leider äußerst selten vor, daß DozentInnen oder ProfessorInnen der beiden Institute eng zusammenarbeiteten bzw. daß sich eine solche Zusammenarbeit einmal in gemeinsamen Veranstaltungen niederschläge. Kooperation seitens der Lehrenden wird so, insofern sie denn stattfindet, nicht transparent.

Eine engere Kooperation unter den Studierenden wird des weiteren durch eine verschieden lange Studiendauer, recht verschiedene Studieninhalte (z.B. müssen Studierende des Lehramts an Grundschule drei Unterrichtsfächer, Studierende des Lehramts an Sonderschulen ein Unterrichtsfach studieren) und leider schwer auszuräumende Vorurteile beiderseits erschwert.

Fazit und Ausblick

Drei Dinge möchten wir zum Abschluß hervorheben:

  1. Ein Wunsch an Schule bzw. an Klassen, in denen Gemeinsamer Unterricht stattfindet, bleibt: Sie mögen, so oft es geht, Studierenden die Möglichkeit zu einem Praktikum geben. Es herrscht noch Bedarf!

  2. In dem Unterrichtsfach ( z.B. Sport, Mathematik, Deutsch, etc.), das wir studieren, wird nach unserer Erfahrung so gut wie überhaupt nicht nach Schulzweigen differenziert - zumindest nicht zwischen Grund- und Sonderschule. Dies führt zwar einerseits dazu, daß Dozierende dort häufig nicht einmal einen wissenschaftlichen Begriff von Behinderung präsentieren können, andererseits bietet dies vielleicht in manchem die Chance, von den eigenen Borniertheiten einmal ein wenig zurückzutreten.

  3. Es hat uns stark beeinflußt, an einem Institut zu studieren, an dem Integration nicht nur eine tragende Säule ist, sondern zudem kritisch betrachtet und erforscht wird. Wir möchten diese Erfahrung nicht missen.

Till Hoffmann, Staatlich anerkannter Erzieher, Student der Sonder- und Heilpädagogik (Lehramt und Diplom) im 9. Semester an der J. W. Goethe - Universität in Frankfurt am Main mit den Fächern PB, VG und Deutsch. Zivildienst in einer Sonderkindertagesstätte des VAE in Frankfurt am Main, Gruppenleiter in dieser KT. Mitarbeit in und Gestaltung von Orientierungsveranstaltungen für StudienanfängerInnen im Studiengang "Lehramt an Sonderschulen"; Mitarbeit an dem Forschungsprojekt "Zur sozialen Integration von GrundschülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf innerhalb und außerhalb der Schule" der Forschungsstelle Integration des Instituts für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Frankfurt (Projektleitung: Prof. Helga Deppe-Wolfinger und Prof. Helmut Reiser). Erfahrungen mit Integration: Vater zweier Töchter, welche die Integrative Schule Frankfurt besuchten (1985 - 89; 1987 - 91) und zur Zeit in integrativen Klassen an der Sekundarstufe 1 unterrichtet werden. Praktikum in einer Grundstufenklasse einer Schule für Geistig Behinderte an einer Grundschule ("Kooperation') in Bremen.

Karsten Ripper, 26 Jahre, Student der Sonder- und Heilpädagogik (Lehramt und Diplom) im 9. Semester an der J. W. Goethe - Universität in Frankfurt am Main mit den Fächern PB, VG und Deutsch. Nach dem Abitur Zivildienst an einer Schule für Praktisch Bildbare in Rüsselsheim. Gestaltet als studentischer Tutor seit 6 Semestern Orientierungsveranstaltungen für StudienanfängerInnen im Studiengang "Lehramt an Sonderschulen". Erfahrungen mit Integration: Seminar mit Hospitation und späteres Praktikum an der Grundschule Südwest in Eschborn, Hospitation an der Peter-Petersen-Schule in Köln, Praktikum in der "Kooperation" in einer Grundstufenklasse einer Sonderschule für Geistig Behinderte an einer Grundschule in Bremen.

Henryk Pattensen: Für alles zuständig oder zwischen allen Stühlen Regionale Lehrerfortbildung und Gemeinsamer Unterricht

Zu einem schwierigen Auftrag: Der pädagogische Weg des Gemeinsamen Unterrichts - erste Erfahrungen

"... In der Schulreformbewegung sprechen sich klar und dringend Bedürfnisse unserer Zeit aus, die - wie wohl all ihre größten Nöte - auf ethisch-kulturellem Gebiete liegen."[49]

Diese Aussage Walter Benjamins über die Schulreform ist dem Programm 1994/95 des Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung vorangestellt; sie spiegelt zugleich auch den pädagogisch-ethischen Standort der regionalen Lehrerfortbildung zum Gemeinsamen Unterricht nichtbehinderter und behinderter Kinder.

Mein Anlaß, zu diesem Thema schreibend Stellung zu beziehen, ist ein dreifacher:

  • Zum ersten Male seit Gemeinsamer Unterricht Bestandteil des Hessischen Schulgesetzes ist, verlassen im Schuljahr 1995/96 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischein Förderbedarf die Grundschule, die dort im Gemeinsamen Unterricht vier Jahre lang beschult wurden.

  • Daraus erwächst die Forderung nach einer Weiterführung der integrativen Beschulung in der Mittelstufe der Regelschule.

  • Für die regionale Lehrerfortbildung stellt sich zwangsläufig die Frage nach der unterstützenden Funktion in diesem Prozeß.

Sonderpädagogische Betreuung und Förderung von behinderten Kindern und Jugendlichen ist durch das hessische Schulgesetz als gemeinsamer Auftrag der Regel- und der Sonderschulen definiert. Dies impliziert, daß sie wesentlich vielfältiger in den Möglichkeiten ihrer Realisierung geworden ist und in den Orten, an denen sie stattfinden kann.

Die aktuelle Ist-Situation zeigt folgendes Bild:

  • Die Intention für gemeinsames Unterrichten behinderter und nichtbehinderter Kinder ist ein fördernder, nichtselektiver Unterricht.

  • Die Erwartung und Hoffnung ist die gesellschaftliche Integration.

  • Die bildungspolitisch-administrative Regelung ist von monokausalem Verständnis geprägt.

Diese Ausgangslage erklärt die widersprüchlichen Erfahrungen, die FortbildnerInnen im Bereich des Gemeinsamen Unterrichts in ihrer bisherigen Arbeit gemacht haben, das Dilemma liegt auf der Hand. Die Fortbildungsveranstaltungen ähneln einem pädagogischen "meltingpot":

Pädagogen mit verschiedenen Ausbildungen und unterschiedlichem Erfahrungshintergrund, differierender Motivationsstruktur und schwankenden Akzeptanzerlebnissen begegnen sich in einer Fortbildungssituation. Die FortbildnerInnen müssen sich an sehr unterschiedliche Ausgangslagen und unterschiedliche Erwartungen einstellen.

Exemplarische Aussagen von Lehrerinnen und Lehrern, die bereits mehrere Jahre Gemeinsamen Unterricht im Team praktizieren, mögen dies verdeutlichen:

"Es gibt Momente in der Klasse, da merkt man, daß alle Kinder Rücksichtnahme und Toleranz gelernt haben."

"Wo bleibt die Integration, wenn ich immer häufiger mit meinen Kindern aus der Klasse gehe?"

"Warum arbeitet Martina nur noch, wenn ein Erwachsener neben ihr sitzt?"

"Vorbehalte, die gegenüber dem Gemeinsamen Unterricht bestehen, sind nur zögernd abbaubar."

"Integration hat sich noch immer nicht gänzlich im Kollegium etabliert."

"Die I-Kinder in meiner Klasse sind selbstbewußt und selbstsicher - toll"[50]

Regionale Fortbildung versteht sich als pragmatische Innovationsstrategie:

"Diese Innovationsstrategie beruht auf einer wechselseitigen Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft einerseits und Praxis andererseits. Die Praxis bringt in diese wechselseitige Beziehung die Erkenntnis und die Analyse der Bedürfnisse, die Formulierung der sich daraus ergebenden Handlungsprobleme, die Erfahrung in der Lösung praktischer Probleme ein."[51]

Zur Praxisdeutung gehört auch die Reflexion des eigenen Könnens. Für den Gemeinsamen Unterricht bedeutet dies unter anderem auch ein (Über-)Prüfen, was die bisherigen Unterrichtskonzepte "gebracht" haben, d.h. wo liegen ihre Begrenzungen, was muß weiterentwickelt werden, welche Modifikationen sind nötig? So gesehen, spiegeln Fortbildungsangebote auf der inhaltlichen Ebene mehr eine "Pädagogik des im Nachhinein"; dagegen erfordert das Arbeiten im Gemeinsamen Unterricht eine präventive Vorbereitung.

Dieses strukturelle Innovationskonzept stößt auf Probleme, die in der Fortbildung nicht gelöst werden können:

Die Lehrerinnen und Lehrer im Gemeinsamen Unterricht finden sich als Team in der Regel ohne jegliche Vorbereitungsphase zu spät zusammen.

Sie müssen sich daher auf der Ebene der Planungskompetenz kurzfristig neben organisatorischen Fragen mit behinderungsspezifischen Förderkonzepten und sonderpädagogischem Basiswissen auseinandersetzen und haben im Bereich der Handlungskompetenz nur sehr wenig Zeit zwischen dem Miteinander - Wollen und dem Miteinander - Können.[52]

Der Modell- und Versuchscharakter des Gemeinsamen Unterrichts auch nach vier Jahren "Integrationsarbeit" noch im Grundschulbereich zu spüren - läßt die Beteiligten auf schwankendem Boden stehen; sie haben keinen festen Halt zwischen den recht unterschiedlichen Rahmenbedingungen und sehen sich oft einem permanenten Erwartungs- und Erfolgsdruck ausgesetzt. Hinzu kommt die ungewisse Perspektive des Gemeinsamen Unterrichts im Hinblick auf seine Fortführung in der Sekundarstufe I. Und nicht wenige unmittelbar Beteiligte würden sich der Aussage anschließen:

"Es gibt Tage, da stellt sich die Frage, was man/frau da eigentlich treibt, Tag für Tag, Jahr für Jahr, wenn das Ziel am Ende der Grundschulzeit identisch ist mit dem Start eines Rennwagens in einer Sackgasse."

Gemeinsamer Unterricht ist untrennbar verwoben mit der Diskussion um sonderpädagogische Förderung schlechthin; deshalb sind die Angebote der regionalen Lehrerfortbildung sehr differenziert und unter verschiedenen Themenschwerpunkten subsumiert, z.B. Gemeinsamer Unterricht, Förderdiagnostik, sonderpädagogische Förderkonzepte, Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung, Motologie, und das jeweils in der Grundschule, den verschiedenen Sonderschuleinrichtungen und zum Teil auch im Bereich der Sekundarstufe I.

Differenzierte Angebote spiegeln allerdings nur den mehrdimensionalen Ansatz des Fortbildungskonzeptes und den Anspruch auf interdisziplinäre Kooperation wider, im schulischen Integrationsalltag erweist sich der Anspruch oft als Überforderung.

Die Bemühungen um eine Unterstützung des Gemeinsamen Unterrichts an Schulen laufen in der regionalen Lehrerfortbildung auf diversen Kommunikationsebenen, sie fokussieren sich am sogenannten "Runden Tisch", einer Einrichtung der Lehrerfortbildung, wo sich alle von der Integration tangierten Institutionen austauschen. Dieser Versuch einer horizontalen Interaktion ist ein recht schwieriger Prozeß, weil unterschiedliche Funktionen und Interessen miteinander vermittelt werden müssen. Dies ist für die Lehrerfortbildung allerdings auch eine Chance, die eigentlichen Probleme der KollegenInnen zu thematisieren.

Die Erwartungen und Möglichkeiten der Beteiligten sind in ihrem "Profil" nicht immer deckungsgleich. Es liegt klar auf der Hand, daß in einer Runde, die sich aus Fortbildnern, der Schulaufsicht, der Schulleitung, Vertretern des Kultusministeriums, Integrationsfachberatern und dem schulpsychologischen Dienst zusammensetzt, pädagogische, ethische und ökonomische Positionen divergieren und die regionale Lehrerfortbildung hier auch einen pädagogischen Spagat zwischen Ethik (also dem Konzept) und Etat (d.h. den Rahmenbedingungen) vornehmen muß.

Regionale Lehrerfortbildung und Gemeinsamer Unterricht an Grundschulen

Die Konzeption des regionalen Lehrerfortbildungsangebotes ist eine mehrdimensionale und interdisziplinäre; sie basiert auf dem Ausbau sonderpädagogischer Förderung durch die Hessische Landesregierung, die rechtlichen Grundlagen werden durch das Hessische Schulgesetz vom 17. Juni 1992 (GVB1. I, S. 233) neu gefaßt.[53]

Ich definiere die Aufgabe der regionalen Lehrerfortbildung im Bereich der Kooperation zwischen Grund- und Sonderschule im weitesten Sinne als "alles Tun und Handeln, das darauf abgestellt ist, zum Gelingen des Gemeinsamen Unterrichts in der Grundschule beizutragen". Im Einzelnen ist nach meinem Selbstverständnis das Fortbildungsprogramm gekennzeichnet von einer vierdimensionalen Vorgehensweise, die sich graphisch folgendermaßen darstellen läßt: (siehe Grafik auf der nächsten Seite)

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, daß das Interesse am Gemeinsamen Unterricht besonders "Außenstehender" bezüglich der Motivationsstruktur ein recht breites Spektrum spiegelt. Im Sinne einer pädagogischen Psychohygiene ist es meines Erachtens wichtig, daß sich jeder Beteiligte bzw. jede Beteiligte den Anlaß vergegenwärtigen, denn einige Auseinandersetzungen zu diesem Thema, das sei nicht verschwiegen, sind getragen von einem sozialethischen Impetus, sie evozieren dabei noch ein anderes Gefühl: Mitleid.

Ein Gefühl, wenn auch von den Beteiligten nicht so intendiert, das, wie Adorno treffend vermerkt, eine große Gefahr in sich birgt:

"Es bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte als unabänderlich hin. (... ) Nicht die Weichheit sondern das Beschränkende macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig."[54]

Fortbildungsprogramm der regionalen Lehrerfortbildung zum Gemeinsamen Unterricht

Alltagsdimension

Erfahrungsaustausch

Erweiterung der Handlungskompetenz

Kollegiale Beratung

Teamsupervision

Konferenzberatung

-

Professionalisierungsdimension

Angebote zur Erweiterung der Planungskompetenz

Förderdiagnostik

Binnendifferenzierung

Wochenplan

Freie Arbeit

Projektarbeit

Individualisierung

Lernwerkstatt

Dimension der institutionellen Kooperation

Öffentlichkeit

Kooperation mit anderen am GU beteiligten Institutionen

Schulpsychologischer

Dienst

IntegrationsberaterIn

BFZ

HKM

Konzeptionelle Dimension

Evaluation bestehender Unterrichtspraxis

Gemeinsamer Unterricht als

Schulentwicklung

-

-

-

-

Resümee

Gemeinsamer Unterricht soll gesellschaftliche Integrationsbemühungen nicht ersetzen, er kann aber die Wartezeit auf ein zukünftig humanes Miteinander erleichtern.

Regionale Lehrerfortbildung stellt in diesem Bild somit einen Mikrokosmos dar im pädagogisch-politischen Feld der Integrationsdiskussion.

Henryk Pattensen ist Pädagogischer Mitarbeiter in der regionalen Lehrerfortbildung, Außenstelle Wiesbaden. Er ist verantwortlich für den Arbeitsbereich "Gemeinsamer Unterricht; Kooperation Grundschule/Sonderschule". Der Grund-, Haupt- und Sonderschullehrer und M.A. (Germanistik) unterrichtet an einer Schule für Lernhilfe im Main-Taunus-Kreis und ist Klassenlehrer einer Mittelstufe.



[49] Walter Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. II/l. Frankfurt an Main 1977. Siehe auch: Hessisches Institut für Lehrerfortbildung. Regionale Lehrerfortbildung. Außenstelle Wiesbaden. Programm 1994/95

[50] Diese Aussagen beziehen sich auf eine sehr aktuelle und noch nicht ausgewertete Befragung der Außenstelle Wiesbaden zum Gemeinsamen Unterricht in den Grundschulen nach vier Jahren.

[51] Gerbaulet u.a. Stuttgart 1972, S. 90

[52] In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verweisen, daß in der Hessischen Verfassung (Punkt V: Erziehung und Schule, Artikel 56, Absatz 4) der Erziehungsauftrag der Schule ausdrücklich betont wird. Somit gehört die Förderung von Kindern nach meinem Selbstverständnis zur zentralen Aufgabe eines jeden Lehrers bzw. einer jeden Lehrerin. Sie müssen nicht einzeln dazu verpflichtet werden, wobei es natürlich sinnvoller ist, wenn es die KollegenInnen freiwillig tun.

[53] An dieser Stelle sei die Bemerkung gestattet, daß die momentan aktuelle Diskussion um das gemeinsame Unterrichten von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf die ebenso dringliche Auseinandersetzung um die Gruppe der "förderungsbedürftigen" Hauptschülerinnen und Hauptschüler in den pädagogischen Hintergrund gedrängt hat. (Obwohl in der Gesamt(an)zahl zurückgehend, sind sie da). Ebenso auffallend ist der hohe Anteil ausländischer Kinder in deutschen Sonderschulen; aber auch hier ist es, was schulpolitische Diskussionen und fortbildungsdidaktische Überlegungen angeht, auffallend ruhig: 1990 besuchten ca. 30 000 ausländische Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule für (in damaligen Sprachgebrauch) Lembehinderte, das sind 3,8% aller ausländischer Schülerinnen und Schüler. Von den deutschen Schülern sind es 1,7%. Im Schuljahr 1990 besuchten 780 000 ausländische Kinder in den alten Bundesländern eine allgemeinbildende Schule. Davon entfallen auf: Grundschule 12,8%, Hauptschule 38,4%, Sonderschule 13,7%, Realschule 4,0%, Gymnasium 2,8%, Gesamtschule 13,2%. Über 50% der Schulabgänger erreichten keinen qualifizierten Abschluß

[54] Vgl. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Gesammelte Schriften. Band 3. Frankfurt an Main 1981, hier besonders der Aufsatz: Erziehung nach Ausschwitz (1966)

6. Die Integrative Schule Frankfurt

Foto: Kinder spielen in einem Hof. (Beschriftung von bidok eingefügt)

Michael Tettenborn: Die Integrative Schule Frankfurt

Geschichte, Idee und Praxis einer etwas anderen Grund- und Sonderschule

Die nun 10 Jahre währende Existenz der Integrativen Schule ergibt ein buntes Muster an lebendiger Pädagogik, das seinesgleichen sucht.

Als beteiligter Lehrer - fast von Anfang an - setze ich dies unbescheiden an den Anfang dieser Beschreibung. Ich werde im folgenden versuchen dieses Muster ein wenig genauer zu beschreiben in seiner vielfältigen und vielseitigen Knüpfart.

Es gibt dabei meines Erachtens drei wesentliche und nicht voneinander zu trennende Hauptfäden dieses Musters unseres 10 Jahre alt werdenden Geburtstagskindes Integrative Schule:

  • ihre Geschichte

  • ihre pädagogische Konzeption und

  • ihre pädagogische Praxis.

Nur bei Würdigung dieser drei ineinandergeflochtenen und in der Realität nicht zu trennenden Stränge wird das bunte und lebendige Bild der ersten wirklich ganz und gar integrativen Grundschule Hessens deutlich, das aus diesen Fäden geknüpft wurde.

Der vierte, zentrale, aber unsichtbare rote Faden, der das Ganze erst möglich machte und zusammenhält, ist natürlich das Engagement, die Arbeit, die Kritik und die Freude aller Beteiligten von Anbeginn an. Hierbei sind "unsere Schülerlnnen" immer eingeschlossen.

Wiederum unbescheiden meine ich heute, aus etwas Abstand heraus, daß dieses entstandene Projekt einer "Schule für alle" in vielen Aspekten Modellcharakter hat. So ist es gerade noch rechtzeitig am Ende eines auslaufenden Jahrtausends im Kontext der integrativen Bewegung insgesamt die richtige und notwendige Antwort auf die Krise der Werte unserer Wohlstandsgesellschaft und Zivilisation. Es setzt damit die entscheidenden pädagogischen Akzente für die Herausforderungen der Zukunft. Aber schauen wir uns dies gemeinsam an der Entwicklung der Schule genauer an.

"Die wichtigste Aufgabe der Christen ist, am Aufbau der Träume zu helfen."

Fulbert Steffensky

So fing alles an

So oder ähnlich könnte das Motto der Gründerväter und -mütter damals gelautet haben.

Als das Projekt der Integrativen Schule - später immer nur kurz von den Schülern und anderen Beteiligten fast liebevoll "Inti" genannt - anfing in den Köpfen einiger weniger zu leben, da war der Integrative Kindergarten der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde gerade 1 Jahr alt und betrat selbst noch pädagogisches Neuland im Vorschulbereich.

Bedingt durch

  1. Erste positive Erfahrungen im Miteinander der Kinder im Kindergarten,

  2. der Erkenntnis, daß Integration nicht etwas auf eine bestimmte Lebensspanne (etwa Kindergartenzeit) Beschränktes sein darf und

  3. der weisen Voraussicht, daß bildungsbürokratische Mühlen langsam mahlen und sich öffentliches Bewußsein nur sehr allmählich verändert, wurde bereits im Herbst 1978 mit einem Arbeitskreis Integrative Grundschule begonnen. Sieben lange Jahre, angefüllt mit intensiven Gesprächen auf allen Ebenen mit den politisch Verantwortlichen über alle Parteigrenzen hinweg, von denen Regale voller Akten noch Zeugnis ablegen, getragen von dem unermüdlichen Einsatz und Glaube an die gute und richtige Sache sollten noch ins Land gehen, bevor die "Inti" dann im Frühjahr 1985 endgültig "grünes Licht" vom Staatlichen Schulamt bekam.

Als Schul- GmbH mit den beiden Gesellschaftern Evangelische Französisch -reformierte Gemeinde und Evangelischer Regionalverband Frankfurt war sie nun eine staatlich genehmigte integrativ arbeitende Grund- und Sonderschule in freier Trägerschaft.

Darüberhinaus eine Schule mit besonderer pädagogischer Prägung, die aus öffentlichen Mitteln sowohl der Stadt Frankfurt als auch dem Land Hessen gefördert wurde und wird.

Die Finanzierung stützt sich somit auf das Engagement von Gemeinde, Frankfurter Regionalverband (den Zusammenschluß der evangelischen Frankfurter Kirchengemeinden), Stadt Frankfurt und Land Hessen sowie auf die EIternbeiträge und Spenden. Neuerdings kam noch das Engagement seitens des Landeswohlfahrtsverbandes hinzu.

Nur so war und ist ein so anspruchsvolles und personalintensives pädagogisches Projekt möglich.

"Nomen est omen" - Integrative Schule bedeutete nun Name und Programm zugleich:

Nicht nur Kinder unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Rasse und Geschlecht (im übrigen auch alles erst historisch erkämpfte Rechte) sollten aufgenommen werden, sondern ebenso Kinder unabhängig davon, ob sie behindert oder nicht behindert sind. Sie sollten einen gemeinsamen Bildungs- und Lebensraum zur Verfügung gestellt bekommen, um gleichberechtigt miteinander und voneinander zu lernen.

Der offizielle, für die Genehmigung notwendige Untertitel "Grund und Sonderschule" bezeichnet zugleich noch deutlich die Grenzen der gesellschaftlichen Situation, in der die Schule gegründet wurde. Das Hessische Schulgesetz sah bis dato nur die Eingliederung in eine Grund- bzw. Sonderschule vor, unabhängig vom Elternwillen. Entsprechend müssen selbst in der Integrativen Schule behinderte SchülerInnen offiziell als SonderschülerInnen der entsprechenden Behinderungssparte, nicht behinderte als GrundschülerInnen ausgewiesen sein, damit nach einem komplizierten Schlüssel die entsprechenden öffentlichen Zuschüsse zugewiesen werden können.

Zum Abschluß dieser Gründerzeit noch ein Zitat des damaligen, am Aufbau entscheidend beteiligten Geschäftsführers, das die Grund-Ausrichtung des Schulprojektes nochmals aufzeigt.

"Bei der Realisierung von Integration im öffentlichen Schulbereich bestehen große Schwierigkeiten. Privatschule kann hier - ohne Konkurrenz sein zu wollen - vielleicht leichter einen Anfang machen und quasi als Pilotprojekt positive und negative Erfahrungen der allgemeinen Schule vermitteln."

Es geht richtig los

"Wenn Du möchtest, daß deine Männer(Frauen) ein gutes Boot bauen, dann versuche nicht ihnen zu sagen, wie sie an Holz kommen und es zusammensetzen sollen, sondern vermittle ihnen die Lust an der Seefahrt, und sie werden dir ein seetüchtiges Boot bauen."

Antoine de Saint-Exupéry

Am 29.8.1985 beginnt die Schule dann ihr Eigenleben zu führen. Sie tut dies in von der Stadt zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten im Praunheimer Weg 44.

Die eigentlichen Hauptpersonen, 15 Schulanfänger mit ihren Schultüten, begleitet von den Eltern und dem ersten neu eingestellten Pädagogenteam betreten die neuen Schulräume. Dem vorausgegangen war noch ein Kraftakt, der im Umbau und der Einrichtung der Schulräume nebst Küche bestand. Hierbei war als weiteres Personal der ersten Stunde die Schulsekretärin, eine Köchin und ein aufgeschlossener Hausmeister maßgeblich beteiligt.

Für die 15 SchülerInnen gab es neben den mehr oder weniger spannenden Schulthemen nun einfach viele andere unterschiedliche Kinder und Erwachsene kennenzulernen.

In der offiziellen Schulamtssprache besuchten nun aber zehn nicht behinderte Schüler und fünf unterschiedlich körperlich bzw. geistig behinderte Schüler die erste Klasse. Sie wurden unterrichtet bzw. betreut von einer Erzieherin, einer Grundschullehrerin, einer Sonderschullehrerin und dabei unterstützt von einem Zivildienstleistenden.

Die Schulzeit ging zunächst von 8.15 Uhr bis 13.00 Uhr, einschließlich einem Mittagessen.

Laut Konzept sollte die Anwesenheitszeit mittelfristig verlängert werden. Es sollten sich dabei Unterrichts- und Spielphasen einander abwechseln, denn es sollte sich von Anbeginn an nicht nur um einen verschulten Raum im engeren Sinne handeln, sondern um ganzheitliche, auf die Bedürfnisse von 6-is 10-jährigen Kindern zugeschnittene Angebote. Nur so ließen sich gemeinsame Lern- und Lebenserfahrungen machen, die der sozialen und psychischen Integration der unterschiedlichen Kinder gerecht würden. Die Lehrer waren für die eher unterrichtlichen Angebote gedacht, während die Erzieherin mehr für den Mittags- und Nachmittagsbereich eingeplant war.

Im Konzept hielten sich radikalere Reformideen, wie "keine Noten bis einschließlich Klasse 4, konsequentes Teamteaching oder die Abkehr vom stringenten Stundenplan" die Waage mit an das öffentliche Schulsystem angepaßten Vorstellungen wie etwa: "auch frontale und Übungsphasen sind notwendig." oder "Der Lehrinhalt orientiert sich an den Rahmenrichtlinien der öffentlichen Schulen." oder "Kinder sollen nach Klasse vier problemlos in eine weiterführende Schule ihrer Wahl wechseln können."

Mit solcherlei durchaus ambivalenten Vorgaben ausgerüstet - einerseits dem notwendigen Freiraum zum Experimentieren - andererseits dem Suggerieren, all dies könne in Nachbarschaft mit dem viel stärker normierten öffentlichen Schulsystem, durch das auch alle Beteiligten schließlich geprägt sind, reibungs- und problemlos vonstatten gehen, machten sich nun SchülerInnen, Eltern und Pädagoglnnen an die Umsetzung im Alltag.

Drei Zitate einer Lehrerin der ersten Stunde machen die Situation von damals deutlich:

"Es mischten sich Freude und Stolz, aus der Vielzahl der Bewerber ausgewählt worden zu sein und somit die Chance zu haben, Schule und Unterricht gemäß eigenen Vorstellungen zu gestalten mit Ängsten, ob wir in der Lage sein werden ohne konkrete Richtlinien die Aufgabe gut zu meistern."

"Das erste Ziel, die Eröffnung der Schule war erreicht! Nun mußten wir uns dem Alltag stellen und eine Unterrichtskonzeption entwickeln, die nicht nur von Integration spricht, sondern Integration verwirklicht."

"... obwohl uns die Arbeit mit den Kindern und das Entwickeln adäquater integrativer Unterrichtsformen viel Spaß machte, hatten wir an manchen Tagen das Gefühl von all den Erwartungen - Öffentlichkeit, Eltern, nicht zu vergessen den eigenen Ansprüchen aufgefressen zu werden."

Einerseits also Heraus - Forderung , andererseits Über - Forderung für die beteiligten LehrerInnen! Diese Spannung galt es auszuhalten.

Anspruch und Wirklichkeit eines Pilotprojektes setzt viel Energie frei, bindet diese aber auch wieder ganz schnell durch die Vielzahl an Arbeiten und Ansprüchen, ganz abgesehen von der besonderen Verantwortung.

Die Schule wächst

"Geradeaus kann man nicht sehr weit gehen"

Antoine de Saint-Exupéry

Einen Schritt hin zur Normalität, gleichzeitig aber auch eine neue Herausforderung stellte ein Jahr später die Bildung einer neuen 1. Klasse dar, zu der auch ich als Kollege gehörte.

Bereicherung im Sinne von pädagogischem Austausch über die eigene Klasse hinaus, Verteilung von Verantwortung auf mehrere Schultern, klassenübergreifende Begegnungen der SchülerInnen waren die eine Seite. Konkurrente Beziehungen, Abgrenzung, schwierige Vergleiche und nicht zuletzt der Lernprozess, daß jedes Team, bedingt durch die ihm angehörigen Personen, einen anderen Stil entwickelt und andere Akzente setzt, waren die andere Seite. Integration und Umgang mit dem Anderssein also nicht nur als Profession den Schülern gegenüber, sondern auch unter den Erwachsenen selber - zunächst im eigenen Team und dann auch darüber hinaus.

Bei diesem Prozess erwies sich die an der Schule von Anfang an fest installierte regelmäßige Supervision als sehr hilfreich. Sie sollte meines Erachtens immer zum Erlangen einer Professionalität in einem solchen komplexen Arbeitszusammenhang dazugehören.

Ein Glücksfall für die weitere Arbeit war weiterhin, daß mit Beginn der zweiten Klasse eine wissenschaftliche Begleitung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt einsetzte, die gleichzeitig an anderen öffentlichen Grundschulen mit integrativen Klassen durchgeführt wurde. Damit wurde im Austausch mit den KollegInnen an den anderen Schulen und den ProjektmitarbeiterInnen die Grenze der "privaten Schulinsel" Integrative Schule überwunden.

Gleichzeitig konnten wir Beteiligten auch durch den besonderen Ansatz der Forschergruppe eine Sensibilität für die die soziale Integration begleitenden unterschiedlichen psychischen Prozesse entwickeln: in erster Linie bei den Kindern, behindert oder nicht behindert, aber ebenso auch bei den beteiligten Erwachsenen.

Dies sei in einem kleinen Exkurs näher erläutert, da es sich meines Erachtens dabei um einen für das Gelingen oder Mißlingen von Integration sehr wichtigen Grundsatz handelt:

Es ist beispielsweise mancher gut gemeinte pädagogische Anspruch- wie etwa das von LehrerInnenseite herbeigeführte gemeinsame Spiel eines nicht behinderten Kindes mit einem z.B. schwerer behinderten spastischgelähmten Jungen - bei genauerer Betrachtung möglicherweise, eine zwar gut gemeinte, aber doch in ihrer subjektiven Wirkung vom Kind als Zwangsmaßnahme empfundenen pädagogische Maßnahme. So betrachtet, kann sie sogar eine echte Kommunikation der beiden stören und behindert eine positive Annäherung. Mögliche Angstgefühle und damit verbundene legitime Abgrenzungswünsche des einen Kindes gegenüber den ihm zunächst bedrohlich erscheinenden Symptomen des behinderten Jungen werden dabei ignoriert. Ebenso wird vergessen, daß das behinderte Kind möglicherweise mit einem ihn gefühlsmäßig ablehnenden Spielpartner konfrontiert wird, wogegen es sich aber schlecht wehren kann. Im Resultat wird so vielleicht auf lange Sicht das Gegenteil von dem bewirkt, was ursprünglich pädagogisch intendiert war: Integration als Annahme des Andersseins.

Wohlgemerkt, ist dies eine mögliche Variante einer solchen Spielsituation, genauso gut könnte dies in einer anderen Situation ein Impuls für ein sich Näherkommen darstellen.

Die gute Absicht allein genügt aber eben nicht. Sorgfältige und intensive Beobachtungen der Kinder und zurückhaltende, situative Interventionen seitens der Erwachsenen sind notwendig - eine gerade für LehrerInnen sehr schwierige Übung und für alle ein mühsamer Lernprozess. Weg mit den Patentrezepten und den so schnellen Rat-Schlägen, denn auch diese können als Schläge empfunden werden. Einlassen auf individuelle Lösungswege abseits ausgetretener Schulweisheit.

Hieraus wuchs für unsere Pädagogik die Erkenntnis, daß Integration neben ihrer wichtigen sozialen Komponente auch ein Bestandteil der subjektiven Identitätsbildung und -reifung ist, die bei jedem individuell verschieden abläuft. Bei dem einen unauffällig und unkompliziert, bei dem anderen verbunden mit Krisen und Konflikten.

Die Schlagworte von Differenzierung und Individualisierung dürfen sich also keinesfalls nur auf die Unterrichtsinhalte beziehen, sondern müssen in einem viel umfassenderen Sinne auf die gesamte Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit und der Gruppe bezogen werden. Dabei sind die begleitenden Erwachsenen immer Mitlernende. All dies unter der Maxime einer nicht nur äußerlich gut funktionierenden sozialen Integration, sondern eines individuellen, persönlichen Erfahrungs- und Entwicklungssprozesses im Umgang mit dem Anderssein in der eigenen Klasse und mir selbst: dann kann als Resultat vielleicht zu guter Letzt nicht nur jeder anders mit behinderten oder nicht behinderten KlassenkameradInnen umgehen, sondern vielleicht auch anders mit sich selbst. Womit wir, mit anderen Worten ausgedrückt, wieder bei dem urchristlichen weisen Gebot der Nächstenliebe angelangt wären : Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Leider wird oft nur einseitig ein Teil dieses Rates beherzigt - je nach Situation der eine - oder der andere.

Dies alles läuft natürlich nicht als gesteuerter und reflektierter Selbsterfahrungsprozess in der Klasse, sondern im alltäglichen miteinander Lernen und Leben, das pädagogisch und psychologisch geplant und immer wieder reflektiert und verändert wird. So wird integratives Lernen ein Prozess, eine Reise in die Zukunft, deren Ziel und Wegstrecke wir immer wieder gemeinsam, d.h. auch mit den SchülerInnen, bestimmen müssen.

Spätestens an dieser Stelle wird auch klar, daß integrative Pädagogik in einem so umfassenden Sinn verstanden, nicht billig und einfach zu haben ist. Sie ist dann vor allem nicht mehr "nur" eine Kostenrechnung, sondern in erster Linie eine Frage des Bewußtseins. Schließlich hatte der scheinbar so einfache oben zitierte Satz aus der Bergpredigt vor 2000 Jahren, praktisch gelebt, auch ungeheuren sozialen und geistigen Sprengstoff in sich und veränderte die Welt.

An dieser Stelle sei die Geschichte der Schule weiterberichtet.

Sie wuchs weiter. Mit der Installierung einer weiteren ersten Klasse - der dritten - einschließlich dem dazugehörigen Pädagogenteam plus "Zivi" wurde die Integrative Schule nun allmählich eine richtige kleine einzügige Schule - nur mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie wirklich eine Schule für alle, Kinder war und ist.

Es gab Zeit und Raum für intensive Lernprojekte mit allen Sinnen, ebenso wie Gespräche über anstehende Konflikte und Schwierigkeiten.

Differenzierte Lernangebote und Ziele mit individuellen Rückmeldungen waren wesentliche Grundlagen des Lehrplans - und dies ohne Noten- und damit Normierungsdruck.

Es zeigte sich schnell und gründlich, daß das Ernstnehmen grundlegender reformpädagogischer Prinzipien beim Planen und Durchführen eines integrativen Unterrichts, bei dem den Bedürfnissen ganz unterschiedlicher Kinder - seien sie nun behindert oder nicht - Rechnung getragen werden muß, sehr hilfreich war. Es mußte mit anderen Worten nicht eine völlig neue Pädagogik erfunden werden, sondern nur die bestehenden urpädagogischen Prinzipien der beiden bestehenden Schulformen ernst genommen und miteinander vernetzt werden. Nur heißt es dabei in der Praxis oft, daß man doch plötzlich als Lehrerln bzw. Elternteil das Gefühl hat, alles anders machen zu müssen, als man es selber erlebt bzw. gelernt hat. Dies wiederum bedeutet, sich in unbekanntes Fahrwasser zu begeben, in dem man es ständig mit neuen äußeren und inneren Widerständen und Gegenströmungen zu tun bekommt und wenig altgediente Sicherheiten zur Verfügung stehen.

Die Sonderschule war und ist jedenfalls bei uns wirklich in die Grundschule integriert und bereichert und erweitert damit automatisch deren bis dahin auch einseitige Pädagogik.

Die SonderschullehrerInnen sind ja auch nicht nur Gäste aus einer anderen Schulform, ebenso wie die ErzieherInnen nicht nur dem Elementarbereich entliehen sind, sondern sie alle sind gleichberechtigt an der Schule beheimatete Fachkräfte, die zusammenarbeiten, weil nur so Integration im umfassenden, aber auch im engeren schulischen Sinne gelingen kann. Zumindest, wenn, wie an der Integrativen Schule, in jeder Klasse auch geistig behinderte und mehrfach behinderte Kinder neben sogenannten normalbegabten zu finden sind.

Es war nun die vorläufig letzte Ausbaustufe fast erreicht.

Drei entscheidende Schritte und Entscheidungen standen aber noch bevor:

  • die Entscheidung über eine Schulleitung,

  • die Entscheidung über die räumliche Ausdehnung der Schule und

  • die Entscheidung über den Ausbau des Nachmittagsbereiches und damit über die organisatorische und pädagogische Gestaltung eines Ganztagesbetriebes.

  1. Pädagogische Entscheidungen, die das Konzept der Schule betrafen, Öffentlichkeitsarbeit, Gremienarbeit, Repräsentanz nach außen gegenüber Schulamt und Nachbarschulen - all dies wurde in den Anfangsjahren mit Unterstützung der im Schulsekretariat arbeitenden Geschäftsführerassistentin arbeitsteilig vom Kollegium neben der eigentlichen Unterrichtsarbeit geleistet. Der Geschäftsführer selbst arbeitete ehrenamtlich. Dies stieß an Grenzen und der Aufsichtsrat machte sich nun auf die Suche nach einem geeigneten Schulrektor. Er sollte Erfahrungen in der Verwaltung mitbringen, engagiert sein für die Herausforderungen der Integration und einen kollegialen demokratischen Führungsstil in einem gewachsenen, selbstbewußten Kollegium verwirklichen wollen. Kein ganz einfaches Anforderungsprofil. In einem Auswahlverfahren, an dem das Kollegium mitbeteiligt war, wurde aber zum Glück schnell 1987 Einverständnis über den neuen Schulleiter erzielt, der auch heute noch die Geschicke der Schule leitet. Von seinem Arbeitsgebiet her ist er sowohl als Fachlehrer in den Klassen, als auch für andere Aufgabengebiete verantwortlich.

  2. Im gleichen Zeitraum wurde in Verhandlungen mit der Stadt ein notwendig gewordener räumlicher Ausbau der Schule in die Wege geleitet. Es war kein Platz mehr für die nächste aufzunehmende 1. Klasse und einen weiteren Ausbau des Nachmittagbereiches. Der ursprüngliche Traum eines großen, von Friedensreich Hundertwasser geplanten Schulneubaus für eine zweizügige Schulkonzeption, für das schon Vorverhandlungen stattgefunden hatten, war mittlerweile "einige Nummern zu groß" geworden und wir mußten uns mit einem im alten Gelände neu gebauten Pavillon bescheiden. Dieser gelang aber recht schön und vor allem schnell und gestattete uns ein normaleres und großzügigeres Schulleben in behindertengerechten Räumen. Die letzte Klasse konnte dann im Sommer 1988 gerade noch termingerecht einziehen. Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht sogar ein Segen, denn der mögliche Neubau war an einer Stelle in Heddernheim geplant, an dem bis heute der von Hundertwasser konzipierte städtische Kindergarten wegen des verseuchten Bodens noch nicht in Betrieb genommen werden konnte.

  3. Die Schule und das Kollegium waren nun fast komplett, es fehlten für die geplante Verlängerung der Schulzeit und den weiteren Ausbau des Nachmittagsbereiches noch zwei KollegInnen, die dann 1987 und 1989 eingestellt wurden. Durch ihre Initiative entwickelte sich allmählich nach der festen, verbindlichen Öffnungszeit bis 14.30 Uhr ein freiwilliges klassenübergreifendes AG-Angebot, das bald zu einem festen Standbein des Ganztagskonzeptes gehörte. Durch einige Stunden Mitarbeit in den Schulklassen fand auch eine Verzahnung von Vor- und Nachmittagsbereich statt. Konzeptionell hatte sich das Kollegium von mittlerweile siebzehn KollegInnen (incl. Zivildienstleistenden) gegen eine verbindliche Schulzeit für alle bis 16.00 Uhr ausgesprochen und für einen flexibleren Umgang mit der Ganztageseinrichtung plädiert.

Die Schule greift "über sich hinaus"

GEHEN

Gehen

wohin dein Frageblick träumt

in die äußerste Gegenwart

Rose Ausländer

Es war geschafft, die Schule hatte ihre vier Klassen, ihre Vor- und nun auch Nachmittagsteams mit nun insgesamt 16 FachkollegInnen aus je 3 Berufsgruppen, 5 Zivildienstleistenden, 2 Köchinnen, einem Schulsekretariat und dem Schulleiter. Nicht zu vergessen die Arbeit von Hausmeister und Putzpersonal, die bei einem so unüblichen Ganztagesbetrieb besonders gefordert sind.

Aber immer noch war keine Zeit zum Zurücklehnen und Innehalten, denn es kam der Zeitpunkt des Sommers 1989, als zum ersten Mal Kinder unserer Schule in eine weiterführende Schule wechselten. Und wie nicht anders zu erwarten, wollte der überwiegende Teil weiterhin an einem Gemeinsamen Unterricht, einem integrativen Unterricht, teilhaben.

Es kam die Problematik der Vergleichbarkeit der Abschlüsse, was manche Eltern und auch LehrerInnen verunsicherte. War doch nun der Punkt gekommen, wo die Kinder aus unserem etwas anderen Schulsystem mit Kindern aus Regelschulen zusammentreffen würden. Jetzt würden sie mit den bis dahin bei uns nicht so stark vorkommenden Normen wie etwa dem Notensystem konfrontiert.

Das Ende unserer Institution, und damit des Primarbereiches war erreicht. "Wie geht es weiter?" Diese Frage hatte sich Jahre schon einmal am Ende der Kindergartenzeit gestellt. Bei allen Konflikten und Schwierigkeiten war die Bilanz des gemeinsamen Lernens in der Schule für uns LehrerInnen und die meisten Eltern und SchülerInnen positiv. Auch der wissenschaftliche Forschungszwischenbericht ermutigte und würdigte die Arbeit.

Es gibt zwar in unserem Schulkonzept kein Glaubensbekenntnis für eine Integration während der gesamten Schullaufbahn, es heißt vielmehr im Konzept, daß "die SchülerInnen die von ihnen gewünschte und ihnen entsprechende weiterführende Schule besuchen können", aber was ist von dieser Wahlfreiheit zu halten, wenn es den integrativen Schulzweig im Sekundarstufen-I-Bereich gar nicht gibt?

So kam es dann, daß wir gemeinsam mit interessierten und engagierten KollegInnen der benachbarten integrierten Gesamtschule eine Weiterführung von Integration im Sek-I-Bereich diskutierten, unsere Erfahrungen in dortigen Konferenzen schilderten und schließlich im Sommer 1989 LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen gemeinsam vor dem Hessischen Landtag in Wiesbaden für die Einrichtung eines Schulversuchs in der Sekundarstufe I demonstrierten.

Eine günstige politische Konstellation im Landtag erbrachte dann die freudige Nachricht, daß die SchülerInnen unserer 4. Klasse gemeinsam die Klasse 5 der benachbarten Ernst- Reuter-Gesamtschule besuchen können.

Der integrative Gedanke hatte in diesem Fall gesiegt und wuchs nun wieder in eine neue gesellschaftliche Dimension hinein.

Innehalten, Rückschau halten, Bestandsaufnahme

Man steigt nie zweimal in denselben Fluß

Heraklit

Nach ungefähr fünf Jahren konnte nun wirklich erst einmal Fazit gezogen, stolz auf das Erreichte geblickt und gefeiert werden. Im Lesebuch "Wegzeichen" Lernziel Integration, Band 14, Bonn ist einiges davon nachzulesen.

Die entscheidenden Grundprinzipien der Arbeit hatten sich bereits herauskristallisiert. Auf ihnen konnte aufgebaut werden. Bei der Betrachtung des Werdegangs der Schule sind sie schon vorgekommen, es seien hier nochmals einige wesentliche zusammenfassend dargestellt:

Die Integrative Schule bietet das, was Grundschulkinder, behindert oder nicht, heute brauchen:

Lehrplanorientierte Lernprozesse, individuelle und differenzierte Angebote und Fördermoglichkeiten, umfassende Projekte, sowohl angeleitete als auch freie Spielphasen, verläßliche kontinuierliche Verhaltensmodelle bei Erwachsenen, informelle Zeiten miteinander, Rückzugsmöglichkeiten, ausreichend Bewegung, Ernstnehmen ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit mit allen möglichen Schwierigkeiten, herausfordernde fachliche und sachliche Angebote und, "last not least" ausreichend gemeinsame Zeit, um all dies ohne Stress und Hektik verwirklichen zu können.

Dazu ist in erster Linie das von uns entwickelte Modell einer "Differenzierten Ganztagsschule" von Nöten (8.15 - 14.15, bzw. - 16.00 Uhr).

Integratives Lernen vollzieht sich nicht gut unter Zeitdruck.

SchülerInnen und LehrerInnen brauchen größere gemeinsame Zeiteinheiten für gemeinsame Erfahrungen beim Lernen.

Eltern brauchen verläßliche Zeiten besonders in einer Nicht-Stadtteilschule, die weitere Fahrwege mit sich bringt, um auch ihre Zeit ohne die Kinder sinnvoll planen zu können. Die verbindliche und immer garantierte Schulzeit geht daher von 8.15 Uhr bis 14.15 Uhr einschließlich einem in der Küche zubereiteten Mittagessen. Von 14.15 Uhr bis ca. 16.00 Uhr finden darüberhinaus freiwillige AG-Angebote statt, wie z.B. Zirkus, Frühfranzösisch, Fußball für Jungen und Mädchen etc.

SchülerInnen, die nachmittags lieber stadtteilbezogene Aktivitäten, wie z.B den Fußballverein vor Ort besuchen wollen, haben dazu zeitlich die Möglichkeit. Ebenso ist noch Raum für außerschulische Verabredungen.

Wir meinen gemeinsam mit vielen Fachleuten, daß 6 Stunden verbindliche Anwesenheit in einem sozialen Raum wie Schule, für Grundschulkinder angemessen sind.

  • Im Zusammenhang mit dem Konzept der Ganztagsschule halten wir es für besonders wichtig für unsere behinderten SchülerInnen und ihre Eltern, daß wir in der Schule Therapieangebote haben, um die Nachmittage möglichst von solchen, meist mit Fahrern verbundenen Terminen freizuhalten. Hier arbeiten wir mit dem Verein für Arbeits- und Erziehungshilfe -VAE- und seinen Therapeuten eng zusammen.

  • Bezogen auf die integrative Unterrichtsarbeit hat sich ein undogmatisches aber keinesfalls unverbindliches Unterrichtskonzept herausgebildet.

Es ist das von uns in der Praxis abgewandelte, in Pädagogenkreisen Feuser'sche Prinzip: alle lernen auf eine ihnen gemäße Weise am "gleichen Lerngegenstand."

Wir legen großen Wert darauf, daß regelmäßig solche Bearbeitung gemeinsamer Themen für alle Kinder vorkommen - und dies nicht nur als Alibi. Es sind dies meist projektartig und über einen längeren Zeitraum währende Themen. Aber auch in einzelnen Stunden, sei es Musik, Sport oder Deutsch und Rechnen wird bei der Planung nach Gemeinsamkeiten Ausschau gehalten, diese aber nicht krampfhaft und künstlich gesucht. Wir haben in der Praxis die Erfahrung und Freiheit gewonnen, unterschiedliche Themen mit Kindern gleichzeitig zu behandeln, so also etwa mit dem geistig behinderten Jungen während einer Rechenstunde zu aquarellieren - und dies eventuell sogar, wegen der größeren Ruhe, in einem Nachbarraum. Dies oft schon allein deshalb, weil er in seinem Lernrhythmus gar nicht so schnell auf ein neues Thema einschwenkt, oder es ihm in seiner augenblicklichen Verfassung gar nicht entspricht.

Wesentlich erscheint mir vielmehr, daß es Zeit und Raum gibt, um die jeweiligen Lernprozesse und -ergebnisse wieder in die Klasse rückzumelden, so daß sie in dem gemeinsamen sozialen Raum der Gruppe aufgehoben sind und wahrgenommen werden. So darf etwa ein Kind im Rechnen selbstverständlich aufstehen und zuschauen, was der behinderte Junge im Nachbarraum gerade malt. Oder beim gemeinsamen Austausch über das neu Gelernte in dieser Rechenstunde wird auch das aquarellierte Bild sachlich als ein anderes Lernergebnis gewürdigt und kommentiert.

Es wird versucht, die Waage zu finden zwischen gemeinsamem Tun und individuellen Lernwegen und individuellem Tun mit Rückkoppelung in die gemeinsame Gruppe.

Die vertrauensvolle und auf individuelle Lernprozesse hin angelegte Unterrichtsarbeit wird unterstützt durch ein System der individuellen Leistungsmessung, das für alle bis zum Schluß keine Noten kennt, sondern nur individuelle Lernberichte, Beobachtungen und Gespräche. Es wird natürlich trotzdem verglichen und Leistungen werden auch kommentiert, aber dies ohne Notierung und die damit verbundene gesellschaftliche Bewertung.

Das Besondere an unserer professionellen, berufsübergreifenden Zusammenarbeit - kurz Teamarbeit genannt - ist es, daß drei pädagogische Berufsgruppen gleichberechtigt in einem Team gemeinsam mit einem Zivildienstleistenden arbeiten.

Durch die Anwesenheit von jeweils vier unterschiedlich behinderten SchülerInnen in den Klassen, darunter immer ein schwerer behindertes Kind (meist ohne verbale Sprache) ist über den gesamten Schultag gesehen (8.15 - 14.15) die Anwesenheit von drei Fachkräften erforderlich. Nur in Kernzeiten sind diese dann tatsächlich alle gleichzeitig präsent, sonst sind, bedingt durch ihre Arbeitszeit, meistens zwei Fachkräfte gemeinsam im Unterricht, unterstützt von dem Zivildienstleistenden. Dabei wechselt die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen.

Die sozialpädagogische, sonderpädagogische und grundschulspezifische Kompetenz kommt allen zu Gute. Die Kooperation der Erwachsenen ist Modell für die angestrebte Kooperation der SchülerInnen.

Durch regelmäßig stattfindende Teamgespräche und gegenseitiges Anregung im Unterrichtsalltag findet ein Kompetenztransfer statt, d. h. alle lernen über ihre ursprünglichen Fachgrenzen hinaus und entwickeln so im Idealfall gemeinsam einen von solider Fachkenntnis getragenen neuen integrativen Unterrichtsstil; damit kreieren sie dann den neuen Lehrertypus des, etwas ironisch gemeint, "homo integrans".

Dies kann unserer Erfahrung nach nur funktionieren, wenn jeder sich auch auf die ihm fremde, unbekannte Schulwirklichkeit einläßt - so arbeitet der/die Grundschullehrer/In selbstverständlich eigenverantwortlich mit behinderten SchülerInnen, der/die Sonderschullehrer/In ebenso eigenständig mit nicht behinderten SchülerInnen, der/ die Erzieherln übernimmt Unterrichtsanteile und die LehrerInnen befassen sich mit den SchülerInnen in den sogenannten unterrichtsfreien Phasen, wie Mittagessen oder Freispiel. Die "Kontrolle" findet über gemeinsame Vorbereitung, Planung und Reflexion statt.

Dabei bleibt die Grundverantwortung eines jeden für sein /ihr Fachgebiet erhalten.

Im Konzept der Schule hat jede/r MitarbeiterIn für die gemeinsamen Besprechungen wöchentlich vier sogenannte Koordinationsstunden zur Verfügung, die auf die Wochenarbeitszeit angerechnet werden.

Ein Problem dieser gleichberechtigten Zusammenarbeit sei nicht verschwiegen: Es ist dies die unterschiedliche gesellschaftliche Anerkennung, die sich in Arbeitszeitregelung und Bezahlung materiell niederschlägt. Wir haben es versucht an der Schule insofern abzumildern, daß wenigstens die Arbeitszeit mehr aneinander angeglichen wurde, d.h. vor allem, daß die ErzieherInnen eine etwas günstigere Arbeitszeitregelung haben, als an öffentlichen Schulen üblich. Zu einer Reform der Einkommensverteilung konnte sich bisher noch niemand durchringen, Modelle hierzu wären interessant.

Neben dem erworbenen Profil, eine echte Reformschule zu sein, und damit eine Alternative bzw. Ergänzung zu den öffentlichen Schulen, hat auch eine gewisse Ernüchterung und Normalisierung stattgefunden.

Unterricht findet eben nicht nur in Projekten statt, Kinder und auch Lehrer haben auch bei uns manchmal "Null Bock auf Schule", EIternabende können sehr frustrierend verlaufen, die eigenen Ansprüche werden pragmatischer und die eigene Arbeitskraft realistischer eingeschätzt.

Dies ist nicht unbedingt Resignation, sondern in meinen Augen zumindest genauso ein unvermeidlicher Reifungsprozess, dem jede neue Bewegung, Gruppe oder Institution unterliegt, wenn sie sich nicht auf die "grüne Insel" abseilt, sondern inmitten unserer Gesellschaft wirkt. Ansonsten scheitert sie schnell entweder an ihren eigenen unrealistischen Ansprüchen oder an zu starken Widerständen von außen. So gesehen haben wir einen gesunden Anpassungsprozess durchlaufen, ohne das eigenständige Profil zu sehr zu verwässern.

Krisenzeiten und Weiterentwicklung, Irrtum und Fortschritt

Wenn man nur an sich denkt, kann man nicht glauben, daß man Irrtümer begeht, und kommt also nicht weiter. Darum muß man an jene denken, die nach einem weiterarbeiten. Nur so verhindert man, daß etwas fertig wird.

Bertold Brecht

Es sollte sich sehr bald zeigen, wie wichtig es war, daß die Schule eine gewisse Konsolidierungsphase hinter sich und ihre Eigenständigkeit gefunden hatte. Sie hatte nun bereits fünf Jahre in der Öffentlichkeit gewirkt und ihre Spuren hinterlassen. All dies war bitter nötig, um den kommenden Stürmen gewachsen zu sein. Wie jede Institution hat auch die Integrative Schule eine dynamische Kostenentwicklung, die natürlich mit dem aufgrund ihres Konzeptes besonderen Personalaufwand verbunden ist. In einer Zeit, in der Parolen wie "den Gürtel enger schnallen" von Staat und auch Kirche ausgegeben wurden, kam natürlich auch unsere Schule nicht ungeschoren davon - böse gesagt, engagierte sie sich ja für eine gesellschaftliche Gruppe, behinderte und nicht behinderte Kinder, die, ökonomisch gedacht, kein Kapital einbringen. So wuchsen sich schnell zunächst moderat vorgetragene Sparvorschläge zu einer echten Existenzkrise aus, während der die Schule zu einem Auslaufmodell zu werden drohte. Krisengespräche im Aufsichtsrat, in der Kirchenleitung, im Stadtschulamt, im Kollegium und Elternbeirat folgten in kurzen Abständen. Verschärfend hinzu kam die Tatsache, daß einige der von der Stadt zur Verfügung gestellten Schulräume schon bald von der benachbarten Grundschule aufgrund der geburtenstärkeren Jahrgänge benötigt würden.

Mit Hilfe vieler engagierter Fürsprecher auf vielen Ebenen, Presseaktionen und der guten Zusammenarbeit von Schulleitung, Kollegium und Eltern konnte dann zum Glück doch ein Weg aus der Krise gefunden werden. Ob er auf lange Sicht tragfähig bzw. gangbar ist, wird sich noch weisen müssen.

Die verantwortlichen Gremien des Schulträgers stellten jedenfalls einen neuen mittelfristigen Finanzplan auf, der mit einigen Veränderungen auch an der Schule verbunden war, ihre Arbeit aber nicht wesentlich beeinträchtigte. Ich erinnere mich noch daran, wie in dieser Zeit eines Tages einer meiner Schüler mit seiner Sparbüchse in die Schule kam und sein Geld der "armen Schule" spenden wollte. Es ging uns allen sehr an die Substanz, spürten wir doch hautnah die Abhängigkeit unserer Arbeit von Einflüssen, die außerhalb liegen.

Letztendlich siegte hier der Anspruch der Kirche, einen Beitrag für ein menschliches Miteinander im Alltag zu leisten über Sparzwänge. Auch die Stadt Frankfurt bewies, daß sie nicht nur Bankermentalität besitzt, sondern ebenso einen Beitrag zur Bildungsvielfalt in einem sensiblen Bereich wie dem der Integration leistet.

Eine neue Organisation der Geschäftsführung, eine teilreduzierte Stelle pro Team, ebenso im Küchenbereich, eine Anhebung der Elternbeiträge, Erhöhung der Klassenfrequenz waren die Hauptänderungen nach innen. Unter dem Strich ging die Schule mit Blessuren zwar, aber dennoch mit gestärktem Selbstbewußtsein aus dieser Krise hervor.

Es wurde in gewisser Weise wieder ein neuer Anfang gemacht, wobei die eigentliche Schularbeit die ganze Zeit über im Grunde genommen normal weitergegangen war.

Im Alltag hat sich gegenüber den ersten Jahren allmählich einiges verändert. Die alten "Integrationshasen" unter den LehrerInnen sind in die Minderzahl gekommen gegenüber neuen, engagierten KollegInnen, die die Anfänge der Schule gar nicht mehr kennen. Auch die erste eher kämpferisch eingestellte Elterngeneration ist abgelöst worden von Eltern, die die Integrative Schule eher als eine bereits etablierte und gut funktionierende Institution für ihre Kinder auswählen.

Dadurch ist vieles entkrampfter und nicht mit so viel ideologischem Ballast beladen. Die Diskussion und Umsetzung von Fördergruppen, in denen z.B. nur behinderte Schüler aus verschiedenen Klassen teilnehmen, wäre so vor fünf Jahren bei uns nicht möglich gewesen, weil es ein Tabu der Integration berührte. Heute gibt es zwar auch unterschiedliche Meinungen dazu, es können aber solche neuen Erfahrungen erprobt werden.

Ebenso kann es vorkommen, daß die ehemals heiß erkämpfte Fortsetzung der Integration im Sek.-I-Bereich plötzlich für ein Großteil einer Klasse gar nicht mehr die erstrebenswerte Weiterführung für ihre Kinder ist.

Es ist nötig, solche Prozesse zunächst einmal wertfrei zu konstatieren, aber nicht in jedem Fall widerspruchslos zu akzeptieren. Es muß auch immer wieder neu um Werte und Prinzipien gerungen und gekämpft werden, sonst werden sie leicht unverbindlich.

Eine weitere erwähnenswerte Veränderung ist die Bildung von größeren Klassen - 18 SchülerInnen - da es sich zeigte, daß dies neben finanziellen Aspekten für die Bildung von peergroups und Freundschaften und für den sozialen Austausch insgesamt günstiger ist.

War die Supervision früher ein fest verankerter Bestandteil für alle LehrerInnen, so ist sie heute eher ein Angebot, daß je nach Bedarf wahrgenommen wird. Über Vor- und Nachteile läßt sich trefflich streiten, was wir im Kollegium auch schon ausgiebig getan haben.

Eine Schule, die früher viel von ihrem Elan und ihrer Identität aus dem Zusammenschluß gegen Vorurteile und Widerstände von außen gewann, auch aus dem Gefühl heraus, etwas Besonderes zu machen, Vorreiter zu sein, eine solche Schule muß jetzt in relativ ruhigerem Fahrwasser und in etwas größerer Normalität neu ihre Identität begründen bzw. weiterentwickeln.

Ein von den "alten" Kollegen stark geprägtes Profil der Schule wird sich ändern, es darf dabei allerdings nicht sein Gesicht verlieren. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach Weitergabe, Vermittlung und Veränderung von mittlerweile gewonnenen Traditionen und nach verbindlichem Austausch über die Gültigkeit von pädagogischen Maximen innerhalb der Schule. Es stellt sich weiterhin die Frage nach neuen Aufgaben und Herausforderungen. Zwei Schritte in diese Richtung waren z.B.

  • nach innen die stärkere klassenübergreifende Zusammenarbeit zweier Klassen,

  • nach außen die im letzten Jahr zusammen mit der Frankfurter Außenstelle des Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung konzipierte Fortbildungsreihe für KollegInnen in integrativen Klassen. Hierbei stellten wir unser Know how und unsere Erfahrung zur Verfügung und lernten gleichzeitig die Arbeit anderer KollegInnen in öffentlichen Schulen näher kennen.

Früchte getragen hat unsere schulische Arbeit im Grunde von Anbeginn an. Mittlerweile sind die ersten SchülerInnen unserer ersten 1.Klasse in Klasse 10 angelangt und es stellen sich wieder ganz neue Fragen und Probleme - diesmal die Sekundarstufen II, die Berufsausbildung und Arbeitswelt betreffend.

Auf Festen, Klassentreffen oder anderen Begegnungen wird mir immer deutlich, daß die Zeit auf der "Inti" eine besondere, eine prägende und positive Spuren hinterlassende Schulerfahrung war. Auch in meinem Leben hat sie eingegriffen. Viele ehemalige KollegInnen arbeiten auch weiterhin in Integrationsklassen an öffentlichen Schulen.

Integrativ arbeiten bedeutet auf dem Weg sein im Sinne einer Spirale, die immer weiter führt - nach Innen und nach Außen.

Stolpersteine wird es immer geben, ebenso aber den Anreiz weiter zu gehen. Ein Zurück gibt es im Grunde nicht mehr.

Michael Tettenborn, Grund- und Hauptschullehrer, Diplom-Pädagoge (Sonder- und Heilpädagogik); 1986 von der Montessorigeprägten Anna-Schmidt-Schule in die Integrative Schule Frankfurt gewechselt. Mitwirkung am Aufbau der neuen Schule unter demokratischen Vorzeichen; Bedürfnis nach Teamarbeit, d.h., Kooperation und Austausch unterschiedlicher Vorerfahrungen und Standpunkte.

Die Integrative Schule Frankfurt - eine Schule mit Pilotfunktion

"Jetzt habt Ihr Euer Ziel doch erreicht, es gibt endlich den Gemeinsamen Unterricht in Hessen [55] . Warum gibt es Euch als Schule in freier Trägerschaft denn dann immer noch?"

Eine berechtigte Frage! Wir sind durchaus der Meinung, daß eine Schule in freier Trägerschaft ("Privatschule") nur dann eine Daseinsberechtigung hat, wenn auf ihrem "Firmenschild" etwas steht, was andere so nicht zu "verkaufen" haben. Eine Schule in freier Trägerschaft, die genau dasselbe bietet wie eine staatliche Schule, macht irgend etwas falsch.

Gut, das grundsätzliche Ziel unserer Schule war bei der Gründung 1985 und ist es auch heute noch, deutlich und erlebbar zu machen, daß Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und lernen können. Hierin unterscheiden wir uns zum Glück nicht von dem Ansatz, den die staatlichen Schulen mit dem Gemeinsamen Unterricht haben.

Allerdings haben wir auch hier einige grundsätzliche Vorstellungen, die wichtig sind.

  • Das gemeinsame Leben und Lernen wird als Prozeß, nicht als Zustand oder Ergebnis gesehen.

  • Unser Ziel ist nicht die Integration behinderter Kinder! Sobald diese Formulierung auftaucht, heißt es, mißtrauisch zu sein. Integration, Gemeinsamer Unterricht muß ein reversibler, ein wechselseitiger Prozeß für beide Gruppen, die der Kinder mit und ohne Behinderung, zu beiderseitigem Nutzen sein. Geschieht dies auf Kosten oder zugunsten einer Gruppe, liegen wir falsch!

  • Wir verstehen uns nicht als direkte Konkurrenz zu bestehenden Schulsystemen (Regelschule, Sonderschule). Wir möchten mithelfen, alternative Modelle zu entwickeln und halten den anregenden Dialog der verschiedenen Schularten für unabdingbar.

  • Wir reden bewußt von Leben und Lernen, das heißt, wir haben einen sehr weiten und offenen Begriff von Unterricht und trennen in der Wertung nicht zwischen "Kernfächern", pflegenden Maßnahmen, Freizeitgestaltung, Mittagessen, Sozialerziehung, usw. Unterricht ist, was diesem gemeinsamen Leben und Lernen dient.

  • Wir sehen im gemeinsamen Leben und Lernen verschiedener Menschen den "theologischen Normalfall ". Es ist eine der zentralen christlichen Aussagen, Menschen wieder zusammenzubringen, die einander fremd geworden sind.

Wir begrüßen es, daß das Land Hessen den "Gemeinsamen Unterricht" in der Grundschule als Wahlmöglichkeit und in der Sekundarstufe als Schulversuch ermöglicht! Gleichzeitig sind wir der Überzeugung, daß diese Schritte zwar in die richtige Richtung gehen, daß ihnen jedoch die letzte Konsequenz fehlt.

Wir sind der Meinung, daß es Aufgabe und Funktion der Integrativen Schule ist, einiges deutlich zu machen, auch als Anstoß für das Bildungsgeschehen an staatlichen Schulen. Wir sind nicht der Meinung, wir oder sonst jemand hätten heute bereits schlüssige Lösungen für die Zukunft. Die Integrative Schule Frankfurt versteht sich bewußt als "Pilotprojekt", das heißt, als Modell und Denkanstoß für das Bildungssystem, jedoch nicht als ein Beispiel, das flächendeckend so im Augenblick realisiert werden könnte.

Die "Fünf Säulen" der Integrativen Schule Frankfurt

Die integrative Schule Frankfurt hat fünf Besonderheiten, fünf "Säulen", mit denen sie sich von den Angeboten staatlicher Schulen deutlich abhebt. Diese Säulen machen die Pilotfunktion unserer Schule deutlich:

1. Säule - Ganztagsschule

2. Säule - Unterricht im Team

3. Säule - Alle gehören dazu

4. Säule - Therapie gehört dazu

5. Säule - Kirchlich-diakonische Schule

1. Säule: Ganztagsschule

Wir sind der Meinung, daß sich dieses gemeinsame Leben und Lernen nicht nur im Rahmen der vorgesehenen Stundentafel abspielen kann die Möglichkeiten sind hier zeitlich und von den Anlässen zu knapp.

Wir vertreten das Konzept der "Differenzierten Ganztagsschule " mit verbindlichem Unterricht im Klassenverbund von 8.15 bis 14.15 Uhr und freiwilligen, klassenübergreifenden Arbeitsgemeinschaften von 14.15 - 16. 00 Uhr.

Neben der Möglichkeit der Auflockerung des Unterrichts sehen wir hier auch ein dringend notwendiges Angebot für viele Familien (berufstätig, alleinerziehend, besondere Belastung durch die Behinderung des Kindes). Auch hier denken wir, daß die Ansätze der Hessischen Landesregierung mit "verläßlicher Halbtagsschule" und "Schule mit Betreuungsangeboten" die richtige Richtung anzeigen, jedoch noch lange nicht ausreichend sind.

Ulrich Goldhammer, pädagogischer Mitarbeiter im Nachmittagsbereich, berichtet:

Ulrich Goldhammer: Die Integrative Schule Frankfurt - eine Ganztagsschule

"Gemeinsam leben und lernen" - so lautet das Motto der Integrativen Schule. Aber, wenn man dieses Motto ernst nimmt, dann braucht es dazu Zeit. Mehr Zeit, als üblicherweise in einer "normalen" Grundschule oder Sonderschule zur Verfügung steht. Natürlich sollen die Kinder in diesen vier Jahren den "normalen" Lernstoff entsprechend den jeweiligen staatlichen Rahmenplänen bewältigen. Aber das obige Motto beinhaltet darüber hinaus, daß auch Zeit und Raum sein soll für viele andere Dinge, zum Beispiel, eigene Erfahrungen zu machen, sich untereinander austauschen (zum Beispiel im projektorientierten Lernen), Konflikte bewältigen, Rücksicht nehmen auf den Langsameren oder Schwächeren, für Spielen und Entspannen. Das "Soziale Lernen" hat in der Integrativen Schule den gleichen Stellenwert wie die Erarbeitung des Schulstoffs.

Deshalb war die Integrative Schule von Anfang an als Ganztagsschule konzipiert. Schaut man sich die organisatorische Gliederung des Schulalltags an, so ergeben sich drei Bereiche:

VORMITTAG (verbindlich)

Schwerpunkt Lernen

1. und 2. Klasse: bis 12 Uhr

3. und 4. Klasse: bis 13 Uhr

MITTAG (verbindlich)

Schwerpunkt Essen und Schwerpunkt Freizeit bis 14.15 Uhr

NACHMITTAG (freiwillig)

Schwerpunkt Freizeit

AGs bis 15.30

Betreuung bis 16 Uhr

Freitags enden die Zeiten des Nachmittags eine Stunde früher.

Der Begriff "Schwerpunkt" deutet bereits an, daß sich die einzelnen Bereiche inhaltlich nicht so deutlich voneinander abgrenzen lassen: auch vormittags gibt es Zeit zum Spielen und Entspannen, auch im Mittagsbereich findet zeitweise Unterricht statt oder es gibt Angebote, auch nachmittags kann einmal "gelernt" werden wie, zum Beispiel in der AG Französisch.

Bedeutung, Ziele und Prinzipien des Nachmittagsbereichs

Durch das Mittagessen und die verbindliche Schulzeit bis 14.15 Uhr für alle Kinder ist die Integrative Schule bereits als "Ganztagsschule" definiert. So richtig wird sie dazu jedoch erst durch den Nachmittagsbereich, auf den ich mich in den folgenden Ausführungen beschränken werde.

Der Nachmittagsbereich der Integrativen Schule ist kein "Anhängsel" in Anschluß an die verbindliche Schulzeit im Sinne eines Hortes, sondern die Fortsetzung der Schule auf freiwilliger Basis mit anderen Schwerpunkten.

Was sind nun die Ziele des Nachmittagsbereichs?

  • Die Kinder erhalten Gelegenheit, sich in der Schule mit Dingen zu beschäftigen, die sie gerne tun.

  • Sie können sich in bestimmten Techniken, Fähigkeiten, Erkenntnissen, Fertigkeiten und Wissen fortbilden (zum Beispiel in den AGs Töpfern, Fußball, Basteln, Gärtnern, Französisch).

  • Sie können Dinge für sich selbst oder für die Schulgemeinschaft herstellen (zum Beispiel Theater, Zirkusvorstellung).

  • Die Kinder können sich an der Schule wohlfühlen, Spaß haben und sich dadurch mit ihr identifizieren.

Pädagogische Prinzipien

Um die obigen Ziele zu erreichen, sind folgende Prinzipien gültig:

Freiwillig muß es sein!

Manche werden sich vielleicht fragen, warum nicht für alle verbindlich eine längere Schulzeit? Hätten dann nicht alle mehr davon? In anderen europäischen Ländern gibt es fast nur noch Ganztagsschulen.

Das Prinzip der Freiwilligkeit im Nachmittagsbereich ist in der Vergangenheit - ausgehend vom Schulträger - lebhaft diskutiert worden. Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen:

  • So sind einige Kinder, oftmals auch behinderte Kinder, durch eine noch längere Schulzeit überfordert. Sie "können" einfach nicht mehr.

  • Viele Kinder wollen auch Zeit für eigene Aktivitäten in ihrem Wohnviertel, zum Beispiel im Sportverein, Musikunterricht, Ballett, Treffen mit Freunden etc. haben.

  • Für viele Kinder hat es sicher auch eine hohe Bedeutung, daß sie an "ihrer" Schule sein und etwas tun können, weil sie wollen, und nicht, weil sie müssen.

Klassenübergreifend

Während am Vormittag überwiegend nach Klassen getrennt unterrichtet wird (auch hier gibt es allerdings in letzter Zeit bereits "Aufweichungstendenzen", siehe auch den Bericht über klassenübergreifende Zusammenarbeit in diesem Buch), finden die freiwilligen Arbeitsgemeinschaften (AGs) nur in klassenübergreifenden Gruppen statt. An einer so kleinen Schule, die insgesamt nur 68 Schüler hat, ließe sich so etwas praktisch auch gar nicht anders durchführen, trotzdem ist es auch pädagogisches Prinzip: die Kinder lernen sich untereinander besser kennen. Die älteren lernen die jüngeren zu unterstützen, bzw. machen bisweilen auch die Erfahrung, daß man auch von jüngeren etwas lernen kann.

Integrativ

Es versteht sich von selbst, daß an der Integrativen Schule natürlich auch der Nachmittagsbereich integrativ, das heißt für Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam, gestaltet wird. Die inhaltlichen Angebote der AGs sind zwar nicht speziell auf behinderte Kinder zugeschnitten, aber doch von der Intention her so, daß möglichst für alle etwas "dabei" ist. In der Praxis kann dies trotzdem manchmal schwierig sein.

Kontinuität in der Betreuung

Die Kontinuität der Betreuung wird durch einen Beginn der Arbeit des Nachmittagsteams im Mittagsbereich erreicht. Die Mitarbeiter des Nachmittagsbereichs kommen in der Regel zwischen 12 und 13 Uhr in eine Klasse und betreuen die Kinder gemeinsam mit MitarbeiterInnen der Vormittagsteams beim Essen, sowie anschließend in ihrer Freizeit bzw. beim nochmaligen Unterricht. Jeder Mitarbeiter ist zwei Klassen zugeteilt, je einer an 2 Tagen der Woche.

Die Organisation des Nachmittagsbereichs

Das Team

Das Nachmittagsteam besteht zur Zeit aus zwei pädagogischen Fachkräften (1 Lehrer, 1 Erzieher) mit jeweils einer halben Stelle sowie einem Zivildienstleistenden (ZDL). Dieser fährt auch nach der AG die behinderten Kinder nach Hause. Zusätzlich übernimmt der Schulleiter z.Zt. eine AG pro Woche.

Welche Angebote?

Jeder Pädagoge bietet nachmittags eine AG an. Die Frage des Inhalts richtet sich nach verschiedenen Dingen: im Kontakt mit den Kindem und auch Eltern erfahren wir immer wieder "hautnah", wo die Wünsche und Bedürfnisse liegen: ("Mach doch mal wieder eine Fußball - AG!"). Voraussetzung ist natürlich, daß man sich in diesem Bereich kompetent fühlt, bzw. durch Fort- oder Weiterbildung kompetent machen kann. Wir versuchen, ein möglichst breites Spektrum abzudecken aus dem sportlichen, kreativ-musischen, handwerklichen, technischen Bereich etc.

Ausschreibung und Anmeldung

Die Angebote für den Nachmittag werden von uns im halbjährlichen Turnus neu ausgeschrieben. Die Kinder und Eltern erhalten jeweils ein Heft, in dem alle AGs ausführlich beschrieben sind. Jedes Kind kann sich für bis zu 3 AGs anmelden.

Wenn sich die Kinder angemeldet haben, ist ihre Teilnahme auch verbindlich. Zwar können sie sich auch wieder von einer AG abmelden wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht die richtige Wahl war, sie können aber nicht nach Belieben kommen oder nicht kommen.

Die Räume

Leider gibt es für den Nachmittagsbereich keine eigenen Räume, die Raumsituation an der Integrativen Schule ist verhältnismäßig eng. Im Grunde stehen an schuleigenen Räumen nur der Rhythmikraum und der Werkraum zur Verfügung. Als Ausweichmöglichkeit gibt es noch den Gruppenraum einer Klasse, eine Notlösung. Die Turnhalle ist zu Fuß 15 Minuten von der Schule entfernt.

Die Teilnahme der Kinder am Nachmittagsbereich

Die Teilnahme der Kinder an den verschiedenen AGs ist unterschiedlich, insgesamt gesehen aber relativ hoch. Zur Zeit kommen auf 68 Kinder an der Schule insgesamt 105 Anmeldungen, d.h. pro Kind durchschnittlich 1,5 Anmeldungen pro Woche bei insgesamt 11 Angeboten.

In einer AG sind somit im Durchschnitt 9,5 Kinder. Insgesamt nehmen nur 7 Kinder der Schule an keiner AG teil.

Insgesamt kann man also sagen, daß die Angebote von den Kindern bis an die Grenzen der Kapazität, teilweise darüber hinaus, angenommen werden.

Probleme und Schwierigkeiten

- aufgrund der personellen und räumlichen Situation

Aus dem oben Dargestellten sind einige Probleme schon ersichtlich, sie hängen mit der engen personellen und räumlichen Situation zusammen. Wünschenswert wäre für den Nachmittag eine Betreuungsmöglichkeit für Kinder parallel zu den AGs. Wenn ein Kind zum Beispiel nachmittags nicht mehr "kann", weil es einfach müde oder überfordert ist, so muß es zur Zeit trotzdem in der Gruppe bleiben.

Wenn ein Betreuer aus irgendeinem Grund nicht da sein kann, fällt die betreffende AG - anders als im Vormittagsbereich - aus, da es keine Vertretung gibt. Bei plötzlicher Erkrankung sind Absagen nur schwer zu organisieren: wie kommen die Kinder nach Hause, ist jemand zu Hause etc. Die Kinder beschweren sich, wenn eine AG öfters ausfallen muß, ebenso Eltern, die teilweise darauf angewiesen sind. So lastet auf dem Nachmittagsteam ein erheblicher Druck.

- bei der Integration

Eltern behinderter Kinder monieren manchmal, daß es nicht genug Angebote für ihr Kind gäbe oder es nachmittags nicht ausreichend gefördert würde. Obwohl in fast allen AGs behinderte Kinder sind, kann dies natürlich vorkommen, daß gerade für dieses Kind kein geeignetes Angebot vorhanden ist oder eben gerade der Wochentag nicht paßt.

Manchmal stellen Eltern auch hohe, gelegentlich auch zu hohe Ansprüche, die wir aufgrund unserer Situation nicht erfüllen können.

- mit klassenübergreifenden Gruppen

Bei der Zusammenarbeit in den AGs ziehen die Kinder zwar meistens ihre Klassenkameraden vor, trotzdem klappt es bei der Begegnung mit Kindern aus anderen Klassen relativ gut. Bei AGs im sportlichen Bereich ist beispielsweise das sportliche Können entscheidender für die Akzeptanz als die Klassenzugehörigkeit. Es ist aber auch schon vorgekommen, daß sich Kinder von verschiedenen Klassen in einer AG überhaupt nicht "ab" konnten und die eine Gruppe die andere vergrault hat.

- im Team

Die Zusammenarbeit im Nachmittagsteam unterscheidet sich deutlich von der Zusammenarbeit in den Klassenteams. Jeder Mitarbeiter gestaltet und verantwortet seine eigenen Angebote. Die Zusammenarbeit im Team bezieht sich auf das Absprechen und Abstimmen der aktuellen Arbeit und auf konzeptionelle Planungen.

Der ZDL ist in die Planung und Gestaltung der AGs einbezogen und arbeitet nach Absprache und Bedarf bei jeweils einer AG mit.

Nach der AG fährt er mit dem Schulbus die behinderten Kinder nach Hause.

Zusammenarbeit im Klassenteam

Grundschullehrerin / Sonderschullehrerin / Erzieherin / ZDL

Alle bringen ihre "Herkunft" (Ausbildung, Vorerfahrung, Fachrichtung, Schwerpunkte) ein

Gemeinsames Arbeitskonzept

Anhand der Rahmenrichtlinien, der Schulkonzeption und der Situation der Klasse wird ein gemeinsames Arbeitskonzept entworfen.

Delegation Durchführung der Vorhaben

Die Vorhaben werden an einzelne Teammitglieder delegiert.. Im Rahmen des gemeinsam festgelegten "Arbeitskonzeptes" werden die Vorhaben selbst-ständig vorbereitet und federführend durchgeführt. Die übrigen Teammitglieder werden in die Durchführung einbezogen

Rückmeldung Auswertung

Die durch geführten Vorhaben werden vom gesamten Klassenteam kritisch reflektiert. Anhang der Rückmeldungen wird neu geplant.

Goldhammer, Ulrich, Ich bin 46 Jahre; gelernter Bankkaufmann und Haupt- und Realschullehrer. Ich bin 1988 durch Zufall an die Integrative Schule gekommen. Seit ich hier arbeitet, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, daß es noch etwas anderes gibt.

2. Säule: Unterrichten im Team (Team-teaching)

Wir halten unseren Ansatz der dreifachen Profession im Klassenteam (Grundschule, Sonderschule, Sozialpädagogik) für notwendig und sinnvoll. Die drei KollegInnen ergänzen und hinterfragen sich durch Ihre unterschiedliche fachliche Herkunft, Ausbildung und Erfahrung ("Kompetenztransfer").

Die Klasse wird gemeinsam geleitet, die großen Linien des Unterrichts werden gemeinsam konzipiert, die federführende Vorbereitung und Durchführung der einzelnen Unterrichtsstunden wird an einzelne Teammitglieder delegiert, die übrigen assistieren bei der Durchführung der Differenzierungsangebote, in der gemeinsamen Auswertung wird gegenseitig rückgemeldet.

Die Differenzierung des Unterrichts geschieht nicht in zwei generellen Lerngruppen (z.B. 'Die Kinder mit Behinderung treffen sich im Nebenraum. "o.ä.), sondern je nach Situation in verschiedenen differenzierenden Lerngruppen für alle Kinder.

Wir halten Team-teaching für eine sinnvolle und für die Differenzierung im Gemeinsamen Unterricht notwendige Unterrichtsform, die sich durch die interdisziplinäre Zusammensetzung der Klassenteams nahgelegt. Die (sozialintegrative) Zusammenarbeit der Erwachsenen ist gleichzeitig Modell für das Zusammenleben der Kinder.

"Das mit den Kindern, das kriegen wir schon hin - schwierig ist es mit den Erwachsenen..." Sicher ist etwas dran an dem ironisch gemeinten Seufzer, wo haben wir es auch gelernt, wir Lehrerinnen und Lehrer, im Team zu arbeiten? Notwendig ist auch hier, Zusammenarbeit als ständig neu weiterzuentwickelnden Prozeß und nicht als fertiges Ergebnis zu sehen. Notwendig sind dazu unterstützende Voraussetzungen (Verlagerung von Kompetenz und Verantwortung in das Team, Zeiten zur Team-Kooperation) und begleitende Maßnahmen (Supervision, Strategien der Leitung und des Kollegiums, um Konflikte aufzufangen und Lösungen zu ermöglichen).

Lesen Sie zur "Illustration Teamarbeit" zwei praktische Beispiele

  • Protokoll einer Teamsitzung

  • Klassenübergreifendes Arbeiten

Chris Detrois: Protokoll einer gemeinsamen Team-Sitzung der 2. und 3. Klasse

Mittwoch, den 12.10.1994

Anwesend: EVA, HELENA, GUDRUN, ULI, RALF, CHRIS, KAI UND ANDREAS

Thema: Sachunterricht - "Tiere im Wald" und "Schwimmen und Sport"

Eva informiert über Schwimmaufsicht.

Gudrun fragt nach, ob die Hülle des Filmprojektors gefunden worden ist. Uli und Chris bestätigen das Wiederauffinden. Eva fragt nach einem gemeinsamen Elternabend noch vor Weihnachten. Ralf teilt mit, daß er erst fürs neue Jahr '95 vorgesehen ist, weil in diesem Jahr zu viele Termine sind.

Eva möchte wissen, ob wir die 14-tägig stattfindenden Schwimm- und Sporttermine der Gruppen A und B nach Kalenderwochen einfach durchzählen, oder ob wir die Ferien und Feiertage berücksichtigen.

Vorschlag Ralf: "Die Wochen durchzählen!"

Vorschlag Eva: "Im Wechsel stattfinden lassen!"

Chris: "Wenn wir uns geeinigt haben, sollten wir die Schwimmtermine der Gruppen A und B den Eltern schriftlich mitteilen!"

Wir einigen uns auf Evas Vorschlag.

Uli und Gudrun schreiben bereits alle Termine auf.

Eva: "Hast Du mal Papier?"

Uli: "Brauchst Du nicht! Wir schreiben's Dir auf."

Ralf sitzt da und schmollt - Nein! Er schmunzelt. Uli: "Ich geh' das jetzt kopieren", steht auf und geht.

In der Zwischenzeit bildet sich Helena in "Freier Arbeit" weiter und Gudrun liest im "Bereich der Sinne". Nebenbei macht Kai sich über meinen Schreibstil lustig, vielleicht aber auch nur über meine Schreibhaltung.

Eva: "Ist das Sachkunde-Thema heute beendet worden?"

Chris: "Das müssen wir jetzt noch diskutieren!"

Eva: "Sollte es denn nicht bis zu den Herbstferien abgeschlossen sein?"

Ralf: "War mal so verabredet. Aber wir sollten noch zu einem gemeinsamen Abschluß kommen!"

Uli bringt die kopierten Schwimmtermine ...

  • "Es sieht so aus, daß jetzt jeder etwas über sein Tier weiß, aber nicht viel über die anderen Tiere."

  • "Jedes Tier ist mindestens doppelt besetzt."

  • "Es könnte in Partner-Arbeit vorgestellt werden."

Einwand: Zu langatmig!

  • "Welche Medien könnten eingesetzt werden?"

  • "Einige Kinder können nicht so gut vor einer Groß-Gruppe sprechen."

Vorschlag:

  • Beschreibung des Tieres auf Tonband/Cassette,

  • Kinder werden von Kindern interviewt,

  • Tiere raten (erscheint schwierig),

  • Kinder, die das gleiche Tier haben, sollen sich zuerst einmal in einem Spiel finden, z.B. 2 Teile des Tieres als Puzzle zusammensuchen.

D.h.: Im Plenum finden sich dann die "Tier-Paare" und erhalten den Auftrag, sich zu überlegen, wie sie ihr Tier präsentieren wollen (auf OHP-Folie malen; vorhandenes Material auf Wandzeitung kleben; Tonbandinterview).

Anschließend bereiten max. 4 Kinder mit 1 Erwachsenen ihre Präsentation vor (Zeitvorgabe: 45 Min.) + 30 Min. für die Präsentation + 15 Min. zu Beginn fürs "Finden" ergibt 1 Doppelstunde.

Je nachdem, ob die Kinder die ganze Zeit für die Erarbeitung brauchen, können sie, wenn sie schneller fertig werden, das "Tiere raten" -Spiel machen (Jeder Teilnehmer sieht Tiernamen auf der Stirn seiner Mitspieler, kennt seinen eigenen aber nicht und muß ihn durch Erfragen herausfinden. Die anderen Teilnehmer dürfen nur "Ja" oder "Nein" antworten. Bei einem "Nein" geht das Fragerecht an den linken Mitspieler weiter. Sieger ist, wer als Erster seinen Tiernamen erfragt hat.)

Bei schneller Erarbeitungszeit (weniger als 45 Min.) reicht die restliche Zeit für die Präsentation am selben Tag. Sinnvoller ist es, die Präsentation auf die nächste Unterrichtsstunde in einer Woche zu verschieben.

Ergebnis des Projekts sollte/könnte ein Buch mit den verschiedenen Kinderarbeiten sein (z.B. Fotos vom Waldausflug, Tierzeichnungen, Tierbeschreibungen; Folien; Stilleben mit Naturmaterialien etc.).

"Wir brauchen wieviele Cassettenrecorder?...."

Helena bringt noch einen ausgestopften Fuchs mit. Im Büro haben wir einen ausgestopften Mäusebussard (?).

  • Uli ist schon zur Schulausschußsitzung - Alles klar?........Nein!

  • Krankengymnastin fragen, ob sie in einem unserer Klassenräume arbeiten könnte, damit wir in den Rhythmik-Raum können. (Ralf fragt Ulrike.)

  • Wer kümmert sich um die Cassettenrecorder? (Helena + Eva + Chris)

  • Folien (Ralf)

  • Plakate und Stifte (Gudrun)

Termine: 2.11. & 9.11.94 von 10.30 h - 12.00 h

Gruppeneinteilung: Habicht - Reh oder Erhan - Bianca

Gudrun und Chris teilen die Erwachsenen für die Gruppenarbeit ein (Die. 1.11.94 12h).

Alle warten gespannt auf das Protokoll - wird ins Team/Team-Fach gelegt.

Prokoll: Chris Detrois

Eva-Marika Futás, Urike Weiser: Klassenübergreifendes Arbeiten der 2. und 3. Klasse

Gemeinsames Verreisen mit einer anderen Klasse zur "Gülle Mühle"

Das Planen einer Klassenfahrt stand an und wir überlegten uns, wie wir eine Woche "gemeinsames Erleben" mit den Kindern gestalten wollen.

Zunächst einmal erschien uns für die Kinder einerseits wichtig, verschiedene Angebotsmöglichkeiten vor Ort anzubieten, gleichzeitig aber auch genügend Freiraum und Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen.

Gemeinsame Gespräche zwischen: den Teams der 1. und 2. Klasse machten deutlich, daß wir in der Grundidee gut miteinander harmonisierten, so daß wir uns gut vorstellen konnten, gemeinsam auf Klassenfahrt zu gehen.

Die Ideenvielfalt von nun zwei Teams brachten uns viele Vorteile hinsichtlich der Planungs- und Durchführungsmöglichkeiten. Darüber hinaus motivierten uns gesammelte Ideen und Vorstellungen des Gesamtkollegiums die an einem unserer pädagogischen Tage zum Thema "Klassenübergreifende Zusammenarbeit" entwickelt wurden.

Schließlich stellten wir folgende Erwartungen und Ziele heraus, die sich durch unsere gemeinsame Fahrt entwickeln ließen:

Für die Kinder:

  • altersgemischte Gruppen,

  • Unterschiede im Spiel-, Lern-, Arbeitsverhalten,

  • größere Gruppenstärke (statt 18 nun 34 Kinder), daher Chancen für neue Kontakte und Bilden von Interessengemeinschaften,

  • breitere Angebotspalette,

  • selbständiges und flexibles Entscheiden bei der Auswahl der Kinder und Angebote,

  • Teilnahmemotivation,

  • größere Betreuerzahl (statt 4 nun 8 Bezugspersonen), daher trotz laufender Angebote Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder,

  • Ansprechpartner und Zuwendung nach freier Wahl.

Für die Teamarbeit

  • Kinder und Kollegen der jeweiligen anderen Klasse besser kennenlernen,

  • unterschiedlichste Interessen einbringen,

  • fachlicher Austausch von Kenntnissen und Erfahrungen,

  • durch vermehrte Angebotsmöglichkeiten ist ein Zuordnen je nach Interesse oder Fähigkeiten möglich.

Wie können wir zusammenkommen? - Die Vorbereitung

Nachdem die Kinder der 1. Klasse in Form einer Mühle, den Kindern der 2. Klasse auf ihre Einladung zur gemeinsamen Vorwoche antworteten und dort von allen Kindern schon gemeinsame Vorschlage eingebracht wurden, starteten wir mit der Organisation. Durch den zeitlichen Druck, der Termin für die Klassenfahrt war genau eine Woche nach Ende der Osterferien, mußte die gemeinsame grobe Vorbereitung beider Teams schon weit vor dem Beginn der Ferien stehen. Unsere gemeinsame Vorwoche begann gleich nach den Ferien. Wir beschloßen, an 4 Tagen klassenübergreifend in Form einer Projektwoche zu arbeiten.

Den ersten Tag begannen wir mit einer gemeinsamen Sporteinheit von 10.30 - 12.00 Uhr

Hier eine kleine Auswahl der Angebote der weiteren Projekttage: "Spiele im Raum", "Schiffsmodelle herstellen", "Koch- und Back-AG", "gemeinsames Singen"....

Die täglichen Angebote wurden den Kindern klassenintern in einer Besprechung mitgeteilt, damit sie entsprechend einteilen konnten, um sich dann ihren Interessen zu widmen.

Jedoch gaben wir zu jeder AG in jeder Klasse eine Höchstteilnehmerzahl an, um unserem Ziel -klassenübergreifend- auch gerecht zu werden. Wie die Kinder, so wurden die Teams den AGs übergreifend zugeteilt: Die Angebote wurden so gewählt,daß Möglichkeiten bei gutem wie auch bei schlechtem Wetter bestanden, denn unserer Ziel war, diese möglichst an der Klassenfahrt weiter fortführen zu können.

Endlich sind wir da! - Die Güllemühle

Allen Kindern wurden bei der Klassenfahrt täglich nach dem Frühstück die Tagesangebote in Form einer Wandzeitung mitgeteilt. Diesen konnten sie sich nach Interessen zuteilen, wobei auch eigene Ideen (Rückzugsmöglichkeiten) von den Kindern miteinbezogen wurden. Die Angebote waren vielfältig, von Tierpark bis Wanderung, vom Spielen am/im Haus bis hin zur Herstellung von Bumerangs mit anschließendem Flugversuch.

Das Essen wurde von uns gekocht, aber das Tischdecken und Abräumen wurde wieder unter allen Kindern aufgeteilt. Es mußte gedeckt, abgeräumt, gespült und abgetrocknet werden.

Die Zimmerunterbringung war klassengetrennt in zwei Etagen aufgeteilt. Den letzten gemeinsamen Tag beendeten wir mit einer gemeinsamen Schnitzeljagd mit anschließendem Grillen und Lagerfeuer.

Haben sich unsere Erwartungen erfüllt? - Auswertung

Viele der oben genannten Erwartungen haben sich erfüllt. Die gemeinsam besprochenen Absprachen haben funktioniert, wobei noch jedes Kleinteam mehr oder weniger eigene Absprachen hatte, z.B. Betreuungsart einzelner Kinder. Als langatmig erwies sich teilweise die abendliche Gestaltung der Wandzeitung. Ansprüche, Interessen und Erfahrungen waren manchmal schwer in Einklang zu bringen.

Die Atmosphäre der Klassenfahrt wirkte ausgeglichen. Das Gelände gab den Kindern viele eigene Beschäftigungsmöglichkeiten, die auch gerne benutzt wurden (Tümpel, Bach, Wald).

Es entwickelten sich zwischen allen Teilnehmern keine "Klassenkämpfe", im Gegenteil, es entstanden neue Beziehungen/Freundschaften.

Was hat sich aus unserer gemeinsamen Klassenfahrt entwickelt - Fortführung

Nachdem unsere Klassenfahrt für alle Beteiligten eine gelungene und sehr erlebnisreiche Woche wurde, folgten Überlegungen im Hinblick auf weitere klassenübergreifende Aktionsmöglichkeiten im Schulalltag.

Da ohnehin ein gemeinsamer Elternabend für beide Klassen angesetzt war, nutzen wir die Gelegenheit, uns zu diesem Zeitpunkt sowohl theoretisch als auch praxisnah mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

In unseren Vorüberlegungen einigten wir uns auf die Fächer Sport, Sachunterricht und Freie Arbeit. Zwei konstant bleibende gemischte Kinder- und Teamgruppen sollten dann das klassenübergreifende Arbeiten ermöglichen.

Nachdem die ersten Hürden, verursacht durch gemeinsame Terminfindung für die Teamsitzungen sowie der Koordination unserer Stundenplangestaltung überwunden waren, galt es, fachlich inhaltliche Fragen zu klären, die jahrgangsübergreifend entsprechend den Rahmenrichtlinien stimmig waren. Darüber hinaus war aus der Meinungsvielfalt der Teamer heraus eine Organisationsform zu finden, um unsere Arbeit in und mit zwei Klassen zu erleichtern. Zwei Verantwortliche aus jeweils einer Klasse bereiteten pro Fach gemeinsam die Unterrichtsinhalte vor und leiteten dann die einzelnen Arbeitsschritte an die neuen Teammitglieder weiter.

Für die Kinder stellten wir heraus, daß nun ein gemeinsames Thema, z.B. aus dem Sachunterricht, in kleinen Arbeitsgruppen altersunterschiedlich aus verschiedenen Arbeits- und Sichtweisen betrachtet und erarbeitet werden konnte.

Durch die erhöhte Kinder- und Betreuerzahl und der sich daraus ergebenden vielfältigen Möglichkeiten konnten Vorlieben, Interessen und Neugierverhalten eher berücksichtigt und die Motivation positiv beeinflußt werden. Ein abschließendes Zusammentragen der Ergebnisse konnte dann die Auswertungen, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Betrachtungsweisen eines gemeinsamen Themas in der Großgruppe ermöglichen. Ganz sicher wird für die Kinder eine Orientierung und daraus resultierende Sicherheit auch außerhalb der Klassengemeinschaft ermöglicht, für die Teamer durch Öffnung und Transfer nach außen ein Feedbaack betreffend der Arbeitsweise hervorgerufen und somit auch Sicherheit in und bei der Arbeit gewährleistet.

Mit Spannung und Interesse sehen wir der Umsetzung unserer Ideen und der erweiterten Arbeitsmöglichkeiten entgegen, und sicherlich werden wir einige neue Erfahrungswerte sammeln können.

Ulrike Weiser, 1993-1995 an der Integrativen Schule, Erzieherin

Eva-Marika Futás, Erzieherin seit August 1993 an der Integrativen Schule im Team einer neuen 1. Klasse.

3. Säule: Alle gehören dazu!

Wir nehmen das Schlagwort "Integration ist unteilbar" sehr ernst! Es widerspricht dem Ansatz des gemeinsamen Leben und Lernens, wenn Kinder mit schweren und/oder mehrfachen Behinderungen ausgeschlossen werden. Die Integrative Schule Frankfurt ist eine der wenigen Schulen in der Bundesrepublik, die auch diese Kinder bewußt mit einbezieht. Wir erleben, daß gerade dadurch das Zusammenleben in einer positiven Weise belebt und herausgefordert wird. Möglich ist dies nur mit einem Personalschlüssel, der deutlich über dem liegt, der an staatlichen Schulen vorgesehen ist.

Konkret wird diese Auffassung im Beitrag von Renate Eckhardt über Clara:

Alle gehören dazu - auch Kinder mit einer schweren Behinderung

Renate Eckhardt: Clara - ein Kind mit elementaren Lernbedürfnissen in unserer Klasse

"... oder ich könnte auch sagen: ein Kind mit einer schweren Mehrfachbehinderung, einer "rechtsbetonten Tetraspastik mit mentaler Retardierung und zerebralem Anfallsleiden".

Fragen

Clara provoziert viele Fragen, unterschiedliche Aspekte gäbe es zu beleuchten, zu durchdenken. Viele Blickwinkel sind möglich, aus denen man etwas über Clara erzählen kann:

  • Aus ihrer eigenen Sicht wäre ich auf Mutmaßungen und Deutungen angewiesen,

  • aus der Sicht ihrer KlassenkameradInnen könnte ich die Kinder selbst zu Wort kommen lassen,

  • aus der Sicht der Erwachsenen kann ich berichten und meine Einschätzung als Sonderschullehrerin im Team der Klasse beitragen,

  • aus Sicht der Eltern gäbe es sicher auch interessante Aspekte beizutragen und aus gesellschaftspolitischer Sicht halte ich es immer wieder für wichtig, die Bedeutung der Integration gerade auch schwerstbehinderte Menschen aufzuzeigen.

Ich spüre unterschiedliche Erwartungen beim Schreiben, höre mögliche Fragen, die ich mir zum Teil auch selbst stelle: Erhält Clara angemessene Angebote? Wird sie auch ausreichend gefördert? Welche Fortschritte macht sie in ihrer Entwicklung? Wäre sie in der Sonderschule vielleicht doch besser aufgehoben - insbesondere dann in der Sekundarstufe (unter den heutigen Bedingungen)? Hat sie befriedigende soziale Beziehungen und Kontakte? Was lernen wir von Clara, was lernt sie von uns? Wie können die Bedürfnisse aller Kinder im Unterricht angemessen berücksichtigt werden? u.s.w.

Aus jedem Blickwinkel zu berichten, alle Fragen zufriedenstellend und umfassend zu beantworten, kann nicht Ziel dieses Beitrages sein, obwohl ich alle Aspekte für wichtig halte. Ich möchte etwas aus der Zeit meines Zusammenseins mit Clara vom ersten bis zum dritten Schuljahr erzählen und einige der Gedanken mitteilen, die mich beschäftigen, seit ich Clara kennen.

Claras Klasse

Mit Clara leben und lernen in unserer nun 4. Klasse zwölf sogenannte nichtbehinderte Kinder und drei weitere sogenannte behinderte Kinder: ein Kind mit Down-Syndrom, eines mit geistiger Behinderung unklarer Genese, ein Kind mit Sprachbehinderung nach Encephalitis - und eben Clara - also insgesamt 16 Kinder.

Im Klassenteam arbeiten mit mir als Sonderschullehrerin eine Grundschullehrerin, eine Heilpädagogin und ein Zillvildienstleistender,

Clara gehört zu unserer Klasse und dafür bedarf es meiner Meinung nach keiner Begründung - und doch wird sie immer wieder noch verlangt. Die Gemeinschaft sehr verschiedener Menschen halte ich für das eigentlich Selbstverständliche und sie ist doch noch nicht selbstverständlich, auch nicht in der Schule. Aber Verschiedensein ist normal! Ganz besonders in den Zeiten der erneuten Gewalt erst gegen Ausländer, jetzt auch gegen Juden und behinderte Menschen, gibt es für mich zur gemeinsamen Erziehung keine Alternative. Sie ermöglicht Kindern (und auch Erwachsenen) beim gemeinsamen Lernen Erfahrungen zu machen, die zu einer "humanen Orientierung" ihres Denkens, Fühlens und Handelns beitragen. Nur durch alltägliche Kontakte lassen sich Vorurteile und negative Einstellungen vermeiden (vgl. Podlesch u.a. in Heyer, S.63).

Auf die Bedeutung der Gemeinsamkeit für Clara und die anderen Kinder will ich an dieser Stelle nur kurz eingehen. Ich kenne die Arbeit an Sondereinrichtungen aus eigener Erfahrung und arbeite nun im achten Jahr an der Integrativen Schule Frankfurt. Für mich bestätigt sich immer wieder, was auch Georg Feuser ausführt:

"Insbesondere auch Kinder mit einer schweren Behinderung erfahren durch Teilhabe an Gruppenaktivitäten Anregung, sie erhalten Hilfestellung, ihre Wachheit, Reaktionsfähigkeit auf Ereignisse der Umwelt, ihr aktives Interesse am Mitvollziehen und Teilhaben und damit die Gesamtentwicklung wird gefördert und positiv beeinflußt. "(vgl. Feuser, S.14)

Die nichtbehinderten Kinder erfahren Behinderung und Verschiedensein als etwas Selbstverständliches. Sie erleben, wie jeder lernen kann, und daß dieses Können und Wissen, daß die unterschiedlichen Fähigkeiten bei jeder Person individuell anerkannt und wertgeschätzt werden. Sie lernen Toleranz und Akzeptanz von Verschiedensein und Anderssein. Sie lernen Hilfsbereitschaft und auch eigene Einschränkungen wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, Hilfe zu geben und auch in Anspruch zu nehmen.

Clara

Ich will nun versuchen, Clara als die Hauptperson dieses Artikels vorzustellen Begriffe, Definitionen und Etiketten wie schwer-, schwer-mehrfach- oder schwerstbehindert und auch medizinische Diagnosen sagen ja so gut wie nichts aus über den einzelnen Menschen in seiner Besonderheit und Individualität.

Sie verweisen doch eher auf die Defizite.

Ein ausführlicher Bericht würde den Rahmen dieser Zellen sprengen und so möchte ich, obwohl es mir etwas widerstrebt, in Kurzform beschreiben, wie wir Clara erleben und was sie uns von sich zeigt.

Clara

  • schaut Gegenstände und Personen an,

  • erkennt bestimmte Personen wieder und kann diese auf Nachfrage zeigen,

  • kann bezaubernd lächeln, wenn sie sich freut, oder wenn sie sich wohlfühlt,

  • verzieht den Mund oder weint, wenn ihr etwas nicht gefällt oder wehtut,

  • kann Desinteresse oder Ablehnung durch demonstrativen Rückzug oder Passivität deutlich machen,

  • drückt durch Blicke einige wenige Wünsche aus,

  • sitzt im Rollstuhl und kann sich, auch auf dem Boden, nicht alleine fortbewegen,

  • verfällt bei Angst, Erschrecken oder auch körperlichem Unwohlsein in teilweise länger anhaltendes Muskelzittern, insbesondere der oberen Extremitäten,

  • benötigt einen häufigen Positionswechsel (liegen z.B. auf dem Liegekeil, sitzen auf verschiedenen Sitzgelegenheiten ...),

  • kann eine kurze Zeit alleine sitzen, wenn man bei ihr bleibt,

  • kann einige Worte, Silben und Laute sprechen, wie u.a. ihren eigenen Namen und das Wörtchen "ich", den Namen ihrer Mutter und einiger weniger Gegenstände, die ihr wichtig sind - sie tut dies meist nur auf Nachfrage,

  • ist in der Lage "ja" und "nein" zu sagen und kann auf sehr einfach gestellte Fragen antworten,

  • kann einfachste Sätze und Aufforderungen, z.T. nur im Zusammenhang einer bekannten Situation oder mit begleitender Gestik und Mimik verstehen,

  • zeigt, wenn es ihr gut geht, großes Interesse an bestimmten Alltagshandlungen und Aktivitäten, wie z.B. dem Tischdecken, dem Eingießen, dem Auspacken, dem Umblättern von Buchseiten u.v.m. - sie will diese Dinge möglichst selbständig ausführen, akzeptiert aber notwendige Hilfe zur Selbsthilfe,

  • muß bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens, wie z.B. der Körperpflege und Nahrungsaufnahme, begleitet werden,

  • kann mit Unterstützung aus einer Tasse trinken sowie mit dem Löffel essen,

  • zeigt Interesse am regelmäßigen Toilettengang, bzw. einem "Toilettentraining",

  • liebt Wasserspiele, Schaukeln, schnelles bewegt werden,

  • freut sich über das Betrachten von Bildern und kann deutliche Farbfotos erkennen, bzw. ausgewählte, bekannte Gegenstände des Alltags zeigen,

  • arbeitet gerne mit ihrem Kommunikationsgerät "Macaw" und übt in diesem Zusammenhang auch das Erkennen kleinerer Bilder und Schwarz-Weiß-Zeichnungen.

Abschließen möchte ich diese Beschreibung, der sich noch vieles hinzufügen ließe, mit einem Satz Georg Feusers (in Hinz u.a., 1992):

"Ein schwerstbehindertes Kind ist ein Kind, das viel kann und will - Anregungen, die Befriedigung seiner Neugier, Möglichkeiten der Entdeckung seiner Umwelt, Ansprache, soziale Kontakte, Dabeisein, Mitmachen, Teilhaben, Erfolge haben und sie auskosten und schließlich auch Wohlbehagen seines Körpers und Befriedigung seines leiblichen Bedarfs."

Claras Unterrichtsalltag

Im folgenden möchte ich darüber berichten, wie sich der konkrete Unterrichtsalltag bei uns gestaltet, wie Clara in das Geschehen der Klasse eingebunden ist, wie ein Tagesablauf aussehen kann.

Nicht die ausführliche Darstellung von "Sternstunden" ist dabei mein Anliegen, sondern schlaglichtartig zu beleuchten, wie wir in dieser Gruppe, von der ersten bis zur dritten Klasse zusammengelernt und -gearbeitet haben.

Wir hatten und haben zum einen sehr viel Spaß miteinander, es ist aber auch die Beschreibung eines Weges voller offener Fragen und immer wieder auch von Zweifeln, ob es wohl so richtig sei. Wir Erwachsenen sind gefordert, auch eigene Grenzen wahrzunehmen und uns damit auseinanderzusetzen, insbesondere auch im Hinblick auf Clara. Georg Feuser ermutigt mich, wenn er sagt: "Unsere heute noch bestehende Hilflosigkeit und mangelnde Kompetenz einzugestehen, ist keine Schande" und er fährt fort, "es ist aber ein Verbrechen, sie durch Projektion auf die Kinder zu kaschieren, sie als zum Wesen schwerstbehinderter Kinder gehörend darzustellen." (Feuser, S.10). Diese Aussage klingt vielleicht hart, ich halte sie aber für wichtig. Auf der anderen Seite gilt es natürlich auch, einfühlsam die Grenzen einzelner Kinder wahrzunehmen (ohne diese für ewig festschreiben zu wollen). Das bedeutet für mich, auf einem angemessenen Niveau zu fördern und mit realistischen Zielen. Eine Gratwanderung!

Im Unterricht mit Clara geht es vor allem um das Anstreben einer Balance zwischen gemeinsamen und individuellen Situationen.

So haben sich, wie schon an anderer Stelle beschrieben (vgl. Hinz u.a.), bei uns in unterschiedlichen Anteilen folgende Unterrichtselemente entwickelt und bewährt:

  • Projektorientierte Formen (gemeinsames Thema, an den Interessen der Kinder ausgerichtet, handlungs- und anschauungsorientiertes Arbeiten...),

  • ritualisierte Situationen wie Klassenrat, Schultagebuch, Morgenkreis und Abschlußkreis u.a... ( gerade die beiden letztgenannten sind für Clara sehr wichtige Orientierungspunkte im Tagesgeschehen),

  • regelmäßige Zeiten der Freien Arbeit (ermöglichen auch viele spontane Situationen und Ideen der anderen Kinder mit Clara),

  • Wochenplanarbeit (individuelle Aufgabenstellungen für alle Kinder sind sehr gut zu realisieren),

  • Lehrgangsorientierte Arbeit oder "klassischer Unterricht" (für Clara bieten sich hier bisher nur sehr begrenzte Möglichkeiten der aktiven und differenzierten Teilnahme - allerdings ist diese Form des Unterrichts bei uns auch zunehmend in den Hintergrund getreten),

  • Einzelförderung, spezifische Angebote oder Lerninhalte (Außendifferenzierung, z.T. auch in anderen Räumlichkeiten, Therapie u.a.),

  • Zeiten des Mittagessens und des Freispiels als Elemente einer Ganztagsschule.

Im Zusammenhang mit integrativem Unterricht allgemein fand ich eine Aussage von Jutta Schöler (vgl. 1993, S.93) sehr bemerkenswert.

Sie bestätigt, daß in Formen Offenen Unterrichts alle Kinder die besten Voraussetzungen haben, um mit unterschiedlichem Lerntempo und unterschiedlichen Interessen ihren eigenen Lernweg zu finden. Sie fügt aber noch hinzu, daß allerdings die innere Einstellung der LehrerInnen zur großen Verschiedenheit der Kinder wesentlicher sei als die konkreten methodischen Formen, in denen Unterricht stattfindet. Wir sollten, darüber nachdenken!

Unterrichtsplanung

Im Hinblick auf Clara in unserer Klasse und der gemeinsamen, groben Planung des Unterrichts (einen Nachmittag pro Woche im Teamgespräch) stellen sich für uns immer wieder neue Herausforderungen, besonders in bezug auf zwei zentrale Faktoren:

  1. Den Aspekt der Auswahl von Themen und der inhaltlichen Verzahnung von Lerninhalten Claras und der anderen Kinder und

  2. den Aspekt der zeitlichen Planung.

Das Stichwort "Planung" provoziert mich zu einigen Anmerkungen. Das Lernen von Kindern und von Clara ganz besonders, ist nur schwer planbar. Ich denke, da neigen wir LehrerInnen auch dazu, unseren Einfluß zu überschätzen. Die Arbeit mit Clara erfordert jedenfalls große Flexibilität und Spontanität, Einfühlungsvermögen und auch Improvisationsfähigkeit. Das bedeutet nicht Planlosigkeit oder "lernzielloses" Umherirren. Im Gegenteil, es müssen viele Möglichkeiten durchdacht werden und sozusagen parat liegen.

Eine umfassende Diagnostik und das phasenweise Festlegen von Förderschwerpunkten sind Grundlage der Arbeit. Ich lege bei Clara u.a. die Einschätzungshilfe von Fröhlich/Haupt, den SP/PAC von Günzburg und Auszüge aus verschiedenen anderen Beobachtungshilfen zugrunde.

Beispiele:

Was die Unterrichtsinhalte betrifft, ist unsere Kompetenz, Phantasie und Kreativität natürlich ständig gefordert und ganz besonders im Hinblick auf Claras Lernprozesse in ihrer Klasse. Welche Lernmöglichkeiten könnten die Themen Strom, Wale, unsere Erde im Weltraum, Türme, Indianer - um nur einige zu nennen - für Clara bieten?

Unsere Sachunterrichts- bzw. fächerübergreifenden Projektthemen ergeben sich hauptsächlich aus den Wünschen und Interessen der Kinder. Im 3.Schuljahr konnte sich z.B. jedes Kind ein Thema zum Geburtstag wünschen. Für Clara hatten wir gemeinsam das Thema "Erfahrungsfeld der Sinne" ausgesucht. Im 2. Schuljahr hatten wir uns für "Seifenblasen" entschieden.

Viele basale Erfahrungen waren möglich, auch Entspannungselemente fanden hier Platz, bis hin zu der Beschäftigung mit einem Seifenblasengedicht von Josef Guggenmoos oder differenzierten "Forschervorträgen" zum Thema "Unsere fünf Sinne" oder "Wie das mit der Tränenflüssigkeit beim Auge funktioniert".

Für Clara bieten sich immer wieder neben ganz grundlegenden Erfahrungen, dem handelnden Umgang mit den Materialien des Unterrichts und der Teilhabe an bestimmten Handlungsabfolgen, auch Möglichkeiten der Erweiterung ihres Bild-Wortschatzes durch die aktuellen Sachthemen der Klasse. (Mit einer Sofortbild-Kamera kann man z.B. auch spontan bestimmte Dinge oder Ereignisse festhalten).

Beim Thema "Strom" hat Clara z.B. mit verschiedenen Lampen experimentiert, "hell/dunkel" und "an/aus" erfahren. Auf ihrem Kommunikationsgerät hatte sie u.a. Bilder einer Taschenlampe, die ihr gefallen hatte. Clara hat mit einem speziellen Berührungsschalter und verschiedenen Lichtquellen oder auch dem Kassettenrecorder (sie liebt Musik) und anderen elektrischen Spielzeugen oder Geräten gearbeitet. Die anderen Kinder fanden diesen Schalter sehr interessant und haben "geforscht", wie er wohl funktioniert.

Zum Thema "Türme" boten sich für Clara viele Möglichkeiten, mit verschiedenen Materialien zu bauen und die Standfestigkeit der Türme zu prüfen. Das Getöse beim Umwerfen machte ihr immer wieder sehr viel Freude. Sie machte dies dann deutlich durch ihr "noch mal, noch mal! " Wir hatten auch den Eindruck, daß sie den Ausflug zum Fernsehturm spannend fand.

Beim Thema "Wale" hat Clara viel mit Wasser ausprobiert und auch Erfahrungen mit "groß" und "klein" gemacht. Wir Erwachsenen taten uns schwer mit der Überlegung, ob der Umgang mit kaltem und warmem Wasser noch etwas mit dem Thema "Wale" zu tun habe, oder doch zu weit hergeholt sei. Die Kinder kommentierten Claras Experimente, die sie dann auch im "Forscherkreis" zeigte, mit folgenden Worten: "Klar, das kalte Wasser ist das Polarmeer und das warme Wasser der Golfstrom, wenn die Wale in den Süden ziehen, um ihre Kinder zu kriegen."

Als wir uns mit der Erde und den Planeten im Weltraum beschäftigten, forschten, wie das mit der Sonne, dem Mond und den Sternen ist, woran man Tag und Nacht erkennt und wie sich das alles verhält, da hat Clara u.a. mit der Weltkugel in Form eines Wasserballes ihre Erfahrungen gemacht. Für die Kinder war es selbstverständlich, daß Claras Lieblingsbeschäftigung, Gegenstände fallen zu lassen, Experimente zur Schwerkraft und Erdanziehung waren.

Beim "Indianerprojekt" gab es vom Kochen und natürlich dem Essen indianischer Gerichte, über Schmuck und Kleidungsherstellung, das Basteln von Strohpüppchen, das Singen, Musik machen und Tanzen u.v.a.m., vielfältige Möglichkeiten der (aktiven) Teilnahme für Clara.

Nicht immer fallen uns, oder auch den Kindern, entsprechende Angebote für Clara ein, die in das gemeinsame Thema der Klasse eingebunden sind. Da stoßen wir hin und wieder auch an unsere Grenzen und sind nicht ganz zufrieden.

In den Bereichen Kunst und Musik gelingt es eigentlich meistens, entsprechende Differenzierungen über besondere Materialien, Hilfsmittel oder Hilfestellungen für Clara, zu gewährleisten.

Im Sport- oder Schwimmunterricht versuchen wir, sie ihren Möglichkeiten entsprechend einzubeziehen, sie zu unterstützen (unter Beachtung unserer Ziele, den Hinweisen aus der krankengymnastischen Therapie und natürlich den Ideen der Kinder für Claras Rolle, z.B. in einem Zauberspiel die "Erlöserin" zu sein) . Manchmal lassen wir sie "einfach nur" teilhaben. Sie hat viel Freude an den schnellen Bewegungen ihrer KlassenkameradInnen und liebt selbst schnelles Bewegt werden oder rasante Fahrten im Rollstuhl. Ihre schwankende körperliche Befindlichkeit ist hier immer wieder die Basis für das, was möglich ist.

Beim Mittagessen ließ sich Clara zunehmend gerne von bestimmten Kindern unterstützen. Sie hat das Engagement der Erwachsenen in dieser Hinsicht durch Blicke, die ihre Wünsche deutlich machten, mehr und mehr zurückgedrängt, und das ist nur gut so für ihre Entwicklung. Wir Erwachsenen haben gelernt, uns zurückzuhalten und die Kinder viel darüber, wie man Clara angemessen Hilfestellungen geben kann. Clara scheint diese Kontaktmöglichkeiten während des Essens zu genießen. Die Kinder verweilen längere Zeit bei ihr und wenden sich ihr intensiv zu. Sie macht dann auch gerne ihre "Spielchen", lacht viel und vergißt das Essen. Da müssen wir dann gemeinsam darauf achten und darauf bestehen, daß Clara auch ißt, was im Hinblick auf ihre körperliche Verfassung sehr wichtig ist.

Besondere Angebote für Clara

Nun war in erster Linie von gemeinsamen Aktivitäten die Rede. Es sollte auch unser Bestreben sein, diese in erster Linie zu ermöglichen. Dennoch sind Abweichungen vom Tagesablauf der Klasse mehr oder weniger oft, und auch zeitlich umfangreich, erforderlich, um Claras Bedürfnissen gerecht werden zu können.

Clara braucht z.B. viel Zeit für das Frühstück, so daß sie schon vor den anderen Kindern damit beginnt, im Nebenraum die benötigten Dinge zu holen, den Tisch zu decken etc., immer wiederkehrende Handlungsablaufs zu üben. Teilweise kommen dann auch andere Kinder hinzu.

Die Tollettengänge erfordern viel Zeit am Tag - Zeit, die Clara genießt, in der sie Erfahrungen mit ihrem Körper macht. Therapiezeiten (Clara erhält schwerpunktmäßig Krankengymnastik an zwei bis drei Tagen in der Woche), die oft ruhige Situationen erfordern, Positionswechsel und richtige Lagerung haben einen hohen Stellenwert. Physisches Wohlbefinden ist die Basis für weiteres Lernen. Zum Verhältnis von Pädagogik und Therapie oder Therapie und Unterricht ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben.

Fest eingeplant sind auch Zeiten der Einzelförderung. Hier habe ich mit Clara gearbeitet. In ruhiger, weitestgehend ablenkungsfreier Atmosphäre, mit dem Ziel der Kommunikationsförderung, waren wir mit der Erweiterung ihres Bild-Wortschatzes, mit ihrem Fotobuch und dem "Macaw" beschäftigt. Insbesondere das Fotobuch sollte Clara zunächst helfen, auf ihre wichtigsten Bedürfnisse aufmerksam machen zu können, indem es Abbilder einiger, ihr wichtiger Dinge und Aktivitäten des Alltags enthält. Sie benutzt es bisher allerdings wenig aus eigenem Antrieb. Das Kommunikationsgerät. "Macaw", das auch den Einsatz von Bildern (in verschiedenen Größen) ermöglicht, gesprochene Sprache aufnimmt und durch Berührung der Oberfläche oder unter Anwendung bestimmter Schalter wieder hörbar macht, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Clara hat auch zunehmend gelernt, kleinere Bilder und Zeichnungen zu erkennen, wenn deren Inhalt für sie bedeutsam ist.

Ein Tagesablauf

Wie sieht nun konkret ein Tag im schulischen Leben Claras aus, an dem Teile der erwähnten Aspekte ihres Lemens realisiert werden können?

Eigentlich müßte ich den Ablauf einer Woche bei uns schildern, hoffe aber, daß die Beschreibung eines Tagesablaufs im 3.Schuljahr auch schon einen Eindruck vermitteln kann.

Es gibt bei uns ein grobes Stunden- bzw. Wochenraster. Bestimmte Fixpunkte wie Sport/Schwimmen, teilweise Musik oder Kunst/Werken sind wegen der Nutzung von Fachräumen in der Regel zeitlich festgelegt. Ansonsten gibt es eine grobe Festlegung der anderen Bereiche, Änderungen sind je nach Situation und nach Absprache im Team jederzeit möglich.

Von 8.15 Uhr bis 8.30 Uhr ist die Zeit des Ankommens. Bis 9.00 Uhr schließt sich jeden Tag eine Phase der Freien Arbeit an, die individuell genutzt wird. Clara wird teilweise einbezogen oder dazugeholt, sie kommuniziert mit ihren FreundInnen, akzeptiert die Ideen der anderen Kinder oder äußert ab und zu auf Nachfrage auch eigene Wünsche für Aktivitäten.

Um 9 Uhr ist Morgenkreis, der als fester Punkt jeden Tages mit Singen, Klassentagebuch lesen, Datum/Kalender, Erzählen und anderen aktuellen Dingen eine große Bedeutung für die Gruppe hat. Clara ist dabei. In das Tagebuch schreiben wir (Erwachsene oder Kinder) für sie und lesen es vor. Sie malt meistens etwas dazu, was sie auch stolz vorzeigt. Wenn wir von besonderen Erlebnissen Claras durch ihre Mutter wissen, erzählen wir Erwachsenen oder einzelne Kinder für Clara im Kreis. Von ca. 9.15 Uhr bis 10 Uhr schließt sich für alle eine Arbeitsphase an, in der Regel ist es Wochenplanzeit. Während dieser Zeit hat Clara Therapie oder Einzelförderung, was den Toilettengang und das Frühstück einschließt. Manchmal wird die Zeit schon sehr knapp, und wir müssen je nach Situation entscheiden, z. B. das Frühstück nach der Pause zu beenden. Die pünktliche Teilnahme an der Hofpause ist Clara zunehmend selbst wichtig geworden. Sie will beobachten, mitspielen oder mit dem Rollstuhl (möglichst schnell) geschoben werden.

Ein regelmäßiger Toilettengang ist auch nach der Pause eingeplant und wir haben daran gearbeitet, daß Clara zu erkennen gibt, ob und wann dieser nötig ist. Nach der Pause müssen wir also sehr flexibel sein, je nach Claras Befindlichkeit, was auch den Positionswechsel mit einschließt. An bestimmten Tagen gibt es auch für Clara die Möglichkeit der Teilnahme an sogenannten "lebenspraktischen" Angeboten in der Kleingruppe, wie z.B. dem Kochen oder Einkaufen u.ä. Wenn eher lehrgangsorientierte Arbeit, Erarbeitung neuer Themen im Bereich des Lesens, Schreibens oder Rechnens ansteht, erhält Clara spezielle Angebote, meistens im Rahmen der Einzelförderung (Bilderlesen, Fotobuch, bestimmte Spiele und Materialien). Diese "klassischen" Unterrichtsstunden haben sich bei uns im Laufe der Schuljahre bis auf je eine Mathe- und Deutschstunde pro Woche im 4. Schuljahr reduziert. Der Schwerpunkt liegt in der Wochenplanzeit, den Zeiten Freier Arbeit und im projektorientierten Lernen. Diese Formen des Lernens halten wir für alle Kinder für sinnvoll.

An den sich anschließenden Phasen der Arbeit am Projektthema (bis zum Essen um 13 Uhr) nimmt Clara, wie beschrieben, nach ihren Möglichkeiten teil. Nach dem Essen ist wieder ein Toilettengang nötig, und die verbleibende Zeit des Freispiels vergeht dann sehr schnell bis zum Abschlußkreis um ca. 14 Uhr. Die Klasse besteht seit 3 Jahren auf dem gleichen Abschlußlied, das auf verschiedenste Art und Weise interpretiert oder begleitet wird. Man sieht, daß nicht nur (schwer-)behinderte Kinder Rituale brauchen, die Orientierung und Sicherheit geben.

Unsere zeitliche Planung wird immer wieder von Clara "durchkreuzt". Sie zeigt uns ihre aktuelle Befindlichkeit, ihre körperlichen, vitalen Bedürfnisse, den Wunsch nach Entspannung. Teilweise sind wir auch auf Interpretationen angewiesen, auf unsere Deutungen ihrer Passivität oder Müdigkeit.

Wir freuen uns, wenn sie einen Wunsch deutlich macht, z.B. Telefonieren zu spielen weil sie das Telefon sieht, obwohl wir gerade etwas ganz anderes geplant hatten. Es ist (eingeplante) Frühstückszeit, aber Clara will viel lieber weiter spielen und nach der Hofpause, wenn eigentlich Projektzeit ist, ihre Banane essen. Eine differenzierte Aufgabe wartet auf Clara im Musikunterricht, ihr ist es aber heute zu laut, es geht ihr nicht gut, und sie möchte den Raum verlassen.

Ich könnte noch viele solcher Situationen aufzahlen, die vielleicht ein bißchen verdeutlichen, daß es manchmal schwer sein kann, für Clara zu planen. Es ist selbstverständlich dennoch erforderlich, gilt es doch eher, mehrere Möglichkeiten bereitzuhalten.

Immer das passende Förderangebot parat haben zu wollen, kann aber auch eine Überbehütung von Seiten der Erwachsenen bedeuten, weil wir manchmal nur schlecht aushalten können, daß Clara mal "nur" dasitzt. (Andere Kinder haben ja auch ihre vielfältigen Möglichkeiten des Rückzugs und des "Abschaltens"). Die Gefahr besteht, Clara jeden Freiraum zur Entwicklung von Eigeninitiative zu nehmen. Ich habe immer wieder erlebt, daß sich gerade in solchen Zeiten viele schöne, kommunikative Situationen mit anderen Kindern ergaben.

Es ist insgesamt sehr unterschiedlich, in welchem Umfang die Kinder der Klasse mit Clara spielen oder lernen. Teilweise haben sie tolle Ideen, was sie mit Clara tun wollen. Oft nehmen sie sich das Verhalten der Erwachsenen und deren Aktivitäten mit Clara zum Vorbild. Phasenweise gehen sie ganz ihren eigenen Interessen nach und schauen nicht nach Clara.

Wir sind eher zurückhaltend darin, die MitschülerInnen zu bestimmten Hilfestellungen oder Aufgaben mit Clara zu verpflichten. Darüber läßt sich diskutieren, was wir im Team auch immer wieder tun. Manchmal bin ich im Zweifel darüber, ob wir die Kinder nicht mehr fordern sollten, über situative Aufforderungen hinaus, im Sinne von regelmäßigeren Verbindlichkeiten. Ich mag das Wort "Dienste" in diesem Zusammenhang nicht so, aber ein Kind meinte schon mal, wir könnten doch "Hanna-Dienste" festlegen.

Die Kinder helfen ja von sich aus beim Rollstuhlschieben, beim An- und Ausziehen oder beim Essen. Aber oft sind es doch die gleichen Kinder, Claras FreundInnen. (Dagegen ist ja eigentlich auch nichts zu sagen, daß Freunde helfen. Über geschlechtsspezifisches Verhalten und bestimmte Rollen sollten wir in diesem Zusammenhang allerdings nachdenken und sie auch immer wieder kritisch hinterfragen.)

Im Unterricht ergeben sich gelenkte Situationen der Partner- oder Gruppenarbeit und hier bringen wir Erwachsenen auch unsere Wünsche und Vorstellungen zur Zusammensetzung der Gruppen und der Mitarbeit von Clara ein. Längere Zeit von den Kindern ein "angemessenes", d.h. gezieltes Arbeiten mit Clara zu erwarten, erweist sich als schwierig und z.T. auch als Überforderung. Hier halten wir auf jeden Fall eine Begleitung durch einen Erwachsenen für erforderlich. Allerdings müssen wir, wie schon erwähnt, aufpassen, Clara durch wohlgemeinte Betreuung nicht zu sehr "abzuschirmen". Wieder eine Gratwanderung

Die Suche nach Balance.

Wir bewegen uns oft in Spannungsfeldern oder sind am "Gratwandeln". Wie wir das bewältigen, hängt mit uns, unseren Gefühlen und Einstellungen und vielen Aspekten der Unterrichtssituation zusammen. Alle Kinder, und insbesondere Kinder wie Clara, stellen uns dabei, manchmal jeden Tag, vor neue Aufgaben. Wie das jede/jeder im Team für sich bewertet, ist unterschiedlich und sicher auch von eigener Befindlichkeit abhängig.

Der folgende Satz von Jutta Schöler hat mir in diesem Zusammenhang sehr zu denken gegeben: "Schwere Behinderungen in der Schule sind nicht unbedingt an die Schwere der medizinischen oder psychologischen Diagnose für ein einzelnes Kind gebunden. Eine schwere Behinderung für den Entwicklungsprozeß eines Kindes kann in der Tatsache begründet sein, daß die Erwachsenen es psychisch nicht ertragen können, mit einem Kind umzugehen, dessen Entwicklung im Vergleich zur Entwicklung aller anderen Kinder in anderen Zeitstrukturen erfolgt." (Schöler 1993, S.50)

Wie erleben wir die vielfältigen Ambivalenzen? Mit dem Gefühl der Herausforderung oder der Belastung? Mit Lust oder Verzweiflung? Mit Euphorie oder Problemfixiertheit? Mit Intuition oder Ideenlosigkeit? Mit Kenntnis und Wissen oder Unkenntnis? Mit Geduld oder Wut? (vgl. Hinz, S.110)

Ich muß zugeben, alle Anteile sind vorhanden, mehr oder weniger intensiv, manchmal an einem Tag - und wieder geht es um die Suche nach Balance. - Wir sind gemeinsam auf dem Weg.

Abschließend möchte ich sagen: Es macht viel Spaß mit Clara und den fünfzehn anderen, so verschiedenen Kindern der Klasse zu arbeiten, mit ihnen zusammen zu sein. Manchmal erfordert es viel Kraft. Clara beschäftigt mich sehr - manchmal kommt sie mir ganz nahe (bis in meine Träume hinein).

Ich freue mich über jeden kleinen Erfolg - manchmal bin ich auch ungeduldig oder verunsichert in meiner Rolle als "Sonder(schul)lehrerin".

Absolut sicher bin ich mir in einem: Es ist gut so! Ich bin gespannt darauf, was wir in der 4. Klasse noch miteinander erleben und lernen werden.

Literatur:

Feuser, Georg : Ein bißchen Förderung reicht nicht, in: Das Band (Zeitschrift des Bundesverbandes für spastisch Gelämte und andere Körperbehinderte e.V., Düsseldorf, o.J.

Fröhlich, A./Haupt, U.: Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern, Dortmund, o.J., 4. Aufl.

Günzburg,H.C.: Primäre pädagogische Analyse und Curriculum der Sozialentwicklung (S/P-PAC) 1977

Hinz, Andreas u.a.: Schwerstbehinderte Kinder in Integrationsklassen, Marburg/Lahn 1992

Podlesch/Preuss-Lausitz: Kinder mit geistiger Behinderung und mit schwerer Mehrfachbehinderung in Integrationsklassen, in: Heyer, Peter u.a.: Zehn Jahre wohnortnahe Integration, Frankfurt/M 1993

Schöler, Jutta: Integrative Schule-Integrativer Unterricht,Reinbek 1993

Renate Eckhardt, Sonderpädagogin (Diplom/Sprachheilpädagogik und Lehramt mit den Fachrichtungen Lernbehinderten-, Praktisch Bildbaren - und Körperbehindertenpädagogik).

1984-1986 Referendariat an einer Schule für, Körperbehinderte

1986-1987 Heilpädagogin in Psychiatrischen Krankenhaus Weilmünster (Betreuung mehrfachbehinderter Erwachsener).

Seit 1987 an der Integrativen Schule.

Im Schuljahr 94/95 zum zweiten Mal in der 4. Klasse.

Das gemeinsame Leben und Lernen von unterschiedlichen Menschen (Kindern und Erwachsenen) fasziniert mich weiterhin sehr.

4. Säule: Therapie gehört dazu!

Üblicherweise wird in integrativen Klassen die Therapie ausgeklammert und den Eltern am Nachmittag überlassen. Abgesehen davon, daß in unserer Schule am Nachmittag nur noch wenig Zeit dafür bliebe, halten wir eine Verzahnung von Unterricht und Therapie für unumgänglich. Therapie und Unterricht, zumal bei Kindern mit schwereren Behinderungen, verfolgen gleiche oder ähnliche Ziele mit unterschiedlichen Methoden. Eine Unterstützung des Unterrichtsgeschehens und die Beratung der Unterrichtenden ist neben der direkten Therapie notwendig.

Lesen Sie dazu:

Therapie und Unterricht in der Integrativen Schule Frankfurt - Ein Arbeitspapier

und

Alwin Merkel, "Therapie im Unterrich" - Grundlegende Gedanken zu einem besonderen Vorhaben im integrativen Schulalltag

Therapie und Unterricht in der Integrativen Schule Frankfurt

Ein Arbeitspapier

Der integrative und ganzheitliche Ansatz der Integrativen Schule schließt eine therapeutische Begleitung behinderter und nicht behinderter SchülerInnen während der Unterrichtszeit ein. Therapie ist dabei im Zusammenhang mit dem jeweiligen pädagogischen Konzept für den einzelnen Schüler und der Klasse zu sehen.

Ziele der therapeutischen Angebote sind es,

  • dem Schüler bei der Verwirklichung seines Lebenskonzeptes beizustehen,

  • ihm zu einem möglichst selbständigen Leben Wege zu bahnen,

  • ihm Möglichkeiten zur Integration anzubieten,

  • ihn vor gesundheitlicher und psychischer Bedrohung zu bewahren.

Beispiele:

  • Korrektur von Fehlstellungen sollen sich daran orientieren, wie der Schüler in seiner Individualität bester mit sich und der Welt so klarkommt, und nicht an der "Normalität" eines nichtbehinderten Menschen.

  • Orthopädische Versorgung orientiert sich an o.g. Zielen, nicht an Normen des Handwerks oder der Lehrbücher.

  • Die Korrektur eines Sprechfehlers soll dazu führen, daß der Schüler besser kommunizieren kann und sich dadurch besser in seiner Welt zurechtfindet (und sie sich mit ihm) und nicht unbedingt, ihn symptomfrei zu therapieren.

Behinderung kann und soll nicht "wegtherapiert" werden, Ziel der Therapie ist es, Wege zu finden, besser mit der Behinderung umgehen zu können. Hierbei ist die Therapeutin Mittlerin bestimmter fachlicher Kenntnisse zur Förderung der je eigenen Möglichkeiten des Kindes.

Wichtig sind Regelmäßigkeit und Kontinuität der therapeutischen Angebote mit möglichst wenig Unterbrechungen. Die Angebote werden in ihrer Zielsetzung und Dauer vor Beginn gemeinsam formuliert und in regelmäßigen Abständen hinterfragt. Die Maßnahmen werden vom betreuenden Arzt verordnet.

Die therapeutischen Ziele orientieren sich auch an den übergreifenden Zielen des Unterrichts, eine Abgrenzung ist daher nicht wünschenswert.

Beispiele:

  • Entwicklung von Kommunikationsmustern,

  • Training der Raumwahrnehmung,

  • Mobilitätstraining,

  • Erziehung zur Selbständigkeit,

  • lebenspraktisches Lernen (Essen, Hygiene etc.),

  • motorische Fertigkeiten,

  • Wahrnehmung der eigenen Person,

  • etc.

Um diese gemeinsamen Ziele und Wege zu finden, ist es notwendig, daß alle Beteiligten (Therapeuten, Unterrichtende, Eltern und Schüler)

  • sich über ihre jeweiligen Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse bewußt werden,

  • diese im gegenseitigem Austausch und in wechselseitiger Transparenz einbringen,

  • sich bemühen, eine "Diagnose" aus der Situation des Kindes zu erstellen.

Auf dieser Basis werden gemeinsam kurz-, mittel- und langfristige Ziele und Wege für die therapeutischen Angebote formuliert. Auch in der Fortführung der therapeutischen Angebote sollen Therapeuten, pädagogische Fachkräfte und Eltern einen Austausch über den Entwicklungsstand des Kindes, über den jeweiligen Stand der Förderung sowie über Ziele und Wege der Förderung anstreben.

Therapie kann stattfinden:

  • als selbständiges Programm, losgelöst von den Themen des Unterrichts (z.B. Korrektur eines S-Sprechfehlers mit Hilfe eines Trainingsprogrammes, "Durchbewegen" eines körperbehinderten Schülers, um Versteifungen vorzubeugen, WC-Training, Übungen zur Auge-Hand-Koordination anhand eines vorgearbeiteten Programms etc.)

und/oder

  • als unterrichtsergänzende Maßnahme

  • Hilfestellung des Therapeuten beim Sportunterricht, beim Schreiblehrgang, beim gemeinsamen Mittagessen, bei Lerngängen; Erprobung von Hilfsmitteln und Techniken zur Bewältigung der Unterrichts, Ausarbeitung und Begleitung von unterrichtsunterstützenden Programmen etc.

Methodisch ist dies möglich:

  • als Maßnahme außerhalb des Klassenzimmers (Nebenraum, Therapieraum),

  • als gesonderte Maßnahme im Klassenzimmer,

  • als Unterstützung und Begleitung der gemeinsamen Ziele im Rahmen des Unterrichts ("unterrichtsergänzende Maßnahme", s.o.),

  • für einzelne Schüler und/oder Schülergruppen,

  • im Rahmen schulergänzender Angebote.

Angestrebt sind möglichst viele und vielseitige Situationen im Schulalltag, um eine große Transparenz für Mitarbeiter und Mitschüler zu erreichen. Verständnis kann durch Wissen voneinander erreicht werden!

Kontakte zwischen pädagogischen und therapeutischen Fachkräften sind möglich

  • "zwischen Tür und Angel",

  • als vereinbarte Gespräche über die gemeinsame Arbeit und über einzelne Schüler (auch mit Eltern),

  • durch Teilnahme an Gesprächen der Klassenteams,

  • durch Teilnahme an Gremien des Kollegiums,

  • durch gegenseitige Hospitationen,

  • bei "unterrichtsergänzenden Maßnahmen" (s.o.).

Aufgaben der Therapeuten sind:

  • Diagnostik durch entsprechende Verfahren oder teilnehmende Beobachtung,

  • Einzel- oder Gruppentherapie innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers,

  • Teilnahme am Unterricht, um Schüler und Klasse zu erleben,

  • Teilnahme am Unterricht, um therapeutisch tätig zu sein,

  • Beratung der Teammitglieder,

  • Kompetenztransfer, wo dies sinnvoll ist,

  • Beratung der Eltern,

  • Begleitung der Hilfsmittelverordnung,

  • Berichte über durchgeführte Maßnahmen und die dabei gemachten Erfahrungen.

Alwin Merkel: Therapie im Unterricht - Grundlegende Gedanken zu einem besonderen Vorhaben im integrativen Schulalltag.

Die Forderung nach "Therapie im Unterricht" ist Folge der Diskussion und Umsetzung gemeinsamen Schulbesuch behinderter und nicht behinderter Kinder, als Alternative zum - immer noch vorherrschenden - Besuch einer Sonderschule. Diese Alternative erfordert auch, daß die notwendige therapeutische Förderung behinderter Kinder (Ergotherapie, Krankengymnastik, Logopädie) im Rahmen des Schulbesuches stattfinden kann. Therapie und Unterricht als ein konzeptionell unverzichtbarer Handlungsanteil schulischer Integration und ganzheitlicher Förderung wurden bereits 1986 von der Integrativen Schule Frankfurt und TherapeutInnen des Vereins Arbeits- und Erziehungshilfe e.V. (vae), Frankfurt, in Angriff genommen und entwickelt, so daß heute die therapeutische Betreuung der Kinder auf hohem fachlichen Niveau gesichert ist. Im soeben gemeinsam neu überarbeiteten Arbeitspapier "Therapie und Unterricht in der Integrativen Schule" wird 'Therapie im Unterricht' als eine Möglichkeit des therapeutischen Handelns ausdrücklich genannt. Allerdings waren sich Pädagoginnen wie Therapeutinnen bei der Abfassung einig, daß diese Form der Therapie schon lange und immer wieder gewünscht, kaum realisiert wurde.

Es wäre aus therapeutischer Sicht leicht, das Thema "Therapie im Unterricht" mangels Realisierbarkeit "ad acta" zu legen oder zumindest zu verdrängen.

Warum, wenn die eigene therapeutische Praxis positiv erlebt wird, nach Innovationen suchen, wenn damit sicherlich nochmals erhöhter Arbeitsaufwand verbunden ist, aber Sinn und Effizienz nicht unmittelbar erkennbar sind? Ähnliches wird sich wohl, aufgrund allzu großer Arbeitsbelastung, auch manche Lehrerin fragen.

Virulente Wünsche, die Partner (hier Therapeutlnnen und Pädagoglnnen) aneinander stellen, haben jedoch zumindest zwei für die Kooperation bedeutsam Auswirkungen, wenn sie nicht Gegenstand bewußter Auseinandersetzung werden. Einerseits wohnt ihnen ein nicht zu unterschätzendes Frustrationspotential inne, und andererseits besteht die Gefahr, daß jewells ein Partner lediglich in der Untätigkeit des anderen die vermeintlichen Gründe für die Nichterfüllung sucht und findet.

Auf "Therapie im Unterricht" ruhen große Hoffnungen. Täuscht nicht die geringfügige sprachliche Wandlung vom "und" zum "im" eine vermeintliche Steigerung vor, als ob dieser Form therapeutischen Handelns mehr Integrationskraft innewohne als (allen) anderen? Und umgekehrt, hängt der gezielten Einzelförderung nicht immer auch der Geruch des Absonderns, der sonderpädagogischen Segregation an? Entmystifikation ist hier notwendig. Zwar finden fachspezifische Aktivitäten, wie beispielsweise die Anpassung von Hilfsmitteln für Körperbehinderte (Sitzhilfen, Rollstühle u.ä.) oder Unterstützung beim Werken durch eine Ergotherapeutin ihren Platz auch im Unterricht. Dieser notwendige und sinnvolle Transfer von Therapie in den Unterricht ist aber keineswegs Ersatz für ein fehlendes Konzept für "Therapie im Unterricht", an das hohe Erwartungen hinsichtlich einer verstärkt Integration fördernden Strategie geknüpft werden.

Konzeptionelle Aussagen erfordern die Betrachtung der Rahmenbedingungen, denen die am gemeinsamen Vorhaben Beteiligten unterliegen, um Spielräume als auch Grenzen erfassen zu können. Hier seien zunächst zwei grundsätzlich differente Merkmale kurz skizziert:

Unterricht und Therapie entstammen zwei unterschiedlichen Systemen. Therapie ist eindeutig medizinischer Herkunft und adaptiert vor allem dort pädagogische Erkenntnisse und Strategien, wo sie Hilfestellung im kindlichen Entwicklungsprozeß gibt, allerdings keineswegs rein additiv sondern und gerade in der Förderung behinderter Kinder unter qualitativer Veränderung ihres gesamten Handlungsansatzes. Ganzheitliche Förderung versus Symptombehandlung, Abkehr von der Defizitorientierung hin zur Unterstützung von Alltagsbewältigung und Selbständigkeit seien hierfür nur als Stichworte genannt. Ihre Ziele bestimmt Therapie aus den individuellen Entwicklungsmöglichkeiten des jeweiligen Kindes, Auftraggeber ist gewissermaßen das Kind mit seinem Entwicklungspotential und seiner Motivation.

Unterricht bzw. Schule folgt hingegen einem gesellschaftlichen bzw. staatlichen Bildungsauftrag. Leistung und Weiterkommen im Bildungssystem werden durch entsprechende Zielvorgaben und ihre Bewertung (Rahmenpläne. Unterrichtsziele, Klassenziele, Zeugnisse, Versetzung etc.) bestimmt. Dem entsprechen Leistungserwartungen von Lehrern, Eltern und Schülern.

Analog hierzu erfahren beide Berufsgruppen auch eine anders gewichtete Ausbildung hinsichtlich fachlicher, methodischer und didaktischer Inhalte.

Unterricht findet in der Klasse statt. Auch wenn individuelle Arbeitsformen zur Anwendung kommen bleibt die Verantwortung der Lehrerin für die gesamte Klasse. Therapeutinnen sind nur für ein Kind verantwortlich. Ihr besonderer, medizinischer und pädagogischer Arbeitsauftrag betont die Arbeitsform "Einzelförderung". Welches Vorgehen in der gegenwärtigen Situation ermöglicht diesem Kind ein Fortschreiten in seiner Entwicklung? Wobei natürlich auch sehr genau abzuwägen ist, ob Einzelförderung oder - und keinesfalls ausgeschlossen - das Arbeiten in Gruppen jeweils sinnvoller erscheinen.

Ungeachtet dieser unterschiedlichen Ausgangsbedingungen finden sich dort Gemeinsamkeiten, wo Schulen, wie die Integrative Schule, explizit auch Ziele formulieren, die weniger von Bildungsanforderungen als von Orientierungspunkten der Persönlichkeitsentwicklung und -förderung im Rahmen sozialer Kompetenzen bestimmt sind. Hier treffen sich Interessen beider Berufsgruppen, wobei es nahe liegt, daß man sich derartigen Zielsetzungen weniger durch Unterricht und Therapie nähern kann, denn durch ein gelebtes Vorbild, durch ein Miteinander im Alltag voller gegenseitigem Respekt, Toleranz und Akzeptanz oder kurz: "Erziehung ist Atmosphäre" (Thomas Mann).

Neben solchen grundsätzlichen Erwägungen stellen sich aber auch in der Praxis Fragen, die einer sorgfältigen Erörterung bedürfen.

So freut sich natürlich jede Therapeutin, wenn erreichte Fortschritte im Lebensalltag des Kindes - und dies ist der Schule vor allem der Unterricht - etabliert werden können. Wir können aber nicht einfach davon ausgehen, daß Unterrichtssituationen immer so gestaltet sind oder werden können, daß Entwicklungsfortschritte oder einfach bessere Lebensbewältigung lediglich durch entsprechend zusätzliche fachlich-therapeutische Betreuung erreichbar sind. Wie wird die Anwesenheit eines zusätzlichen Erwachsenen von der Klasse aufgenommen? Wie ist die Rolle der Therapeutin in der Klasse bestimmt, in deren sozialen Prozeß sie sich begibt und eingebunden ist?

Vom Kind der Hauptperson in unserem Szenario, aus betrachtet. ist zunächst zu fragen, wie kommt es mit einer solchen Situation zurecht? Kann es den vielfältigen Anforderungen hinsichtlich Konzentration und Aufmerksamkeit nachkommen? Kann es eine Situation verkraften, in der für andere nicht nur seine Stärken sondern eventuell auch seine Schwächen sichtbar werden? Gefällt oder mißfällt ihm diese besondere Unterrichtssituation? Kinder signalisieren dies sehr deutlich.

Auch auf dieser praktischen Ebene zeigt sich die Notwendigkeit nach sorgfältiger und verantwortungsvoller Planung.

Im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit bedarf es eines sehr konkreten Austauschs der Erfahrungen von Eltern, Lehrerinnen und Therapeutinnen um einerseits individuell notwendige, therapeutische Fördermaßnahmen zu planen, sie mit den anderen Partnern abzustimmen und eintretende Veränderungen zu erfassen und im Hinblick auf ihre Konsequenzen für das weitere Vorgehen zu überprüfen, und um andererseits das therapeutische Geschehen in ein Gesamtkonzept zur Förderung des jeweiligen Kindes zu Integrieren. Hier wird der Prozeßcharakter integrativen und interdisziplinären Arbeitens besonders deutlich. Erst im Rahmen dieses Prozesses des regelmäßigen Überprüfens und Reflektierens der eigenen und gemeinsamen Bemühungen, wird jeweils konkret deutlich werden, welche Arbeitsmethode gerade sinnvoll und gleichermaßen wichtig - auch realisierbar ist. Was nützten die schönsten Absichtserklärungen, wenn auch nur eine Person des Handlungsgefüges Kind-Eltern-Pädagogin-Therapeutin hierbei überfordert wäre.

"Therapie im Unterricht" erweist sich somit als ein besonderes Projekt im integrativen Schulalltag. Es zu realisieren bedeutet konkrete gemeinsame Unterrichts- und Therapieplanung, es erfordert eine kooperative, gleichberechtigte Umsetzung und schließlich auch die gemeinsame Reflexion der gemachten Erfahrungen. Damit steht aber auch die Frage nach der grundsätzlichen Leistbarkeit für einzelne Lehrerinnen wie Therapeutinnen. Vielmehr drängt sich der Gedanke nach einer Erprobung als Modellprojekt auch mit zusätzlichen personellen Ressourcen als mögliche Alternative auf.

Die Erwartungen sind zweifelsohne sehr groß, persönlichkeitsorientiert, integrativ, kooperativ, innovativ, kollegial und partnerschaftlich soll unsere gemeinsame Arbeit sein. Allein diese kleine und sicherlich nicht erschöpfende Auswahl qualitativer Anforderungen führt dies deutlich vor Augen. Kein Grund für Zaghaftigkeit oder gar Verzweiflung, aber für selbstbewußtes Bilanzieren des bereits Erreichten und Anlaß für ein realistisches Herangehen.

Alwin Merkel, Studium der Pädagogik (M.A.) und Ausbildung zum Logopäden in Göttingen; mehrere Jahre Arbeit in einer integrativen Kindertagesstätte in Darmstadt.; seit April 1994 als Leiter der "Externen Therapie" des Vereins "Arbeits- und Erziehungshilfe e.V." (vae) in Frankfurt verantwortlich für die Koordination mit den therapeutisch versorgten Einrichtungen.; als Logopäde an der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule-II (Integrationtsbereich) mitten im Spannungsfeld von Therapie und Pädagogik involviert im i' Prozeß integrativer Arbeit -jetzt im Arbeitsfeld Schule.

5. Säule: Kirchlich-diakonische Schule

Wir halten es für eine notwendige Aufgabe von Kirche und Diakonie, neue Wege des Miteinanders von Menschen zu erproben und dazu Zielvorstellungen, Maßstäbe und Ressourcen finanzielle und Knowhow bereitzustellen. Christliche Werte wie Erziehung zur Toleranz, zur Offenheit, zur Partnerschaftlichkeit und zur Akzeptanz des anderen Menschen müssen in Zielen und Methoden schulischer Bildung deutlich werden. Die Integrative Schule Frankfurt versteht sich sowohl von ihrer Entstehungsgeschichte als auch von ihrer Realisierung in diesem Sinne.

Auch der Religionsunterricht wird gemeinsam für alle Kinder, egal ob und welcher Konfession, angeboten. Wir meinen, Gemeinsamer Unterricht muß auch heißen Gemeinsamer Religionsunterricht (wobei gewünschte Abmeldungen natürlich toleriert werden).

Wir hatten es für notwendig, daß in der Frankfurter Schul- und Bildungslandschaft auch die Kirche in diesem Sinne eine deutlichere Rolle spielt.

Lesen Sie dazu:

  • das Interview mit Karin Frindte-Baumann, Studienleiterin im Religionspädagogischen Amt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

und

  • "Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung - Aufgabe und Herausforderung für Kirche und Diakonie"

Ein Thesenpapier, von drei diakonischen Schulen (Frankfurt, Hamburg und Lübeck) gemeinsam verfaßt.

Interview mit Karin Findte-Baumann

Frage: In der gegenwärtigen Diskussion über den Religionsunterricht wird besonders von Eltern die Forderung nach einem "überkonfessionellen Religionsunterricht" gestellt. Wie stellt sich die evangelische Kirche zu dieser Forderung und wie sehen Sie das als Studienleiterin von Frankfurt?

Karin Frindte-Baumann:

Eine Schule, die kirchlich ist nicht im Sinne des Frömmigkeitsstils sondern in ihrer Verfaßtheit, nämlich in freier Trägerschaft zweier kirchlicher Gesellschafter, bietet selbstverständlich Religionsunterricht an. Entsprechend der konfessionellen Trägerschaft ist dieser Unterricht selbstverständlich evangelisch und wird durch LehrerInnen erteilt, die dazu die entsprechende Ausbildung und Befähigung haben. Diese beruhen auf wissenschaftlichen Standards.

Man wird von einer Schule, die wesentlich von der evangelischen Kirche mitfinanziert wird, nicht erwarten können, daß sie den RU an dieser Schule anders versteht als an anderen öffentlichen Schulen, oder anders versteht als sie selbst ihren Bildungsauftrag definiert.

Frage: Im letzten Jahr ist eine neue Denkschrift der EKD zu diesen Fragen herausgekommen. Könnten Sie uns sagen, worum es geht?

Karin Frindte Baumann:

Mit der im September 1994 vorgelegten Denkschrift der EKD legt sie ihren Bildungsauftrag neu vor und auch eine Richtung nahe, die den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung trägt. Veränderungen im religiösen Bewußtsein, in der kirchlichen Bindung, in der Situation der multikulturellen und multireligiösen Pluralität. In der Integrativen Schule sind diese Veränderungen, wie in vielen anderen Grundschulen Frankfurts, auch längst deutlich, was sich zum Teil an der Zusammensetzung der SchülerInnenschaft abbildet. Von daher sind Forderungen von Eltern u.a., dem auch im Religionsunterricht Rechnung zu tragen, verständlich.

Als Erziehungsaufgabe des Religionsunterrichts, aber auch der Schule insgesamt nennt sie: Soziale Verantwortung wahrnehmen, Gemeinsinn und Verständigungsfähigkeit fördern, zwischenmenschliche Bindungen ermöglichen, zu Toleranz und Versöhnung zwischen den einzelnen Menschen, aber auch zwischen den Völkern, zwischen den Kulturen und Religionen erziehen. Dabei müsse die individuelle Seite der Bildung noch sorgfältiger beachtet werden, Religionsunterricht sei als Lebensbegleitung zu verstehen und die pädagogische Kultur müsse die Schule als Stätte vertrauensvoller Beziehungen entwickeln. Das bedeutet, die Kirche versteht ihren Religionsunterricht nicht als ein Instrument kirchlicher Bestandssicherung in einer Zeit sich auflösender Traditionen, sondern als einen Beitrag im gesamten Bildungsauftrag der Schule, wie er auch im Schulgesetz auf der Grundlage der christlichen Tradition formuliert ist.

Im Unterschied zu allen anderen Fächern aber bewahrt und beantwortet der Religionsunterricht aber auch die Frage nach Gott in den christlichen Religionen und den anderen Religionen.

Frage: Was ist denn nun ein evangelischer Religionsunterricht oder ein konfessionell-kooperativer, oder einfach ein christlicher Religionsunterricht in unserer Schule?

Karin Frindte-Baumann:

Ich halte die Diskussion darüber, wie ein Religionsunterricht der die kulturelle Bindung oder Bindungslosigkeit der Kinder in der Klasse aufnimmt denn nun heißen müsse, für Zeitverschwendung, besonders wenn er von Leuten geführt wird, die ihn nicht selber halten. Wie ist denn RU sinnvoll zu gestalten, nicht wie heißt er? Was brauchen die Kinder, nicht was wollen die Eltern.

Karin Frindte-Baumann:

Ich denke, daß Sie an der Integrativen Schule genau von diesen beiden Fragen immer ausgegangen sind und daß gerade auch der Religionsunterricht mithilft der Integrativen Schule ihr Profil zu geben.

Frage: Noch einmal: Was muß er denn für unsere Kinder bringen?

Karin Frindte-Baumann:

Wenn Sie mich jetzt fragen, was und wie denn ein solcher Unterricht sei, nenne ich schlagwortartig: evangelischer Religionsunterricht ist offen für alle Kinder, die an ihm teilnehmen wollen, oder deren Eltern das wünschen.

Die Frage der Zugehörigkeit zu einer Religion oder Kirche wird nicht gestellt er nimmt die Bedingungen aller Kinder ernst und er versucht ihnen das zu geben, wonach sie fragen.

Er zeigt ihnen kindgemäß die Aspekte der christlichen Tradition, die sie noch nicht kennen oder vertieft die, mit denen sie schon Bekanntschaft gemacht haben.

Er erläutert konfessionelle Ausprägungen, wenn die Kinder danach fragen.

Er gibt Raum und Zeit für die Darstellung der anderen Religionen, die die Kinder mitbringen oder denen ihre Freunde angehören.

Er erzieht zu Toleranz und Achtung dem Anderen gegenüber und begründet Menschenwürde, Gleichberechtigung und Friedenssehnsucht der Menschen aus der Botschaft der Bibel heraus.

Dabei enthält er sich eines Wahrheitsanspruchs, der andere ausschließt.

Er bietet den Kindern Erfahrungsraum an, er hilft ihnen, ihre Erfahrungen zu deuten und ihr Weltverständnis zu ordnen, er bietet ihnen Raum für religiöse Erfahrungen und hilft ihnen, ihr Leben als Geschöpfe das einen Gottes zu begreifen.

Daß ein solcher Unterricht an einer Schule wie dieser gar nicht anders organisiert werden kann als im Klassenverband, an dem grundsätzlich alle Kinder teilnehmen, brauche ich nicht zu betonen. Es ist nicht anders zu denken: in einer Schule, die Integration als ihre Mitte versteht, Kinder in konfessionellen Gruppen getrennt zu unterrichten, wäre eine fatale "pädagogische" Entscheidung, die ja auch niemand ernstlich diskutiert. Das Voneinanderlernen hat gerade auch im religiösen Bereich seine tiefe Berechtigung.

Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung - Aufgabe und Herausforderung für Kirche und Diakonie

Zur bildungspolitischen Verantwortung von Kirche und Diakonie

Kirche hat die Aufgabe, ihr Bild vom Menschen aktiv in das gesellschaftliche Miteinander einzubringen. Bildung und damit Schule sind ein Teil dieses gesellschaftlichen Miteinanders, Kirche bringt sich daher auch aktiv in das schulische Geschehen ein.

Kirche hat die Chance und die Aufgabe, ihre ethischen Vorstellungen und Ziele im Bildungsgeschehen zu formulieren und auch selbst konkrete Modelle exemplarisch zu realisieren. Dies ist eine wichtige Möglichkeit, ihre Botschaft zu verdeutlichen. Das Grundgesetz und die Schulgesetze der Länder sehen hierfür Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulen) vor.

Die Verwirklichung dieser Modelle verursacht Kosten, die oftmals vom Staat nicht voll übernommen werden. Wenn die Kirche ihre bildungspolitische Verantwortung ernst nimmt, so muß sie hier ideelle und finanzielle Unterstützung leisten.

Zur Verantwortung von Kirche und Diakonie bei der Weiterentwicklung des "Gemeinsamen Unterrichts" von Kindern mit und ohne Behinderung.

Jeder Mensch ist gleich wert! Ausgehend von diesem christlichen Menschenbild hat Kirche in ihren diakonischen Einrichtungen wesentlich dazu beigetragen, daß das Recht auf schulische Bildung auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung eingeführt und umgesetzt wurde. Kirche muß weiterhin mit darauf achten, daß dieses Grundrecht vor allem für Kinder und Jugendliche mit schweren und mehrfachen Behinderungen auch in Zukunft nicht beschnitten wird.

Nachdem dieses Grundrecht auf Bildung für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen umgesetzt ist, gilt es auf den Erfahrungen der Sonderpädagogik in den Sonderschulen aufbauend neue Entwicklungen anzuregen, einzuleiten und umzusetzen, Entwicklungen, die auch im Schulbereich Menschen wieder zueinander statt voneinander weg führen.

Christliches Menschenbild und christliche Ethik stellen Kirche daher vor die Aufgabe, beim Staat den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung anzuregen, selbst exemplarisch praktische Modelle zu entwickeln und vorhandene integrative Praxis zu fördern und kritisch zu begleiten.

Im Februar 1995 erarbeitet und vorgelegt von:[56]

Integrative Schule Frankfurt GmbH, Praunheimer Weg 44, 60439 Frankfurt am Main, Telefon 069/575015, Telefax 069/5870236

Bugenhagen-Schule Hamburg, Evangelische Stiftung Alsterdort, Alsterdorfer Straße 506, 22337 Hamburg, Telefon 040/5077-3328, Telefax 040/5077-3198

Paul-Burwick-Schule Lübeck, Vorwerker Heime, Triftstraße 139-143, 23554 Lübeck, Telefon 0451/4002188, Telefax 0451/40256

Rückschau

Blicke zurück ...

Interviews mit ehemaligen Inti-SchülerInnen

Um Meinungen von Schülerinnen und Schülern zum Gemeinsamen Unterricht zu erfahren, befragten wir Ehemalige aus dem 1. und 2. SchülerInnenjahrgang der Integrativen Schule, die sich heute im 9. bzw. 10. Schuljahr befinden. Wir wählten Schülerinnen und Schüler aus, die nach der Grundschulzeit unterschiedliche Bildungswege wählten und erhofften uns aufgrund der Vielfalt der neuen Erfahrungen auch über kritische Punkte der Grundschulzeit ins Gespräch zu kommen.

Die Zeit in der Grundschule

Ihr hattet vier Jahre lang keine Noten!

"Ich hab mich in der 5. Klasse erst mal voll auf die Noten gefreut."

"Die schriftlichen Berichte, die wir bekommen haben sind besser, sie sind eindeutiger als die Noten."

"In der Grundschule ist das sowieso nicht so wichtig, ich habe mir darüber nie so viel Gedanken gemacht."

"Eine Beschreibung wäre mir auch heute lieber, das wäre genauer, man wüßte besser, was man richtig und falsch gemacht hat."

"Blöd wär's gewesen, wenn meine Noten am Anfang der 5. Klasse schlecht gewesen wären... Zum Glück war ich in meinen Zeugnissen am Anfang total gut."

Fünf Mal in der Woche gab's kein Mittagessen von Mutti!

"Das war halt so, das war kein Nachteil."

"Es war ganz schön, über Mittag mit den FreundInnen auch mal Mist zu machen."

"Jetzt, in der Ernst-Reuter-Schule (integrierte Gesamtschule) kann ich mir das so nicht mehr vorstellen."

Zu allen Lehrerinnen und Lehrern habt Ihr DU gesagt!

"Das war viel besser so! Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis zu unseren Lehrerlnnen. Jetzt sind wir eher auf Abstand. Es war erst mal schwierig sich umzugewöhnen, ich hab am Anfang immer zu allen DU gesagt."

"Heute kennt man seine Lehrer so gut wie gar nicht privat. Früher, da war das eine ganz andere Beziehung, da hab ich mehr gelernt, freiwillig."

"Ich hatte, bevor ich in die 5. Klasse kam, nie jemand gesiezt, die Umstellung war aber dann kein Problem."

Kaum jemand konnte zu Fuß zur Schule kommen!

"Das war schon ein Nachteil, ich hatte keine Freunde im Viertel und mußte überallhin von meinen Eltern gefahren werden."

"Ich kannte mich viel früher mit Bussen und U-Bahnen aus als andere!"

"Daß ich jeden Tag im Schulbus gefahren bin, war o.k., für mich war das kein Nachteil. Heute fahre ich selber Bus, das ist natürlich viel besser." (Mädchen mit einer körperlichen Behinderung)

Jeden Tag seid Ihr erst nachmittags nach Hause gekommen!

"Das war damals nicht so Schule wie heute, alles war lockerer, wir hatten einen Garten, Hasen, wir haben draußen was gemacht, ich hatte da nie Probleme."

"Es hat sich für mich gelohnt, jeden Tag so lange in der Schule zu bleiben."

"Alle anderen Kinder, die ich kannte, hatten genauso lang Schule. Es war deshalb kein Problem."

Es gab keine Hausaufgaben!

"Ich hab in der Inti viel mehr gelernt als jetzt, dort wollte ich lernen, dort war ich viel lockerer. Zu Hausaufgaben hat man doch auch gar keine Lust. Ich fand es viel besser ohne Hausaufgaben."

"Ohne Hausaufgaben? Äußerst angenehm!"

"Ich hab das in der Inti nie so als Lernen empfunden. Eigentlich bin ich nämlich unheimlich faul. Dann hielt alles noch ohne Mühe bis ins 5. Schuljahr hinein. Hausaufgaben waren nicht nötig, ich denke ich hab in der Grundschule viel gelernt."

Eure Klassen waren sehr klein!

"Als wir nur noch 12 Kinder in der Klasse waren, das war zu wenig. In größeren Klassen freundet man sich schneller mit anderen Kindern an."

"Zum Lernen ist eine kleine Klasse besser, man kommt öfters dran. Aber mehr Freunde zu haben ist schon auch gut."

"In kleinen Klassen gibts bei Cliquen auch mal schneller Streit."

"In der Grundschule war die kleine Klasse gut, aber jetzt sind 19 immer noch zu wenig. Es gibt zu wenig Meinungen in der Klasse und es gibt in größeren Klassen auch immer eher jemand, der hinter dir steht wenn was ist."

Es gab in der Inti noch ein bißchen mehr als Lesen, Rechnen Schreiben!

"Es war schön, Abwechslung zu haben, zu experimentieren und rauszugehen. Andere Grundschüler meinten manchmal, wir hängen nur rum, wir hätten zu viel Freizeit - wir haben aber genügend gelernt. Es war bei uns eher besser als woanders."

"Gelernt haben wir genug. Jetzt, in der Sekundarstufe müssen wir Lerntiere sein. Damals, in der Grundschule haben mich die anderen Sachen so abgelenkt, daß ich kaum gemerkt habe wie ich lerne."

"Ich bin echt vier Jahre lang total gerne in die Schule gegangen, ich finde es traurig, wenn Zweitklässler schon kein Bock mehr auf Schule haben."

In der Klasse gab es viele Unterschiede zwischen den SchülerInnen!

"Heute merke ich, daß es mir gut getan hat. Ich bin toleranter und flexibler geworden. Andere Kinder erlebe ich da anders, sturer, die sagen schneller, mit denen will ich nichts zu tun haben. Ich frag eher mal warum ist der so wenn jemand ausflippt. Die anderen stempeln den gleich ab."

"Ich bin dadurch selbstbewußter geworden. Ich fand mich mit behinderten Kindern ganz normal. Ich sage meine Meinung, andere stören mich da gar nicht."

Robert konnte gar nicht sprechen!

"wir haben Wochenplan abwechselnd mit Robert gemacht oder sind mit ihm in den Park gegangen. Eigentlich hatte ich wenig direkten Kontakt mit ihm."

"Ich habe gelernt, mich mit ihm zu beschäftigen. Wenn er sich gefreut hat, hat das auch mir Spaß gemacht. Es war vielleicht doch relativ normal. Ich mußte nur tiefer gehen."

"Robert hat einfach dazugehört, das war ganz normal mit der Zeit."

Behinderte Kinder brauchen oft Hilfe!

"Jemandem zu helfen? Das war eigentlich gleich wie jemand anderem was erklären."

"Für das Helfen hat es in der Inti auch viel mehr Zeit gehabt."

"Alles war so natürlich, so normal, z.B. mit Kirsten irgendwelche Steinchen zu zählen."

Immer ist jemand da, der was besser kann als ich!

"Das war noch nie ein Problem, ich hab's so gemacht wie ich konnte, dafür konnte ich andere Sachen ganz gut."

"Das ist in der Grundschule nicht so ein Problem. Jetzt ist das schon schwieriger!"

"Daß die anderen mehr konnten? Das hat mich eher angespornt als erschreckt."

"Ich hatte eigentlich gar keinen Kontakt zu anderen behinderten Kindern, jetzt merke ich, daß es schon gut ist wenn man Kontakt mit anderen Behinderten nicht verliert. Richtig was ausgemacht hat es mir eigentlich nicht."

Jetzt seid Ihr in der Sekundarstufe!

"Der Wechsel fiel mir erst schwer, ich hatte erst mal Angst. So schlimm war es dann aber gar nicht, es war bald ganz o.k."

"Es war schon eine große Schule, in die ich kam. In der Grundschule war alles so klein, geborgen, schnuckelig und mit Garten, die Umgewöhnung ging aber total schnell."

"Es war sehr schwierig, sich an die vielen Leute in der Klasse zu gewöhnen."

"In der Grundschule waren die Interessen Theresas (Th. ist geistig behindert) und meine eher gleich, es hatte uns beiden Spaß gemacht, etwas miteinander zu machen. Jetzt gehen unsere Interessen weit auseinander. Ich mache Sachen, die Theresa nicht macht, Ich habe nur noch wenig mit ihr zu tun. Wir begrüßen uns, das war's. Ich kann nicht mehr aus dem Unterrichtsstoff aussteigen, um mit ihr etwas zu machen."

"In der Grundschule lief alles viel ähnlicher. Jetzt habe ich meist keine Lust, zum Beispiel mit Theresa etwas zu unternehmen. Das ist vielleicht nicht das tollste Verhalten, Theresa würde vielleicht ganz gerne mit mir gehen. Das ist entspannender, mit jemand anderem ins Kino zu gehen und anschließend heimzugehen, U-Bahn zu fahren als mit Theresa. Früher haben meine Eltern viel dabei geholfen, das will ich jetzt natürlich nicht mehr."

"In der 5. und 6. Klasse haben wir noch mehr miteinander gemacht. Jetzt gibt es viel mehr kleinere Grüppchen, die sich nicht so gut miteinander verstehen. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr so genau, was die Behinderten machen. Ich hätte auch ehrlich gesagt nicht mehr so viel Lust, mit ihnen was zu machen. Heute langweilt mich das eher, was behinderte Kinder machen, wenn sie eine Höhle bauen wollen oder so."

"Wir haben die LehrerInnen viel besser gekannt, alles war viel freundlicher, viel friedlicher. Heute gilt eher die Faustregel, man muß sich ständig durchsetzen, das gab's früher so nicht. "

"Die Pause ist total anders, alles viel größer und durcheinander."

"Am Anfang wurden wir von Mitschülern als 'Spasti' benannt. Die meinten, wir wären alle behindert. Die haben den Sinn von Integration gar nicht gemerkt, total dumm! Das hat mir total viel ausgemacht. Es hat mich geärgert, wenn Behinderte fertig gemacht wurden, das hat sich aber jetzt sehr geändert. Die jetzigen I-Klassen, die neu nachkommen haben es da viel leichter."

"Meine Kontakte zu Mitschülern sind nicht mehr oder weniger als bei anderen die laufen können."

"Das ist viel positiver jetzt. Ich habe mehr mit anderen Klassen und anderen Leuten zu tun als in der Grundschule.

Interviewpartnerlnnen waren:

Judith Jördens, Chanan Mavieicek, Janka Trenkle, Jiré Gözen, Nikola Kopp, Oliver Paffrath und Julia Schamari

Helga Burgwinkel: Am Anfang war die INTI

Rückblicke, Ausblicke

Der Blick zurück auf die Grundschulzeit unserer Tochter in der Integrativen Schule, von den ehemaligen SchülerInnen liebevoll "Inti" genannt, ist ein sehr froher und ein etwas wehmütiger zugleich. Die Jahre in dieser "etwas anderen" Schule wurden von den Kindern und ihren Eltern so positiv erfahren, daß aus heutiger Sicht, mit dem Abstand von fünfeinhalb Jahren, eine fast nostalgische Betrachtungsweise den Blick verklären könnte. Diese Gefahr "im Blick" möchte ich - ohne Probleme und offene Fragen, die es ja auch in der Integrativen Schule gab, in einem früheren Band dieser Schriftenreihe wurde darüber ausführlich berichtet, zu verdrängen, die grundsätzlich positiven Erfahrungen dieser Zeit aufnehmen und zu vielfältig hinzugekommenen Schul- und Integrationserfahrungen in Bezug setzen. Die Eindrücke und elementaren Erfahrungen dieser ersten Schuljahre blieben, ungeachtet möglicher Brüche und Widersprüche in der weiteren Biographie der Mädchen und Jungen bis heute prägend. Die Kinder haben Anderssein erfahren, sie haben gelernt, vorurteilsfrei damit umzugehen und sich selbstverständlich anzunehmen. Sie konnten für die Akzeptanz behinderter Menschen wesentliche Einstellungen, Sicht- und Denkweisen entwickeln, die wir Erwachsenen, seien wir noch so human denkend, solidarisch mitfühlend oder professionell engagiert, uns nur schwer zu eigen machen können. Sie haben frühzeitig erlebt, "daß es geht", daß behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen und leben können, in einer Schule für ALLE. In einer Schule, die Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit annimmt und ihre Vielfalt zum Ausgangspunkt individueller und gemeinsamer Lernprozesse nutzt, die allen Kindern Zeit und Raum läßt, sich zu entwickeln, die Lernen nicht als einseitig kognitiven Prozess begreift und in der mit allen Sinnen gelernt werden darf. In einer solchen Schule können gemeinsames Lernen zum Nutzen aller Kinder, und integrative Prozesse gelingen.

Die Entwicklung der Kinder während der Grundschulzeit bot auch uns Eltern die Chance zur Gewinnung neuer Einsichten und Einstellungsveränderungen. Ängste und Vorurteile konnten durch die Erfahrungen unserer Kinder und im Austausch mit unterschiedlich betroffenen Eltern artikuliert und weitgehend abgebaut werden. Für einige von uns - zu denen ich auch mich zähle - entstand in dieser Zeit die Motivation, sich über die Belange des eigenen Kindes hinaus für die Integration behinderter Menschen in der Schule - aber auch in allen anderen Lebensbereiche - einzusetzen. Wir waren überzeugt von der Richtigkeit des integrativen Anliegens, die Arbeit der Integrativen Schule war uns richtungsweisend und sie ist es geblieben, obschon nicht alles unmittelbar übertragbar ist.

Das Biotop unter den Biotopen

Wenn integrative Klassen Biotope der Schullandschaft sind, wie es eine Hamburger Wissenschaftlerin beschreibt, dann ist die Integrative Schule ein Biotop unter Biotopen! Im Dschungel der unterschiedlichen Versuche, Modelle und Maßnahmen ist sie ein verläßlicher Ort, der vielen Menschen, die sie kennenlernen konnten, als positives Beispiel gilt. Diese Schule ist als Resultat der Überzeugung ihrer Gründer tatsächlich eine Schule ohne ausgrenzende Kriterien. Alle Kinder, unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung können - soweit es die Kapazität erlaubt - diese Schule besuchen. Das besondere Profil der Schule, geprägt durch die besondere Ausgangslage, grundsätzlich eine Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder zu sein, unterscheidet dieses Modell substantiell von Schulen des Regelbereiches. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob Schulen oder Klassen sich partiell behinderten Kindern öffnen, oder ob der Integrationsauftrag Basis des Schulkonzeptes ist. Das integrative Konzept der Schule wird von allen an der Umsetzung beteiligten Menschen getragen, es steht nicht - wie in Regelschulen - zur Disposition. Gemeinsamer Unterricht in der allgemeinen Schule muß sich an strukturell Vorgegebenem orientieren und sich in einem auf Selektion statt Integration ausgerichteten System entwickeln. Fragen der Umsetzung des integrativen Konzeptes in pädagogisches Handeln, wie sie die Diskussion in Regelschulen bestimmen, stellen sich auch in der Integrativen Schule. Problembereiche, wie die Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher Profession in Teams, flexibles, fächerübergreifendes Arbeiten, offener Unterricht, Fragen der Differenzierung und Individualisierung etc. bestimmen auch dort immer wieder den pädagogischen Diskurs. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung des integrativen Konzeptes an dieser Schule sind Rahmenbedingungen, die das besondere Profil der Schule erst möglich machen. Um tatsächlich integrativ arbeiten zu können, ohne Kinder auf Grund besonderen, vielleicht hohen, Förderbedarfes ausschließen zu müssen, bedarf es neben Menschlichkeit und fachlicher Kompetenz vor allem struktureller und personeller Rahmenbedingungen wie sie derzeit an Regelschulen nicht realisierbar scheinen. Hier wird die Integrative Schule im Spektrum der integrativen Möglichkeiten auch weiterhin ein wegeweisendes aber nicht übertragbares Modell bleiben.

Ist Integration in der Grundschule schon normal?

Was in der Integrativen Schule gelingt, was dort so schlüssig von der Idee zur Praxis wurde, stellt sich in integrativ arbeitenden Regelschulen ungleich schwerer dar. Zwar hat sich in den vergangenen zehn Jahren schulpolitisch einiges bewegt, Integration (oder Gemeinsamer Unterricht, die offiziell gültige hessische Terminologie) ist nicht länger ein nur pädagogischen TräumerInnen geläufiger Begriff. Die "Integrationsantreiber", Eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder und aufgeschlossene PädagogInnen, die das Anliegen unterstützen, haben es geschafft, die Idee des gemeinsamen Lernens ins Bewußtsein der Öffentlichkeit und der politisch Verantwortlichen zu rücken. Inzwischen gibt es in den meisten Bundesländern schulgesetzliche Regelungen, die es behinderten SchülerlInnen unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen, die allgemeine Schule zu besuchen. Noch immer ist aber die Mehrheit der Betroffenen, vor allem Kinder mit schwereren Behinderungen, von dieser Möglichkeit ausgeschlossen. Personelle Ressourcenknappheit, Ängste und Vorbehalte von LehrerInnen und eine oft eher "behindernde" Schulverwaltung erschweren die Integration behinderter Kinder, oder verunmöglichen sie ganz. Dort wo PädagogInnen im Gemeinsamen Unterricht arbeiten, tun sie es oft trotz unzulänglicher Rahmenbedingungen. Obwohl über Ziele und Inhalte von integrativer Arbeit in der Schule und über für die Umsetzung erforderlichen Voraussetzungen hinreichend Klarheit besteht, Gemeinsamer Unterricht war Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und zahlreicher fachlicher Erörterungen, ist die Praxis meist weit entfernt von der "Tintenebene". Dennoch gibt es viele ermutigende Beispiele, die zeigen, daß dank motivierter, engagierter PädagogInnen behinderte und nichtbehinderte Kinder auch in "normalen" Grundschulen gemeinsam lernen können, wenngleich auch selten ohne behinderungsunabhängige Auswahlkriterien. Um, wie die Integrative Schule, behinderten Kindern unabhängig von der Schwere ihrer Behinderung den Besuch der allgemeinen Schule zu ermöglichen, müßten Schulen nicht wie derzeit geplant, weniger, sondern weit mehr personelle und fachliche Unterstützung erhalten.

Die Schere geht auseinander.

Was in der Grundschule derzeit unter Schwierigkeiten leistbar ist, stellt die Schulen der Sekundarstufe vor weit größere Probleme. Wie schwierig die Umsetzung integrativer Konzepte in dieser Schulstufe ist, zeigt sich in den derzeit laufenden Versuchen. Wenn Schulen, in aller Regel Gesamtschulen, behinderte SchülerInnen integrieren, werden tiefgreifende pädagogische und schulorganisatorische Veränderungen unumgänglich. Die bestehende innere und äußere Schulstruktur mit den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Leistungsnormen erweist sich als denkbar ungeeignet für integrativen Unterricht. Die Menge der äußeren Differenzierung, Fachunterricht, ausgerichtet auf möglichst homogene Lerngruppen, Lernen im 45-Minutentakt und tradierte Lernformen lassen kaum noch Spielräume für gemeinsame Erfahrungen der SchülerInnen und zu der für integrative Prozesse notwendigen Auseinandersetzung mit Unterschiedlichkeit. Die Phänomene sozialer Entwicklung in Integrationsklassen, die Ausdifferenzierung der Interessen der SchülerInnen, ihre sich zunehmend unterscheidenden Fähigkeitsprofile, die Entwicklung unterschiedlicher Bezugsgruppen und unterschiedlicher Lebensentwürfe bestimmen und erschweren die Integration in dieser Lebensphase. Integrative Prozesse, die in der Grundschule "noch wie von selbst" entstehen (sofern das Umfeld stimmt) brauchen nun stärkere gezielte Unterstützung. Es müssen Dreh- und Angelpunkte für gemeinsame Erfahrungen gefunden werden, z.B. in nichtfachlichen Angeboten, die behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen gemeinsam nutzen können. Schule muß bereit sein, ihre innere und äußere Struktur zu verändern, sie muß sich für den Gemeinsamen Unterricht sensibilisieren, muß Zeit und Raum bieten um trotz der auseinandergehenden Leistungschere die Vielfalt der unterschiedlichen Möglichkeiten produktiv zu nutzen.

Die in dieser Schulstufe derzeit zwangsläufig auftretende Diskrepanz zwischen integrativer Hoffnung und ihrer Realisierungsmöglichkeit im schulischen Alltag stellt an alle beteiligten Gruppen, SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern hohe Anforderungen. Ständiger Austausch, Kommunikationsbereitschaft, Transparenz und Offenheit sind notwendige Voraussetzung, wenn Druck und Spannung vermieden und gemeinsames Reflektieren von Erfahrungen ermöglicht werden soll. Die Erfahrungen der integrierten Gesamtschule, die vor fast sechs Jahren die erste Schülerlnnengruppe aus der Integrativen Schule in den Gemeinsamen Unterricht aufnahm, haben gezeigt, daß Integration ein für alle Beteiligten schwieriger aber gangbarer Weg ist. Ines Boban und Irene Matthies, zwei Lehrerinnen aus Hamburger Integrationsklassen, schreiben in einem Beitrag zum derzeitigen Stand der Integration in der Sekundarstufe über die tatsächliche Bedeutung integrativen Geschehens:

"Zum Glück haben wir ja mit der Integration nie jemandem einen Rosengarten versprochen, es geht nicht um Aprilfrische im Schongang mit Weichspüler und Lenorgewissen und einem seligen Happy-End in flauschiger Umarmung, sondern um den echten Kontakt mit sich selbst und anderen, d.h. hinsehen und hinhören und hinfühlen und hineindenken, was die eigene und die andere Situation ist. Es geht um den Raum, um sich in seinen Gemeinsamkeiten wie in seiner Verschiedenheit erleben zu können."

Ein stabiles Fundament aus Erfahrungen in der Integrativen Schule

Die ehemaligen Grundschüler der Integrativen Schule haben zwischenzeitlich viele neue Erfahrungen gemacht, manche standen dabei in Widerspruch zu den Eindrücken ihrer gemeinsamen Grundschulzeit. Die Bedingungen, auf die sie in der Gesamtschule trafen, führten zu Irritationen und Verunsicherung und zu häufigem Vergleich mit ihrer "Inti". Vieles was dort an Gemeinsamkeit möglich war, schien nun kaum noch möglich. Wie die Eindrücke dieser Schuljahre, die Auseinandersetzung mit Unterschiedlichkeit und der subjektiven und ojektiven Möglichkeiten des Umgangs damit tatsächlich von den Jugendlichen erlebt und verarbeitet wurde und wird, läßt s Ich derzeit schwer beurteilen. Dank des stabilen Fundamentes aus Erfahrungen der Grundschulzeit blieb die grundsätzlich positive Bewertung von gemeinsamem Lernen behinderter und nichtbehinderter SchülerInnen erhalten. Daß es "normal ist, anders zu sein" ist im Bewußtsein dieser Jugendlichen ebenso verankert wie die Überzeugung, daß behinderte und nichtbehinderte Menschen die gleichen Rechte, also auch das Recht zum Besuch der gleichen Schule haben. Ganz sicher konnten sie einen entscheidenden Schritt tun auf dem Weg zur Integration. Daß sie den ersten Schritt nach den Gehversuchen im Integrativen Kindergarten in der Integrativen Schule tun konnten, und damit festen Boden unter die Füße bekamen, bleibt in meinem Rückblick ihre große Chance.

Helga Burgwinkel: Dipl.Soz.Päd.; tätig als Weiterbildungslehrerin im Bereich Erwachsenenbildung, VHS-Frauenbildungsarbeit; Mutter einer nichtbehinderten zwölfjährigen Tochter, die nach vier Jahren integrativer Grundschule die Integrationsklasse 10 einer Integrierten Gesamtschule besucht; Vorsitzende der LAG-Hessen "Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen"; Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft.

Blitzlichter zur "Inti"

Wir haben einige Leute zur "Inti", zur Integrativen Schule Frankfurt, befragt:

1. Prof. Dr. Helmut Reiser, Institut f. Heil- u. Sonderpädagogik, Uni FFM.

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Der integrative Kindergarten und mein erster Kontakt zur Integration.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Wenn sie in räumlicher Nähe liegen würde, ja.

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Eine Person ist meistens zu Wenig. Zwei Personen sind oft Optimal. Drei Personen sind manchmal zu viel.

Was ist das Schwierigste?

Balance um Förderung und Forderung Balance um Individualisierung und Gemeinschaft

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Einen potenten Sponsor!

2. Johannes/Schüler der 4. Klasse

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Viele Freunde

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Ja

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Das finde ich gut

Was ist das Schwierigste?

-

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Weiß nicht

3. Nikola Kress, Mutter eines nicht behinderten Sohnes

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Die Idee des lebendigen Lernens - für einander miteinander. Eine Grundvoraussetzung für eine tolerantere Gesellschaft, in der Verständnis für Andersartigkeit wachsen kann und die dadurch Angst und Ausgrenzung überwindet.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Ich habe mich entschieden meinen Sohn auf die Integrative Schule zu Schicken - obwohl zu die Zeit-Punkt die Zukunft der Schule nicht gesichert schien - da ich der Überzeugung war, daß es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, daß Schüler, Lehrer und Eltern dieser Schule in dieser Form weiterarbeiten können. Der Überzeugung bin ich um so mehr, seitdem mein Sohn diese Schule besucht.

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Ich habe es gut, wenn auch die Erwachsenen vom gemeinsamen Leben nicht ausgenommen sind. In integrativen Klassen setzt Teamarbeit die Bereitschaft voraus, sich auf gegenseitige Lernprozesse einzulassen, was mir für das integrative Modell unerläßlich erscheint. Auch wenn dies sicher für die Erwachsenen wesentlich anstrengender ist, so ist es doch auch bereichernd, denke ich.

Was ist das Schwierigste?

Die Freiräume zu schaffen, auf die verschiedensten Fähigkeiten einzugehen und diese auf ein gemeinsames Ziel hin zu fördern. Die Phantasie, das Einfühlungs vermögen, das ständige im Austausch bleiben über die Unterrichtsvorgänge und -ziele, um einen Konsens zu finden und den gemeinsamen Ziel gerecht zu werden, erfordern einen immensen Einsatz.

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Beständigkeit, Duchhaltevermögen, Unterstüzung durch die Öffentlichkeit, angemessene Räume - und vorallem, daß der Inhalt dieses Schulmodels, nämlich, daß Lernen sich gemeinsam vollziehen muß, immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit wird.

4. Pfarrerin Esther Gebhardt, Vorstandesvors. d. Ev. Regionalverbandes Frankfurt

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Es ist beeindruckend, daß hier behinderte Kinder in den Unterrichtsbetrieb mit einbezogen werden, die in normalen Schulen keine Chance hätten. Dadurch findet soziales Lernen ganz natürlich im schulischen Alltag statt.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Ja unbedingt!

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Das ist optimal, aber in der Regel nicht finanzierbar!

Was ist das Schwierigste?

Ich stelle mir vor, daß die Integration im Unterricht möglich, aber schon in der Pause und erst recht in der Freizeit ein Ende findet. In unserer Welt bleiben Behinderte immer irgendwie ausgeschlossen.

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Eine räumliche Perspektive; Sponsoren; Großzügigkeit der öffentlichen Geldgeber....

5. Alina Latsch, Schülerin der 4. Klasse

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Behinderte und nicht behinderte Kinder gehen in eine Klasse. Daß behinderte auch Freunde haben, die nicht behindert sind.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Ja, auf jeder Fall, weil es eine Schule für alle ist!

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Ich finde es besser, wenn mehrere Erwachsene in einer Klasse arbeiten, weil manchmal die behinderten Kinder Hilfe brauchen.

Was ist das Schwierigste?

Mir ist es oft zu laut im Unterricht, weil alle immer reden.

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Das die Schule noch viele Jahre bleibt wie sie ist und daß es nette Lehrer und Lehrerinnen gibt.

6. Prof. Dr. Peter Steinacker, Kirchenpräsdent der EKHN

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Sie ist ein bedeutendes schulisches Modell in evangelischer Trägerschaft. In der Integrativen Schule werden behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen und Schüler gemeinsam unterrichtet.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Ja, selbstverständlich!

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Viel, wenn pädagogische Gesichtspunkte die nahelegen oder erforderlich machen und wenn die Erwachsenen sich nicht dauernd streiten.

Was ist das Schwierigste?

Für Schülerinnen und Schüler muß die Bedeutung der jeweiligen Bezugsperson klar sein. Zwischen den Pädagoginen u. Pädagogen müssen klare Absprachen ein-gehalten werden. Sie müssen außerdem akzeptieren, daß es Jugendliche geben kann, die mit einer anderen Bezugsperson besser zurechtkommen als mit sich selbst.

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Daß sie möglichst frei von sachfernen Überlegungen und Vorgängen ihren besonderen pädagogischen Auftrag erfüllen kann.

7. Joachim Bienwald, Zivi

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

alter Bus

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Warum nicht?

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Finde ich ideal, ist aber leider nicht überall machbar! (Andere Schulen!)

Was ist das Schwierigste?

Ich sehe nur geringe Unterschiede zwischen "Regel"-Klassen. Jedes Kind muß in eine Klassengemeinscheaft integriert werden.

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

neue Busse

8. Hans Joachim Simon, Vater einer behinderten Tochter

Was fällt IhnenSpontan zu "Inti" ein?

Wären doch alle Schule wie diese! Eine "Modell-Schule", die mich überzeugt.

Würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter in diese Schule schicken?

Meine Tochter besucht die 3. Klasse bis heute mit Begeisterung!

Was halten sie davon, wenn 2 oder mehr Erwachsene eine Klasse gemeinsam leiten?

Es bedeutet sicher: viel gemeinsame Rüstzeit, um an einem Strang ziehen zu können, so wie ich es erlebe, funktioniert es in gegenseitiger Ergänzung und auch Andersartigkeit hervorragend.

Was ist das Schwierigste?

Durch sehr unter-schiedliche Leistungsmöglichkeiten stelle ich mir das Erreichen vorgege-bener Leistungs-rahmen (= Lehrpläne) schon als sehr schwierig vor

Was wünschen Sie der Integrativen Schule zu ihrem 10-jährigen Jubiläum 1995?

Beibehalten der pädagogischen arbeitsformen Erlösung von quälenden Existenznöten: - Gebäude, - finanz. Situation



[55] Siehe Hessisches Schulgesetz § 51 vom 30. Juni1992 und Verordnung über die sonderpädagogische Förderung Abschnitt II vom 27. Mai 1993, siehe Seite 61 (Überschrift: Sonderpädagogische Förderung Auszug aus dem Hessischen Schulgesetz) und 64 (Überschrift: Auszüge aus den Ausführungsbestimmungen zum Hessischen Schulgesetz)

[56] Die beiden Schulen in Frankfurt und Hamburg sind die einzigen im kirchlich-diakonischen Bereich, an denen konsequent gemeinsamer, lernzieldifferenter Unterricht angeboten wird, in Lübeck ist die Errichtung einer weiteren Schule geplant

7. Visionen

Foto: Spielende Kinder in der Natur (Beschriftung von bidok eingefügt)

Hans Wocken: Zukunft der Sonderpädagogik

1. Einleitung

Noch vor wenigen Jahren war das Bild der Behindertenpädagogik klar, übersichtlich und wohlgeordnet. Da gab es Behinderte und Nichtbehinderte, säuberlich voneinander getrennt, wissenschaftlich auseinanderdividiert und behördlich amtlich besiegelt. Die einen besuchten die Regelschule, die anderen besuchten die Sonderschule. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gab es vor 20 Jahren zwischen Regelschule und Sonderschule keine Brücken, keine Zwischenformen, keine Verbindungswege. Von der Regelschule führte lediglich eine Einbahnstraße zur Sonderschule. Und Sonderpädagogen waren gestern immer Sonderschullehrer an einer Sonderschule, was sonst und wo sonst?

Heute befindet sich die Behindertenpädagogik in einer Umbruchsituation. Die Monopolherrschaft der Sonderschulen geht zu Ende. Die Mauern, die Sonderschulen um ihre Klientel gebaut haben, sind vielfach durchlöchert und eingebrochen. Die Behinderten wandern in zunehmendem Maße aus den beschützenden Schonräumen aus und nehmen mitten unter uns, in der Gesellschaft aller und in den Schulen für alle Kinder Platz. Mit dem schönen Wort von Willy Brandt: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. Die Sonderpädagogen sind heutigentags längst nicht mehr nur in den Sonderschulen tätig, viele sind den behinderten Kindern gefolgt und sind nun auf unterschiedliche Art und Weise in den allgemeinen Schulen tätig.

Wenn der beschriebene Wandel in der näheren Zukunft anhalten sollte, dann läßt sich ein deutlicher Trend ausmachen. Wir befinden uns an einem Wendepunkt, an der Wende von der stationären Sonderpädagogik zur ambulanten Sonderpädagogik. Die Neuorientierung sonderpädagogischer Theorie und Praxis kann mit anderen Worten auch als eine Wende von der Zentralisierung zur Dezentralisierung sonderpädagogischer Arbeit beschrieben werden.

Abbildung 1: Zentralisierung sonderpädagogischer Hilfen

Das schulische Ordnungsprinzip der Behindertenpädagogik in der zurückliegenden Epoche lautete schlicht: Lasset die Kinder zu mir kommen. Aus mehreren umliegenden Regel-Schulen kamen alle Kinder der gleichen Behinderungsart in eine zentrale Sonder-Schule. Alle behinderten Kinder wurden vorab nach 9 Behinderungsarten sortiert und sodann an einer Sonderschule ihrer Art zusammengefaßt und auch alle pädagogischen Hilfen für diese Kinder werden an diesem einem Ort zentralisiert (Abb. 1).

Abbildung 2: Dezentralisierung sonderpädagogischer Hilfen

Die Philosophie der künftigen Sonderpädagogik lautet nicht mehr: Lasset die Kinder zu mir kommen!, sondern umgekehrt: Wir gehen zu den Kindern hin! Von einem Zentrum aus werden alle behinderten Kinder der umliegenden Schulen in einer Region mit allen notwendigen sonderpädagogischen Kompetenzen und Hilfen versorgt (Abb. 2).

Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die kopernikanische Wende von der stationären zur ambulanten bzw. subsidiären Behindertenpädagogik zu beschreiben und die Sonderpädagogik der kommenden Epoche zu skizzieren. Dieses soll in 4 Schritten geschehen: In einem ersten Schritt soll nach der Legitimation von Sonderpädagogik und Integration gefragt werden (Kapitel 2). Sodann werden die unverzichtbaren Prinzipien einer integrativen Pädagogik aufgezeigt (Kapitel 3). Das 4. Kapitel ist der theoretischen Grundlegung einer subsidiären Sonderpädagogik gewidmet. Nach all den theoretischen Anstrengungen ist dann der Grund gelegt, um im 5. Kapitel schließlich die bildungspolitischen Konsequenzen und das praktische Konzept einer subsidiären Sonderpädagogik darzulegen.

2. Sonderpädagogik und Integration

2. 1 Die Schule als "Sonderschule"

Die Schule der Zukunft wird die gemeinsame Schule für alle Kinder sein. Lassen Sie mich zunächst die Geschichte befragen, ob es denn jemals eine derartige Schule für alle gegeben hat.

So intensiv man auch in dem Buch der Geschichte nachblättern mag, eine Schule für alle Kinder hat es in der Geschichte der Menschheit, in der Geschichte der Pädagogik nie gegeben. Schule und Bildung waren in der Geschichte immer ein Privileg für wenige, ein Privileg für die Herrschenden. In der Antike konnten sich nur die Reichen eine Schule leisten. Schule heißt im Griechischen wortwörtlich Muße. Zeit für Muße, gar für Müßiggang hatten nur die Reichen. Die Ungebildeten, die keine Zeit und kein Geld für Bildung hatten, gehörten in der Antike zu den Barbaren.

Im Mittelalter war Bildung dann ein Privileg für die Klosterschüler und die Fürstenkinder. Macht und Ansehen der Geistlichen beruhten auch darauf, daß sie schreiben und lesen konnten. Die einfachen Leute waren Analphabeten.

In der Aufklärung schließlich wurde Bildung zu einem Instrument des sozialen Aufstiegs, allerdings nur für das Bürgertum. Erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde auch den Kindern des Volkes der Zugang zur Bildung eröffnet. Freilich, die Ständegesellschaft blieb auch nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht unangetastet. Die Kinder einfacher Leute mußten sich mit volkstümlicher Bildung in der Volksschule begnügen; die gesellschaftliche Mittelschicht erhielt eine kaufmännische Bildung in der Realschule; höhere Bildung wurde allein der gesellschaftlichen Elite zuteil.

Ich verkürze den Gang der Geschichte. Es hat in der Geschichte des Unterrichts niemals eine Schule gegeben, die alle Kinder ohne jegliche Ausnahme aufgenommen hätte. Alle Schulen begnügten sich immer mit einer Auswahl. Alle Schulen waren je auf ihre Weise Sonderschulen, Schulen für ausgewählte, ausgesuchte Kinder. Die Philosophenschulen der Antike, die Klosterschulen des Mittelalters, die Bürgerschulen der Aufklärung - sie alle waren Sonderschulen für besondere Kinder. In diesem Sinne sind auch heute noch die Konfessionsschulen oder das Gymnasium Sonderschulen, die nicht alle Kinder, sondern eben nur bestimmte Kinder aufnehmen.

Eine Schule für alle Kinder hat es also nie und nimmer gegeben. Die integrative Schule ist in der Geschichte der Pädagogik die erste und einzige, die nun wirklich alle Kinder ohne jegliche Ausnahme und ohne jede Auswahl aufnimmt. Die integrative Schule ist die erste wirkliche Volksschule, die erste allgemeine Schule für alle. Die integrative Schule ist die erste wahrhaft demokratische Schule.

2.2 Zur Geschichte der Sonderschulen

Und die behinderterten Kinder, wo waren sie über die Zeiten? Ich muß es kurz machen. Plato und Aristoteles haben sich offen dafür ausgesprochen, gebrechliche Kinder zu beseitigen. In Athen und Sparta gab es ein Gesetz, das die Tötung behinderter Kinder nicht nur erlaubte, sondern sogar forderte. Martin Luther noch gab den Rat, sogenannte Wechselbälge zu töten. Bildung und Behinderung, behinderte Kinder in der Schule - das hat in der Geschichte niemals zusammengepaßt.

Aber was ist mit den Sonderschulen, das sind doch richtige Schulen für Behinderte. Die Sonderschulen stehen bei den Anhängern des Integrationsgedankens nicht hoch im Kurs. Im Übereifer für die Sache der Integration werden die Sonderschulen als aussondernde Schulen gebrandmarkt und als Widersacher der Integration an den Pranger gestellt. Ein Blick in die Geschichte der Sonderschulen kann uns lehren, daß diese Auffassung ein Vorurteil ist. Lassen Sie mich in Kürze die Geschichte der Sonderschule erzählen.

Vor ungefähr 100 Jahren wurde in Deutschland und in anderen europäischen Ländern die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Die allgemeine Schulpflicht galt grundsätzlich für alle Kinder. Aber: Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen hatten weder die Pflicht noch das Recht, eine öffentliche Schule zu besuchen. Behinderte Kinder galten als "nicht schulreif" und "nicht bildungsfähig". Die allgemeine Schule hat sich deshalb um behinderte Kinder nicht gekümmert. Behinderte Kinder durften die Volksschule nicht besuchen; sie mußten zu Hause bleiben oder wurden in Anstalten verwahrt. Die sogenannte Volksschule war keine Schule für alle Kinder des Volkes!

Erst durch die Einrichtung von Sonderschulen erhielten behinderte Kinder die Chance, überhaupt eine Schule besuchen zu können. Es ist das große historische Verdienst von Sonderschulen, daß sie behinderte Kinder in öffentliche Schulen aufgenommen haben. Sonderschulen waren also nicht, wie manchmal behauptet wird, "aussondernde" Schulen, sondern im Gegenteil: Sie haben behinderte Kinder in das öffentliche Schulwesen integriert.

Ein wenig anders war der Gang der Geschichte bei Schülern mit Lernbehinderungen, Sprachbehinderungen und Verhaltensstörungen. Diese behinderten Kinder konnten zunächst zwar die allgemeine Schule besuchen, aber nur für eine kurze Zeit. Die allgemeine Schule konnte und wollte sich auf die besonderen Probleme der Kinder mit Lern-, Sprach- und Verhaltensstörungen nicht einlassen. Kinder, die Schwierigkeiten hatten und Schwierigkeiten machten, wurden von der allgemeinen Schule wenig beachtet, nicht versetzt und schließlich ausgesondert. Auf diese Weise sind die "jüngeren" Sonderschulen für Kinder mit Lern-, Sprach- und Verhaltensstörungen entstanden.

Das ist in aller Kürze die Geschichte der Sonderschule. Weil ich selbst Sonderschullehrer war und heute Sonderschullehrer ausbilde, ist es mir wichtig, gegen manche Vorurteile anzutreten und das historische Verdienst der Sonderschulen nachdrücklich zu würdigen. Sonderschulen gibt es deshalb, weit das öffentliche Schul- und Bildungswesen sich um behinderte Kinder schlichtweg nicht gekümmert hat, sie draußen vor der Tür stehen ließ oder sie auf die letzte Bank verbannte. Die Sonderschulen waren die ersten öffentlichen Bildungseinrichtungen, die den behinderten Kindern öffentliche Beachtung schenkten, sie in öffentliche Schulen aufnahmen und Ihre Bildungsfähigkeit erstmals unter Beweis stellten. In diesem Sinne - das darf man bei allem Engagement für Integration nicht vergessen - waren die Sonderschulen die ersten Integrationsschulen für behinderte Kinder, also Schulen, die behinderten Kindern die Chance zum Besuch einer öffentlichen Schulen boten.

2.3 Zur Legitimation von Sonderschulen

Was ist nun die Lehre aus der Geschichte der Sonderschule. Sonderschulen gab es deshalb, weil die allgemeine Schule unvollkommen war. Weil die allgemeine Schule nicht fähig oder nicht bereit war, auch behinderte Kinder zu unterrichten, entstanden Sonderschulen. Sonderschulen, wie auch andere sonderpädagogische Einrichtungen, waren und sind deshalb nichts anderes als Ersatzlösungen, die ersatzweise jene pädagogischen Hilfen anbieten, die es in allgemeinen Schulen nicht gibt. Bildlich gesprochen: Sonderschulen sind gleichsam Notaufnahmelager, die behinderte Kinder und Jugendliche deshalb aufnehmen, weil sie anderenorts keine Herberge und kein Zuhause gefunden haben.

Notaufnahmelager sind keine Lebensstätten für immer und ewig. Ein Notaufnahmelager ist ein Provisorium, das lediglich für eine vorübergehende Inanspruchnahme gedacht ist. Sonderschulen waren historisch notwendig, eine immerwährende Bestandsgarantie kann indes für Übcrgangs- und Hilfslösungen nicht gewährt werden.

Ich habe das historische Verdienst der Sonderschulen ausdrücklich gewürdigt. Heute ist es an der Zeit, die Sonderschulen und die Sonderpädagogik vor einem historischen Sündenfall eindringlich zu warnen. Auf das historische Verdienst der Sonderschulen fällt mehr und mehr ein Schatten. Die langandauernde Praxis der Aussonderung und Sonderbeschulung hat in den Sonderschulen das Bewußtsein aufkommen lassen, als ginge es gar nicht anders, ja als seien Sonderschulen auch der einzig mögliche Lernort für behinderte Kinder. Der Sündenfall der Sonderschulen beginnt da, wo sie das pädagogische Monopol für behinderte Kinder beanspruchen und wo sie schulische Aussonderung als die einzige Möglichkeit, als das Beste für behinderte Kinder oder gar als das Ideal schlechthin bezeichnen.

Ein übles Beispiel für das monopolistische Alleinvertretungsanspruch von Sonderschulen ist der Begriff "Sonderschulbedürftigkeit". Der Begriff Sonderschulbedürftigkeit findet sich bekanntlich in vielen Schulgesetzen. Er unterstellt, daß es schon im Wesen behinderter Kinder unwiderruflich angelegt ist, daß sie eine Sonderschule besuchen müssen und keine andere Schule besuchen können und dürfen. Es gibt keine sonderschulbedürftigen Kinder! Es gibt sondererziehungsbedürftige Kinder, das schon. Der Begriff Sonderschulbedürftigkeit indes ist blanker Ausdruck eines besitzergreifenden Alleinvertretungsanspruchs für die schulische Förderung behinderter Kinder.

2.4 Vom Primat der Integration

Früher bedeutete Integration für behinderte Kinder das Recht und die Chance zum Besuch einer öffentlichen Schule. Heute bedeutet Integration mehr. Heute meint Integration nicht nur, daß behinderte Kinder überhaupt eine öffentliche Schule besuchen können, sondern daß behinderte Kinder die gleiche öffentliche Schule zusammen mit nichtbehinderten Kindern besuchen können. Wir wissen heute, daß Integration "machbar" ist. Wir wissen aus belegbarer Erfahrung, daß die gemeinsame Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder möglich ist. Wir können konkrete Beispiele und eine ausreichende Praxis vorführen, daß Integration keine unrealistische Utopie, sondern machbare Wirklichkeit ist. Die neue Schule für alle ist kein Traum, sondern eine konkrete Möglichkeit. Die wichtigste bildungspolitische Aufgabe unserer Tage ist es daher, die neue Schule für alle schrittweise zu verwirklichen.

Warum ist Integration die wichtigste Aufgabe der Pädagogik und der Bildungspolitik? Die Antwort ist ergreifend schlicht: Integration ist ein fundamentales Grundrecht aller Menschen. Nicht das Normale, die Integration, muß besonders begründet werden, sondern die Ausnahme, die Aussonderung bedarf der Begründung. Wenn man Verbrecher in ein Gefängnis einsperren will, dann bedarf diese Ausgrenzung einer förmlichen richterlichen Begründung. Niemand von uns muß eigens begründen, warum er frei herumläuft und nicht im Gefängnis einsitzt. Ich weigere mich daher mit der Integrationsbewegung, überhaupt irgendeinen Grund anzugeben, warum wir gegen Trennung, gegen Ausgrenzung, gegen Isolation und für Gemeinsamkeit sind. Man darf die Begründungs- und Rechtfertigungsverhältnisse nicht umkehren. Rechtfertigungs- und begründungspflichtig ist nicht die integrative Förderung behinderter Kinder, sondern umgekehrt ihre Aussonderung.

3. Pädagogik der Integration

Es hat sich gezeigt, daß Integration möglich ist. Was sind die wichtigsten Voraussetzungen und Bedingungen, damit die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern gelingen kann?

3.1 Die erste Voraussetzung: Individualisierung des Unterrichts

Die erste Voraussetzung für Integration kostet kein Geld; sie erfordert ein neues Denken. Wir müssen akzeptieren, daß alle Kinder verschieden sind. Alle Kinder sind einzigartig und einmalig. Alle Kinder, nicht nur die behinderten, sind besonders. Es ist deshalb auch falsch, von verschiedenen Kindern das Gleiche zu verlangen und verschiedene Kinder gleich zu behandeln. Erziehung und Unterricht müssen vielmehr so gestaltet werden, daß alle Kinder zu ihren persönlichen Möglichkeiten finden können.

Die Individualisierung von Erziehung und Unterricht bedeutet dreierlei:

  1. Individualisierung der Ziele

  2. Individualisierung der Methoden

  3. Individualisierung der Leistungsbewertung.

Individualisierung der Ziele

Ein integrativer Unterricht verlangt von allen Kindern genau das, was sie leisten können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Hochbegabte Kinder sollen und müssen mehr leisten als geringer befähigte Kinder. Gesunde Kinder müssen schneller laufen und weiter springen als körperbehinderte Kinder. Jedes Kind soll seine individuellen Fähigkeiten entfalten und seine Persönlichkeit entwickeln. Wir müssen zufrieden sein, wenn ein Kind das wird, was es werden kann; wenn es das leistet, was es leisten kann. Mehr können wir von den Kindern vernünftigerweise nicht erwarten.

Diesen Grundsatz: Verschiedene Ziele für verschiedene Kinder nennt man in der Pädagogik auch das Prinzip des zieldifferenten Lernens.

Individualisierung der Methoden

Es ist falsch, verschiedene Kinder gleich zu behandeln. Bei einem Unterricht "im Gleichschritt" werden alle Kinder gleich behandelt, bekommen alle Kinder unterschiedslos die gleichen Hilfen. In einem integrativen Unterricht dagegen erhalten die Kinder jene Lernhilfen, deren sie bedürfen.

In der Grundschule brauchen viele Kinder keine besonderen Hilfen, um die Ziele des Unterrichts zu erreichen. Einige Kinder benötigen nur vorübergehend oder nur in einigen Fächern zusätzliche Förderung. Wiederum andere Kinder sind auf spezifische, therapeutische Hilfen angewiesen.

Diesen Grundsatz eines integrativen Unterrichts, die Maßnahmen und Methoden zu differenzieren, Art und Umfang der pädagogischen Hilfen dem individuellen Vermögen der Kinder anzupassen, nennen wir das Prinzip der differenzierten Lernhilfe.

Individualisierung der Leistungsbewertung

Es ist ungerecht, die Leistungen verschiedener Kinder nach dem gleichen Maßstab zu bewerten. Kinder, die einzigartig und einmalig sind, kann man nicht miteinander vergleichen. Ziffern- oder Notenzeugnisse dagegen vergleichen die Schüler miteinander und nach einem einheitlichen Maßstab: Es gibt gute, durchschnittliche und schlechte Schüler. Lernbehinderte Schüler etwa können nicht so gut lesen und rechnen wie leistungsfähige Schüler. Wenn alle Schüler nach dem gleichen Maßstab bewertet werden, dann erhalten lernschwache Schüler immer ein "mangelhaft" oder "ungenügend", auch dann, wenn sie sich angestrengt und, gemessen an ihren eigenen Möglichkeiten, sehr viel und "sehr gut" gelernt haben.

F. Herbart schrieb 1832 in seinen Pädagogischen Briefen: "Der Erzieher vergleicht seinen Zögling nicht mit anderen, er vergleicht ihn mit sich selbst. Er ist mit keinem zufrieden, der hinter sich selbst zurückbleibt, und mit keinem unzufrieden, welcher so viel wird, als man vermutlich von ihm erwarten konnte."

Eine wichtige Hilfe für eine individualisierende Leistungsbewertung sind Berichtszeugnisse. Berichtszeugnisse geben die Möglichkeit, die Entwicklungsfortschritte und Leistungsergebnisse von Kindern ausführlich und auf jeden einzelnen Schüler bezogen zu beschreiben.

In einem integrativen Unterricht wird der Vergleich der Schüler miteinander eingeschränkt und dem Prinzip der individualisierten Leistungsbewertung besondere Bedeutung zugemessen.

Die zweite Voraussetzung: Das Zwei-Pädagogen-System

Die zweite wichtige Bedingung für eine gemeinsame Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder ist nicht kostenneutral, sie kostet Geld. Sie lautet: Eine integrierende Klasse braucht zwei Pädagogen.

Wenn eine Schulklasse relativ homogen ist, wenn die Schüler einer Lerngruppe in etwa ähnliche Lernvoraussetzungen mitbringen, dann genügt ein Lehrer. Eine homogene Schülergruppe kann durch einen einzigen Lehrer unterrichtet werden, weil ja für alle Schüler die gleichen Lernziele gelten und weil alle Schüler in etwa auch mit den gleichen Methoden und Hilfen erfolgreich lernen können. So ist das gegliederte Schulwesen aufgebaut.

Eine integrative Klasse ist eine heterogene Schülergruppe mit einer größeren Spannweite an Begabungen und Fähigkeiten. Eine integrative Klasse ist bejahte und gewollte Heterogenität. Die notwendige Individualisierung des Unterrichts in einer heterogenen Schülergruppe - die erste Voraussetzung - kann ein Lehrer alleine nicht mehr leisten. Für den Unterricht in einer heterogenen Schülergruppe ist die Mitarbeit eines zweiten Pädagogen erforderlich.

In welchem zeitlichen Umfang ein weiterer Pädagoge mitarbeiten muß und welche berufliche Qualifikation der zweite Pädagoge haben sollte - das ist ganz von der Zusammensetzung der Klasse, von der Verschiedenartigkeit der Lernvoraussetzungen und Förderbedarfe der Schüler abhängig. In vielen Fällen reicht die zeitweise, auf einige Unterrichtsstunden beschränkte Mitarbeit eines zweiten Pädagogen aus, in manchen Fällen ist eine stetige, die ganze Unterrichtszeit dauernde Mitarbeit erforderlich. In vielen Fällen kann der zweite Pädagoge ein Erzieher sein, in anderen Fällen sollte es ein Sonderschullehrer sein. Die Erfahrungen aus der Schulversuchen im In- und Ausland lassen zur Zeit noch keine allgemeingültigen Empfehlungen über die berufliche Qualifikation der Pädagogen und den zeitlichen Umfang ihrer Mitarbeit zu. Einigkeit besteht jedoch in der Auffassung, daß ein "Zwei-Pädagogen-System" für die Erziehung und Unterrichtung von integrativen Klassen unabdingbar ist.

4. Zur Theorie subsidiärer Sonderpädagogik

In den einleitenden Betrachtungen war von der Wende von der stationären zur ambulanten, subsidiären Sonderpädagogik die Rede. Was ist das eigentlich, subsidäre Sonderpädagogik? Nehmen wir die Mühsal gedanklicher Anstrengungen auf uns, um uns der theoretischen Grundlagen einer subsidiären Sonderpädagogik zu vergewissern.

Die Sonderpädagogik der kommenden Epoche orientiert sieh an 4 grundlegenden Prinzipien. Es sind dies das Prinzip der Gemeinsamkeit, das Prinzip der Bedürftigkeit, das Prinzip der Nähe und das Prinzip der Passung. Zu diesen Grundprinzipien nun einige Erläuterungen.

4.1. Das Prinzip der Gemeinsamkeit

Das Prinzip der Gemeinsamkeit bedeutet konkret und unmißverständlich: Gemeinsame Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Für die ambulante Sonderpädagogik ist Integration nicht nur ein Ziel, sondern zugleich der Weg.

Ambulante Sonderpädagogik bekennt sich zu dem Primat der Integration. Integration geht grundsätzlich vor Separation. Alle Sondereinrichtungen sind immer nur nachrangige Ersatzlösungen, Lernorte zweiter Wahl. Sonderschulen stehen zum allgemeinen Schulwesen in einem subsidiären Ergänzungsverhältnis, sie haben grundsätzlich keine eigenständige Existenzberechtigung. Die Existenz von Sonderschulen kann nicht prinzipiell und apriori begründet werden, sondern nur relativ, nämlich relativ zum Ungenügen der allgemeinen Schule. Ambulante Sonderpädagogik versteht sich deshalb als subsidiäre Pädagogik, als ein subsidiärer Dienst für die allgemeine Pädagogik. Ich würde deshalb auch statt von "ambulanter Sonderpädagogik" lieber von "subsidiärer Sonderpädagogik" sprechen. Subsidiäre Sonderpädagogik unterstützt Kinder mit Behinderungen in ihrem alltäglichen Lebensumfeld. Behinderte Kinder haben ein Recht, mit den anderen Kindern und wie die anderen Kinder zu leben und lernen. Die Amerikaner nennen das Prinzip der Gemeinsamkeit die "am wenigsten einschränkende Umgebung", die Skandinavier sprechen vom Prinzip der Normalisierung.

4. 2. Das Prinzip der Bedürftigkeit

Im Konzept einer ambulanten, subsidiären Sonderpädagogik steht dem Prinzip der Gemeinsamkeit ein anderes Prinzip gleichrangig zur Seite, das Prinzip der Bedürftigkeit. Im englischen Sprachraum heißt Bedürftigkeit "special needs", bei uns spricht man vom "besonderen Förderbedarf". Dieses Prinzip der Bedürftigkeit ist allen Sonderpädagogen gut vertraut. Es meint den Anspruch aller Kinder, auch der behinderten Kinder, auf eine ihnen gemäße Bildung und Erziehung. Dieses Bürgerrecht behinderter Kinder auf eine behindertengemäße Bildung und Erziehung darf nicht leichtfertig verschenkt werden. Es darf auch nicht dem Prinzip der Gemeinsamkeit geopfert werden. Denn das Recht auf Gemeinsamkeit ist keineswegs ein höherer Wert als das Recht auf individuelle Persönlichkeitsentfaltung. Bedauerlicherweise

Abbildung 3: Integrative Pädagogik als dialektisches Spannungsverhältnis von Gemeinsamkeit und Bedürftigkeit

wird in manchen theoretischen Abhandlungen zu integrativen Erziehung und auch in manchen integrativen Schulversuchen mit diesem Prinzip der Bedürftigkeit mehr oder minder fahrlässig umgegangen.

Die wesentlichen Grundprinzipien einer subsidiären Sonderpädagogik sind also das Prinzip der Gemeinsamkeit und das Prinzip der Bedürftigkeit. Aus dem Prinzip der Gemeinsamkeit folgt der Imperativ: Behinderte und Nichtbehinderte sollen gemeinsam unterrichtet werden. Aus dem Prinzip der Bedürftigkeit folgt der Imperativ: Alle Kinder, behinderte wie nicht behinderte, sollen ihren Möglichkeiten entsprechend unterrichtet werden. Beide Prinzipien gehören unauflöslich zusammen, sie sind dialektisch miteinander verschränkt. Das Kunststück einer integrativen Pädagogik besteht darin, diese beiden Prinzipien zugleich angemessen zu berücksichtigen und in einer ausgewogenen Balance zu halten (Abb. 3).

Das dialektische Spannungsverhältnis von Gemeinsamkeit und Bedürftigkeit ist ein zentrales Herzstück integrativer Pädagogik. Damit diese Waagschale integrativer Pädagogik ausbalanciert bleibt und weder zur einen noch zur anderen Seite hin abkippt, bedarf sie sonderpädagogischer Stützen. Die erforderlichen sonderpädagogischen Stützen heißen "Nähe" und "Passung".

Abbildung 4: Sonderpädagogische Stützen einer integrativen Pädagogik

4.3. Das Prinzip der Nähe

Wenden wir uns zunächst der rechten Hälfte der Abb. 4 zu.

Eine konsequente Berücksichtigung des Prinzips der Bedürftigkeit führt über kurz oder lang zur Einrichtung von Sonderschulen. Sonderschulen pflegen üblicherweise ihre Existenz mit dem Begriff "Sonderschulbedürftigkeit" zu rechtfertigen. In der traditionellen Sonderschulpädagogik ist das Prinzip der Bedürftigkeit behinderter Kinder zu einer ideologischen Rechtfertigungsformel verkommen. Damit das Prinzip der Bedürftigkeit nicht wieder abrutscht in das fragwürdige Konzept der Sonderschulbedürftigkeit, legt sich subsidiäre Sonderpädagogik grundsätzlich auf dezentralisierte Hilfen fest: Sonderpädagogische Hilfe kommt immer zu dem Kind, und niemals umgekehrt. Sie ist immer Lebens- und Lernhilfe für das behinderte Kind in seiner Umwelt. Die Dezentralisierung aller sonderpädagogischer Hilfen kann man - entsprechend der dänischen Terminologie - auch als Prinzip der Nähe bezeichnen. Nähe meint dabei die Nähe professioneller Hilfen zur Lebenswelt des behinderten Kindes.

4.4. Das Prinzip der Passung

Nun zur linken Hälfte des Schaubildes.

Eine konsequente Berücksichtigung der Gemeinsamkeit dagegen könnte auf eine Egalisierung aller individuellen Förderbedarfe, auf Gleichmacherei, auf einen pädagogischen Eintopf hinauslaufen. Damit das Recht behinderter Kinder auf eine bedarfsgemäße Förderung nicht dem Prinzip der Gemeinsamkeit geopfert wird, fordert subsidiäre Sonderpädagogik nachdrücklich die Gewährleistung fachkompetenter, spezieller Hilfen für behinderte Kinder, wo auch immer sie sind. Integration hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Verzicht auf Sonderpädagogik zu tun. Auch in gemeinsamen Lebenswelten muß eine Passung von Förderbedarf und Förderkompetenz hergestellt werden.

Wenn wir diese beiden sonderpädagogischen Stützpfeiler "Passung" und "Nähe" unter die Waagschale legen, dann dürfen wir hoffen, daß die Balance von Gemeinsamkeit und Bedürftigkeit erhalten bleibt.

5. Zur Praxis subsidiärer Sonderpädagogik

Seit 1980 sind in vielen Ländern der Bundesrepublik zahlreiche Schulversuche zur gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern eingerichtet worden. Bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte und Rahmenbedingungen dieser Schulversuche belegen die Erfahrungen eindrücklich und zweifelsfrei, daß Integration pädagogisch möglich ist. Es ist daher nicht mehr notwendig, durch immer neue Schulversuche erneut die Möglichkeit integrativer Unterrichtung zu prüfen und zu belegen. Die bildungspolitische Aufgabe der kommenden Jahre muß darauf gerichtet sein, die nichtaussondernde Schule für alle Kinder auch überall im ganzen Lande aufzubauen. Dies ist eine neue Aufgabe, die sich wesentlich von der Einrichtung einzelner Integrationsklassen und -schulen unterscheidet. Es ist nämlich vergleichsweise einfach, eine einzelne Integrationsklasse oder eine einzelne Integrationsschule einzurichten und diese Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Die neue Fragestellung lautet vielmehr: Wie kann für Kinder aller Behinderungsarten und -grade ein flächendeckendes Integrationsangebot in allgemeinen Schulen geschaffen werden?

Die Konkretisierung dieser bildungspolitischen und pädagogischen Leitidee muß natürlich an jenen theoretischen Prinzipien, die für eine subsidiäre Sonderpädagogik konstitutiv sind, orientieren. Für die Gestaltung einer integrative Schulen gilt ganz allgemein: Alle 4 Prinzipien müssen angemessen berücksichtigt werden. Die Sonderschulen verstoßen ganz offensichtlich gegen das Prinzip der Gemeinsamkeit. Auf der anderen Seite genügen manche Integrationsklassen nicht immer dem Prinzip der Bedürftigkeit. Denn es ist doch ein Unding, wenn etwa ein körperbehindertes Kind in einer Integrationsklasse einen Sonderpädagogen ohne körperbehindertenpädagogische Kompetenzen hat. Irgendein Sonderpädagoge mit beliebigen Fachrichtungen, das genügt nicht, es muß schon der passende sein.

Mein - zugegebenermaßen utopischer - Entwurf hat zunächst die Grundstufe der allgemeinen Schule im Sinn und zielt darauf ab, für Kinder aller Behinderungsarten und -grade ein flächendeckendes Integrationsangebot in allen Grundschulen einzurichten. Subsidiäre Sonderpädagogik wird dann in zweierlei Organisationsformen wirksam:

Abbildung 5: Organisationsformen subsidiärer Sonderpädagogik

Zunächst wenige Erläuterungen zum Stützsystem: Sonderpädagogen an Regelschulen.

5.1. Sonderpädagogen an Regelschulen

Etwa 6 bis 8 Prozent aller Kinder haben im Laufe der Grundschulzeit erhebliche Beeinträchtigungen des Lernens, der Sprache und des Verhaltens; sie sind auf sonderpädagogische Hilfe und Unterstützung angewiesen. In einer Grundschule mit 4 Klassen sind dann also etwa 6 bis 8 Kinder sondererziehungsbedürftig. Für diese Kinder sollte jede Grundschule eine volle Sonderpädagogenstelle mit den Fachrichtungen Verhaltensgestörten-, Lern- oder Sprachbehindertenpädagogik erhalten.

Die Zuweisung eines Sonderpädagogen für jeden Zug einer Grundschule sollte dabei nicht von einer diagnostischen Etikettierung der Kinder mit Beeinträchtigungen abhängig gemacht werden. Die sonderpädagogischen Ressourcen werden nicht personbezogen, sondern schulbezogen gewährt werden. Der Stempel "Behinderung" für diese Kinder muß nicht sein; er ist überflüssig und vielfach sogar schädlich. Wir wissen ja eh, daß es an jeder Schule, wo auch immer, diese Kinder gibt, und wir müssen ihre Existenz nicht erst noch durch eine diskriminierende Etikettierung als Behinderte belegen.

Ich plädiere also für eine engere Fassung des Behinderungsbegriffs. Entsprechend der italienischen Praxis sind Schüler mit Beeinträchtigungen des Lernens, der Sprache und der Verhaltens nicht als Behinderte zu bezeichnen. Das diagnostische Etikett ist bei lernbehinderten, sprachbehinderten und verhaltensgestörten Schülern eine unnötige Diskriminierung. Weder die Eltern noch die Öffentlichkeit bezeichnen diese Schüler als Behinderte, und auch die Schüler selbst erleben sich nicht als behindert. Alle diese Schüler gehören nicht in Sonderschulen, sondern in allgemeine Schulen. Lern-, Sprach- und Verhaltensprobleme sind die normalste Sache der Welt, wir alle sind mehr oder minder davon betroffen. Wir müssen anfangen, das Anderssein dieser Kinder ohne diagnostisehe Stigmatisierung zu akzeptieren.

Wenn nun diese sonderpädagogische Grundausstattung - ein Sonderpädagoge für 4 Klassen - verläßlich erwartet werden kann, dann werden wir in naher Zukunft auf die Behinderungskategorien "Lernbehinderte", "Verhaltensgestörte", "Sprachbehinderte" verzichten können. Für alle diese Kinder ist ja dann durch die Grundausstattung von vorneherein, im wahrsten Sinne präventiv, gesorgt. Mit der Abschaffung dieser Behinderungsbegriffe wäre ein gutes Stück mehr Normalität gewonnen. Die Organisationsform "Sonderpädagogen an Regelschulen" läuft also auf eine Abschaffung der Behinderungsbegriffe Lernbehinderung, Verhaltensstörung, Sprachbehinderung hinaus, nicht jedoch auf eine Abschaffung der sonderpädagogischen Hilfen für eben diese Kinder.

5.2. Sonderpädagogen am Förderzentrum

Die zweite Organisationsform subsidiärer Sonderpädagogik ist das "Förderzentrum". Für Kinder mit speziellen Behinderungen ist es in den allermeisten Fällen nicht möglich, an jeder Schule auch eine behindertengemäße Kompetenz vorzuhalten. Für ein einziges körperbehindertes Kind an einer Schule wird wohl niemand eine volle Planstelle für einen Körperbehindertenpädagogen fordern wollen und bezahlen können. Weil Kinder mit speziellen Behinderungen eben selten sind, deshalb muß für diese Kinder eine schulübergreifende sonderpädagogische Einrichtung geschaffen werden. Diese neue schulübergreifende sonderpädagogische Einrichtung wird vielfach "Sonderpädagogisches Förderzentrum" genannt. Ich schließe mich hier - trotz einiger Vorbehalte - um der raschen Verständigung willen dieser Namensgebung an.

Die wesentlichen Merkmale des sonderpädagogischen Förderzentrums nach meinem Verständnis sind Multiprofessionalität und Mobilltät.

Förderzentren als multiprofessionelle Kompentenzzentren

Das sonderpädagogische Förderzentrum ist erstens ein multiprofessionelles sonderpädagogisches Kompentenzzentrum. In ihm sind Sonderpädagogen der Fachrichtungen Körper- und Geistigbehindertenpädagogik, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Schwerhörigen- und Gehörlosenpädagogik vertreten. Gegebenenfalls können auch andere Fachleute wie z.B. der Schularzt, der Schulpsychologe oder der Therapeut als Teil- oder Vollzeitkräfte einem Förderzentrum angehören. Ferner wird man für Kinder mit schwerwiegenden Verhaltensstörungen im Förderzentrum besondere Ressourcen vorhalten müssen. Die Sonderpädagogen des Förderzentrums sind für alle Kinder mit speziellen Behinderungen in den Schulen ihrer Region zuständig. Auf einen Pädagogen entfallen dabei etwa 8 bis 10 Kinder.

Ein wesentliches Kennzeichen ambulanter sonderpädagogischer Arbeit ist die Verlagerung des Tätigkeitsschwerpunktes vom behinderten Kind auf die Umwelt des behinderten Kindes. Der Sonderpädagoge wirkt auf die Umwelt, in der Umwelt und durch die Umwelt. Die veränderte sonderpädagogische Arbeitsweise könnte man daher auch als "ökologische oder systemische Intervention" bezeichnen.

Die Tätigkeit von Sonderpädagogen an Förderzentren läßt sich grob in zwei Arbeitsbereiche teilen:

  1. Unterrichtsarbeit: Unterrichtsarbeit meint pädagogische Arbeit mit behinderten Kindern (Mitarbeit im Unterricht, spezielle Förder- und Therapiemaßnahmen, Spielgruppen usw.)

  2. Beratungsarbeit: Beratungsarbeit meint pädagogische Arbeit für behinderte Kinder (Elternberatung, Mediendienst, Entwicklung von Förderplänen, Koordination sozialer Dienste, usw.)

Die Alternative zu einem multiprofessionellen Zentrum wäre übrigens ein monoprofessionelles Zentrum. Jede Fachrichtung würde dann ein eigenes, fachrichtungsbezogenes Förderzentrum unterhalten. Ich plädiere jedoch für den Aufbau interdisziplinärer, multiprofessioneller Zentren.

Förderzentren als mobiler Dienst

Das zweite Charakteristikum sonderpädagogischer Förderzentren ist Mobilität. Förderzentren leisten mobile Dienste. Die behinderten Kinder kommen nicht in das Zentrum, sondern das Zentrum kommt zu ihnen in ihre Schule. Förderzentren sind also keine Sonderschulen mehr, sondern "Schulen ohne Schüler".

Obwohl Förderzentrum im wesentlichen "außer Haus" und "vor Ort" tätig sind, können behinderte Kinder natürlich auch für besondere Förderkurse oder Trainingsphasen in das Zentrum geholt werden. Solche Intensivphasen sonderpädagogischer Förderung im Zentrum sollten allerdings in ihrer Häufigkeit und in ihrer zeitlichen Dauer begrenzt bleiben. Ansonsten könnten aus den Förderkursen schnell Sonderklassen werden, und aus mehreren Sonderklassen könnte sich dann wieder eine Sonderschule entwickeln. Förderzentren sind aber keine stationären Einrichtungen für behinderte Kinder, sondern Dienstleistungsunternehmen für integrationsunterstützende Arbeit. Dieser integrationsunterstützende Service- und Assistenzcharakter von Förderzentren muß wegen des Prinzips der Gemeinsamkeit unter allen Umständen erhalten bleiben.

Für die Sonderpädagogen im einem Förderzentrum bedeutet mobiler Dienst: zu den Kindern hingehen, sie in ihren Schulen aufsuchen, "reisen". In der Diskussion von Förderzentren ist gerade diese "Reisetätigkeit" der Stein des Anstoßes überhaupt, der die Gemüter in Bewegung bringt. Der " reisende" Sonderpädagoge, der Sonderpädagoge als "Köfferlipädagoge" - so die liebenswürdige Kritik in der Schweiz - erschüttert zutiefst das traditionelle Berufsbild vom Lehrer, den man sich eigentlich nur als Klassenlehrer mit einer eigenen Klasse und mit eigenen Kindern vorstellen kann. Es wird gewiß noch vielfältiger Erfahrungen bedürfen und noch einige Zeit dauern, bis wir das neue Berufsbild des Ambulanzlehrers beschreiben können.

Abbildung 6: Aufgaben von Förderzentren

Aufgaben von Förderzentren

Die Aufgaben von Förderzentren sind in Abbildung 6 zusammenfassend dargestellt. Der bemessenen Raumes wegen muß ich auf erläuternde Kommentare verzichten. Im Grunde genommen tun "Sonderpädagogen an Regelschulen" und "Sonderpädagogen an Förderzentren" genau die gleiche Arbeit, da gibt es keine großen Unterschiede. Beide sonderpädagogischen Systeme leisten subsidiäre sonderpädagogische Arbeit für behinderte Kinder in allgemeinen Schulen, beide haben die gleichen Ziele, die gleichen Aufgaben, die gleiche Anzahl an Kindern pro Pädagoge, und beide haben auch in etwa die gleiche Arbeitsweise. Was die beiden Systeme subsidiärer Sonderpädagogik unterscheidet, ist allenthalben der äußere Rahmen: also der Dienstsitz, die Bezugskollegien, der Tagesablauf, der Arbeitsrhythmus und anderes mehr.

Zusammenfassend: Förderzentren sind sonderpädagogische Kompentenzzentren, die mobile integrationsunterstützende Arbeit für behinderte Kinder in allgemeinen Schulen leisten. Oder - mit den Worten von Alfred Sander - "ein professionelles Netzwerk zur Unterstützung behinderter Kinder in ihrer Umwelt".

6. Schluß

Das vorgestellte Konzept eines Sonderpädagogischen Förderzentrums skizziert ein ideales Modell. Bei der konkreten Umsetzung sind gewiß pragmatische Anpassungen an die strukturellen Bedingungen der jeweiligen Region erforderlich. Ein wichtiges Motiv für realitätsbezogene Modellanpassungen ist dabei die Akzeptanz, die das Konzept bei den Beteiligten und Betroffenen findet. Allerdings kann das Erfordernis pragmatischer Konzeptanpassungen nicht völlige Beliebigkeit bedeuten.

Anmerkung

Der vorstehende Text geht auf verschiedene Vorträge und Aufsätze zurück. Verwiesen sei auf die Arbeit "Ambulante Sonderpädagogik", in: Zeitschrift für Heilpädagogik 1991, Heft 2, Seite 104 - 111.

Weiterführende Überlegungen und Literaturhinweise finden sich in dem Aufsatz "Sonderpädagogisches Förderzentrum" in: SCHUCK, K. D. (Hrsg.): Beiträge zur Integrativen Pädagogik. Hamburg (Hamburger Buchwerkstatt) 1990, 33-60

Hans Wocken: geb. 1943 in Emsland. Meine Muttersprache ist Plattdeutsch. Im 1. Schuljahr habe ich von meiner Lehrerin "Fräulein Steinke" Hochdeutsch gelernt. Weil ich das jüngste von 9 Kindern war und die Familie mit allen Handwerkern schon versorgt war, durfte ich zum Gymnasium. Nach dem Lehrerstudium war ich 5 Jahre Lehrer an einer Hauptschule und 2 Jahre an einer Sonderschule für Lernbehinderte. 1980 erhielt ich einen Ruf an die Universität Hamburg und nehme dort bis heute eine Professur für Lernbehindertenpädagogik wahr. Die Begegnung mit integrationsorientierten Eltern war für meine berufliche Biographie von entscheidender Bedeutung. Seit 1983 bin ich in der Wissenschaftlichen Begleitung der Hamburger Schulversuche "Integrationsklassen" und "Integrative Regelklasse" tätig. Bildungspolitisch ist mein vorrangiges Ziel die flächendeckende Integration aller Kinder mit Behinderungen in der Grundschule für alle.

Foto: Erwachsene und Kinder schieben ein Kind im Rollstuhl (Beschriftung von bidok eingefügt)

Zettel am Brett der Laborschule Bielefeld

If you first

don't succeed -

try harder

Impressum

Die Deutsche Bibliothek - CIP- Einheitsaufnahme

Herausgegeben von Friedrich Fabriz, Stefanie Rinck, Michael Tettenborn

Fotos: Valentin Wittmann

Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung in Hessens Grundschulen, Ein Lesebuch zu 10 Jahren Integrative Schule Frankfurt / Evangelische Französische-reformierte Gemeinde (Hrsg.) - Bonn: Reha-Verlag, 1995

Schriftenreihe Lernziel Integration; Heft Nr. 15

ISBN: 3-88239-212-6

Herausgeber: Evangelische Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt, Eschersheimer Landstr. 393, 60320 Frankfurt/Main, Tel.: 069/56 54 90

Verlag: Reha-Verlag GmbH, PF 20 11 6 1, 53141 Bonn, Tel.: 0228/35 23 28. Fax: 35 95 69

Alle Rechte, einschließlich der auszugsweisen mechanischen Vervielfältigung, vorbehalten.

1995 Printed in Germany

ISBN 3-88239-212-6

Quelle:

Evangelische Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt (Hrsg.): Spuren. Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung in Hessens Grundschulen. Ein Lesebuch zu 10 Jahren Integrative Schule Frankfurt

Erschienen in: Schriftenreihe Lernziel Integration, Nr. 15, Reha-Verlag, Bonn 1995

bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.11.2006

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