Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins

Autor:in - Valerie Sinason
Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © Valerie Sinason 2000

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Valerie Sinason

Titel: Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins

Infos: Beiträge zur Integration. Neuwied: Luchterhand Verlag 2000. 259 Seiten. 39,80 DM

Themenbereich: Therapie

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Marlis Pörtner, Zürich

Publikationen zur Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung sind selten. Immer noch arbeiten nur wenige Therapeuten auf diesem Gebiet, obwohl hier ein echter Bedarf nach angemessenen therapeutischen Angeboten besteht. Umso erfreulicher, dass dieses interessante Buch nun auch auf deutsch erschienen ist. Es ist ein wichtiger Beitrag zum Thema "Psychotherapie und geistige Behinderung".

Die Psychoanlaytikerin ValerieSinason arbeitet an der Tavistock Klinik in London seit vielen Jahren als Psychotherapeutin mit geistig behinderten Menschen. In dem vorliegenden Buch schildert sie anhand von ausführlichen Fallbeschreibungen ihre Erfahrungen, stellt ihre Thesen vor und erläutert ihr Verständnis von geistiger Behinderung.

Sie fragt nach dem "Sinn des Dummseins", das sie nicht als unveränderliche Gegebenheit, sondern als Ergebnis einer Entwicklung versteht, und betont, wie sehr die Behinderung eines Menschen von seinen sozialen Erfahrungen geprägt ist. Ihrer Unterscheidung zwischen "primärer" und "sekundärer" - also biologisch bedingter und sozial eingeübter - Behinderung setzt Dietmuth Niedecken im Vorwort die eigene Auffassung von einer "einheitlichen geistigen Entwicklung, deren Resultat unter spezifisch erschwerten Bedingungen auch geistige Behinderung sein kann" entgegen. Doch spielen solche unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen für die Praxis eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist die unbestrittene - und durch Sinasons Erfahrungen bestätigte - Erkenntnis, wie sehr die weitere Entwicklung eines Menschen an seiner Behinderung beteiligt ist, meist in viel entscheidenderer Weise als die zugrundeliegende Hirnschädigung, falls eine solche überhaupt vorliegt. Denn nicht selten stellen sich traumatische Erfahrungen, vor allem sexueller Missbrauch, als eigentliche Ursache einer geistigen Behinderung heraus. Sinasons Falldarstellungen zeigen erneut - und das ist immer wieder erschütternd - wie verbreitet in den Lebensgeschichten geistig behinderter Menschen Missbrauch vorkommt, sexueller ebenso wie emotionaler Missbrauch.

Die Autorin demontiert denn auch den Mythos vom "glücklichen Behinderten" und belegt anhand ihrer klinischen Erfahrung, wie das "behinderte Lächeln" fast immer eine Maske ist, die den Erwartungen des Umfeldes entgegenkommt und abschirmt vor dem dahinterliegenden Trauma, das die Entwicklung des betroffenen Menschen geprägt hat (wiederum handelt es sich erschreckend häufig um Missbrauch und Inzest). Diese traumatischen Erfahrungen haben - neben erschwerenden äußeren Umständen - einschneidende Auswirkungen auf die Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung. Dieser Problematik widmet die Autorin je ein eigenes Kapitel über "weibliche" beziehungsweise "männliche Sexualität und geistige Behinderung".

Es ist ein sehr persönliches Buch mit vielen Querbezügen zu literarischen Werken, die Sinason wichtig sind und in denen sie Parallelen zu ihren Erkenntnissen findet. Der Text wird ergänzt durch Gedichte der Autorin, die in England auch als Lyrikerin einen Namen hat. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, und die manchmal etwas weitschweifigen, nicht für alle nachvollziehbaren literarischen Bezüge erschweren teilweise die Lektüre. Dennoch ist sie sehr zu empfehlen, nicht zuletzt deswegen, weil sie den Leser(inne)n eine Fülle von Anregungen für eigene Gedankengänge und Rückschlüsse bietet.

Das liegt vor allem an den vorzüglichen Fallbeschreibungen. Sie sind das Kernstück des Buches und sprechen für sich: auf eindrückliche Weise lassen sie hinter der Fassade der Behinderung Menschen hervortreten, Menschen mit ihrer Geschichte und mit ihrem Schicksal, Menschen, die durchaus etwas mitzuteilen haben, wenn wir bereit sind, uns auf ihre - verbale oder nicht verbale - "Sprache" einzulassen und dem, was sich darin auszudrücken versucht, die Bedeutung nicht abzusprechen, selbst wenn wir sie nicht verstehen. Entscheidend ist das Bemühen um Verstehen. ValerieSinason nutzt dabei weitgehend die Gegenübertragung als Schlüssel zum Verständnis. Und man braucht weder mit diesem psychoanalytischen Konzept vertraut noch Therapeutin zu sein, um sich ein Beispiel zu nehmen an der Ehrlichkeit und Genauigkeit, mit der die Autorin ihre Gefühle und Reaktionen - auch die negativen - wahrnimmt und benennt. Auch im Alltag ist das Erkennen dessen, was in ihnen selber vorgeht - neben der Einfühlung in den anderen Menschen - für alle, die mit geistig behinderten Menschen zu tun haben, unerlässlich, um ihnen einigermaßen gerecht zu werden.

Sinason beschreibt die Therapieverläufe sehr genau und ohne zu beschönigen, mit Höhen und Tiefen, Lichtblicken und Frustrationen, Erfolgen und Fehlschlägen. Die Beschreibungen regen zum Mitdenken an. Sinasons Deutungen mögen nicht psychoanalytisch orientierten Lesern da und dort etwas weithergeholt erscheinen, und es wäre durchaus auch ein direkteres Verständnis dessen, was sich da ausdrückt, denkbar. Doch sie treffen, wie die Reaktionen der Klienten zeigen, oft verblüffend genau zu, und wenn nicht, ist auch das an den im Wortlaut wiedergegeben oder sehr genau geschilderten Reaktionen der Klientinnen abzulesen. Diese Präsenz der Klientenseite macht die Beschreibungen so aufschlussreich. Aus ihr wird spürbar, wie bei ValerieSinason Einfühlung und Ernstnehmen der behinderten Menschen vor den theoretischen Überlegungen stehen. Deutlich spürbar ist auch die Achtung, mit der sie ihnen begegnet.

Über die Schilderung individueller Schicksale hinaus, rühren die Falldarstellungen - ohne diese direkt zu thematisieren - an grundsätzliche Fragen nach Sinn, Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung. Auch in dieser Hinsicht leistet das Buch einen wertvollen Beitrag zur notwendigen und wünschenswerten Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema.

Zu bedauern ist, dass Sinasons Überlegungen zum Sprachgebrauch in der deutschen Ausgabe ganz weggelassen wurden. Sie sind, wenn auch nicht eins zu eins, so doch in ihren wesentlichen Aspekten durchaus auf deutsche Verhältnisse übersetzbar. Die Problematik, die ValerieSinason aufgreift, ist im deutschen Sprachraum dieselbe und bedarf auch hier dringend der Diskussion.

Das Buch ist ein fundierter, engagierter und anregender Beitrag zur fachlichen Diskussion. Doch nicht nur das: indem es aufzeigt, dass befremdliches Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur als "störend" zu betrachten ist, sondern als Ausdruck von etwas, das wir (noch) nicht verstehen, ermöglicht es eine Horizonterweiterung, die nicht nur Fachleuten zu wünschen ist, sondern allen, die in irgendeiner Weise mit geistig behinderten Menschen in Berührung kommen - denn diesen sollte sie letztlich zugute kommen.

Marlis Pörtner, Zürich

Quelle:

Rezensiert von Marlies Pörtner

Entnommen aus: Geistige Behinderung 1/2001 (Fachzeitschrift der Lebenshilfe)

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 01.12.2011

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