Ökologie und Behinderung - Kritik an der Macht der Gesundheit

Autor:in - Udo Sierck
Themenbereiche: Schule
Schlagwörter: Eugenik, Gesundheit
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988 S. 489-500
Copyright: © Curio Verlag 1988

Ökologie und Behinderung - Kritik an der Macht der Gesundheit

Als vor gut zwei Jahren die Reaktorhavarie in Tschernobyl die Öffentlichkeit schockte, fühlte sich die bundesdeutsche Ökologie-Bewegung endgültig bestätigt: Die Nutzung der Atomkraft sei unverantwortlich und menschenverachtend - nicht zuletzt deshalb, weil durch die radioaktive Strahlung die Gefahr der Geburt behinderter Kinder herbeigeführt wird. Folgerichtig erlebten als direkte Reaktion auf die Katastrophe in der Ukraine die humangenetischen Beratungsstellen einen Besucherboom. Viele werdende Eltern oder schwangere Frauen erhofften sich durch eine Fruchtwasseranalyse die Erlösung von der plötzlich gesteigerten Angst, daß ihr Nachwuchs behindert sein könnte. Dabei belegt eine Untersuchung über die Ratsuchenden zwischen München und Kiel, daß insgesamt und zugespitzt in den Monaten nach Tschernobyl die Besucher überwiegend aus den 'aufgeklärten' Bevölkerungskreisen stammen, daß also diejenigen, die aufgeschlossen behaupten, sie haben nichts gegen behinderte Menschen, zum großen Teil identisch sind mit denjenigen, die behinderten Nachwuchs vermeiden wollen und in einer eugenischen Tradition stehen. In Großstädten wie Hamburg oder Bremen führen die gebildeten und gutsituierten Bürger quantitativ die Besucherlisten der Humangenetiker an, demnach genau die Personengruppe, die in den Integrationshochburgen Hamburg und Bremen den Kern der engagierten Elterninitiativen gegen die Aussonderung ihrer Zöglinge in Sondereinrichtungen bildet. Und auch das ökologische Bewußtsein hat hier ein festes Standbein.

Wie dicht zusammen liegen die Motive der Humangenetiker für ihr Wirken und das Engagement der Ökologie-Bewegung, gibt es die ansonsten heftig bestrittene Übereinkunft zwischen Naturschützern und den bedingungslosen Verfechtern des medizinisch-technisch Machbaren, wenn es um Gesundheit und Beweglichkeit, wenn es um das nichtbehinderte Kind geht? Eine bejahende Antwort auf diese Frage würde für behinderte Menschen in letzter Konsequenz düstere Lebensperspektiven eröffnen.

1. Schattenseiten humangenetischer Aktivitäten

Die erste für die Öffentlichkeit gedachte humangenetische Beratungsstelle wurde 1972 in Marburg vom späteren Vorsitzenden der 'Lebenshilfe für geistig Behinderte', Prof. Manger-König, eröffnet. Der Leiter dieser Einrichtung, der kürzlich verstorbene Humangenetiker Prof. Wendt, stand seinerzeit an der Spitze der 'Stiftung für das behinderte Kind'. Er beschrieb seine Aufgabe treffend: Trotz der löblichen Arbeit in der Behindertenfürsorge müsse gesehen werden, daß man sich wie ein Klempner verhalte, der verzweifelt das Wasser aus der Wohnung schöpfe, ohne daran zu denken, den defekten Hahn zu schließen. Die dunkle Quelle verstopfen, aus der all das quoll, war auch das erklärte Ziel der Rasse- und Sozialhygieniker der Weimarer Republik. Auf die grausigen Umsetzungsversuche dieser Absicht in den Jahren 1933 - 1945 während der nationalsozialistischen Zeit soll hier nicht weiter eingegangen werden; zu erwähnen bleibt allerdings, daß diese direkt oder indirekt an Verbrechen beteiligten Wissenschaftler sich nach 1945 kollektiv in Humangenetiker umgenannt und ihre Arbeit erfolgreich fortgesetzt haben (1).

Aber nicht nur die unübersehbare personelle Kontinuität gibt zu denken. Aufmerksam sollten die Argumente machen, mit denen die flächendeckende Existenz der inzwischen weit über 40 humangenetischen Institute und Beratungsstellen begründet werden. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer formulierte 1980 besorgt: "Wir stehen vor der Notwendigkeit, immer mehr und immer ältere Behinderte zu versorgen. Die Grenze der Leistungsfähigkeit der Gesamtheit der Versicherten und des Staates ist in Sicht, ja verschiedentlich ist sie bereits überschritten. Als wichtige Konsequenz ergibt sich aus dieser Situation, daß der Krankheitsvorbeugung und damit der genetischen Beratung ein besonderes Gewicht beigemessen wird. Bei der heute einfachen Familienplanung ist es wichtig, daß die wenigen Kinder gesund zur Welt kommen." Die Verbindung von Kosten-Nutzen-Analysen und bevölkerungspolitischen Erwägungen rührt von der Beobachtung her, daß in deutschen Familien ein Geburtenrückgang zu beobachten ist, der für das 'Vitalvermögen des Volkes' als besorgniserregend gilt. Diesem Phänomen soll durch das Qualitätsbaby, dem Muß zum gesunden Kind begegnet werden.

Auf dieser Linie liegt die Doktorarbeit des Volkswirtes v. Stackelberg. In seiner Effizienz- und Effektivitätsuntersuchung stellte er die Kosten der gesamten Behindertenversorgung den Ausgaben für die umfassende humangenetische Beratung jeder Schwangeren in der Region Marburg modellhaft gegenüber. Er kam zu dem Schluß, daß der intensive Ausbau dieser Beratungsstellen aus volkswirtschaftlichen Erwägungen zwingend geboten sei. Die Arbeit wurde 1981 - im 'Jahr des Behinderten' - vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mit dem Gesundheitsökonomiepreis, einer Ehrung für richtungsweisende Analysen in der Gesundheits- und Sozialpolitik, ausgezeichnet.

Die in den humangenetischen Beratungsgesprächen gewonnenen Einblicke über 'Auffälligkeiten' in der Familie werden vielfältig genutzt. In Hamburg gibt es etwa seit Jahren Bemühungen der Gesundheitsbehörde, die genetischen Beratungsstellen zu einer einheitlich codierten, fallbezogenen Dokumentation zu veranlassen. Der Vergleich dieser Daten mit den Datensammlungen in der Geburtshilfe der Krankenhäuser könnte die Fehlerquote in der pränatalen Diagnostik anhand der Konzeptionsprodukte, wie die (abgetriebenen) Embryos bzw. Neugeborenen im Fachjargon mittlerweile genannt werden, überprüfen. Neben dem Aufbau von zentralen Registern über bestimmte Merkmalsträger - bspw. Menschen mit einer Muskelkrankheit oder der Huntington'schen Chorea - dienen die Erkenntnisse aus der humangenetischen Beratung der Forschung: Wie verändern sich Chromosomen bei Tumoren, wie sieht der molekulare Aufbau bestimmter Erbkrankheiten aus, was sind die biochemischen Ursachen geistiger Behinderung?

Die Suche nach der Antwort auf solche Fragen geht mit exakt naturwissenschaftlichem Denken vonstatten: Das Lebende wird in immer kleinere Einzelteile zerlegt, sortiert und neu zusammengesetzt. Zeit für ethische Überlegungen bleibt nicht im Gefüge des Wissenschaftsbetriebes, genauso wenig wie für Gedanken an die gesellschaftlichen Folgen dieses Wirkens. Notwendig wäre es, denn die Humangenetik hofft zur Bewältigung ökologischer Katastrophen und Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz beitragen zu können. Wie die Gefahren der Gifte oder Strahlen durch die Kontrolle der menschlichen Bausteine in den Griff genommen und damit gesellschaftliche Probleme individualisiert werden sollen, skizzierte der Hamburger Ökogenetiker Prof. Goedde schon vor wenigen Jahren: "Das Studium der Wechselwirkung einer speziellen Umgebung (z.B. Arbeitsplatz) mit erblicher Prädisposition für den toxischen Einfluß von Chemikalien, Lösungsmitteln, Abgasen, Metallen etc. als Risikofaktor kann von besonderer Bedeutung sein. Generell erscheint die Erfassung einer 'genetischen Konstitution' immer wichtiger. Dazu haben wir vor Jahren bereits einen sogenannten Pharmakogenetik-Paß empfohlen. (...) Mittels 'genetischer Tests' sollte ein maximaler Schutz gegen 'inborn errors' hervorgerufene Schädigungen angestrebt werden ... Bei Programmen bezüglich der Gefährdung am Arbeitsplatz (Screening-Tests, genetische Beratung, evtl. Verbot einer bestimmten Arbeit etc.) erscheint es wichtig, daß die Verantwortung der Gesellschaft und die Freiheit des Individuums in einem vernünftigen Einklang stehen."

Von solchen Zukunftsperspektiven der Pflicht zur Gesundheit werden sich die meisten Aktivisten der Ökologie-Bewegung scharf distanzieren und auf gesellschaftliche Bezüge verweisen. Dennoch ist zu vermuten, daß die unreflektierte Philosophie vom gesunden Menschen in der gesunden Natur wesentlich zur verbreiteten Akzeptanz der humangenetischen Techniken, zur Verschärfung des sozialen Klimas für Behinderte oder Kranke beigetragen hat.

2. Schattenseiten umweltbewußter Aktivitäten

Es läßt sich belegen, daß die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Verstrahlungsversuche an tausenden Soldaten bei Atombombenversuchen neben militärischen Zielen als groß angelegte genetische Experimente betrachtet und genutzt wurden. Gleichzeitig ist bekannt, daß die bundesdeutsche Atomwirtschaft den Ausbau humangenetischer Institutionen in den sechziger Jahren förderte (2). Bei diesem Wissen mutet es schon makaber an, daß nach Tschernobyl Friedensbewegte und Atomkraftwerksgegner in die Beratungsstellen strömten. Doch so unerklärlich ist der Widerspruch nicht: Es existiert nämlich eine Bewegung für das gesunde Leben, die bei näherer Betrachtung behindertes Dasein wie selbstverständlich negativ bewertet und tunlichst verschwinden lassen möchte. Dieser Effekt entsteht scheinbar wie nebenbei: Die Demonstration gegen das Atomkraftwerk hat den Platz zur Zwischenkundgebung erreicht, der Zug sammelt sich in der Nähe von Lautsprecherwagen und lauscht mehr oder weniger desinteressiert den Beiträgen. Die erste Rednerin oder der zweite Sprecher begründen den gerechten Kampf: "Wir stehen hier auch für unsere Kinder! Sie sollen keinen mißgebildeten Nachwuchs bekommen!" Jawohl, Beifall brandet auf. Dem Behinderten auf der Demo wird's mulmig, er steht als Elendsmuster da. Drastisch ausgedrückt hätte es heißen müssen: "Paßt bloß auf, daß es nicht noch mehr Krüppel gibt, wie ihr ihn dort seht."

Oder die Friedensbewegung macht mobil gegen Nachrüstung und Atomraketen. Höhepunkt dieses phantasievollen Wirkens gegen die unmenschlichen Kriegsvorbereitungen: Ein großes Transparent mit einem Halbskelett an Krücken, viel belacht und beklatscht. Ist über diesen seltsamen Humor nur der Kopf zu schütteln - es kursierte auch lange ein Anstecker gegen die Elbverschmutzung, auf dem ein halbverwester Fisch an Krücken auf künftiges Absterben verweist und nochmal "Hummel Hummel!!" brüllt -, so fragt sich, warum zur Überzeugungsarbeit gegen Kriegsschrecken das Hilfsargument der Behinderung als Bedrohung benötigt und genutzt wird. Lassen gigantische Untergangsperspektiven das gehütete Geheimnis der Abscheu vor Verkrüppelungen durchbrechen - sozusagen als vergleichsweise kleineres Übel, das vorstellbar und noch aushaltbar ist?

Wer grün-alternative Diskussionsrunden beobachten konnte, ist erstaunt, wie auch da inhaltliche Konflikte und Gegenpositionen schlagwortartig kommentiert werden: "schwachsinnig!", "hirnrissig!", "blindes Vorgehen!" oder "absolut blödsinnig!" Mit diesen Äußerungen soll ein Vorschlag oder eine anvisierte Handlung als schlichte negative Entgleisung gebrandmarkt werden. Niemand stolpert über diese eindeutig behindertenfeindliche Sprache, über die sprachliche Gleichsetzung (wie war das noch mit dem Zusammenhang von Sprache und Bewußtsein?!) von 'Behinderung' und 'aus der Welt schaffen'. Die oft mild belächelten (ur-grünen) Vorstellungen vom gesunden und nichtbehinderten Menschen in der intakten und heilen Natur sind tatsächlich weit verbreitet, sie sind allerdings einem Ideal nachgeeifert, das mit Behinderung schwer in Einklang zu bringen ist.

Während die Umweltaktivisten von 'Robin Wood' mit bedrückender Ausschließlichkeit für ihre Organisation mit dem Slogan "Bei uns ist alles gesund!" werben, bringt es die linksalternative 'tageszeitung' auf der Anzeigenseite unter der Rubrik "ökologisch leben" fertig, durch Wortwahl und Symbolik die Werte Gesundheit, Schönheit und Natur zu suggerieren und damit so verschiedene Produkte wie Papier, Wein, Wolle, Betten und Matratzen, Bodenbeläge und Wurst, Fahrräder oder Dämmaterial an die Kundschaft zu bringen. Wer käme auch auf die Idee, die biologisch angebaute Marmelade von einer Spastikerin anpreisen zu lassen? Das paßt nicht zusammen. Eben.

Beweglichkeit und Fitness ist Trumpf im ökologisch orientierten Bewußtsein, wer aus diesem Bild fällt, hat schlechte Karten, gilt als gebeutelt und beklagenswert. Ihr Pendant haben die Umweltbewußten sicher in denjenigen, denen es nicht den Appetit verschlägt, wenn kurz vor der allabendlichen 'Tagesschau' der Fernsehspot für einen Vitamin-Bonbon mit entsprechend fröhlichen Bildern wirbt und behauptet: "Die Welt ist schön für gesunde und aktive Kinder." Magenschmerzen sollten schon auftauchen, denn die unterschwellig transportierte Botschaft ist brisant: Die Welt ist trostlos für behinderte oder pflegeabhängige Kinder.

Nicht zufällig setzen die Humangenetiker an diesem Menschenbild an und werben mit der Behauptung, Leiden - und gemeint sind damit bestimmte Nachkommen - verhindern zu können. Oder wie es der aufgeschlossene ehemalige Berater Dr. Meineke in einem Interview ausdrückt: Man kann "das Übel an der Wurzel packen", d.h., so ist zu interpretieren, dort gründlich zu selektieren, wo die Medizin sich mit anderen Mitteln nicht weiterzuhelfen weiß. Mit 'Übel' allerdings sind behinderte oder kranke Menschen gemeint. Angeknüpft wird an einem Lebensentwurf, der Behindert-Sein nicht als eine von vielen Lebensformen akzeptiert, sondern mit verhinderungswürdigem Leid gleichsetzt. Was darunter zu verstehen ist, geht bei der verbreiteten Angst vor Behinderung unter. Die Humangenetiker nennen in ihrem Erbforschungsdrang schon jetzt gut 4000 Merkmale abweichend vom Durchschnitt. Ungewöhnliches wird da schnell pathologisch, die Grenzen fließen. Auf erbliche Dispositionen werden psychische Störungen, Anfälligkeit für Alkoholismus oder für Krebserkrankungen zurückgeführt. Behinderung bildet lediglich das Einfallstor für einen neuerwachten Biologismus, hinter dem soziale Faktoren zurückfallen. Diese Entwicklung funktioniert so trefflich, weil allerorten Gesundheit als das höchste Gut gepriesen wird, dem sich alles unterzuordnen hat. In einer Umgebung mit traditionell gewachsenen Vorurteilen, in der zusätzlich die Vision vom behindertenfreien Alltag lanciert wird, müssen die Behinderten künftig das Makel tragen, nicht rechtzeitig erkannt worden oder Kind verantwortungsloser Eltern zu sein. Die Eltern hingegen stehen unter dem Druck der gesellschaftlich geforderten Verpflichtung, ein gesundes Kind in die Welt zu setzen; ein sozialer Druck, den die Ökologie-Bewegung fördert und mitzuverantworten hat.

3. Wider die Gärtnermentalität

Wenn angesichts immer neuer umweltpolitischer Hiobsbotschaften die Forderung nach dem Gesunden und Ursprünglichen an Bedeutung gewinnt, kann dies zur Bedrohung für das Ungesunde werden. Denn die Bundesdeutschen besitzen eine Gärtnermentalität - das Blühende zu hegen und das Unkraut zu jäten. Insbesondere behinderte Menschen haben Grund zur Wachsamkeit, wenn in der Öffentlichkeit in einem Atemzug vom Vorrang der Gesundheit und der Freigabe der aktiven Sterbehilfe die Rede ist. Immerhin werden sie benutzt, um die Sterbehilfe-Idee mit Bildern unter das Volk zu bringen, die bei der bekannten Furcht vor Behinderung und Krankheit, vor Alter und Tod ansetzen. Die betreffenden Personen erhalten dabei Attribute, die Erschütterung und Zustimmung zur inszenierten Selbsttötung erzeugen sollen, die aber gleichzeitig nur die reale Lebenssituation von etlichen behinderten, kranken oder alten Menschen schildern. Zustandsbeschreibungen der Pflegeabhängigkeit ergänzen sich mit Hinweisen zur fehlenden Ästhetik oder dem Abdrängen ins Tierähnliche.

Die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird, daß solche Schilderungen den Ruf nach Sterbehilfe stärken, legt den Verdacht nahe, daß ein 'Lebensunwert'-Denken nach wie vor existiert. Der Vorgabe des Interviewers, "wenn ich auf der Säuglingsstation die Kinder mit den schweren Mißbildungen sehe, dann meine ich, es wäre doch besser, solche Säuglinge nicht mit allen Mitteln am Leben zu erhalten", stimmten 1970 in einer repräsentativen Umfrage 63 % der Bundesbürger zu, in den Großstädten sogar 70 %. Als das Allensbacher Institut 1974 eine Umfrage zur 'Euthanasie' machte und die historisch belastete Bezeichnung wählte, waren immerhin 38 % der Befragten der Meinung, man solle "Menschen mit schweren geistigen Schäden" ein Medikament geben, "damit sie nicht mehr aufwachen".

Gegenwärtig mehren sich die Anzeichen, daß Volkes Stimme eben auch in fortschrittlichen (?) Köpfen spukt und zum Vorschein kommt. So ist für den rororo-Bestseller 'Nach dem Super-GAU' in Tschernobyl Behindert-Sein schlimmer als der Strahlentod. Ebenso ungerührt und ohne Empörung auszulösen schrieb der 'Spiegel' im April 1987 zu den Folgen des Reaktorunglücks über Kinder mit einem Down-Syndrom: Dies sei die häufigste, "gerade noch mit dem Leben zu vereinbarende Mißbildung". Als kurz darauf in Bayern ein junger Vater seinem neugeborenen Sohn die Kehle wegen des Verdachts auf Down-Syndrom durchschnitt, begründete der zu drei Jahren Haft verurteilende Richter sein Strafmaß: Er müsse diese Tat sozusagen prophylaktisch belangen, weil er davon ausgehe, daß das Vorgehen des alternativ gefärbten Vaters auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stoßen würde.

Die verständliche Angst der sich kritisch nennenden Zeitgenossen vor den Folgen der Atomkraft führt offensichtlich dazu, daß unbewußte Urteile jetzt auch ausgesprochen werden. Weil diese Sätze aber immer noch wie selbstverständlich, mit reinem Gewissen und deshalb vollkommen unreflektiert fallen, verdichtet sich für behinderte Menschen spürbar eine Atmosphäre, die ihnen mehr oder weniger deutlich das Existenzrecht entzieht. Angesichts des verbreiteten Negativbildes vom hilflosen oder pflegeabhängigen Menschen wird es nachvollziehbar, wenn sich diese Personen selbst nur noch als Last begreifen und sich dieser beklemmenden Situation 'freiwillig' entziehen wollen, immer häufiger mediengerecht zum gereichten Zyankalibecher greifen. Ähnlich wie selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung lebende Schwerbehinderte sind Ärzte und Seelsorger, die häufig auf der Intensivstation mit Schwerkranken konfrontiert sind, allerdings der Ansicht, daß der Wunsch nach Sterbehilfe oft lediglich die Aufforderung zur menschlichen Pflege, zur ehrlichen Auseinandersetzung mit ihrem Leid ist (3). Dazu ist aber kaum noch wer fähig oder bereit, weil die Bestrebungen zum glücklichen Leben nur eine Seite der Medaille beachten. Spätestens an dieser Stelle wäre die Ökologie-Bewegung - wer auch immer dazu gezählt werden mag - mit einem eindeutigen Bekenntnis zu Behinderung und Krankheit gefragt. Das wäre der notwendige erste Schritt aus einem Trugschluß, der ökologisches Denken automatisch mit humanem Denken gleichsetzt. Die Liebe zur Natur beinhaltet nicht zwangsläufig die Liebe zum Menschen, sondern vielmehr die zum vitalen Menschen. Daß das eine ohne das andere geht, belegt erschütternd der liebevoll angelegte, gehegte und gepflegte Kräutergarten im Konzentrationslager Dachau (4).

Anmerkungen

1) vgl. dazu: SIERCK, U. & RADTKE, N.: Die WohlTÄTER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung. 4., erweiterte Auflage, Mabuse-Verlag 1988

2) vgl. dazu: WESS, L.: Die Träume der Genetik. Greno-Verlag 1988

3) vgl. dazu: Lebensweisen und Tod, 'Psychologie und Gesellschaftskritik', Heft 45/46, 1988

4) vgl. dazu: Volk und Gesundheit. Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus, Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1982

Quelle:

Udo Sierck: Ökologie und Behinderung - Kritik an der Macht der Gesundheit

In: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 489-500

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.10.2006

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