Inklusion (er)leben

Autor:in - Brigitte Schumann
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Impulsreferat von Brigitte Schumann, gehalten auf dem Bildungskongress "Inklusion (er)leben" von bildung neu denken e.V. am 12. Mai 2012 in Freiburg i. Brsg.
Copyright: © Brigitte Schumann 2012

"Inklusion (er)leben"

Anrede,

Inklusion (er)leben! Ein schöner Titel für den heutigen Bildungskongress!

Ich verstehe ihn als Appell an Politik, an Gesellschaft und selbstverständlich an uns alle, für eine Qualität des Zusammenlebens zu sorgen, die sich an den Menschenrechten ausrichtet.

Ich greife den Titel auf und stelle vier Fragen:

  1. Was hindert uns als Gesellschaft daran, Inklusion zu leben und zu erleben?

  2. Welchen Beitrag muss die Bildungspolitik für Inklusion leisten?

  3. Was läuft bildungspolitisch bei der Verwirklichung von Inklusion schief?

  4. Was macht Mut, sich für Inklusion einzusetzen?

1. Was hindert uns daran, Inklusion zu leben und zu erleben?

Dazu rufe ich drei Befunde aus aktuellen Forschungsprojekten auf.

Prof. Heitmeyer, Leiter für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, hat zehn Jahre lang von 2000 bis 2010 im Rahmen einer Langzeitstudie Erscheinungsweisen, Ursachen und Entwicklungen von "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" in Deutschland erforscht. Die Ergebnisse hat er jährlich veröffentlicht unter dem Titel "Deutsche Zustände".

Zu den deutschen Zuständen gehört, dass unter den krisenhaften Bedingungen wachsender sozialer Ungleichheit und der Ökonomisierung des Sozialen Menschen der unteren sozialen Schichten, die selbst bedroht sind von sozialem Ausschluss, anfällig sind für rechtsextremes Gedankengut.

In seinen letzten Veröffentlichungen stellt Heitmeyer jedoch heraus, dass inzwischen auch Angehörige der oberen Schichten zu einem gesellschaftlichen Problem geworden sind. Sie vertreten zunehmend rechtspopulistische Einstellungen. Sie zeigen eine geringe Bereitschaft zur Unterstützung schwacher Gruppen. Sie verteidigen ihre Privilegien sogar mit der Stigmatisierung schwacher Gruppen. Namhafte Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft scheuen nicht mehr davor zurück, im Jargon der Verachtung sich über Hartz IV- Empfänger, Langzeitarbeitslose und Migranten öffentlich auszulassen und soziale Ungleichheit offensiv zu rechtfertigen. Soweit seine Befunde.

Sarrazins Thesen gegen Migranten und die mediale Aufmerksamkeit, die man ihm dafür gewidmet hat, sind ein handfestes Beispiel dafür. Ein anderes Beispiel kommt aus der Wissenschaftsecke. Ein bekannter Bildungsforscher bekennt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 24. 6. 2009 in aller Offenheit: "Seien Sie doch ehrlich, Sie und ich würden auch alles dafür tun, dass unsere Kinder auf ein Gymnasium gehen und nicht mit den Schmuddelkindern spielen. Und eine Partei, die das Ende des Gymnasiums fordert, würde nicht wiedergewählt werden. Deshalb wird es dazu nie kommen. So einfach ist das." Eben dieser Forscher hat ganz aktuell im Auftrag der Bertelsmann Stiftung den "Chancenspiegel" erstellt und dabei festgestellt, dass in Deutschland Kinder aus den oberen Schichten gegenüber Kinder aus den unteren Schichten eine 4,5 mal höhere Chance haben, das Gymnasium zu besuchen.

Das Heidelberger SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung hat im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Kinderund Jugendstiftung Lebenswelten von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren erforscht und die Ergebnisse unter dem vielsagenden Titel "Wie ticken Jugendliche" soeben veröffentlicht. Es ist eine qualitative Grundlagenstudie, die Jugendliche aus allen Milieus authentisch zu Wort kommen lässt: in Einzelinterviews, mit eigenen schriftlichen Aufzeichnungen und mit Fotos von ihren Zimmern.

Die Forschergruppe kann einerseits nachweisen, dass es nicht die Jugend gibt. Zu bunt und unterschiedlich sind die Jugendmilieus. Aber in einem gibt es quer durch fast alle Milieus eine Gemeinsamkeit: Jugendliche aus den oberen sozialen Schichten grenzen sich von sozial benachteiligten Jugendlichen aus dem prekären Milieu ab. Die Forscher können nachweisen, dass die wachsende soziale Ungleichheit zu sozialer Spaltung unter den Jugendlichen führt. Jugendliche aus den privilegierten, bildungsnahen Milieus werfen Menschen aus dem prekären Milieu Faulheit, Mangel an Leistungsbereitschaft und an Eigenverantwortung vor. "Ich würde die Hartz IV Leute, die zu Hause sitzen und keine Lust zum Arbeiten haben, dazu verdonnern, Arbeiten zu müssen", so lauten typische Aussagen in den Interviews.

"Abgehängte Jugendliche" aus dem prekären Milieu reagieren darauf mit Resignation und Pessimismus. Sie erleben vor allem Schule als Ort des Konflikts, des Misserfolgs und der Demütigung.

Deckungsgleich zeigt sich sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen aus den oberen Einkommensschichten die tendenzielle Bereitschaft, anstelle des Solidarprinzips gnadenlos das Selbstverschuldungsprinzip gegen leistungsschwächere Gruppen anzuwenden. Beide Gruppen zeigen, um mit Heitmeyer zu sprechen, generationsübergreifend "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". Die gesellschaftliche Lektion ist bei den Jugendlichen angekommen. Sie haben die Abwertungsmuster ihrer sozialen Milieus und der "rabiaten Elite" übernommen und vollziehen sie in ihren Einstellungen nach.

Die Otto Brenner Stiftung hat in einem Projekt "soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland" erforscht. Der Autor der Studie, Sebastian Bödeker, stellt fest: Bildung in Verbindung mit dem sozioökonomischen Status ist der entscheidende Faktor für politische Wirksamkeitsüberzeugung und Partizipation. Je prekärer die Lebenslage, desto weniger politische Beteiligung. Die Wahlbeteiligung zeigt das immer deutlicher. Bödeker verweist darauf, dass die Wahlergebnisse wegen ihrer sozialen Verzerrung als demokratische Legitimation für politisches Handeln fragwürdig werden.

Die sozial selektiven Effekte bei Wahlen konnte sich z.B. die elitäre Elterninitiative "Wir wollen lernen" beim Hamburger Volksentscheid strategisch zunutze machen. Sie konnte u. a. wegen der geringen Wahlbeteiligung benachteiligter Bevölkerungsgruppen die Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs gemeinsame Jahre verhindern. Dieser kleine Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit für Kinder der unteren sozialen Schichten scheiterte am Eigennutz von Angehörigen der oberen sozialen Schichten.

Ich ziehe folgendes Fazit aus den drei zitierten Studien:

Soziale Ungleichheit ist der Feind der Demokratie.

Sie ist der Feind der Inklusion.

Soziale Ungleichheit zersetzt demokratische und inklusive Werte und hindert uns als Gesellschaft daran, Inklusion zu leben.

Es ist höchste Zeit, dass die Politik die gesellschaftlichen Strukturen, Prozesse und Praktiken, die ursächlich oder begünstigend sind für soziale Ungleichheit in allen Lebens- und Politikfeldern identifiziert und im Sinne von Inklusion verändert, statt davor zu kapitulieren.

2. Welchen Beitrag muss die Bildungspolitik für Inklusion leisten?

Die Bildungspolitik ist zwar nicht der alleinige, aber ein zentraler Faktor im Kampf gegen soziale Ungleichheit und für die Verwirklichung von Inklusion.

Der bildungspolitische Handlungsbedarf ist riesig.

Die Vorstellung von einem auch nur annähernd begabungs- und leistungsgerechten Schulsystem ist gründlich widerlegt worden. Unser gegliedertes deutsches Schulsystem ist nicht begabungsgerecht! Es ist nicht leistungsgerecht! Es ist ungerecht!

Die Privilegierung der Kinder aus den oberen sozialen Schichten gegenüber denen aus den unteren sozialen Schichten gilt auch dann, wenn die Kinder aus den unterschiedlichen Schichten vergleichbare Leistungen erbringen.

Dagegen wächst die Wahrscheinlichkeit bzw. das Risiko, eine Haupt- oder eine Sonderschule besuchen zu müssen, mit der benachteiligten Lebenslage.

In Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen, die es in anderen europäischen Ländern nicht gibt, bleiben extrem benachteiligte, arme Kinder mit sozialen Entwicklungsproblemen komplett unter sich und werden von erfolgreichen Lernprozessen abgeschnitten. Sie lernen in einem sozial völlig entmischten Lernmilieu, das noch anregungsärmer ist als das in Hauptschulen.

Das Wissen über die Entstehung und Reproduktion von Bildungsungerechtigkeit und Chancenungleichheit in unserem gegliederten Schulsystem gibt es nicht erst seit heute. Schon der Deutsche Bildungsrat hat aus diesem Grund in den 1970er Jahren eine umfassende Strukturreform zugunsten eines eingliedrigen Schulsystems mit der weitgehenden Integration von Kindern mit Behinderungen empfohlen. Die Realisierung scheiterte damals nicht allein am erbitterten politischen Widerstand von CDU und konservativen Kräften. Den politischen Reformkräften fehlte der Mut zur gesellschaftlichen Gegenwehr und politischen Bewusstseinsbildung.

Das Schulsystem mit seiner frühen Trennung der Kinder ist aber nicht nur ungerecht. "Learning to live with each other", eine der wichtigsten Aufgaben von Schule nach Auffassung der UNESCO für das 21. Jahrhundert, kann in einem hierarchisch gegliederten und sozial selektiven Schulsystem nicht gelingen. Toleranzappelle, moralische Predigten und selbst eine Menschenrechtserziehung müssen ins Leere laufen, wenn die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen von dem Status der Schulform abhängt, die sie besuchen.

In einem Monitorbericht über Hauptschüler/innen vor drei Jahren sagten diese über sich selbst: "Wir sind der letzte Dreck!" Die stigmatisierenden Effekte der Hauptschule - und erst recht der Sonderschule - sind höchst alarmierend. Sie schließen die Selbststigmatisierung der Betroffenen ein. Die von Heitmeyer beobachtete gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird durch ein Schulsystem wie das unsrige begünstigt und gefördert!

Zu all dem gelten für die deutschen Bundsländer seit dem 26. März 2009, also seit gut drei Jahren, völkerrechtliche Verpflichtungen aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Es ist deutsches Recht. Die Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) begründet - wie kompetente Völkerrechtler und das Deutsche Institut für Menschenrechte bestätigen - ein unmittelbares individuelles Recht des Kindes mit Behinderung auf einen uneingeschränkten, diskriminierungsfreien Zugang zu einer wohnortnahen allgemeinen Schule mit angemessenen individuellen Vorkehrungen. Das ist die individuelle Anforderung an das Bildungssystem und die Bildungspolitik. Zugleich ist Deutschland als Vertragstaat verpflichtet, das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen diskriminierungsfrei und auf der Basis von Chancengleichheit in einem inklusiven Bildungssystem zu gewährleisten. Das ist die strukturelle Anforderung an das System und die Politik.

Unabweisbar gilt, dass ein inklusives Schulsystem nicht identisch ist mit einem selektiven Schulsystem. Selektion und Inklusion vertragen sich nicht.

Oder ganz praktisch gefragt: Wie will man begründen gegenüber Eltern, Schülern und der Öffentlichkeit, dass ein Kind mit einer sog. Geistigen Behinderung oder einer sog. Lernbehinderung am Gymnasium aufgenommen wird, während ein "hauptschulempfohlenes" Kind keinen Platz im Gymnasium bekommt oder ein "gymnasialempfohlenes" bei Leistungsschwäche abgeschult wird?

Die Verwirklichung von Inklusion ist untrennbar mit der Zielperspektive einer Schule für alle verbunden. Diesen Zusammenhang hat die UNESCO schon auf ihrer Weltkonferenz in Salamanca 1994 unmissverständlich gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft vertreten und seitdem in ihren Veröffentlichungen immer wieder erläutert.

Mein Fazit: Die Bildungspolitik hat wegen ihrer jahrzehntelangen Versäumnisse eine große Bringschuld. Mit der Ratifizierung der UN-BRK ist sie menschenrechtliche Verpflichtungen eingegangen, der sie sich jetzt stellen muss.

Dr. Eichholz, ehemaliger Kinderrechtsbeauftragter der NRW Landesregierung unter Johannes Rau und Mitglied der National Coalition für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, hat dies in einem Interview so ausgedrückt: "Es geht auch nicht darum, dass einzelne Schulen "inklusiv werden wollen" und andere wie bisher bleiben, sondern die Menschenrechtskonventionen verlangen Inklusion auf Dauer von allen Schulen, auch wo es gar nicht um Menschen mit Behinderung, sondern um Abtrennung und Ausgrenzung auch anderer Art geht. Nötig ist eine grundlegend andere Einstellung zur Verschiedenartigkeit und Vielfalt - mit Auswirkungen, die tatsächlich das ganze System betreffen bis hin zu Bildungsstandards und Fragen des Bewertungs- und Berechtigungswesens. Die dahinter stehenden Normvorstellungen widersprechen dem Geist der Konvention."

3. Was läuft bildungspolitisch schief?

Hier beziehe ich mich nicht auf BaWü allein, sondern zeige Entwicklungen auf, die mehr oder weniger für alle Bundesländer gelten und die von der Kultusministerkonferenz (KMK) gestützt werden.

Was läuft schief?

  • Die "Trickserei" der Kultusbürokratie hat tiefes Misstrauen gegenüber der Politik geweckt. Es fing an mit der bewusst falschen Übersetzung von "inclusion". Die Verfälschung durch die Wiedergabe von "inclusion" mit "Integration" wurde aber schnell von engagierten zivilgesellschaftlichen Gruppen aufgedeckt. Seitdem deklariert die Bildungspolitik ihre Maßnahmen zwar als "Inklusion", aber ohne den Inhalt zu liefern. In Bayern gelten z.B. Außenklassen und Kooperationsklassen auch als inklusive Organisationsformen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Frechheit, mit der der Freistaat Sachsen behauptete, schon ein inklusives Schulsystem zu haben. Begründung: In Sachsen habe jedes Kind das Recht, eine öffentliche Schule zu besuchen.

Was läuft schief?

  • Der Individualanspruch des einzelnen Kindes mit Behinderung, nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen zu werden, ist bereits geltendes deutsches Recht. Die KMK und die Bundesländer erkennen dieses Recht jedoch nicht an. Die KMK hat sich stattdessen auf diverse rechtliche Vorbehalte verständigt, die als Barriere den freien Zugang von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zu allgemeinen Schulen verhindern bzw. behindern. Länder wie z.B. Hessen, Bayern und Niedersachsen machen das in ihren Schulgesetzen nach.

  • Das Recht des Kindes auf inklusive Bildung als Wahlrecht der Eltern auszulegen, das verstößt gegen die Konvention und das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Ein Elternwahlrecht ist höchstens für eine Übergangszeit akzeptabel, sofern damit nicht der Ausbau von Inklusion untergraben wird. Festzuhalten ist aber, dass alle Länder bis auf Bremen damit ihr Sonderschulsystem erhalten.

  • Die Verengung und Reduktion des Inklusionsbegriffs auf Kinder mit Behinderungen ist nicht menschenrechtskonform. Zwar ist richtig, dass die UNBRK sich nur auf Menschen mit Behinderungen bezieht, aber im Kontext aller Menschenrechtsdokumente und unter Einbeziehung der Salamanca Erklärung ist klar, dass es um alle Kinder geht bei der Verwirklichung des Rechts auf gemeinsames Lernen.

Was läuft schief?

  • Inklusion ist als übergeordnetes Leitprinzip für die Gestaltung des gesamten Bildungssystems zu behandeln. Es ist kein Spiegelstrichthema, das man neben vielen anderen auch noch aufgreift. Prof. Hinz vergleicht zu Recht Inklusion mit dem Nordstern. Er ist der hellste am Himmel und dient als Kompass.

Leider lassen sich die Strukturveränderungen, die in den Bundesländern schon vorgenommen wurden oder derzeit werden, nicht vom Leitprinzip der Inklusion leiten. Mit der Zweigliedrigkeit verfehlen die Länder eindeutig das Ziel der Inklusion. Mit der Ermöglichungspolitik verfehlen NRW und BaWü unter einer rot-grünen bzw. grün-roten Landesregierung aber nicht nur das Ziel. Sie haben nicht einmal eins, auf das sie perspektivisch zusteuern. Gefördert werden stattdessen Beliebigkeit und eine unsinnige und teure Ausweitung der problematischen Vielgliedrigkeit. Hier ist die Kritik des badenwürttembergischen Städtetags durchaus angebracht, wenngleich ich das Ziel des Städtetags, die Zweigliedrigkeit, nicht teilen kann.

  • Die derzeitigen Rahmenbedingungen für gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen an allgemeinen Schulen sind an Integration orientiert. Ein rein quantitativer Ausbau der sonderpädagogischen Förderung in Regelschulen wird dem Inklusionsanspruch nicht gerecht. Ziel muss ein Drittes sein: eine "inklusive Pädagogik", die mehr ist als Regelpädagogik plus Behindertenpädagogik.

Es gibt aber leider keine verlässliche Rahmenplanung wie man von der Integration zur Inklusion kommt. Für die weiterführenden Schulen gilt das in besonderer Weise. Dort stoßen Selektionsanforderungen und Inklusionsanforderungen hart aufeinander. Dazu zähle ich die Klassenwiederholungen, die Abschulungen, die undifferenzierte Ziffernnotenbewertung, die schulformbezogenen Regelstandards, die Lernstandserhebungen, das G8. Also neben den traditionellen Klassikern der Selektion die selektiven Verfeinerungen, die nach Pisa den Schulen unter dem Label der Qualitätssicherung aufgezwungen wurden.

  • Auf die Haltung kommt es an! Aber wie kann da eine inklusive Haltung bei Lehrern und Lehrerinnen entstehen, wenn die Paradoxien nicht aufgelöst werden? Die "Haltungsschäden" unserer Lehrer/innen aufgrund der Anpassung an systemische Homogenitätszwänge sind so nicht zu korrigieren.

  • Die bisherigen Finanzierungsmodelle sind unzureichend, defizitorientiert und stigmatisierend. Weitergedacht werden sollten die Modelle, die eine systembezogene Finanzierung ermöglichen.

All diese Mängel bewirken, dass die Skepsis und das Misstrauen bei Lehrerinnen gegen Inklusion wachsen. Abwehrreaktionen sind Folge dieser Politik, die immer noch faselt, dass man ganz behutsam bei der Umsetzung der Inklusion vorgehen müsse, um "alle mitzunehmen". Und das drei Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Konvention in Deutschland, fast 6 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Konvention durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, 18 Jahre nach der Verabschiedung der Erklärung von Salamanca, die die Bundesregierung mitgezeichnet hat.

Die Politik spricht gerne von Inklusion als einer Jahrhundertaufgabe. Damit will sie zu verstehen geben, dass wir uns zu gedulden haben. Dabei ist es z.B. möglich, wenn es denn politisch gewollt ist, die Grundschule in kürzester Zeit zu einer Schule für alle zu machen.

Was muss dafür geschehen?

Die Grundschule bekommt die notwendigen sonderpädagogischen Ressourcen, um alle Kinder, auch Kinder mit sozialen Entwicklungsproblemen, bestmöglich zu fördern. Die Mittelzuweisung erfolgt pauschal und ist nicht mehr an das einzelne Kind gebunden. Die stigmatisierende Feststellungsüberprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf entfällt. Arme Kinder müssen nicht als "behindert" etikettiert werden, damit die Schule zusätzliche Fördermittel bekommt. Der Ressourcentransfer von den Förderschulen zu den Grundschulen geht einher mit dem jahrgangsweisen Auslaufen der Förderschulen für die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache.

In prekären Einzugbereichen mit vielen Kindern in benachteiligten Lebenslagen ist der Unterstützungsbedarf besonders groß. Dem muss personell, sächlich und konzeptionell Rechnung getragen werden. Die Zuweisung der sonderpädagogischen Ressourcen erfolgt daher differenziert nach Sozialindex des Einzugsbereichs und nach der konkreten Zusammensetzung der Schülerschaft einer Grundschule. Auch die Klassengrößen müssen darauf abgestimmt werden. Die Priorisierung folgt dem Grundsatz, dass Ungleiche nicht gleich behandelt werden dürfen.

Die dauerhafte Beschäftigung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern an Grundschulen in schwierigen sozialräumlichen Kontexten ist notwendig. Diese Grundschulen müssen sich wie die KiTas, mit denen sie im Quartier eng zusammenarbeiten, zu Familienzentren entwickeln und Eltern- und Kindberatung weiterführen. Niederschwellige Angebote wie Elterncafes, Anlaufstellen für Elternberatung in der Schule sowie Hausbesuche bei Eltern sind wichtige präventive Bausteine einer inklusiven Grundschule.

Durch die Inklusion von Kindern, die heute den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören und Sehen zugeordnet werden, werden die Grundschulen mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet.

Zusammen mit der präventiven frühkindlichen Förderung kann die inklusive Grundschule frühes Scheitern verhindern und alle Kinder stark machen.

4. Was macht Mut?

Mut macht zuallererst die Menschenrechtskonvention selbst. Das Recht auf Zugehörigkeit und auf gleichberechtigte Teilhabe ist an keinerlei Vorleistungen, sondern nur an das Menschsein gebunden. Welch eine großartige, mutmachende Idee gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.

Mut machen die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen von Eltern, Verbänden

und Schulen, die die Umsetzung der UN-Konvention einfordern.

Mutmacher sind auch die zahlreichen Schulen, die schon auf dem Weg sind.

Ermutigend sind die Länder außerhalb von Deutschland, die sich von der Vision der Inklusion leiten lassen. Ich komme gerade aus Südtirol, wo ich die Schulentwicklung im Pustertal kennenlernen durfte. Dort nutzt man das innovative italienische Autonomiegesetz für Schulen, um konsequent vom Kind aus Schule zu denken, zu gestalten und zu leben.

Nicht zuletzt ist dieser Kongress heute ein mutiges und ermutigendes Signal.

Man sagt: Wenn ein Schiff gebaut wird, geht es nicht nur darum, Holz für den Bau zu sammeln, sondern auch die Sehnsucht nach dem Meer zu wecken. Ich wünsche dem Kongress, dass er beides ermöglicht: das Holz zu sammeln und die Sehnsucht zu wecken.

Quelle:

Brigitte Schumann: Inklusion (er)leben

Impulsreferat von Brigitte Schumann, gehalten auf dem Bildungskongress "Inklusion (er)leben" von bildung neu denken e.V. am 12. Mai 2012 in Freiburg i. Brsg.

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2013

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