Behindert "Sein" oder behindert "werden"?

Eine Entzerrung der verzerrten Sicht auf das Phänomen Behinderung

Autor:in - Stefan Schuster
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in Behindertenpädagogik, Ausgabe 01/2015 Behindertenpädagogik (01/2015)
Copyright: © Schuster 2015

Behindert "Sein" oder behindert "werden"?

»In unseren Händen liegt es, so zu handeln, daß das gehörlose, das blinde und das schwachsinnige Kind nicht defektiv sind. Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt«

(WYGOTSKI 1975, S. 72).

„Der ist doch geistig behindert!“ lautet eine im öffentlichen Sprachraum häufig gestellte „Diagnose“, die zunächst artikuliert, dass es sich bei dem gegenüberstehenden Objekt um einen Menschen handelt, dem aufgrund bestimmter physischer und psychischer Charakteristika das Prädikat zugeschrieben wird, „geistig behindert“ zu sein (vgl. FEUSER 1995, S. 88). Die als „bizarr“ wahrgenommenen Verhaltensweisen werden „kategorisiert“, begrifflich fixiert und erhalten die Attribuierung „geistige“ resp. „seelische“ Behinderung. Da Begriffe einen Komplex von weltlichen Zusammenhängen abbilden und sich in ihnen das Denken über etwas spiegelt, verbirgt sich hinter dieser alltäglichen Diagnose bereits ein bestimmtes Menschenbild (vgl. LANWER 2013, S. 3; LURIA 1986, S. 54). Diesem Bild sind spezifische Vorstellungen vom Menschen als Menschen immanent, die aber nicht identisch sind mit dem realen materiellen Sein, sondern etwas Abstrahiertes und Sekundäres darstellen (vgl. LANWER 2014, S. 65). So zeigen sich im heilpädagogischen und öffentlichen Diskurs zahlreiche Vorstellungen hinsichtlich der Entstehungsbedingungen und Ursachen des Phänomens Behinderung, die sich an unterschiedlichen Menschenbildern orientieren. Im weitesten Sinne kann - trotz BLEIDICK - zwischen zwei „Paradigmen“ unterschieden werden, deren diametrale Prämissen bereits im Titel dieses Artikels zum Ausdruck kommen. Die eingangs erwähnte Diagnose lässt sich so einem Modell zuordnen, das die Behinderung an der Person selbst festschreibt. Sie erscheint hier als etwas naturhaft und ahistorisch Gegebenes bzw. »(…) als verdientes oder unverdientes, jedenfalls zu tragendes Schicksal (…)« (JANTZEN 1979, S. 95). Im Gegensatz hierzu gibt es aber auch Denkfiguren, die von behindernden Verhältnissen sprechen und die das Phänomen als etwas Gewordenes unter konkret historischen Bedingungen begreifen. In Abhängigkeit von dem Modell und den aufgestellten Hypothesen ergeben sich vollkommen unterschiedliche Handlungsanleitungen für den praktischen Umgang mit dem Phänomen. Das erste Modell legitimiert bspw. besondere „Schutzräume“ in Form von Sondereinrichtungen, die ausgehend von dem zweiten Modell eher als be-hindernder Faktor anzusehen sind.

Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Artikel einer Frage nach, die für die Zukunft der „Behindertenpädagogik“ von existenzieller Bedeutung ist: Werden Menschen behindert oder sind sie behindert? Zur Beantwortung dieser „Grundfrage“ wird als Leitfaden die Arbeitshypothese formuliert, dass es sich bei dem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, um ein Zerrbild handelt, das einer verzerrten und verdinglichenden Sichtweise geschuldet ist.[1] Die aufgestellte Hypothese macht es zu Beginn des Artikels erforderlich, das Menschenbild, das den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen maßgeblich »lenkt, leitet und führt« (LANWER 2006, S. 22), etwas näher zu analysieren. Im Anschluss daran, wird aufsteigend vom Abstrakten zum Konkreten ein ontischer und anthropologischer Bezugsrahmen grundgelegt, der es ermöglicht, das Besondere mit dem Allgemeinen zu vermitteln und den Versuch zu unternehmen, die verzerrte Sicht auf das Phänomen soweit wie möglich zu entzerren.

Behindert „Sein“ - das Phänomen als Ausdruck eines „behinderten Wesens“

Unter den Begriff „Menschenbild“ lassen sich all jene Vorstellungen fassen, die eine Person über das Wesen des Menschen in der Welt hat (vgl. FEUSER 2012, S. 1). Menschenbilder sind daher auch integraler Bestandteil von Weltbildern, die wiederum spezifische Vorstellungen vom gesellschaftlichen Sein des Menschen beinhalten (vgl. HÖRZ 2009, S. 34). Um im Nachfolgenden die gesellschaftlich „federführenden“ Vorstellungen von Menschen mit einer sog. Behinderung herausarbeiten zu können, ist es notwendig, einige allgemeine Erläuterungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Bild, das wir von uns und von anderen haben, und unseren praktischen Handlungen vorwegzunehmen. Grundsätzlich ist von einer Wechselwirkung auszugehen, die FEUSER (1996) verdeutlicht: »Es ist das Menschenbild in unseren Köpfen, das die gesellschaftliche Praxis hervorbringt, die ihrerseits wiederum das Menschenbild konstituiert wie modifiziert«.[2] Mithin sind Menschenbilder etwas Veränderbares und das Ergebnis einer Entwicklung unter spezifischen historischen Bedingungen. Es gibt also nicht das Menschenbild an sich, sondern unterschiedliche Menschenbilder, die eingebettet sind in ein gesamtgesellschaftliches Gefüge und vor dem Hintergrund sozialer und wissenschaftlicher Entwicklungen evolvieren. So entwickelten sich im Verlauf der Geistesgeschichte in Abhängigkeit von den materiell vorgefundenen Ausgangsbedingungen und den raumzeitlichen Determinanten diverse Menschenbilder, die in unterschiedlicher Intensität die jeweilige gesellschaftliche Praxis prägten und prägen.[3] Allerdings zeigen sich trotz des Facettenreichtums gewisse Menschenbilder, die gesellschaftlich tonangebend sind. Der Blick in die Geschichte der Ideen beweise, so MARX u. ENGELS (1969), dass die herrschenden Ideen einer Zeit stets die Ideen der Herrschenden gewesen sind (vgl. S. 480). Diese dominieren den „Zeitgeist“ einer Epoche und übernehmen eine ideologische Funktion, die - oft unbewusst - dazu dient, die » (…) Behandlung von Menschen durch Menschen im weitesten Sinne des Wortes zu legitimieren« (KUHN 1990, S. 358). Das vorherrschende Bild vom Menschen liefert dem »‚Denkkollektiv’« (FEUSER 2012, S. 5) demzufolge einen Orientierungsrahmen und eine Richtschnur, die die zwischenmenschlichen Beziehungen im Sozialraum reguliert und die praktischen Handlungen bestimmt (vgl. GROLL 2007, S. 220).

Wenn Menschenbilder - wie dargelegt - eine handlungsregulierende Funktion haben, dann erlaubt das aber auch den methodischen Umkehrschluss, das heißt, es kann von den Handlungen und ihren Resultaten auf das dahinterstehende Menschenbild geschlossen werden. Im Hinblick auf die Soziologie von Organisationen lässt sich dieser Zusammenhang mit TÜRK (1978) verdeutlichen: »Kulturelle Gehalte, politische Vorstellungen, Rechtsauslegungen, Technologien diffundieren über die Organisationsgrenzen vermittelst der Köpfe der Menschen in die Organisationen hinein (…)« (S. 56). Mithin sind Organisationen nicht als isolierte Inseln zu denken, die in einem sozialen, ideologischen, materiellen und kulturellen Vakuum ihr Dasein fristen, sondern das Resultat von praktischen Handlungen, die sich an einem bestimmten Menschenbild orientieren und bei ihrer Entstehung orientierten (vgl. ebd.).

Die in Deutschland flächendeckend verbreiteten Organisationen der „Behindertenhilfe“ können daher als Indikator fungieren, um die handlungsleitenden Vorstellungen von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, zu analysieren.[4] Sie sind das materielle Spiegelbild der gesellschaftlichen Vorstellungen von „Behinderung“ und bestimmen - als „soziale Instrumente“ (vgl. ebd., S. 57) - maßgeblich den Umgang mit dem Phänomen. Innerhalb des deutschen Rechtsstaates müssen sich diese Organisationen an einer „Rechtsordnung“ orientieren.[5] WEBER (2006) spricht hier auch von einer »‚Orientiertheit‘ des Handelns an einer Ordnung« (S. 603). Die Frage nach dem vorherrschenden Bild von „behinderten“ Menschen führt daher direkt zu der Definition von Behinderung im neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX), an der sich ausnahmslos alle Organisationen der sog. Behindertenhilfe orientieren müssen:

»(…) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist« (§ 2 Abs.1 SGB IX).

Diese aussagekräftige Definition enthält anthropologische Prämissen über Menschen im Allgemeinen und Menschen, die als behindert bezeichnet werden, im Besonderen. Der erste Satz des Paragraphen verortet das Phänomen Behinderung in der betroffenen Person selbst und beschreibt die Behinderung als spezifisches Attribut menschlichen Seins - „Menschen sind behindert“. Es wird das Bild eines „behinderten Wesens“ gezeichnet, das unter Umständen auch psychopathologische Verhaltensweisen - wie Stereotypien, Autoaggressionen, Psychosen usw. – hervorbringen kann. Die Behinderung wird naturalisiert, auf das individuelle Schicksal reduziert und zum Wesensmerkmal stilisiert (vgl. JANTZEN 2009).[6] Letztlich leiden die Menschen, die „geistig“ oder „seelisch“ behindert sind, an einer Behinderung ihres „Geistes“ resp. ihrer „Seele“. In der Konsequenz bildet die inhärente und an der Person selbst festgeschriebene Behinderung dann den Ausgangspunkt für eine beeinträchtigte gesellschaftliche Teilhabe. Weiterhin konstituiert sich dieses „behinderte Sein“ in Relation zu einem „nicht behinderten Sein“ bzw. zu einem „normalen Sein“, das sich an dem „für das Lebensalter typischen Zustand“ misst. Demzufolge ist ein Mensch dann behindert, wenn die „seelische Gesundheit“, die „körperlichen Funktionen“ oder die „geistigen Fähigkeiten“ zu stark von der Norm abweichen. Die populäre und von den Agenten der „Wohltäter-Mafia“ (vgl. SIERCK u. RADTKE 1988) gern zitierte Aussage des damaligen Bundespräsidenten WEIZÄCKER (1993): »(…) Es ist normal, verschieden zu sein« (zit. n. MÜRNER u. SIERCK 2012, S. 117) bleibt deshalb Utopie. Es ist eben nicht normal, behindert zu sein, vielmehr ist die „Abnormalität“ ein konstituierendes Kennzeichen der Behinderung selbst. Darüber hinaus verweist das im alltäglichen Sprachgebrauch negativ konnotierte Wort „bedroht“ - im zweiten Satz der Definition - auf eine bevorstehende „Gefahr“, die „nichts Gutes“ verheißt. Es wird deutlich, dass es sich bei dem „behinderten Sein“ um einen „Zustand“ handelt, der eigentlich vermieden werden sollte.[7] Diesem dichotomen und eschatologischen Menschenbild sind grundsätzlich zwei starre Sphären des Seins implizit: eine „normale“ und eine „behinderte“. Das Verhältnis der beiden Sphären lässt sich ferner dadurch bestimmen, dass der Ist-Zustand der Behinderung vom Soll-Zustand der „Norm“ im negativen Sinne abweicht. Hinter der Definition von Behinderung im Sozialgesetzbuch verbirgt sich daher ein defektorientiertes Bild von Behinderung, das den Defekt an der Person selbst festschreibt und zur Wesenseigenschaft der Person essentialisiert.[8] Im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen eines solchen Bildes von Behinderung schreibt LANWER (2006): »Eine so genannte ‚defektorientierte‘ Auffassung vom Menschen, die beispielsweise einen beeinträchtigten Menschen biologisch-medizinisch-psychiatrisch für ‚defekt‘, psychologisch für ‚deviant‘ und pädagogisch für behindert hält, wird in der gesellschaftlichen Praxis seine Be- und Aussonderung herbeiführen« (S. 22). Das flächendeckend vorhandene Sondersystem in der Bundesrepublik und der entsprechende ideologische und juristische Überbau liefern somit die empirischen Beweise für die gesellschaftliche Dominanz einer defektorientierten und „defektessentialisierenden“ Sichtweise auf Menschen, die als normabweichend gedacht werden.

Die bereits erwähnte Differenz »(…) zwischen dem Selbstsein des menschlichen Lebens und dessen Erscheinung bzw. Phänomenologie« (LANWER 2014a, S. 227) wirft nun ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen die folgenden Fragen auf: Ist das vorherrschende Bild vom „behinderten Sein“ ein adäquates Abbild des realen menschlichen Seins oder handelt es sich um ein Zerrbild? Gibt es tatsächlich ein „behindertes Wesen“, das auf der Erscheinungsebene alle jene Verhaltensweisen hervorbringt, die von Außenstehenden als „bizarr“ wahrgenommen werden? Welchen Einfluss haben die institutionalisierten und habitualisierten Vorstellungen von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, auf das Phänomen selbst? Und schließlich die Frage: Leidet der „Geist“ resp. die „Seele“ dieser Menschen wirklich an einer Behinderung? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es unabdingbar, einen theoretischen Bezugsrahmen grundzulegen, der es funktional zulässt, sowohl das vorherrschenden Bild von Behinderung als auch das Phänomen selbst einer Analyse zu unterziehen.

Dialektischer Materialismus als wissenschaftstheoretisches Fundament

Die Philosophie kann nicht aus der Welt heraustreten und diese aus einer „neutralen“ Beobachterperspektive zum Gegenstand machen, d.h., jeder philosophische Entwurf ist einbezogen in die Welt, wirkt innerweltlich und ist abhängig von den vorgefundenen Ausgangsbedingungen (vgl. HOLZ 2005, S. 156f.). So ist auch der dialektische Materialismus, der das wissenschaftstheoretische Fundament für die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen liefert, eine gewordene Wissenschaftstheorie, die sich unter konkret-historischen Bedingungen erst entwickelte. Unter Berücksichtigung dessen insistiert HOLZ (2010a), dass die Dialektik per se geschichtlich ist. Sie einerseits einen ›work in progress‹ darstellt, sie andererseits aber auch geladen ist mit all der geschichtlichen Wirklichkeit, die sie jemals verarbeitete (vgl. S. 151). In diesem Sinne ist die Dialektik - die den ersten Teil des Begriffspaares bildet - und die ihr zugrunde liegende Denkfigur das Ergebnis einer langen Historie. Laut KOSING (1972) findet sie ihren Ausgangspunkt bei ZENON und entwickelte sich geistesgeschichtlich über SOKRATES, PLATON, ARISTOTELES, KANT und HEGEL bis hin zu MARX und ENGELS - um nur einige Stationen zu nennen (vgl. S. 239). So reichhaltig die geistesgeschichtlichen Etappen, so unterschiedlich sind aber auch die Dialektik-Begriffe (vgl. SCHMAUKE 2011, S. 522). Dieser Artikel beschränkt sich daher auf einen Begriff von Dialektik, der ca. 200 Jahre alt ist und für einen Konstitutionsprozess sich widersprechender Elemente innerhalb eines bestehenden Zusammenhanges steht (vgl. HOLZ 1990, S. 547). Dialektisches Denken bedeutet daher, die Einheit, den Zusammenhang und die Wechselwirkung zu denken (vgl. KLINGERSBERGER 2012, S. 8). Der Materialismus - der zweite Begriff - blickt ebenfalls auf eine lange Geschichte zurück und bezieht sich im weitesten Sinne auf eine philosophische Lehre, die dem Materiellen eine Priorität gegenüber dem Ideellen einräumt (vgl. SANDKÜHLER 1990, S. 228ff.). Das berühmte Zitat von FEUERBACH (1982): »[Das] Sein ist die Grenze des Denkens (…)« (S. 305), verdeutlicht diesen Ansatz.

Im Rahmen dieses Artikels ist es nicht möglich, die hier nur angedeutete Historie der beiden Begriffe im Detail nachzuzeichnen, dennoch ist es in Bezug auf die Genese des dialektischen Materialismus erhellend, auf den geistesgeschichtlichen Sprung von HEGEL zu MARX unter dem Einfluss von FEUERBACH hinzuweisen, da MARX die beiden Begriffe in einer einmaligen Art und Weise zu einer neuen Denkfigur synthetisierte. MARX (2008), der stark von HEGEL beeinflusst wurde, kritisierte an ihm, dass die Dialektik in seinen Händen eine Mystifikation erlitten hätte, sie auf dem Kopf stehen würde und umgestülpt werde müsse, um den rationalen Kern zu entdecken (vgl. S. 27).[9] Diese Aufgabe im Blick und beeinflusst durch die „materialistische Wendung“ von FEUERBACH (vgl. HOLZ 2003, S. 30ff.) entwickelte MARX (2008) seine dialektisch materialistische Methode, die er im Kapital folgendermaßen beschreibt:

»Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle« (S. 27).[10]

Im Gegensatz zu HEGEL beantwortet MARX die „Grundfrage aller Philosophie“, die nach dem Verhältnis von Sein und Denken resp. dem Materiellen und Ideellen fragt, zugunsten des Materiellen (vgl. ENGELS 1973, S. 274). Das heißt, die Vorstellungen, die Begriffe und die Ideen entspringen den konkret historischen Verhältnissen und sind eng verflochten mit der praktischen Tätigkeit des Menschen. Die logische Schlussfolgerung ist, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Praxis zu einer Veränderung im Denken führt, da das Bewusstsein nie etwas Anderes sein kann als das bewusste Sein der Menschen in ihrem wirklichen Lebensprozess (vgl. MARX u. ENGELS 1959, S. 26f.).[11] Vor diesem Hintergrund kritisiert MARX (1959) aber auch den „anschauenden Materialismus“ von FEUERBACH, der vom real geschichtlichen Verlauf abstrahieren und daher im „menschlichen Wesen“ nur ein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum sehen würde (vgl. S. 6).

»Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft«, schreibt MARX (1959) in den Thesen über FEUERBACH (S. 7).

Die Kritik an der „Anschauung der einzelnen Individuen“ lässt die Bedeutung des dialektischen Materialismus im Hinblick auf die formulierten Fragen bereits erahnen, da diese Denkfigur in direktem Gegensatz zu einer Auffassung steht, die die Gegenstände aus ihren Verhältnissen reißt und in bewegungsloser Isolation betrachtet (vgl. KOSING 1972, S. 245). Eine solche Sichtweise verstrickt sich laut ENGELS (1982) »(…) in unlösliche Widersprüche (..), weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihre Ruhe ihre Bewegung vergisst, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht« (S. 21). Hingegen betrachtet der dialektische Materialismus die Seienden und ihre Seinsverhältnisse in einer materiellen Welt, die sich in stetiger Bewegung und Veränderung befindet. Im Zentrum dieser Wissenschaftstheorie steht daher die Betrachtung der Welt als Ganzes und die Stellung des Menschen in ihr (vgl. HOLZ 2005, S. 58; HOLZ 2010, S. 107; HOLZ 2010a, S. 139f.).[12]

Grundlegung eines ontischen und anthropologischen Bezugsrahmens

Orientierend am dialektischen Materialismus und der Losung PLESSNERS (1975) folgend: »Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen« (S. 26), wird im Nachfolgenden zunächst das Sein im Allgemeinen behandelt, bevor das menschliche Sein im Besonderen in den Focus rückt. Erst dann kann das „behinderte Sein“ erklärt und verstanden werden. Folglich bildet eine dialektisch-materialistische Konzeption der Natur das Fundament einer dialektisch-materialistischen Anthropologie (vgl. HOLZ 2003, S. 164ff.; HOLZ 2010a, S. 139).

Aber was ist eigentlich die „Natur“? Die Natur zeigt sich uns durch die Luft, die wir atmen, das Meer, in dem wir schwimmen, und die Bäume, die wir sehen können. All dies subsumiert sich unter den Begriff der Natur, der über den einzelnen Gegenstand hinaus auf etwas Allgemeines verweist. So beschreibt der Begriff keine konkreten Gegenstände, sondern das universale Verhältnis zwischen ihnen. Die Natur ist somit „viele“ (vgl. SCHWEIGER 2012, S. 19 u. S. 22). Elementare Voraussetzung um diesen

Begriff überhaupt denken zu können ist es daher, das Verhältnis alles Bestehenden erkannt zu haben (vgl. WAHSNER 2009, S. 36).[13] Da aber ein Verhältnis immer ein Verhältnis von etwas ist, stellt sich sofort die Frage nach den einzelnen „Dingen“, die sich in diesem Verhältnis befinden und die den „Gesamtzusammenhang“ in der Natur konstituieren (vgl. ENGELS 1973a; HOLZ 2005, S. 564). Der „Grenzbegriff“ von PLESSNER (1975) liefert an dieser Stelle ein geeignetes Denkwerkzeug, um das einzelne von den anderen Seienden abzugrenzen und als solches zu definieren:

»Anschauliche Grenzen liegen bei allen Dingkörpern da, wo sie anfangen oder zu Ende sind. Die Grenze des Dinges ist sein Rand, mit dem es an etwas Anderes, als es selbst ist, stößt. (…) In den Konturen, innerhalb seiner Ränder ist der Dingkörper beschlossen und als dieser bestimmt, oder, was hier dasselbe heißt, mit den Konturen, an seinen Rändern ist das Ding als dieses bestimmt« (S. 100f.).[14]

Demzufolge ist die Grenze eines Dinges ein besonderes Medium, welches gleichzeitig begrenzt aber auch verbindet (vgl. GIRNDT 2011, S. 1103). Sie trennt das besondere Seiende von der es umgebenden Wirklichkeit und bestimmt es - als das, was es ist - durch die Relation zu anderen Dingen. Mithin ist das Setzen des Einen zeitgleich Entgegensetzen des Anderen (vgl. HOLZ 2005, S. 38 u. S. 160).[15] Im Verhältnis zu sein bedeutet daher, aufeinander zu wirken und so ist für KLINGERSBERGER (2012) nur das wirk-lich, was auch wirksam ist (vgl. S. 9). Das besondere Seiende wirkt somit auf Anderes und das Andere auf das Seiende. Es ist also grundsätzlich von einer Wechselwirkung auszugehen, die sich als gegenseitige Kausalität sich bedingender Substanzen darstellt. Die im Verhältnis zueinander stehenden Pole sind demzufolge zugleich aktiv und passiv (vgl. HEGEL 1986, S. 238). Nicht einfaches Miteinander-Verbunden-Sein kennzeichnet diese besondere Beziehung, sondern das gleichzeitige Wirken und Bewirkt-Werden, der im Verhältnis stehenden Seienden. Der skizzierte Grenzbegriff von PLESSNER kann folglich auch nur in Verbindung mit dem Begriff der „Grenzüberschreitung“ gedacht werden, der die Möglichkeit eines „Grenzaustausches“ beinhaltet. Dieser wechselseitige Austausch führt aus Sicht des einzelnen Seienden zu einer Veränderung, die einen „doppelten Charakter“ aufweist. Sie verändert einerseits das Andere des Seienden - also das Gegenüberstehende -, aber auch das Seiende selbst in Form einer „Selbstveränderung“ (vgl. MARX 1959, S. 6 u. HOLZ 1986, S. 61). HOLZ (2003a) verdeutlicht:

»Nichts wäre so, wie es ist, würde es nicht vermittelt durch anderes, außer ihm Seiendes, zu sich selbst gebracht werden. Es ist die allgemeinste ontologische Verfassung des Seienden, stets in Beziehung zu sein und also erst durch gegenständliche Bestimmung überhaupt zu sein« (S. 61).

Das Seiende in seinem Dasein ist demzufolge nicht das Resultat eines einmaligen Schöpfungsaktes aus dem Nichts, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, die dem besonderen materiellen Verhältnis zu anderen Seienden entspringt. Die Gegenständlichkeit - d.h. bezogen zu sein auf etwas anderes „gegenüber“ - ist somit ein konstitutives Moment des Seienden selbst. Folglich ist ein ungegenständliches Wesen ein Unwesen (vgl. MARX 1982, S. 158).

Bei der Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf die Natur als Ganzes - die wie beschrieben aus einer Vielzahl von gegenständlich Seienden besteht - wird ersichtlich, dass die einzelnen Seienden ein engmaschiges Geflecht von Beziehungen bilden. Auf den Punkt gebracht: »Alle Dinge hängen mit allen anderen zumindest indirekt zusammen« (KLINGERBERGER 2012, S. 9). Die Natur in der fließenden Gegenwart lässt sich so als ein System begreifen, welches durch allseitige Reflexivität oder universelle Wechselwirkung gekennzeichnet ist (vgl. HOLZ 2010b, S. 237). Es zeigt sich »das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht« (ENGELS 1982, S. 202). Diese universelle Einwirkung der Seienden aufeinander fasst ENGELS (1973a) mit dem Begriff der „Bewegung“, der sich in seiner allgemeinsten Form auf alle Prozesse im Universum bezieht (vgl. S. 354ff.).

»Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. (…) Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie. (…) Ein bewegungsloser Zustand der Materie erweist sich hiernach als eine der hohlsten und abgeschmacktesten Vorstellungen, als reine ‚Fieberphantasie‘« (ENGELS 1982, S. 55).

Darüber hinaus rekurriert der Begriff „Bewegung“ auf eine kontinuierliche Veränderung der raumzeitlichen Gegebenheiten, die sich durch den stetigen Übergang von einem Seinszustand in einen anderen bemerkbar macht (vgl. HOLZ 2010b, S. 236). Allerdings ist hier von einem dialektischen Verhältnis zwischen Sein und Werden auszugehen, das sich philosophiegeschichtlich bereits bei HERAKLIT von Ephesos (544 - 484 v.u.Z.) findet. Laut PLEINES (2002) war HERAKLIT der Auffassung, dass Fließendes und Beharrendes resp. Selbigkeit und Andersheit unauflöslich zusammengehören (vgl. S. 80). So beinhaltet jede Veränderung ein Festhalten und Anderswerden zugleich (vgl. HOLZ 1990, S. 556).[16] Vor diesem Hintergrund darf die Natur nicht als bewegungsloses Konglomerat nebeneinander existierender Dinge gedacht werden. Vielmehr ist sie als dynamisches und in stetiger Bewegung befindliches Geflecht zu denken, in dem die Dinge entstehen und vergehen (vgl. SCHWEIGER 2012, S. 22). Der Gesamtzusammenhang als materieller und die Bewegung als die allgemeine Seinsweise der Materie bilden daher das Fundament einer materialistischen Naturkonzeption (vgl. HOLZ 2010a, S. 140f.). Ausgehend von dieser Denkfigur ist das gegenständlich Seiende nichts von Anfang an Gegebenes, sondern etwas Gewordenes und mithin das Ergebnis einer Entwicklung, die sich vermittelt über Anderes vollzog und sich auch nur vermittelt über Anderes vollziehen konnte. Der „Lebensnerv“ des einzelnen Seienden liegt demzufolge in seinem Wechselwirkungsverhältnis zu anderen Seienden. Somit weist das einzelne Seiende über sich selbst hinaus und ist im Verlauf der Zeit stets dasselbe und doch ein Anderes (vgl. ENGELS 1982, S. 21; ZIMMER 2002, S. 17f.). Auf der Basis einer Ontologie, die der „Relationskategorie“ eine Priorität gegenüber der „Substanzkategorie“ einräumt, rückt im Nachfolgenden nun das menschliche Sein in den Fokus (vgl. HOLZ 2010, S. 109).

Das In-der-Welt-Sein des Menschen

Ausgehend von der anskizzierten dialektisch-materialistischen Naturkonzeption ist der Mensch als ein Teil der Natur anzusehen, der nicht losgelöst von dem beschriebenen universellen Gesamtzusammenhang der Seienden betrachtet werden darf. So ist der Mensch selbst ein „Naturgegenstand“, der seinen lebensnotwendigen „Stoffwechsel“ mit der äußeren Wirklichkeit durch die eigene Tat vermitteln muss, um nicht zu sterben (vgl. MARX 2008, S. 192 u. S. 217).

»Der Mensch lebt von der Natur, heißt: die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Progreß bleiben muss, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur« (MARX 1982, S. 91).

Dieser beständige Prozess, indem sich sowohl das Menschliche als auch die äußere Wirklichkeit verändert, zeigt sich auf der ontogenetischen und der phylogenetischen Ebene (vgl. MARX 2008, S. 192). Mithin ist der einzelne Mensch - zu einem gegebenen Zeitpunkt - das Ergebnis seiner persönlichen Entwicklung, aber auch ein Ausdruck der gesamten menschlichen Gattungsgeschichte, die von „besonderer Natur“ ist. Aber was ist das Besondere der menschlichen Natur gegenüber anderen Spezies? Im Kern ist es die Möglichkeit, die im Kollektiv hergestellten Produkte menschlicher Tätigkeit von Generation zu Generation „weiterzugeben“ und weiterzuentwickeln (vgl. SCHWEIGER 2012, S. 31f.). Das Besondere der menschlichen Natur lässt sich vor diesem Hintergrund mit dem Begriff der „Kultur“ greifen, der sich aber nicht ausschließlich - wie häufig im Alltagsverständnis - auf den Besuch eines Theaters oder einer Oper bezieht, sondern alle Vergegenständlichungen der menschlichen Spezies umfasst. Eine elementare Bedingung für die Entstehung und Erhaltung von Kultur, »(…) die von der Menschheit geschaffen wurde« (LEONTJEW 2008, S. 57), ist und bleibt jedoch die Natur. SCHWEIGER (2012) verdeutlicht dies eindrücklich: »Wir kommen nicht aus unseren naturhaften Körpern heraus und übersteigen diese doch mit Ideen, der Wissenschaft, Literatur, Kunst, Politik und Architektur« (S. 32).

Im Hinblick auf die Grundlegung eines anthropologischen Bezugsrahmens ist es entscheidend zu berücksichtigen, dass die Besonderheit des menschlichen Stoffwechsels in seiner „gesellschaftlichen Natur“ begründet liegt. Ein theoretischer Rahmen, der den Menschen „an sich“ als abstraktes und überzeitliches Wesen begreift, würde das konstitutive Moment des menschlichen Seins: die Kultur, negieren. Im Zentrum des nachfolgenden Abschnittes steht daher die Aufgabe, die Entstehung und die Bedeutung der Kultur für das menschliche Sein zu skizzieren.

Von der Natur zur Kultur

Der Planet Erde blickt auf eine lange Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte zurück, die ihren Ausgangspunkt in der Erdurzeit vor ca. 4,5 Milliarden Jahren findet (vgl. ULMSCHNEIDER 2014 S. 81f.). Gemessen am Zeitstrahl nimmt die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen im Allgemeinen und des modernen Menschen im Besonderen nur einen winzigen Bruchteil ein; so lässt sich das Aufkommen des modernen Menschen auf ca. 60 000 Jahre v.u.Z. datieren (vgl. GREVE u. NEUHÄUSER 2013, S. 39). Diese Gegenüberstellung zeigt zum einen, dass die letzte überlebende Art der Gattung Homo - der Homo sapiens - in seiner heutigen Konstitution und entgegen kreationistischer Verblendungen etwas Gewordenes darstellt. Zum anderen aber auch, »(…) dass die Hauptbewegungsformen der Materie in Raum und Zeit bereits vor dem Auftreten der ersten Lebewesen auf dem Erdball in der anorganischen Natur existierten« (ANOCHIN 1978, S. 61). Das organische Leben ist folglich in ein vorhandenes Raum-Zeit Gefüge „hineingewachsen“ und war gezwungen, sich den äußeren Gegebenheiten anzupassen, um überleben zu können (vgl. ebd.). JANTZEN (2013) beschreibt die Natur daher als einen Ort der Anpassung (vgl. S. 21).

Die Anthropogenese, die zum modernen Menschen führte, erscheint als kaum zu überschauendes und vielfältiges „Flickwerk“ unterschiedlichster Stammbäume, die laut GREVE und NEUHÄUSER (2013) multiregional entstanden (vgl. S. 35f.).[17] In Bezug auf den Übergang von der Natur zur menschlichen Kultur ist es in diesem Rahmen jedoch ausreichend, einige Aspekte der Tier-Mensch Übergangszeit herauszugreifen, die ihren Beginn im späten Tertiär (ca. 65 - 2,5 Millionen Jahre v.u.Z.) findet (vgl. LEONTJEW 1973, S. 276). Die Entwicklungslinie, die zum heutigen Schimpansen führte, trennte sich vor ca. sieben Millionen Jahren von der sog. Homininilinie, die über die Australopithecinen und die verschiedenen Homo-Arten schließlich den modernen Menschen hervorbrachte. Bereits unseren Vorfahren - den Australopithecinen - war der charakteristische aufrechte Gang des Menschen gemein (vgl. ULMSCHNEIDER 2014, S. 197). Trotz dieser bipedalen Fortbewegung - die sich von der Fortbewegung der Waldaffen fundamental unterschied - und anderen physiologischen Ähnlichkeiten, waren die Australopithecinen noch einzig und allein von den Gesetzen der biologischen Evolution beherrscht (vgl. BRENNER 1998, S. 102; LEONTJEW 1973, S. 276f.). LEONTJEW (2008) spricht im Hinblick auf diese „erste Stufe“ der menschlichen Genese auch von einer biologischen „Vorbereitung“ des Menschen (vgl. S. 57).

Der aufrechte Gang setzte die Hände frei und erlaubte es dem Homo habilis vor ca. zwei Millionen Jahren, „einfache“ Werkzeuge aus Stein zu benutzen und selbst herzustellen. Zahlreiche archäologische Funde aus dieser Zeitepoche sprechen bereits für eine bewusste Weitergabe von erworbenen Kenntnissen und eine menschliche Kultur lässt sich jetzt erstmalig identifizieren (vgl. BEHRINGER 2010, S. 42). Diese „Fixierung“ menschlicher Errungenschaften initiierte im Tier-Mensch-Übergangsfeld selbstbeschleunigende Prozesse und die ersten primitiven Formen gesellschaftlichen Lebens entstanden. Neben die biologischen traten nun auch die sozialen Gesetze (vgl. JANTZEN 1991, S. 111; LEONTJEW 1973, S. 276f.).

»Befreit von dem Zwang, sich in einem Genom einschreiben zu müssen, um zu überleben, können diese Errungenschaften sich in exponentiellen Prozessen entfalten, wo die relevante Zeiteinheit nicht mehr die Jahrmillionen der biologischen Revolution, sondern Jahrtausende, ein Jahrhundert, gar eine einzige Generation sind (…)« (SÈVE 2009, S.19f.).[18]

Im Verlaufe der Zeit setzte sich der Homo sapiens gegenüber dem Homo neanderthalensis durch und wurde im Neolithikum (ca. 5000 - 2000 v.u.Z.) schließlich sesshaft (vgl. KINDLER 2013, S. 59). »Die Kultivierung eßbarer Pflanzen, die Aufzucht von Tieren zu Nahrungszwecken oder die Kombination beider Beschäftigungen in der gemischten Landwirtschaft stellten ganz klar einen revolutionären Fortschritt in der Entwicklung der Wirtschaft dar« (CHILDE 1968, S. 34). So erzwang die „neolithische Revolution“ einen gesellschaftlichen Überschuss, der die Population wachsen ließ und die Erfindung der Schrift durch die Sumerer maßgeblich begünstigte (vgl. ebd., S. 35 u. S. 48; ULMSCHNEIDER 2014, S. 210). Für LEONTJEW (1973) beginnt nun eine Ära in der einzig und allein die sozialen Gesetze herrschen (vgl. S. 277). Im Kern dieser Ära - die bis heute andauert - steht die individuelle Aneignung des akkumulierten Erbes in Form von materiellen und ideellen Gegenständen, die vermittelt über die Prozesse der Erziehung, der Bildung und der Sozialisation von Generation zu Generation weitergeben werden (vgl. JANTZEN 2013, S. 18).[19]

Das Individuelle in der Gesellschaft und das Gesellschaftliche im Individuum

Es wäre also absurd anzunehmen, die gesellschaftlichen Strukturen bestünden aus einem Konglomerat genetisch determinierter und nebeneinander existierender Instinktwesen. Vielmehr konstituiert sich die Gesellschaft durch die Summe der Beziehungen und Wechselwirkungen der einzelnen Individuen, die zueinander in einem Verhältnis stehen (vgl. MARX 1983, S. 189). Die beschriebene Anthropogenese - die in dieser Form ohne die Soziogenese nicht zu denken ist - zeigt unmissverständlich, »(…) daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist« (MARX 2008, S. 16). So ist die besondere Art und Weise, wie in einer Gesellschaft »(…) das Menschliche produziert, reproduziert und deproduziert wird« (BUTLER 2009, S. 64), das Ergebnis einer dynamischen Entwicklung, die die einzelnen Gesellschaftsmitglieder nicht aus-, sondern einschließt. Eine menschliche Existenz außerhalb der Gemeinschaft gibt es nicht und kann es auch nicht geben, ›(…) denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft‹ (ARISTOTELES 2010, S. 15). Folglich ist der einzelne Mensch auch nur in seinem Verhältnis zu anderen Menschen existent und Mensch zu sein bedeutet, in sozialen, gesellschaftlichen Verhältnissen zu leben (vgl. LANWER 2012, S. 33; LANWER 2014, S. 62). »Wir sind Menschen grundsätzlich im Sozialen, im Gesellschaftlichen, und das Soziale, das Gesellschaftliche ist in uns. Und es ist in uns, weil wir in ihm sind« (JANTZEN u. LANWER 2012, S. X). Der einzelne Mensch in seiner Wirklichkeit ist daher eine »bio-psycho-soziale Einheit« (FEUSER 1992, S. 34), ein »Mensch in der Menschheit« (LANWER 2014, S. 62) und ein besonderes »(…) ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (MARX 1959, S. 6).

Der mythische Gedanke an eine menschliche Existenz jenseits gemeinschaftlicher Strukturen verstrickt sich an dieser Stelle in eine unlösbare Aporie, da der Gedanke - selbst ein Produkt der Vergemeinschaftung - nicht losgelöst von der Gemeinschaft gedacht werden kann. Klar ist aber auch, dass der einzelne Mensch nicht konformistisch mit den gesellschaftlichen Strukturen gleichgesetzt werden darf, weil eine solche Auffassung die einzigartige Subjekthaftigkeit des Menschen negieren würde. Das menschliche „Wesen“ ist also weder ein abstraktes und überzeitliches „Ich“ noch kann es in den gesellschaftlichen Strukturen aufgelöst werden (vgl. SÈVE 1973, S. 31). Dem Menschen kommt daher eine besondere „Doppelstellung“ (LANWER 2014, S. 61) zu, die SÈVE (1973) folgendermaßen beschreibt: »Das Individuum ist einmalig im wesentlich Gesellschaftlichen seiner Persönlichkeit und gesellschaftlich im wesentlich Einmaligen seiner Persönlichkeit; das ist die Schwierigkeit, die zu bewältigen ist« (S. 237). Ausgehend von diesem dialektischen Charakter „gesellschaftlicher Individualität“ (vgl. ebd., S. 31) wird im Nachfolgenden die menschliche Persönlichkeitswerdung verkürzt behandelt.

Die Persönlichkeitswerdung des Individuums

JANTZEN (2007) sieht es als erwiesen an, »(…) dass mit der Entwicklung des Menschen selbst zugleich der Möglichkeitsraum für die Aneignung der sozialen Mittel entstanden ist, in deren Zentrum erst der Mensch zur Persönlichkeit wird (…)« (S. 226f.). Einerseits unterstreicht dieses Zitat die unauflösliche Verschränkung zwischen Anthropogenese und Soziogenese und andererseits suggeriert es, dass der Mensch nicht als Persönlichkeit geboren wird, sondern erst zu einer Persönlichkeit wird (vgl. LEONTJEW 1977, S. 72).

»Diese These bedeutet zunächst, daß die Persönlichkeit sich in der Gesellschaft formt, daß der Mensch in die Geschichte als Individuum eintritt (und das Kind als Individuum ins Leben eintritt), als ein Individuum, das mit bestimmten natürlichen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet ist, und daß das Individuum nur als Subjekt der gesellschaftlichen Beziehungen zur Persönlichkeit wird (ebd., S. 71).[20]

Die einzigartige Persönlichkeit eines Menschen zu einem beliebigen Zeitpunkt ist demzufolge das Ergebnis einer Entwicklung, die sich vermittelt über andere Menschen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen vollzog. Wenn die Persönlichkeit nicht genetisch determiniert ist, dann heißt das aber auch, dass das Persönliche erst mit gesellschaftlichen Mitteln herausgearbeitet werden muss und das Individuum nicht wissen kann, was es ist, bevor es sich durch das eigene Tun zur Wirklichkeit gebracht hat (vgl. JANTZEN 1991, S. 65; HEGEL 1970, S. 297). Wie sich dieser Prozess der Persönlichkeitswerdung vollzieht - der auf höchster menschlichen Ebene zur Bewusstheit seiner selbst im Spiegel der Anderen und der gesellschaftlichen Verhältnisse führen kann - soll mithilfe „kulturhistorischer Theorie“ etwas genauer beleuchtet werden.[21] Den Ausgangspunkt hierfür bildet die dynamische Wechselbeziehung zwischen dem neugeborenen Individuum und der äußeren Wirklichkeit, die mit dem Schema „Subjekt-Tätigkeit-Objekt“ dargestellt werden kann. Kompatibel mit den ontischen und in Übereinstimmung mit den anthropologischen Prämissen lässt sich die Tätigkeit in diesem Schema als verbindende Komponente denken, die den einzigartigen Stoffwechsel zwischen Subjekt und Objekt realisiert (vgl. LANWER 2009, S. 43; LEONTJEW 1984, S. 15; JANTZEN 1991, S. 67). In Analogie zum organischen Leben, das im Verlauf der Phylogenese in die vorhandenen anorganischen Strukturen hineinwachsen musste - um überleben zu können -, findet auch das Individuum prädestinierte Lebensbedingungen vor, die allerdings in höchstem Maße sozialer Natur sind (vgl. MARX u. ENGELS 1959, S. 54).[22] So präsentieren sich dem Neugeborenen in Abhängigkeit von dem kulturellen Entwicklungsstand, der „Klassenzugehörigkeit“ und der individuellen Ausgangssituation die akkumulierten Errungenschaften der menschlichen Gattungsgeschichte in Form von Gegenstands-, Werkzeug- und Tätigkeitsbedeutungen (vgl. JANTZEN 2007, S. 123ff.). Diese „Bedeutungsstrukturen“, die sich „hinter den Gegenständen“ befinden, müssen aber erst erschlossen werden; d.h., die Bedeutungen der Gegenstände sind dem Individuum nicht biologisch gegeben, sondern aufgegeben (vgl. LEONTJEW 1973, S. 281; JANTZEN 2007, S. 152).[23] Erst die tätige, aktive und gegenständliche Auseinandersetzung des engagierten Subjektes mit den Objekten in der Wirklichkeit - die stets über andere Menschen vermittelt ist - ermöglicht den „Bedeutungstransfer“ und damit das subjektive Eindringen in die objektive Realität (vgl. LEONTJEW 1979, S. 58f.; JANTZEN 1991, S. 293).

»Es zeigt sich, dass hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als dass etwas dahinter sei, das gesehen werden kann« (HEGEL 1970, S. 135f.).

Das aktive „Herausholen“ der Bedeutungen hinter dem „Vorhange“ lässt sich als „Interiorisationsprozess“ beschreiben, in dessen Verlauf sich die praktische Tätigkeit mit den stofflichen Gegenständen in psychische Bewußtseinsprozesse verwandelt (vgl. LEONTJEW 1982, S. 10; LEONTJEW 1977, S. 30). Und die Welt „an sich“ immer mehr zu einer Welt „für mich“ wird (vgl. LANWER 2006, S. 48). LEONTJEW (1977) unterschied daher auch zwischen äußeren und inneren Tätigkeiten, die eine gemeinsame Struktur aufweisen. Jedoch ist das Verhältnis dieser beiden Tätigkeitsformen - aufgrund der Priorität des Seins gegenüber dem Bewusstsein - dahingehend bestimmt, dass die innere aus der äußeren Tätigkeit hervorgeht (vgl. S. 30). Im Ergebnis führt die äußere praktische Tätigkeit des Individuums - durch die innere Widerspiegelung der äußeren Wirklichkeit - über die Sinnlichkeit hinaus und schlägt sich in einem ideellen Abbild nieder (vgl. LEONTJEW 1982, S. 17).[24] Aus diesem Grund tritt für WYGOTSKI (1987) in der geistigen Entwicklung jede Funktion zweimal auf, zuerst interpsychisch, also sozial, und dann intrapsychisch (vgl. S. 629). Im Hinblick auf die Persönlichkeitswerdung bedeutet dies: »The first independent form of the child’s new action is a material one; the final is ‘mental’ (…)« (GALPERIN 1957, S. 223).

Nun ist der beschriebene Interiorisationsprozess - der in der äußeren Tätigkeit anhebt und im ideellen Abbild mündet - nicht als kreisförmiger, sondern als spiralförmiger Entwicklungsprozess zu denken, der in seinem konsekutiven Verlauf an Komplexität gewinnt (vgl. JANTZEN 1991, S. 346). Im Schema Subjekt-Tätigkeit-Objekt manifestiert sich die Wirkung dieses Bedeutungstransfers einerseits in einer Veränderung der äußeren Wirklichkeit und andererseits in einer Selbstveränderung des Individuums (vgl. MARX 1959, S. 6; LANWER 2009, S. 40). Im Verlauf der Ontogenese zeigen sich daher qualitativ unterschiedliche Abbild- und Tätigkeitsniveaus, deren Besonderheiten im Konzept der »dominierenden Tätigkeit« (LEONTJEW 1973; JANTZEN 2007; FEUSER 1984) systematisiert wurden. In Bezug auf die Persönlichkeitswerdung spricht LEONTJEW (1979) von zwei grundlegenden Neubildungen (vgl. S. 197 u. S. 203f.). Einer ersten „individuellen Geburt“ und einer zweiten „sozialen Geburt“ der Persönlichkeit. Die Erste ist dadurch gekennzeichnet,

dass es dem Individuum - vermittelt über andere Menschen - gelingt, sich selbst als solches zu erkennen. Die Bedeutung des eigenen „Ich“ im Spiegel der Anderen entsteht (vgl. JANTZEN 2007, S. 126; JANTZEN 1991, S. 152).

»Da er [der Mensch, Anm. d. Verf.] weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch« (MARX 2008, S. 67).

Vermittelt über Anderes erlangt das Individuum schließlich die Fähigkeit, sich selbst invariant zu setzen (vgl. JANTZEN 1991, S. 152).[25] Es kann sich nun selbst zum Gegenstand seiner eigenen Betrachtung machen. Unabdingbare Voraussetzung für diese erste Geburt der Persönlichkeit ist jedoch ein anderes „Ich“, welches „Du“ zu mir sagt und mich als gegenüberstehendes „setzt“ (vgl. HOLZ 2005, S. 580f.). Auf der Grundlage dieser Neubildung können im Verlauf der weiteren Ontogenese dann die sozialen Bedeutungen der Gegenstände, Werkzeuge und Tätigkeiten angeeignet werden, bevor die zweite Geburt der Persönlichkeit möglich wird. »Für sie ist zentral, daß der Mensch jetzt lernt, sich mit den Augen des jeweiligen Soziums zu sehen, im umfassenden Sinne mit den Augen des Prozesses der Menschheit« (JANTZEN 1991, S. 153).

Die beiden verkürzt angerissenen Neubildungen verdeutlichen die besondere Rolle der sozialen Entwicklungssituation eines Menschen, die als „Hauptquelle“ der Entwicklung anzusehen ist (vgl. WYGOTSKI 2003, S. 75). Der grundgelegte anthropologische Bezugsrahmen zeigt, dass der Mensch vom ersten Atemzug an ein gesellschaftliches Wesen ist, das sich nur in der Gemeinschaft vereinzeln kann (vgl. MARX 1971, S. 616; SUCHOMLINSKI 1972, S. 48). So ist die Herausbildung der einzigartigen Persönlichkeit in erster Linie abhängig von dem sozialen Milieu, in dem sich das Individuum erst zur Persönlichkeit entwickelt (vgl. LEONTJEW 1977, S. 95).[26] Mit BUBER (2009) lässt sich am Ende dieses Abschnittes festhalten: »Der Mensch wird am Du zum Ich« (S. 28) und mit FEUSER (2001) ergänzen: »(…) Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind!« (S. 285).

Behindert „werden“ - das Phänomen als Ausdruck behindernder Bedingungen

In Anlehnung an SARTRE ist ausgehend von dem ontischen und anthropologischen Bezugsrahmen zunächst eine elementare Entscheidung zu fällen. »(…) ꞌDenn man muß schon wählen: wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muß dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ich seinꞌ« (zit. n. DÖRNER 1996, S. 9). Zugespitzt formuliert stellt sich die Frage, ob die ausgearbeiteten Prämissen über das »In-der-Welt-Sein« (HOLZ 2003, S. 8) des Menschen auch für Menschen gültig sind, die als behindert bezeichnet werden. Die Grundposition der traditionellen Sonderpädagogik zu dieser Frage verdeutlicht WYGOTSKI (1975) anhand eines Zitates von CURTMAN: »Den Blinden, den Gehörlosen und den Schwachsinnigen darf man nicht mit demselben Maß messen, wie den Normalen« (S. 68). Dem entgegengesetzt legt WYGOTSKI seine Position dar: »′Den Blinden, den Gehörlosen und den Schwachsinnigen kann und muß man mit demselben Maß messen, wie den Normalen′« (ebd. S. 69). Der Auffassung WYGOTSKIS folgend wird im Anschluss das Phänomen Behinderung und die gesellschaftlich vorherrschende Sichtweise, die zu Beginn des Artikels skizziert wurde, mit dem grundgelegten Bezugsrahmen vermittelt, der ausnahmslos alle Menschen umfasst. Diese Vermittlung verdeutlicht zunächst, dass das Phänomen nur dann hinreichend erkannt, erklärt und verstanden werden kann, wenn es als relationales und prozessuales innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen zum Gegenstand gemacht wird. Selbstverständlich gilt dies auch für die defektorientierte und defektessentialisierende Sichtweise auf das Phänomen, die - wie sich noch zeigen wird - nicht losgelöst von dem Phänomen selbst betrachtet werden darf. Die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen Einbettung liegt bereits in der Historizität des Phänomens selbst begründet, das laut JANTZEN (1979) erstmals im Kapitalismus sichtbar als „Problem“ in Erscheinung tritt (vgl. S. 83).[27]

»Geistige Behinderung kann nicht als ein naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Geistige Behinderung bestimmt sich immer auch in Bezug auf die Anforderungen, die eine Gesellschaft an ein Individuum stellt. Sie ist immer auch abhängig von der gesellschaftlichen Verwertbarkeit des Individuums« (JANTZEN 1973, S. 3).

Mithin sind die Entstehungsbedingungen des Phänomens Behinderung, sprich die Mechanismen von kapitalistischen Gesellschaftsformationen zu analysieren, die konstitutiv für das Phänomen selbst sind. Es ist daher unumgänglich, das Phänomen im Spiegel einer Gesellschaft zu untersuchen, die sich maßgeblich über die „gesellschaftliche Verwertbarkeit“ ihrer Mitglieder_innen reguliert. Analytisch ergibt sich in Anlehnung an JANTZEN (1979) daher die Notwendigkeit, » (..) Behinderung und psychische Erkrankung als Ausdruck der objektiven Logik der kapitalistischen Gesellschaftsformation« (S. 69) zu untersuchen. Klar ist aber auch, dass in diesem Rahmen keine umfassende Analyse von kapitalistisch organisierten Marktgesellschaften geleistet werden kann, es aber insbesondere im Hinblick auf die Frage: Behindert „Sein“ oder behindert „werden“? erforderlich ist, gewisse Mechanismen zu skizzieren, die systematischen Ausschluss evozieren und die Persönlichkeitswerdung der Individuen massiv determinieren (vgl. JANTZEN 1979, S. 82).[28] Den Einstieg hierfür liefert JANTZEN (2007), der darauf verweist, dass Menschen mit einer sog. Behinderung innerhalb von kapitalistischen Gesellschaftsformationen - die auf erweiterter Stufenleiter die Arbeitskraft des Menschen selbst zur Ware machen - lediglich über eine „Arbeitskraft minderer Güte“ verfügen (vgl. S. 30). Diese ökonomisch bedingte Degradierung ist von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Phänomens und bedarf einer näheren Erläuterung. Im Focus steht daher die Frage, warum Menschen mit einer Behinderung nur über eine Arbeitskraft minderer Güte verfügen und welche gesellschaftlichen Auswirkungen mit diesem Status einhergehen bzw. einhergingen.

Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass die gesellschaftliche »Positionierung der Menschen« (KRONAUER 2010, S. 30) - in modernen warenproduzierenden Gesellschaften, die marktwirtschaftlich und kapitalistisch organisiert sind - dadurch bestimmt ist, ob und wenn ja, in welcher Menge über das allgemeine Äquivalent (Geld) verfügt werden kann. So entscheidet letztlich das Vermögen eines Menschen darüber, was er vermag (vgl. MÖHL u. WENTZKE 2007, S. 10).[29] Dementsprechend erfolgt auch die lebensnotwendige Bedürfnisbefriedigung nicht unmittelbar über den koordinierten Austausch der arbeitsteilig produzierten Güter, sondern vermittelt über das Geld, das als „allmächtiges Wesen“ die universelle Eigenschaft besitzt auf alle anderen Waren zugreifen zu können (vgl. MARX 1982, S. 142ff.). »Was immer jemand genießen und zu seiner Verfügung haben will - er muss es mit Geld bezahlen, weil es jemand anderem gehört« (MÖHL u. WENTZKE ebd.). Im Schema Subjekt-Tätigkeit-Objekt fungiert das Geld daher als „Kuppler“ zwischen den Bedürfnissen des Subjektes und den Gegenständen der Bedürfnisbefriedigung (vgl. MARX 1982, ebd.). Diejenigen, die weder von Hause aus über die Produktionsmittel verfügen, um selbst oder andere für sich arbeiten zu lassen, noch im Besitz des allgemeinen Äquivalentes sind, werden in kapitalistischen Verhältnissen dazu „gezwungen“, ihre eigene „Haut“ zum Markt zu tragen und ihre Arbeitskraft in Geld zu verwandeln (vgl. MARX 2008, S. 191). Dieser Zwischenschritt bildet eine notwendige Voraussetzung für den „selbstbestimmten“ Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum, der - trotz des Knappheitspostulates der modernen Ökonomie - als »ungeheure Warensammlung« (ebd., S. 49) vorliegt.

Somit ist die Aneignung des gesellschaftlichen Erbes auf das Engste verknüpft mit der Möglichkeit Geld zu akquirieren. Der Erfolg dieses Prozesses, die Metamorphose von Arbeitskraft in Zugriffmittel, ist aber alles andere als garantiert und kommt auch erst dann zu Stande, wenn das Bedürfnis des »Marktmagens« (vgl. MARX 2008, S. 122) in den Fähig- und Fertigkeiten der Person seinen Gegenstand findet. Verfügt diese bspw. über Kompetenzen, die über dem gesellschaftlichen „Durchschnitt“ liegen, dann erhöht sich auch die Verwertbarkeit der Arbeitskraft auf dem Markt und in der Regel auch die Geldsumme, die vom Geldbesitzer in Form des Lohnes ausgezahlt wird (vgl. ebd., S. 53). Gelingt die Metamorphose von Arbeitskraft in Geld, dann sind die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung qualitativ schrankenlos, richten sich jedoch quantitativ nach der Höhe der erwirtschafteten Geldsumme. Die Partizipation am gesellschaftlichen Erbe und die Realisierung des in Aussicht gestellten „selbstbestimmten Lebens“ wird so abhängig von der Summe des zur Verfügung stehenden Mammons. BOISGUILLEBERT bringt es auf den Punkt: »Das Geld ist der Henker aller Dinge geworden« (zit. n. MARX 2008, S. 155). Dieser tritt vor allem dann in Erscheinung, wenn die Arbeitskraft eines Menschen - aus unterschiedlichsten Gründen - nicht der geforderten Qualität entspricht und folglich auch nicht verkauft werden kann. Für große Teile der Bevölkerung ist damit der Tatbestand erfüllt, nur noch über eine Arbeitskraft minderer Güte zu verfügen - das heißt: weniger verwertbar zu sein (vgl. JANTZEN 2007, S. 30). Die Betroffenen sind zwar so „frei“, ihre Arbeitskraft zum Markt zu tragen und feilzubieten, verkaufen können sie diese aber nur sehr schwer, unter ihrem Wert oder gar nicht (vgl. MARX 2008, S. 343).

Im Hinblick auf den Personenkreis, der heute als behindert bezeichnet wird, führten die beschriebenen Mechanismen sozialhistorisch betrachtet zu der „Sozialen Frage“: »ꞌWas machen wir mit denen, die für den Markt zu leistungsschwach oder zu störend sind, was wollen wir sie uns kosten lassen, wofür sind sie überhaupt da?ꞌ« (DÖRNER 1996, S. 17). Diese Frage wurde institutionell beantwortet und es entstanden im Zuge der Industrialisierung in allen europäischen Ländern flächendeckende Netze von Irrenanstalten, Anstalten für geistig Behinderte und Krüppelheime (vgl. ebd., S. 18).[30] Die Gesellschaft spaltete sich allmählich in „Bürger und Irre“ (DÖRNER 1969). Die marktkonforme Degradierung zur Arbeitskraft minderer Güte - die sich erst durch die Abweichung zur gesellschaftlich geforderten Durschnitts-Arbeitskraft konstituiert - führte schließlich zu einer systematischen Hospitalisierung der Personen, die in Deutschland erst seit dem 20. Jhd. als behindert bezeichnet werden (vgl. MÜRNER u. SIERCK 2012, S. 9). PIRELLA u. PIRELLA (1975) beschreiben diesen Prozess eindrücklich:

»Das Sich-außerhalb-der-Norm-Stellen oder Gestalt-Werden schafft eine ‹negative Situation›, die vom System nur unter Einsatz jener ideologischen und institutionellen Instrumente verkraftet werden kann, mit denen es eine despotische Autorität ausübt: Das außerhalb der Norm Stehen wird also ideologisch und institutionell in Ausschluss verwandelt« (S. 101f.).

In diesem Zitat spiegeln sich die Dimensionen und Auswirkungen des gesellschaftlichen Ausschlusses wieder, der nach wie vor auf der Seite der Ausschließenden eine „wissenschaftliche Rechtfertigung“ hervorruft und auf der Seite der Ausgeschlossenen zum realen Verlust der sozialen Bezüge führt.[31] So werden die Ausgeschlossenen entsprechend ihrer klassifizierten „Behinderungen“ - heute beschönigend auch „Förderschwerpunkte“ genannt - vom gewöhnlichen gesellschaftlichen Verkehr abgekapselt und in homogenen Gruppen hospitalisiert, »(…) wo es der Norm entspricht, abnormal zu sein« (ONGARO-BASAGLIA 1985, S. 89). Für den „harten Kern“ - Menschen, die als schwer und schwerstbehindert bezeichnet werden - bedeutet dies nicht selten, dass ihr gesamtes Leben durch eine »totale Institution« (GOFFMAN 1973, S. 17) bestimmt wird. Sie sind Fremde, gesellschaftlich „Gebrandmarkte“ und nicht mehr Teil der öffentlichen Sphäre. Auf erweiterter Stufenleiter kann diese »Entfremdung des Menschen vom Menschen« (MARX 1982, S. 93) - wie die Geschichte lehrt - dazu führen, dass der gegenüberstehende Mensch nicht mehr als Mensch in der Menschheit erscheint, sondern als „Fremdkörper“.[32] Dieses entfremdete Verhältnis darf jedoch nicht als vollkommene Beziehungslosigkeit gedacht werden, sondern eher als defizitäres im Sinne einer „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (vgl. JAEGGI 2005, S. 19). Ausschluss daher nicht im Sinne einer vollkommenen Ausgrenzung aus der Gesellschaft, sondern als Ausschluss in der Gesellschaft (vgl. KRONAUER 2010, S. 41). Menschen mit einer sog. Behinderung sind folglich Fremde bzw. Entfremdete nicht außerhalb, sondern innerhalb der Gesellschaft.

Diese sozialhistorischen und ökonomischen Implikationen bilden im Nachfolgenden den Ausgangspunkt, um die gesellschaftlich dominante Sichtweise auf das Phänomen Behinderung zum Gegenstand zu machen. Im Mittelpunkt stehen die tradierten Vorstellungen von „Behinderten“ im gesellschaftlichen Denkkollektiv und deren Auswirkungen auf die Betroffenen.

Die verzerrte Sicht auf das Phänomen Behinderung: Verdinglichung

Ausgehend von den dialektisch-materialistischen Prämissen ist rekurrierend zu betonen, dass die Vorstellungen von Menschen dem wirklichen Lebensprozess entspringen (vgl. MARX 1971, S. 9).[33] Mithin spiegelt sich das gesellschaftlich entfremdete Sein von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, auch im Zeitgeist, der in Form der beschriebenen defektorientierten und defektessentialisierenden »Denkgewohnheiten« (LUKÁCS 1967, S. 95) zum Ausdruck kommt. Nun gilt es, die Konsequenzen dieser kognitiven Gewohnheiten etwas näher zu beleuchten.

Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass erst vor dem Hintergrund systemadäquater „Normvorstellungen“ der „Defekt“ resp. der „Fehler“ in Erscheinung tritt und als solcher wahrgenommen wird. So werden internalisierte resp. habitualisierte Vorstellungen von „Normalität“ als Folie genutzt, um den einzelnen Menschen oder ganze Gruppen an den gesellschaftlichen Idealen zu messen (vgl. GROLL 2007, S. 221; JANTZEN 2007, S. 260). Die Betroffenen erscheinen in einem ersten Schritt als „Zerrbilder“, da sie den Vollkommenheitsvorstellungen des Denkkollektives nicht entsprechen (vgl. GROLL 2007, S. 221). Sie lassen sich in die konventionellen und künstlich verabsolutierten Ideale bzw. Normvorstellungen nicht einfügen (vgl. ONGARO-BASAGLIA 1985, S. 50). »Der Grund hierfür liegt in den nicht gegebenen Strukturen und Prozessen ‚normaler‘ Geschäftsfähigkeit, Arbeitskraft, Ausbeutungsbereitschaft, sozialer Konsumfähigkeit, bzw. in ästhetischen Merkmalen, die einen geringen Gebrauchswert signalisieren« (JANTZEN 2007, S. 261). In einem zweiten Schritt werden die für abnormal befundenen Merkmale dann losgelöst von den sozialen Verhältnissen betrachtet, individualisiert und an der betroffenen Person selbst festgeschrieben. Die physischen und psychischen „Besonderheiten“ werden so biologisiert und erscheinen jetzt jenseits ihrer sozialen Entstehungsbedingungen als „natürliche“ Eigenschaft (vgl. FEUSER 2012, S. 3; JANTZEN 2007, S. 261; JANTZEN u. LANWER 2012, S. IX). Nicht das bewegte und gewordene Sein innerhalb eines universellen Gesamtzusammenhangs - wie es der grundgelegte Bezugsrahmen suggeriert - ist das Charakteristikum der vorherrschenden gesellschaftlichen Auffassung von Behinderung, sondern das statisch gegebene Sein in seiner scheinbaren Beziehungslosigkeit. Diese »ontologische Reduktion« (FEUSER 2012, S. 7) führt in Anlehnung an den von LUKÁCS (1967) geprägten Begriff der „Verdinglichung“ zu einer „gespenstigen Gegenständlichkeit“, die jede „Spur“ der sozialen Gewordenheit verdeckt (vgl. S. 94).[34] Es entsteht eine nebulöse „zweite Natur“, eine Welt von scheinbar fertigen Dingen und Dingbeziehungen, die als unveränderbare Tatsachen wahrgenommen werden (vgl. JÜTTEN 2011, S. 726ff.; LUKÁCS 1967, S. 97). In den Diagnosen „geistige“ resp. „seelische“ Behinderung, die alle qualitativen Unterschiede zwischen den Betroffenen ausmerzen und die besonderen Biographien negieren, zeigt sich dieser Verdinglichungsprozess deutlich. ›Alle Verdinglichung ist ein Vergessen‹ sagte einst ADORNO (2003, S. 250) und so kommt es zu einem Bruch zwischen dem Subjekt und seiner besonderen Entwicklungsgeschichte. Der Facettenreichtum des menschlichen Seins verschwindet hinter dem klassifizierten Syndrom und die Betroffenen selbst werden zum Problem gemacht. Sie erscheinen jetzt von „Natur aus“ als defekt, defizitär, deviant und behindert (vgl. FEUSER 2012, S. 3; JANTZEN u. LANWER 2012, S. XI; ONGARO-BASAGLIA 1985, S. 10f).

Resümierend lässt sich festhalten, dass die gesellschaftlich vorherrschende Sichtweise auf das Phänomen die Hauptquelle der Persönlichkeitswerdung verkennt, das Soziale negiert und den Menschen auf die biologische Ebene reduziert. Personalisierung und Individualisierung führen so zu der verbreiteten Auffassung, der als „behindert“ gebrandmarkten Normabweichung liege ein „behindertes Wesen“ zugrunde, das durch „abnormale“ und „bizarre“ Verhaltensweisen in Erscheinung tritt. Im Ergebnis werden die wahrgenommenen Merkmale dann essentialisiert und der Schein wird zum „behinderten Sein“ stilisiert.[35] Um es mit JAEGGI (2005) zu sagen: »Ihr Tun wird zum Sein gemacht« (S. 108). Es handelt sich hierbei um eine verzerrte, verdinglichende und reduktionistische Sicht, die das konstitutive Moment des menschlichen Seins - die soziale Entwicklungssituation - schlichtweg nicht berücksichtigt und den Menschen als abstraktes Wesen jenseits der Kultur verortet. Da sich eine kognitive Haltung, die der Illusion einer unveränderbaren Naturgegebenheit erliegt, als falsche Überzeugung und Irrtum beschreiben lässt (vgl. STAHL 2011, S. 733) kann die eingangs formulierte Hypothese an dieser Stelle verifiziert werden: Bei dem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von dem Phänomen Behinderung handelt es sich um ein Zerrbild, das einer verzerrten und verdinglichenden Sichtweise geschuldet ist.[36]

Im Hinblick auf die gesellschaftliche Praxis ist diese verdinglichende Sichtweise von enormer Bedeutung, da sie es legitimiert »(…) Personen so zu behandeln, als hätten sie den moralischen Status bloßer Dinge« (STAHL 2011, S. 731). Vom gesellschaftlichen Verkehr ausgeschlossen, hospitalisiert, medikamentös sediert und in extremen Fällen sogar unter Gewaltanwendung fixiert sind Menschen, die als schwer behindert bezeichnet werden, primär „Objekte“ der Therapie und erst sekundär Menschen (vgl. DÖRNER 1996, S. 18; FEUSER 2012, S. 7). Der gesellschaftliche Ausschluss und die beschriebenen Vorstellungen von Behinderung sind demzufolge als sich wechselseitig bedingende Momente zu betrachten, die die Persönlichkeitswerdung der Betroffenen hemmen, indem sie den Möglichkeitsraum der kulturellen Bedeutungsaneignung stark begrenzen.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Zusammenhänge wird es mit Hilfe des Isolationsbegriffes von JANTZEN (1979) nun möglich, die Auswirkungen von erschwerten sozialen Entwicklungssituationen in den Blick zu nehmen und die Frage: Behindert „Sein“ oder behindert „werden“? zu beantworten.

Persönlichkeitswerdung unter erschwerten Bedingungen

Im Sosein eines Menschen spiegelt sich seine Ontogenese, die sich innerhalb einer bestimmten sozialen Entwicklungssituation vermittelt über die Tätigkeit vollzogen hat.[37] Führt diese Hauptquelle der Entwicklung nicht ausreichend Wasser oder versiegt völlig - um bei der Metapher von WYGOTSKI zu bleiben - dann ist auch der Persönlichkeitsentwicklung die Bedingung ihrer Möglichkeit genommen. Der Bedeutungstransfer im Stoffwechsel Subjekt-Tätigkeit-Objekt gerät ins Stocken und eine adäquate Aneignung der sozialen Bedeutungen im gesellschaftlichen Erbe wird erschwert bzw. verhindert. Es kommt zu einer „Stoffwechselstörung“ (vgl. JANTZEN 1979, S. 36) deren Ursache - und das muss besonders betont werden - nicht im Subjekt selbst begründet liegt, sondern im sozialen Milieu zu verorten ist. Der Begriff der Isolation liefert hier ein geeignetes Analyseinstrument, um den „gestörten Austausch“ und die mit ihm zusammenhängenden Auswirkungen auf der Ebene des Subjektes etwas näher zu beleuchten.[38] Hierfür ist es zunächst erforderlich, seine inhaltliche Bedeutung zu umreißen. Eine erste Orientierung liefert sein Gegenspieler: der Begriff der Partizipation, der laut ZIEGER (2009) auf die Eingliederung und das Einbezogensein eines Subjektes oder einer Gruppe in die sozialen Lebensbereiche zielt (vgl. S. 150). Damit verbunden ist die Möglichkeit, die eigenen Lebensverhältnisse im Sinne von individueller und kollektiver Realitätskontrolle gestalten zu können (vgl. REICHMANN 1984, S. 310). Folglich verweist die Isolation - entgegen der Partizipation - auf einen Mangel an Realitätskontrolle und den Ausschluss von sozialen Lebensbereichen. So ist der Isolationsbegriff gekennzeichnet durch ein Höchstmaß an sozialer Distanz (vgl. JANTZEN 1990, S. 714).

Das ursprünglich ›harmonische Zusammenspiel zwischen Subjekt, Tätigkeit und Objekt‹ (ZIMPEL 2009, S. 190) wird durch eine veränderte Ausgangssituation empfindlich gestört und die Quelle der Entwicklung wird zu einer „Quelle der Isolation“ (vgl. JANTZEN 1979, S. 44ff.). Gelingt es dem Subjekt unter diesen isolierenden Bedingungen - die multifaktorielle Ursachen haben können - nicht, die Informationen aus der äußeren Wirklichkeit oder dem eigenen Körper angemessen zu verarbeiten, resultiert ein inadäquater Informationsaustausch, der verschiedene Formen annehmen kann (vgl. JANTZEN 1979, S. 35; LANWER 2009, S. 45). Es lassen sich drei Parameter unterscheiden: die Überstimulation (sensory overload), die widersprüchlichen Informationen (double bind) und die sensorische Deprivation (vgl. JANTZEN 2007, S. 284). Gemein ist diesen Parametern - um es mit SPITZ (1976) zu sagen -, die »Entgleisung des Dialogs« (S. 100); d.h., dass die Anforderungen aus der Wirklichkeit vor dem Hintergrund der individuellen Fähig- und Fertigkeiten nicht mehr bewältigt werden können. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen Anpassungsnotwendigkeit und Anpassungsmöglichkeit (vgl. RESCH et. al. 1999, S. 47; JANTZEN 2007, S. 283). In der Folge steht das Subjekt der eigenen Situation ohnmächtig und ausgeliefert gegenüber, da es weder über Handlungsmöglichkeiten verfügt noch auf Kooperationsmöglichkeiten zugreifen kann, um in angemessener Weise steuernd, korrigierend und regulierend auf die Lebenswirklichkeit zu wirken (vgl. LANWER 2009, S. 46; REICHMANN 1984, S. 15; ZIMPEL 2009, S. 190f.).

»Ist die Kooperationsfähigkeit eingeschränkt oder stehen Möglichkeiten der Kooperation nicht hinreichend zur Verfügung, so resultiert ein Prozeß der graduellen Anpassung an isolierende Bedingungen (…) oder bei extrem starken isolierenden Bedingungen in Form der Isolationskrise eine massive traumatische Umbildung der Persönlichkeitsstruktur (…)« (JANTZEN 2007, S. 285).

Dieser unerträgliche Belastungszustand wird intrapsychisch widergespiegelt und setzt einen Ausgleichs- und Anpassungsprozess in Gang, der sich als „innere Reproduktion der Isolation“ beschreiben lässt (vgl. JANTZEN 2007, S. 284; LANWER 2009, S. 46). Bei konstant bleibender Isolation können negative Emotionen, Stress und schließlich psychoreaktive und psychovegetative Reaktionsbildung - wie Schaukeln, Neurosen, Autoaggressionen, Stereotypien, Psychosen u.a. - die Folge sein.[39] Unter solchen Umständen findet die beschriebene Persönlichkeitsentwicklung des Individuums in „partiellen Sackgassen“ statt und das höchstmögliche Tätigkeitsniveau kann aufgrund der isolierenden Bedingungen nicht mehr erreicht werden (vgl. JANTZEN 2007, S. 261 u. S. 284). Diese erschwerte soziale Entwicklungssituation führt dazu: » (…) daß der Mensch in Wirklichkeit nicht das ist, was er potenziell ist, oder, anders ausgedrückt, daß er nicht ist, was er sein sollte, und daß er sein sollte, was er sein könnte« (FROMM 1982, S. 51). Mit JANTZEN (1990) lässt sich nun der Begriff der Isolation bestimmen als die Negation des artgeschichtlich bzw. lebensgeschichtlich höchstmöglichen Niveaus der Tätigkeit (vgl. S. 714f.).

Die Be-Hinderung!

Das verkürzt dargestellte Isolationsmodell von JANTZEN liefert ein theoretisches Instrument, um das Allgemeine von Behinderung kategorial zu fassen. Die Abstraktion ermöglicht es, die besonderen „Behinderungsarten“ mit dem Wesentlichen und Allgemeinen aller Behinderungen - der Isolation - zu vermitteln (vgl. JANTZEN 1976, S. 21f.). In seinem Vortrag „Rehistorisierung unverstandener Verhaltensweisen und Veränderungen im Feld“ blickt JANTZEN (2009) retrospektiv auf eine frühe Phase seiner Theoriebildung zurück, in der er schon erkannte:

» (…) dass soziale Isolation der entscheidende Ausgangspunkt sein müsste, von dem man all jene Seltsamkeiten und unverständlichen Dinge entschlüsseln könne, die bis dahin einem organischen Substrat von Behinderung zugeschrieben wurden« (S. 1).

So sieht auch WYGOTSKI (1975) in der Blindheit und der Gehörlosigkeit an sich noch keinen Mangel, keinen Defekt, keine Minderwertigkeit und auch keine Krankheit, sondern in der Defektivität selbst einen sozialen Begriff (vgl. S. 72). Der systematische gesellschaftliche Ausschluss, die Entfremdung des Menschen vom Menschen, die verdinglichende Sichtweise und die damit verbundene Degradierung zum Objekt der Therapie führt auf der Seite der als behindert Bezeichneten zu einer sozialen Entwicklungssituation, die eine adäquate Aneignung des kulturellen Erbes verhindert und die Persönlichkeitswerdung des Individuums massiv determiniert. In ihrer Begrenztheit werden die Ausgeschlossenen dann als „AndersARTige“ wahrgenommen und unter Entwicklungsbedingungen gebracht, die ihrer vermeintlichen Begrenztheit entsprechen (vgl. FEUSER 1995, S. 86; FEUSER 2012, S. 7). FEUSER (2001) beschreibt dies als die „Todsünde“ der Heil- und Sonderpädagogik und der Psychiatrie, die dem fatalen Glauben geschuldet ist, durch eine inhaltlich extrem reduzierte soziale Lebenswirklichkeit, die Situation der Betroffenen zu verbessern (vgl. S. 299).[40]

In Übereinstimmung mit den herausgearbeiteten ontischen und anthropologischen Prämissen ist daher JANTZEN (1976a) in vollem Umfang zuzustimmen, der in der sozialen Isolation das Wesen von Behinderung sieht (vgl. S. 435). »Damit wird der Begriff Behinderung als einen Menschen beschreibende Kategorie obsolet. Der Begriff ist nur noch in seiner aktiven Form als die Be-‚Hinderung’ eines Menschen hinsichtlich seiner Lebensgestaltung und Entwicklungsmöglichkeiten sinnvoll zu verwenden« (FEUSER 2012, S. 9). Mithin ist die in Erscheinung tretende Be-Hinderung ein Spiegelbild der vorurteilsbelasteten Vorenthaltungen, der verweigerten Entfaltungsmöglichkeiten und der gesellschaftlichen Art und Weise mit diesem gebrandmarkten Personenkreis umzugehen (vgl. FEUSER 1995, S. 132).

Die Eingangs aufgeworfene Frage: Behindert „Sein“ oder behindert „werden“? lässt sich an dieser Stelle nun beantworten: Menschen sind nicht behindert, sie wurden und sie werden be-hindert! - und zwar systematisch.

Anschrift des Verfassers:

Stefan Schuster

Arheilger Straße 83

64289 Darmstadt

E-Mail: stefan.schuster87@gmx.de

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Quelle

Stefan Schuster: Behindert "Sein" oder behindert "werden"? Eine Entzerrung der verzerrten Sicht auf das Phänomen Behinderung. Erschienen in: in Behindertenpädagogik, Ausgabe 01/2015

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.04.16



[1] Unter einem Zerrbild lässt sich laut BROCKHAUS (1999) eine Vorstellung, ein Bild oder eine Darstellung von jemandem oder von etwas verstehen, das die Wirklichkeit verzerrt resp. entstellt wiedergibt (vgl. S. 4619).

[2] In Anlehnung an MARX (1971) lässt sich dieses Wechselwirkungsverhältnis auch mit den Begriffen „Basis“ und „Überbau“ beschreiben. In diesem „Modell“ bildet die ökonomische Struktur einer Gesellschaft eine reelle Basis, die den sozialen, politischen und geistigen Überbau bedingt (vgl. S. 8f.). So kann das Menschenbild dem gesellschaftlichen Überbau zugeordnet werden, das aus der gesellschaftlichen Basis hervorgeht, aber auch auf diese zurückwirkt.

[3] Bspw. unterscheidet THIES (2011) in Anlehnung an die Typologie SCHELERS zwischen sieben Menschenbildern, die sich in ihren Prämissen stellenweise fundamental widersprechen, aber alle in der ein oder anderen Form auch heute noch beobachtbar sind (vgl. S. 1518ff.).

[4] Das Wort „Behindertenhilfe“ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, da nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden kann, dass die klassischen Organisationen der „Behindertenhilfe“ den Menschen wirklich helfen.

[5] Rechtsordnungen sind als Produkte sozialer Interaktion zu begreifen, die ebenfalls den Zeitgeist einer Epoche zum Ausdruck bringen. WEBER (2006) verweist hier auf einen flüssigen Übergang von der bloßen „Sitte“ zur „Konvention“ und von dieser zum „Recht“ (vgl. S. 617).

[6] Diese Vorstellungen lassen sich i.w.S. einem bürgerlichen Menschenbild zuordnen, das soziale Verhältnisse naturalisiert und „problematische“ Verhaltensweisen individualisiert (vgl. KUHN 1990, S. 360). Hier von einem „medizinischen Modell“ zu sprechen, greift daher zu kurz und verschleiert eher die gesellschaftliche Funktion der Medizin. Treffender wäre es, von einem „bürgerlichen Modell“ von Behinderung zu reden, das von der Psychiatrie und der Heilpädagogik ideologisch legitimiert wird.

[7] Dieser Aspekt zeigt sich in der humangenetischen Beratung, deren Hauptzweck für WALDSCHMIDT (1992) die „Verhinderung von Behinderung“ ist und bleibt (vgl. S. 122).

[8] Der Defekt - etymologisch von defectus stammend - bedeutet so viel wie „Fehler“ oder „Schaden“ (vgl. DUDEN 2011, S. 137).

[9] ENGELS (1973) schreibt, dass das »(…) Hegelsche System nur einen nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestellten Materialismus repräsentiert« (S. 277).

[10] »Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen« (MARX u. ENGELS 1959, S. 26).

[11] In der Deutschen Ideologie (geschrieben 1845-1846) heißt es: »Der ‚Geist‘ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ‚behaftet‘ zu sein (…)« (MARX u. ENGELS 1959, S. 30). Die moderne Neurowissenschaft bestätigt diese These in vollem Umfang, da nichts für die Aktivierung des Körpers durch einen reinen Geist spricht (vgl. NEWEN 2012, S. 7). »Der Geist ist also untrennbar an Materie gebunden und seine Existenz unabhängig vom Körper eine pure Fiktion« (ebd., S. 8).

[12] HOLZ bestimmt sechs Grundzüge materialistischer Dialektik, die im Rahmen dieses Artikels nicht gesondert behandelt werden können. Siehe dazu: HOLZ 2010b, S. 236.

[13] »Natur ist seit je ein Terminus für das Ganze der in der Welt vorkommenden Dinge, ihrer Verhältnisse und der an ihnen und zwischen ihnen ablaufenden Prozesse« (HOLZ 2010, S. 99).

[14] PLESSNER bestimmt über die Position, die ein Seiendes zu sich und seinem Milieu einnimmt, das Seiende selbst (vgl. PLESSNER 2004, S. 9ff.; HOLZ 2003, S.126ff.).

[15] 15 »Omnis determinatio est negatio« (SPINOZA zit. n. CORETH u. SCHÖNDORF 2008, S. 81).

[16] Wie sich dieser Entwicklungsprozess im Detail vollzieht kann hier nicht explizit behandelt werden, es sei jedoch auf den von HEGEL (1970) geprägten Begriff der „Aufhebung“ (vgl. S. 93ff.) verwiesen, dem die Bedeutungen „entdecken“ (lat. detegere), „tilgen“ (lat. tollere), „bewahren“ (lat. conservare) und „in die Höhe heben“ (lat. elevare) implizit sind (vgl. REGENBOGEN u. MEYER 2013, S. 78). Ausgehend davon sieht KLINGERSBERGER (2012) in der Aufhebung die Grundform aller Entwicklung in Natur, Gesellschaft und Denken (vgl. S. 8).

[17] GREVE u. NEUHÄUSER (2013) insistieren außerdem, dass die darwinistische Metapher eines „Lebensbaumes“, sowie die monotheistischen Vorstellungen eines einmaligen Schöpfungsaktes „aus dem Nichts“ nicht mehr haltbar sind (vgl. S. 35f.).

[18] »Die Zehntausende von Jahren der gesellschaftlichen Geschichte lieferten in dieser Hinsicht viel mehr als die Millionen von Jahren der biologischen Evolution« (LEONTJEW 1973, S. 279).

[19] LEONTJEW (1973) unterscheidet grundsätzlich zwischen der Anpassung und dem Aneignungsprozess: »Bei der biologischen Anpassung verändern sich die Arteigenschaften und das Artverhalten des Individuums. Beim Aneignungsprozess reproduziert dagegen das Individuum die historisch gebildeten Fähigkeiten und Funktionen« (S. 283). Somit ist die Natur ein Ort der Anpassung und die Kultur ein Ort der Aneignung.

[20] Für LEONTJEW (1977) ist das „Individuum“ ein Produkt der biologischen Evolution und ein genotypisches Gebilde, wohingegen der Begriff „Persönlichkeit“ für ihn eine Überschneidung von sozialen und biologischen Faktoren impliziert (vgl. S. 70ff.).

[21] JANTZEN (2011) spricht von „kulturhistorischer Theorie“, anstatt von der „Kulturhistorischen Schule“, da er davon ausgeht, dass WYGOTSKI den Begriff „Schule“ abgelehnt hätte (o.S.). Aus diesem Grund findet hier nur der erstgenannte Begriff Verwendung. Neben der Troika aus WYGOTSKI, LEONTJEW und LURIA lässt sich laut JANTZEN (2014) auch BERNSTEIN dieser Tradition zuordnen (vgl. S. 48).

[22] Selbstverständlich sind auch pränatale Faktoren von entscheidender Bedeutung. Diese können hier jedoch nicht zum Gegenstand gemacht werden. Siehe dazu: JANTZEN 2007, S. 180ff.

[23] KRAUSS (1994) verweist darauf, dass die Gegenstände, die das Individuum in „fertiger Form“ in seiner Wirklichkeit vorfindet, nicht nur Träger bestimmter materieller Eigenschaften sind, sondern auch Träger von sozialen Bedeutungen (vgl. o.S.). Die Bedeutungen liegen folglich auch nicht in den materiellen Körpern selbst begründet, wie oft fälschlicherweise angenommen, sondern in den spezifischen gesellschaftlichen Funktionen der Gegenstände.

[24] »Das Verhältnis von Abbild und Widerspiegelung wollen wir uns so denken, dass Widerspiegelung die aktive, prozesshafte Seite, die Wahrnehmungsseite (…) dieses Prozesses darstellt, und Abbild die geronnene Struktur, die Bedeutungsstruktur« (JANTZEN 1991, S. 103).

[25] MARX (1982) schreibt: »Man bedenke (…), daß das Verhältnis des Menschen zu sich selbst ihm erst gegenständlich, wirklich ist durch sein Verhältnis zu den anderen Menschen« (S. 94).

[26] Freilich kann es sich das Individuum nicht aussuchen in welche Verhältnisse es hineingeboren wird und die Frage, ob es diese oder jene Lebensbedingungen präferiert, stellt sich nicht, da weder eine Wahl noch eine Entscheidung möglich ist (vgl. LANWER 2014, S. 62).

[27] Selbstverständlich ist die Ausgrenzung gewisser Personengruppen aufgrund bestimmter physischer und psychischer Merkmale keine kapitalistische Erfindung. So findet sich bereits bei PLATON (428 - 348 v.u.Z.) in seiner Politeia die „eugenische“ Empfehlung, „verkrüppelte“ Kinder an einen geheimen und unbekannten Ort zu bringen (vgl. PLATON 1973, S. 162). Und auch der vielgepriesene LUTHER (1483 - 1546 n.u.Z.), der im „Anders-Sein“ das Werk des Teufels sah, gab dem Fürsten von Anhalt den Ratschlag, eine „Ausgeburt des Teufels“ (ein zwölfjähriges Kind), das für ihn nur ein Stück seelenloses Fleisch (eine „massa carnis“) war, zu töten (vgl. ROHRMANN 2007, S. 63).

[28] Eine ernsthaft geführte Debatte um die Realisierung von „Inklusion“, die über die „Integration“ der „Inkludierbaren“ in die Ausbeutung hinausgeht und nicht nur eine „exklusive“ Personengruppe umfasst - Menschen mit einer sog. Behinderung -, müsste genau hier ansetzen. Aktuell zeigt sich im öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs leider eher eine „Inklusionsverständnisreduktion“ auf den Bereich der Bildung, dessen Zentripetalkraft alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt und von den ökonomisch bedingten Mechanismen systematischer Ausschließung ablenkt.

[29] MARX (1982) schreibt: »So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft« (S. 143).

[30] Im Zuge der Industrialisierung wurden die Insassen der bereits im Absolutismus entstandenen Umerziehungslager neu „sortiert“. Die „Brauchbaren“ kamen in die Fabriken und für die „Unbrauchbaren“ entstanden Spezialeinrichtungen (vgl. DÖRNER; PLOG; TELLER; WENDT 2002, S. 494).

[31] Es sei bemerkt, dass die Entstehung einer eigenständigen Psychiatrie zeitlich mit der Durchsetzung des freien Marktes zusammenfällt (vgl. DÖRNER; PLOG; TELLER; WENDT 2002, S. 494).

[32] An dieser Stelle muss auf die nationalsozialistische Barbarei verwiesen werden, der im Rahmen der sog. Euthanasie ca. 250 000 Menschen zum Opfer fielen, die als lebensunwertes Leben angesehen wurden (vgl. MÜRNER u. SIERCK 2012, S. 54f.). Die Aufarbeitung von ALY (2013) zeigt deutlich, dass der fiskalische Nutzen des planwirtschaftlichen Massenmordes von Anfang eine elementare Rolle spielte (vgl. S. 20 u. S. 60). Er schreibt: »Fast immer standen die Fragen im Vordergrund: Arbeitsfähig oder nicht arbeitsfähig? Brauchbar oder unbrauchbar?« (ebd., S. 62).

[33] »Vorstellungen haben folglich keinen apriorischen, erfahrungsunabhängigen Ursprung. Im Gegenteil, sie ergeben sich aus unseren Beziehungen zur natürlichen und sozialen Umwelt und setzen folglich einen Erfahrungs-, Tätigkeits- sowie einen Sprachraum voraus, die in ihrer Gesamtheit als Bedingungen der Möglichkeiten von Vorstellungen zu verstehen sind« (LANWER 2014, S. 64).

[34] »Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück« (MARX 2008, S. 107).

[35] Für FEUSER (2012) ist dies ein wissenschaftlich unhaltbarer Prozess, der die registrierte Erscheinung zu ihrer Ursache macht (vgl. S. 3).

[36] Die Ursachen für diese verdinglichende Sichtweise können im Rahmen dieses Artikels nicht näher erläutert werden. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass LUKÁCS (1967) - in Anlehnung an den „Fetischcharakter der Ware“ (vgl. MARX 2008, S. 85ff.) - die kapitalistische Produktionsweise hierfür verantwortlich macht (vgl. S. 94ff.). Und auch JANTZEN (2013a) spricht von einer der Warenproduktion unmittelbar entspringenden Fetischisierung, die zu einer Verkehrung der Wahrnehmung führt - von einer Ontologie der Prozesse in eine der solche Dinge (vgl. S. 19).

[37] So erweist sich die einzigartige Gewordenheit der Seienden als der Ausdruck der notwendigen Form ihres konkret-historischen Seins (vgl. HOLZ 2003, S. 120).

[38] Das Verhältnis zwischen „Entfremdung“ und „Isolation“ lässt sich in Anlehnung an JANTZEN (2007) so bestimmen, dass der Begriff Entfremdung auf gesellschaftlich entfaltetem Entwicklungsniveau eine nicht gelingende Vermittlung zwischen dem Subjekt und der Gesellschaft abbildet, die als Ausgangspunkt für das Ausmaß und die Strukturiertheit isolierender Bedingungen zu denken ist. Insofern beschreibt der Begriff Entfremdung nur die Möglichkeitsräume für psychopathologische Entwicklungen, aber noch nicht diese selbst. Hier verortet JANTZEN den Isolationsbegriff, der auf der biologischen und psychischen Ebene des einzelnen Subjektes seine eigene Realität besitzt (vgl. S. 261).

[39] Diese im Denkkollektiv als „irrational“ gebrandmarkten Erscheinungen sind vor dem Hintergrund der beschriebenen Zusammenhänge daher als subjektiv sinnvolle und zweckmäßige Reaktionen zu verstehen. Sie sind als Kompetenzen unter Bedingungen der Isolation zu begreifen, die es ermöglichen, das eigene Leben zu erhalten. Mithin sind sie nicht „pathologisch“, sondern „entwicklungslogisch“ (vgl. FEUSER 2001, S. 287; JANTZEN 1990, S. 715).

[40] In Ihrem Buch: „Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“ verdeutlicht JAEGGI (2005): »Wo von den Anderen qua Rollenzuschreibung solche Mechanismen der ›Verdinglichung‹ ausgehen, fixieren sie mich in einem bestimmten Zustand und nehmen mir damit die Freiheit, etwas anderes zu sein als ich für sie bin« (S. 108f.).

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