„Beerdigt am Anstaltsfriedhof“

Autor:in - Oliver Seifert
Themenbereiche: Eugenik
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011. S. 237-243.
Copyright: © Oliver Seifert 2011

Abbildungsverzeichnis

    Ein Projekt zur Geschichte des ehemaligen Friedhofs der Heil- und Pflegeanstalt Hall i. T.

    Begleitet von einem enormen Medieninteresse wurde Anfang Jänner 2011 der Öffentlichkeit der Beginn des Projektes zur „Bergung und Untersuchung des Anstaltsfriedhofes des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall i. T.“ mitgeteilt. Durch den geplanten Bau einer neuen forensischen Abteilung auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Hall (Psychiatrisches Krankenhaus) ergab sich die Notwendigkeit, den ehemaligen Anstaltsfriedhof zu exhumieren. Da sich der Belegungszeitraum auf die Jahre 1942 bis 1945 beschränkte, wurde die Frage relevant, ob die Installierung und Nutzung des Friedhofes in irgendeinem Zusammenhang mit den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen stand und zumindest ein Teil der dort beerdigten Patienteninnen und Patienten als Opfer dieser Maßnahmen anzusehen ist. Dieser historische Kontext bewog den Krankenhausträger TILAK dazu, noch vor dem unmittelbaren Baubeginn, in Kooperation mit der Universität Innsbruck, Institut für Archäologien, ein interdisziplinäres wissenschaftliches Projektteam bestehend aus ArchäologInnen, HistorikerInnen, AnthropologInnen, MedizinerInnen und GerichtsmedizinerInnen mit der Bergung und Untersuchung des Friedhofs zu beauftragen.[1] Das Ziel des Projektes ist es, die Toten zu identifizieren, die näheren Umstände ihres Todes zu untersuchen und Erkenntnisse über die Todesursachen zu gewinnen. Ebenso sollen der Entstehungskontext des ehemaligen Anstaltsfriedhofes, das Schicksal der dort beerdigten Patientinnen und Patienten, mögliche Ursachen für die erhöhte Sterblichkeit und die Rolle der Haller Psychiatrie in diesem Zusammenhang untersucht werden.

    Die archäologischen Grabungen auf dem Friedhof begannen am 16. März 2011. Der Abschluss des Projektes ist für Ende des Jahres 2012 geplant. Nach der intensiven medialen Berichterstattung zu Beginn des Jahres wurde von Landeshauptmann Günther Platter parallel zum TILAK-Projekt eine Expertenkommission installiert, die mit dem bestehenden Projekt eng zusammenarbeitet.

    Abbildung 1. Abb. 78: Archäologische Grabungsarbeiten am ehemaligen Anstaltsfriedhof in Hall (2011)

    Foto von archäologischen Grabungsarbeiten


    [1] Das Projekt wird geleitet von Alexander Zanesco, Stadthistoriker und Stadtarchäologe in Hall, der auch für die archäologischen Forschungen im Team verantwortlich ist. Die weiteren Projektmitglieder sind Oliver Seifert, Historiker im Landeskrankenhaus Hall und Projektmitarbeiter an der Universität Innsbruck, der Anthropologe George McGlynn, Konservator an der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München, Walter Parson, Leiter des Forschungsschwerpunktes „Forensische Molekularbiologie“ am Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck, und Christian Haring, ärztlicher Leiter Psychiatrie und Psychotherapie B Landeskrankenhaus Hall.

    Die Ausgangslage

    Grundsätzlich ist es nicht ungewöhnlich, dass auf dem Gelände einer großen psychiatrischen Anstalt, deren Gründung weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, ein eigener Anstaltsfriedhof angelegt wird. Solche Friedhöfe bestanden auch in vielen anderen Heil- und Pflegeanstalten.

    Über die Geschichte und die Bedeutung des ehemaligen Haller Anstaltsfriedhofs war bisher nur wenig bekannt. Man ging davon aus, dass es sich auch in Hall um einen dieser üblichen Anstaltsfriedhöfe handelte, auf dem die in der Einrichtung verstorbenen Patienten und Patientinnen beerdigt wurden. So schrieb etwa Hartmann Hinterhuber in seinem Buch „Ermordet und vergessen“, dass es nordöstlich des Pförtnerhauses bereits seit vielen Jahrzehnten einen Anstaltsfriedhof gegeben habe, der 1950 aufgelassen worden sei.[2] Als jedoch im März 2010 beim Umzug der Verwaltungsabteilungen im Psychiatrischen Krankenhaus ein „Gräber-Verzeichnis“ des Friedhofs auftauchte, bot sich ein anderes Bild. In diesem Verzeichnis waren Beerdigungen ausschließlich für die NS-Zeit und zwar für den Zeitraum von November 1942 bis April 1945 verzeichnet worden. Laut dieser Aufstellung wurden 220 Menschen dort beerdigt. Als erste Recherchen bestätigten, dass der Belegungszeitraum tatsächlich nur auf diese zweieinhalb Jahre beschränkt blieb, machte dies eine Neubewertung des Friedhofs notwendig, weiß man doch, dass auch in Hall die Patienten und Patientinnen massiv von den Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft betroffen waren. Diese Gleichzeitigkeit macht die Brisanz des ehemaligen Anstaltsfriedhofes aus historischer Perspektive aus. Zum besseren Verständnis soll an dieser Stelle ein kurzer Einblick zum geschichtlichen Hintergrund gegeben werden.

    Abbildung 2. Abb. 79: Die ehemalige Leichenkapelle (2008). Nordwestlich davon wurde von 1942 bis 1945 ein Anstaltsfriedhof angelegt.

    Foto einer Kapelle


    [2] Hinterhuber, Hartmann, Ermordet und vergessen. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten in Nord- und Südtirol, Innsbruck-Wien 1995, S. 80.

    Der historische Kontext

    Die verharmlosend als „Euthanasie“ bezeichnete, systematisch geplante und durchgeführte Tötung von Menschen mit einer psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderung, erfolgte in unterschiedlichen Phasen. Zeitlich am Anfang stand die Tötung „missgebildeter“ Neugeborener und Kleinkinder in den so genannten „Kinderfachabteilungen“ im Rahmen der „Kindereuthanasie“ 1939 bis 1945. Im Gau Tirol-Vorarlberg hat es eine solche Abteilung weder in Hall noch an der psychiatrischen Klinik in Innsbruck gegeben. Wohin betroffene Kinder aus dem Gau Tirol-Vorarlberg gebracht wurden, ist bis heute unerforscht. In der zweiten Phase begann man mit der Tötung von Patienten und Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches im Rahmen der „Aktion T4“. Diese Aktion ist jene Phase, die bisher am besten erforscht wurde – dies gilt auch für Hall.[3] Zwischen Dezember 1940 und Mai 1941 wurden in drei Transporten insgesamt 300 PatientInnen entweder direkt aus Hall oder über diese Anstalt nach Hartheim deportiert und dort ermordet.

    Obwohl im August 1941 die „Aktion T4“ auf öffentlichen, vor allem kirchlichen Druck hin eingestellt worden war, wurden aus Hall noch ein Jahr später am 31. August 1942 60 PatientInnen in die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart abtransportiert und dort mittels Medikamentenüberdosierungen umgebracht. Nach Beendigung der „Aktion T4“ wurde in verschiedenen Anstalten dezentral bis 1945 weiter gemordet. Entweder geschah dies durch die gezielte Überdosierung von Medikamenten, oder die PatientInnen starben vielfach durch Vernachlässigung, Unterversorgung und Unterernährung. Diese Phase wird in der Literatur als „wilde“ oder „dezentrale“ Euthanasie bezeichnet. Für die Haller Anstalt ist dieser Zeitraum 1942 bis 1945, der sich genau mit der Belegungsdauer des Friedhofs deckt, bisher nicht erforscht. Aber gerade für die Frage nach den Entstehungsbedingungen und der Bedeutung des ehemaligen Anstaltsfriedhofes ist dieser Zeitabschnitt von großer Relevanz. Die Anlegung des Friedhofs erfolgte wenige Wochen nach dem letzten „Euthanasie“-Transport aus Hall. Dr. Hans Czermak, der für die Durchführung dieser Transporte im Gau Tirol-Vorarlberg verantwortlich war, bemühte sich in dieser Zeit wiederholt darum, dass die Tötungen direkt in Hall vorgenommen würden, um, wie er zynisch begründete, Treibstoffkosten einsparen zu können. Diese Versuche, vor Ort in Hall eine eigene „Euthanasie“-Station zu errichten, dürften nach bisherigem Wissen nicht umgesetzt worden sein. Dennoch stieg die Sterberate in der Anstalt insbesondere in den Jahren 1944 und 1945 erheblich an, was nach Erklärungen verlangt.



    [3] Vgl. Seifert, Oliver, „Sterben hätte sie auch hier können.“ Die „Euthanasie“-Transporte aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol nach Hartheim und Niedernhart, in: Kepplinger, Brigitte / Marckhgott, Gerhart / Reese, Hartmut (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim (=Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), Linz 20082, S. 359-410.

    Fragestellungen des Projekts

    Hartmann Hinterhuber schreibt von bis zu 400 Menschen, die den Anstaltsaufenthalt während der NS-Zeit als Folge von Hunger und Unterernährung nicht überlebte hatten.[4] Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit führten die Ärzte die Unterernährung als Ursache für die hohe Sterblichkeit an: „Die hohe Sterblichkeitsziffer in den Jahren 1944 und 1945 war hauptsächlich bedingt durch Enteritiden [entzündliche Erkrankung des Dünndarms, O.S.] bei unterernährten und altersschwachen Kranken.[5] Ob der Hunger alleine die hohen Sterberaten erklären kann und wie diese Unterernährung herbeigeführt wurde, soll in dem Projekt untersucht werden. Bisher fehlten für Hall konkrete Hinweise auf gezielte Tötungen durch Medikamente, wie dies etwa in den Anstalten Niedernhart, Gugging oder Klagenfurt geschah. Es gab und gibt jedoch immer wieder Vermutungen, dass auch in Hall nicht alles mit „rechten Dingen“ zugegangen sei. Um die Frage beantworten zu können, woran die einzelnen auf dem Friedhof begrabenen Personen gestorben sind, ob es sich um einen natürlichen, um einen herbeigeführten oder um einen durch Unterernährung verursachten Tod handelte, ist es notwendig, die Kranken- und Verwaltungsakten aller auf dem Friedhof beerdigten Menschen durchzuarbeiten und nach medizinischen, historischen, anthropologischen und archäologischen Kriterien auszuwerten und die einzelnen Ergebnisse in Verbindung zueinander zu bringen. Das in den letzten Jahren aufgebaute Archiv in der Psychiatrie Hall mit seinen gut erhaltenen Beständen bietet hierzu ideale Voraussetzungen. Die systematische Untersuchung der Krankengeschichten und PatientInnenverwaltungsakten, in Kombination mit den archäologischen Ausgrabungsbefunden und den anthropologischen Ergebnissen könnte im Idealfall mehr Klarheit darüber bringen, ob für die erhöhten Sterberaten tatsächlich nur die schlechte Versorgungslage verantwortlich war, oder zum Teil doch ein schneller Tod gezielt herbeigeführt, oder zumindest zugelassen wurde. Neben dieser zentralen Fragestellung sind mit der Installierung des Friedhofes noch weitere Fragen verknüpft, die die Verwaltungsgeschichte und den Entstehungskontext des Friedhofs betreffen. So gilt es etwa herauszufinden, warum die in der Anstalt verstorbenen PatientInnen ab November 1942 nicht wie bisher auf dem städtischen Friedhof, sondern auf dem eigens eingerichteten Anstaltsfriedhof beigesetzt wurden. Zudem stellt sich die Frage, wer die Anlegung des Friedhofes veranlasst hat, ob die Gründungsgeschichte einen direkten Bezug zu möglichen „Euthanasie“-Planungen aufweist, oder ob andere Überlegungen dafür ausschlaggebend waren. Ziel der Recherchen muss es auf jeden Fall sein, Aufschluss darüber zu bekommen, ob die erhöhte Sterblichkeit das Ergebnis gezielter nationalsozialistischer Vernichtungslogik war, die von der Anstaltsleitung bzw. von einem Teil der Ärzte und des Pflegepersonals möglicherweise mitgetragen wurde, oder aber, ob sich die Anstalt den Forderungen der nationalsozialistischen Politik weitgehend entziehen konnte.



    [4] Hinterhuber, Ermordet und vergessen, S. 76.

    [5] Historisches Archiv Landeskrankenhaus Hall i.T., Dr. Schmuck an Dr. Leopold Pawlicki, 13.3.1950.

    Erinnern und Gedenken

    Neben der historischen Aufarbeitung ist es besonders wichtig, dass ein breiterer Reflexions- und Erinnerungsprozess in Gang gesetzt wird. Dabei kann an einige Vorarbeiten angeknüpft werden. Schon in der Vergangenheit und in der Gegenwart gab und gibt es unterschiedliche Initiativen, die sich mit der Geschichte der Psychiatrie in Hall auf verschiedenen Ebenen intensiv auseinandersetzten. So thematisierte etwa der Künstler Franz Wassermann bereits 2005 die nationalsozialistischen Verbrechen in seinem Projekt „Temporäres Denkmal“. Seit September 2008 befasst sich auch das Interreg IV-Projekt „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol-Südtirol von 1830 bis zur Gegenwart“ (http://www.psychiatrische-landschaften.net) mit der Geschichte der Psychiatrie in Hall. Als Teilergebnis dieses Projektes wurde 2009 ein Rahmenkonzept für ein Historisches Archiv sowie einen Lern- und Gedenkort im Psychiatrischen Krankenhaus Hall i.T. ausgearbeitet, das bisher noch nicht umgesetzt werden konnte. Trotz der bisherigen unterschiedlichen Initiativen fehlt in Hall nach wie vor eine Gedenktafel, ein Mahn- oder Denkmal für die Opfer der NS-Herrschaft. Auch fehlt jeglicher Hinweis auf den Friedhof und die dort beerdigten Menschen. Die nunmehrige Aufarbeitung der Geschichte des ehemaligen Friedhofes und der damit zusammenhängenden NS-Vergangenheit sollte zum Anlass und Ausgangspunkt genommen werden, nach den erfolgten Forschungen die Fäden bisheriger Initiativen aufzugreifen und eine geeignete Form der Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“-Transporte und an die am ehemaligen Friedhof begrabenen PatientInnen zu initiieren.

    Quelle

    Oliver Seifert: erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011. S. 237-243.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 13.02.2015

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