Der bildungspolitische Umgang mit Inklusion und die Folgen

Autor:in - Brigitte Schumann
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag, gehalten auf der Fachtagung des Zentrums für Lehrerbildung an der Uni Kassel am 10.7.2015
Copyright: © Brigitte Schumann 2015

Der bildungspolitische Umgang mit Inklusion und die Folgen

Der Umgang der deutschen Bildungspolitik mit Inklusion, ausgelöst durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), zeichnet sich aus durch zweierlei:

  1. Verfälschung statt Klärung des menschenrechtsbasierten Inklusionsbegriffs,

  2. Verweigerung der an Inklusion orientierten Konventionsziele, zu deren Einhaltung sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK verpflichtet hat und die seit dem 26. 3. 2009 rechtsverbindlich gelten. Darüber will ich zunächst sprechen, bevor ich auf einige Folgen genauer eingehe.

Begriffsverfälschung statt Begriffsklärung

Der bildungspolitische Umgang mit Inklusion beginnt mit einem Übersetzungstrick. Deutschland hat in Absprache mit anderen deutschsprachigen Ländern wie Liechtenstein, Österreich und der Schweiz maßgeblich dafür gesorgt, dass der englische Begriff „inclusion“ in der amtlichen deutschsprachigen Übersetzung des Konventionstextes durch den vertraut klingenden Begriff „Integration“ wiedergegeben wurde. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, dass es bereits „vielfältige Übereinstimmungen“ zwischen den Konventionsforderungen in Artikel 24 und der bildungspolitischen Praxis in Deutschland gäbe. Genau diese Behauptung von den „vielfältigen Übereinstimmungen“ findet sich auch in der Denkschrift wieder, die die Bunderegierung dem Ratifikationsgesetz mit auf den Weg gegeben hat.

Insgesamt ist an der Denkschrift der Bundesregierung zu beanstanden, dass sie wissentlich zwei grundfalsche Prämissen für die Umsetzung der UN-BRK setzt. Darin wird nämlich behauptet. dass die Implementierung der Konvention keine Gesetzesänderung erforderlich mache und dass keine zusätzlichen Kosten zu erwarten seien. Beide Behauptungen wirken bis heute nach und bestimmen den politischen Umgang mit dem Thema.

Allerdings hatte die Politik die Wachsamkeit zivilgesellschaftlicher Kräfte unterschätzt. Die Behindertenbewegung nahm die Verwässerung des Konventionsanliegens mittels Übersetzungstrick nicht hin und skandalisierte öffentlich das politische Vorgehen. Im Übrigen hat auch der zuständige Genfer UN-Fachausschuss bei der Staatenüberprüfung Österreichs im September 2013 die korrekte Übersetzung von „inclusion“ angemahnt.

In der Zwischenzeit hat sich allerdings die bildungspolitische Strategie in Deutschland längst geändert. Nicht mehr die Vermeidung des Begriffs Inklusion ist heute das Ziel. Im Gegenteil, alles und jedes wird mit dem Begriff Inklusion bildungspolitisch belegt und etikettiert. Man kann mit Fug und Recht davon sprechen, dass der Begriff und das damit verbundene Konzept eine „feindliche Übernahme“ durch die Kultusbürokratie und die Politik erfahren haben und der absoluten inhaltlichen Beliebigkeit preisgegeben sind.

Bei der ungerechtfertigten Inanspruchnahme des Begriffs Inklusion hat Sachsen den Vogel abgeschossen. Hat doch das sächsische Kultusministerium befunden, man habe schon ein inklusives Bildungssystem, da alle Kinder - auch diejenigen mit Behinderungen - das Recht auf einen Schulbesuch hätten. In Bayern haben selbst Sonderschulen ein inklusives Profil, wenn sie mit Regelschulen kooperieren. Und in Hessen sind die Sonderschulen sogar zu den Sachwaltern der Inklusion avanciert und bestimmen über die Verteilung der Ressourcen, ob Kinder mit Behinderungen einen Platz in der Regelschule finden.

Der Paradigmenwechsel, der sich mit dem Inklusionsbegriff und dem Inklusionskonzept verbindet, wird auch ignoriert, wenn z, B. Schulministerin Löhrmann in NRW als Antwort auf die Kritik an ihrem Inklusionsplan beschwörend darauf verweist, dass Inklusion nichts Neues ist und wir in NRW eine mehr als dreißigjährige Erfahrung damit haben. Seit 30 Jahren soll also der Grundsatz in NRW gelten, dass das System Schule sich den Kindern anpassen muss und nicht umgekehrt Kinder an das System Schule angepasst werden? Das muss ich doch wohl nicht weiter kommentieren.

Öffentliche Verlautbarungen der Politik sehen uns alle „auf dem Weg zur Inklusion“. Die herrschende Bildungspolitik verwendet mit Vorliebe die Metapher „auf dem Weg sein“ und möchte damit glauben machen, dass sie mit ihren Maßnahmen einen inklusionsorientierten, planvollen Veränderungsprozess innerhalb des Schulsystems eingeleitet hat. Die Metapher ist vieldeutig: Sie steht einerseits für eine dynamische Bewegung. Andererseits lässt sich damit aber auch zum Ausdruck bringen, dass es langandauernder Bemühungen bedarf, um das Ziel zu erreichen. Beide Konnotationen werden wahlweise und in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation politisch verwendet. Damit sollen die Befürworterinnen und Befürworter von Inklusion, denen das Tempo der Veränderung zu langsam ist, ebenso beruhigt werden wie diejenigen, die vor voreiligen Schritten bei der Umsetzung warnen.

Was auf der Strecke bleibt, ist die Kommunikation über die Bedeutung von Inklusion als menschenrechtsbasiertes gesellschaftliches Gegenmodell zu sozialer Exklusion, Segregation, Selektion und Diskriminierung in allen Lebensbereichen. Inklusion wird bis zur Unkenntlichkeit bildungspolitisch verzerrt. Inklusion wird verfälscht zu einem Recht für Eltern von Kindern mit Behinderungen, innerhalb des bestehenden selektiven Schulsystems zu entscheiden, ob der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf ihrer Kinder in separierten oder „inklusiven“ Settings erfüllt werden soll. Wobei dieses Recht auch nur in Hamburg uneingeschränkt rechtliche Gültigkeit hat, während es in den anderen Bundesländern unter wiederum unterschiedliche Finanz- und Organisationsvorbehalte gestellt wird.

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die Bildungspolitik es tunlichst vermeidet, von Inklusion und inklusiver Bildung als einem Menschenrecht zu sprechen? Warum wohl? Ohne den expliziten Menschenrechtsbezug soll die einseitige Anwendung des Inklusionsbegriffs auf Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf und damit die Verfälschung des universalen Inklusionsanspruchs offensichtlich weniger ins Auge springen. Diese schlichtweg falsche Auslegung führt zu der paradoxen Situation, dass selbst die Kritiker dieser Verfälschung von einem engen und einem erweiterten Inklusionsbegriff sprechen. Man kann aber nicht den Inklusionsbegriff nach Lust und Laune kleiner oder größer fassen. Ich schlage daher vor, von einem falschen und einem richtigen Verständnis von Inklusion zu sprechen.

Ich fasse zusammen: Es liegt offensichtlich nicht im bildungspolitischen Interesse zu verdeutlichen, dass Inklusion eben keine Sonderregelung für Menschen mit Behinderungen ist, sondern ein allgemeines Menschenrecht und damit auch ein Recht aller Kinder. Auch der privilegierten Kinder, die in unserem Schulsystem von den unterprivilegierten Kindern segregiert werden. Das bringt mich zum nächsten Punkt.

Verweigerung der Konventionsziele

Die Politik verweigert den strukturellen Umbau des gesamten Schulsystems unter Einschluss des Sonderschulsystems zu einem inklusiven Schulsystem und sie verweigert die Anerkennung des vorbehaltlosen individuellen Rechts des Kindes auf inklusive Bildung mit angemessenen Vorkehrungen.

Der ehemalige Kinderrechtsbeauftragte der NRW Landesregierung und Jurist, Reinald Eichholz, hat in einem Interview 2012 Folgendes gesagt: „Insgesamt habe ich den Eindruck, dass in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion der umfassende Anspruch der Menschenrechtskonventionen noch gar nicht angekommen ist und deswegen auch die völkerrechtlich verbindlichen Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung nicht präsent sind. Man gewöhnt sich aufgrund der Behindertenrechtskonvention an, bei Inklusion nur an die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu denken. Sobald man sich den menschenrechtlichen Hintergrund klar macht, steht aber fest: Inklusion meint alle. Jedes Kind hat das Recht dazu zu gehören, und zwar unabhängig von jeder Art der Verschiedenheit. Die Konvention verlangt, dass das nicht nur als verbindliche Vorgabe anerkannt wird; Dieses Recht soll sich den Kindern im Schulalltag als „sense of belonging“, als Gefühl der Zugehörigkeit, mitteilen, nicht zuletzt eine Frage gelebter Demokratie.“

Seine Feststellung hat auch drei Jahre danach nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Auf die Frage, was genau die Umsetzung der Inklusionsverpflichtung für das deutsche Schulsystem impliziert, wird der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung, Vernor Munoz, zuweilen mit der Aussage zitiert: „Wie können wir das Bildungssystem in ein wirklich inklusives System umwandeln? Ich glaube, wir müssen nur eine einzige Kleinigkeit ändern, nur eine kleine Sache, nämlich alles.“

Das trifft den Nagel auf den Kopf.

Der Konventionsauftrag für ein inklusives Schulsystem bedeutet, Abschied zu nehmen sowohl von dem Sonderschulsystem als auch von dem selektiven allgemeinen Schulsystem. Ein Abschied auch von einer an Leistungshomogenität orientierten Lernkultur, die alle Schülerinnen und Schüler ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit auf unfaire Art gleich behandelt und an Normalitätserwartungen anpasst. Werden diese nicht erfüllt, dann liegt das Problem bei den Schülerinnen und Schülern. Für den Umgang damit stehen hierarchische Kategorien und selektive Strukturen zur Verfügung, die aus Differenz Ungleichheit herstellen und sozialen Ausschluss befördern.

Die KMK wehrt den menschenrechtlich unabweisbaren Reformanspruch der UN-BRK, das selektive Schulsystem zu einem inklusiven Schulsystem zu entwickeln, ab. Sie beruft sich darauf, dass die UN-Konvention keine strukturellen Vorgaben für die Vertragsstaaten nennt. Wie ärmlich! Eine solche Argumentation stellt sich bewusst blind gegenüber der Tatsache, dass sich die Menschenrechtskonvention rückbezieht auf das Konzept der inklusiven Bildung der UNESCO, das auf der UNESCO Weltkonferenz in der internationalen Erklärung von Salamanca schon 1994 ausformuliert wurde.

Mehr als einmal hat die UNESCO Inklusion definiert, z.B. auf der Internationalen Konferenz in Genf 2008. In einem zugehörigen Tagungsdokument mit dem Titel „ Inclusive Education: The Way of the Future“ heißt es sinngemäß: Inklusion ist ein Prozess und eine Suche nach immer besseren Wegen, mit Diversität umzugehen, und er verlangt weitreichende und tiefgreifende Veränderungen des ganzen Bildungssystems, seiner Inhalte, seiner Methoden, Organisationsformen und Strukturen. „It is about learning how to live with difference and learning how to learn from difference. In this way, differences can be seen more positively as a stimulus for fostering learning, amongst children and adults.”

Auch der UN-Fachausschuss für die Kinderrechtskonvention hat mit Blick auf unser Schulsystem 2014 die Empfehlung für die Bundesregierung und die Länder ausgesprochen: „Undertake a revision of the current education system dividing students in various tracks at a very early stage and make it more inclusive.“ Wir sollen also unser Schulsystem, das Kinder in frühem Alter auf unterschiedliche Schularten verteilt, im Sinne der Inklusion einer Revision unterziehen.

Und der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der gerade erst sein Urteil zu der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland im Rahmen der Staatenüberprüfung Deutschlands abgegeben hat, hat festgestellt: “Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, im Interesse der Inklusion das segregierte Schulwesen zurückzubauen.“

Bedauerlicherweise halten sich sowohl die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte als auch die Deutsche UNESCO - Kommission in ihrer „Bonner Erklärung zur Inklusiven Bildung in Deutschland“ (2014) mit Forderungen nach einer umfassenden Schulstrukturreform zurück.

Ganz anders dagegen verhält sich der österreichische Unabhängige Monitoringausschuss, der die Umsetzung der UN-BRK in Österreich überwacht und Empfehlungen an die österreichische Bundesregierung ausspricht. Am 10. Juni 2010 hat er eine Stellungnahme zu Artikel 24 verabschiedet. Darin heißt es: „ Um Segregation und Exklusion zu beenden, bedarf es einer tiefgreifenden Strukturreform des österreichischen Bildungswesens. Der Monitoringausschuss ist besorgt, dass die Ratifizierung der Konvention im Oktober 2008 noch keine Diskussion über diesen Reformbedarf ausgelöst hat.(…) Die Abschaffung des Systems sonderpädagogischer Förderbedarf, von Sonderschulen sowie sonderpädagogischen Zentren ist für sich selbst jedoch nicht als Erfüllung der Konvention anzusehen, Im Gegenteil. Der Monitoringausschuss hält diese überfällige Abschaffung für ein Teilstück einer grundlegenden strukturellen Reform hin zu einem inklusiven Bildungssystem. Das Bekenntnis zum Grundprinzip der Diversität und die Abschaffung von sozialen Barrieren sind aus menschenrechtlicher Sicht ein klarer Auftrag, den sozialen, kulturellen und sozio-ökonomischen Barrieren im Bereich Bildung durch eine Reform der Regelpädagogik grundsätzlich entgegenzuwirken.“

Der Vorwurf, über die UN-Behindertenrechtskonvention würden Kinder mit Behinderungen instrumentalisiert für die Verwirklichung der alten ideologischen Forderung nach „einer Schule für alle“, ist absurd. Richtig ist lediglich, dass die Forderung danach alt ist. Sie ist sogar sehr alt, weil wir in Deutschland seit Humboldt aufgrund des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses immer wieder daran gescheitert sind, das Schulsystem zu demokratisieren und sozial gerecht zu gestalten.

Diejenigen, die von sich behaupten, dass es ihnen ausschließlich um das Kindeswohl gehe, müssen sich dagegen fragen lassen, warum sie sich z.B. so wenig um die krankmachenden Folgen der frühen Selektion bei Grundschulkindern oder um das pessimistische Selbstbild von Schülerinnen und Schülern der Haupt- und Sonderschulen sorgen. Dazu gibt es genügend besorgniserregende Befunde, die ganz offensichtlich aus ideologischen Gründen nicht ernst genommen werden.

Selektion und Inklusion in einem hierarchisch gegliederten Schulsystem sind absolute Widersprüche, die man nicht miteinander versöhnen kann. Das ist wie Rechts - und Linksverkehr gleichzeitig. Es muss also ein „Selektionsabbauprogramm“ her, damit die Lehrerinnen und Lehrer sich nicht an der Paradoxie von Selektion und Inklusion im Schulalltag unnötig aufreiben. Ziffernnoten, Klassenwiederholungen, Abschulungen, um nur die klassischen Selektionsinstrumente zu nennen, bremsen eine inklusive Unterrichts-und Schulentwicklung aus. Kinder mit Beeinträchtigungen und Behinderungen bleiben in einem selektiven Schulsystem die „besonderen“ Kinder, für die Ausnahmetatbestände gelten.

Im Folgenden werde ich darlegen, dass sich auch die sonderpädagogischen Strukturen konventionswidrig entwickeln. Anstelle des von der UN-BRK geforderten Abbaus segregierender Sonderschulstrukturen werden nämlich sonderpädagogische Doppelstrukturen im Namen der Inklusion etabliert und das System der Sonderpädagogik wird insgesamt ausgeweitet.

Der KMK geht es nicht nur um Bestandssicherung der Förder- bzw. Sonderschule, sondern auch um die Erweiterung der sonderpädagogischen Zuständigkeiten. Das Stichwort dafür heißt Pluralisierung der Förderorte. Eine endlose Liste von Zuständigkeiten und Aufgaben sieht die KMK für die Sonderpädagogik vor. Allgemeinpädagogisches soll durch sonderpädagogisches Handeln ergänzt werden, wenn ein Bedarf auf ein sonderpädagogisches Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebot gegeben ist“, so steht es in dem KMK Beschluss „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ vom 20.10. 2011. Und das sonderpädagogische Bildungsangebot kann selbstverständlich an unterschiedlichen Förderorten realisiert werden.

Von inklusiver Bildung keine Spur, meint Reinald Eichholz dazu, den ich an früherer Stelle schon einmal zitiert habe. Er wendet sich gegen die Annahme, „Inklusion verwirkliche sich in der bloßen Zusammenführung von Regel- und Sondereinrichtungen. Dass Zusammenarbeit nötig ist. liegt auf der Hand. Ziel muss aber ein Drittes sein: eine inklusive Pädagogik, die mehr ist als Regelpädagogik plus Behindertenpädagogik“.

Von Segregationsabbau keine Spur. Der zuständige Fachausschuss in Genf hat anlässlich der ersten Staatenprüfung Deutschlands diese strukturelle Fehlentwicklung als Konventionsverstoß kritisch herausgestellt. Ich möchte den Fachausschuss an dieser Stelle zu Wort kommen lassen: „ Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in dem Bildungssystem des Vertragsstaats segregierende Förderschulen besucht. Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, (a) umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Zielvorgaben zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen, einschließlich der notwendigen Finanzmittel und des erforderlichen Personals auf allen Ebenen, (b) im Interesse der Inklusion das segregierte Schulwesen zurückzubauen.“

Eine klare Anweisung, dass es keine sonderpädagogischen Doppelstrukturen geben darf! Der Ausbau von Inklusion muss einhergehen mit dem Abbau von Segregation, wobei sich der Segregationsabbau nicht nur auf die Sonderschulen, sondern auf das „segregierte Schulwesen“ als Ganzes bezieht.

Während die Bildungspolitik und die Kultusbürokratien mit dem Hinweis auf stetig ansteigende Inklusionsquoten in den Ländern der Öffentlichkeit weismachen wollen, wie erfolgreich die Inklusion voranschreitet, spielt sich auf der Hinterbühne etwas ganz anderes ab. Der Inklusionsforscher Hans Wocken (2014) hat die Inklusionserfolge in Bayern und Deutschland gründlich analysiert. Sein Ergebnis lautet: Die Inklusion geht an den Kindern mit Behinderungen in den Sonderschulen vorbei. Sie sind die Verlierer der Inklusion. Während der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen in allen Bundesländern einen wahren Boom erlebt, bleiben die Separationsquoten der Schülerinnen und Schüler in den Sonderschulen dennoch stabil. Prof. Wocken kann nachweisen, dass die Steigerung der Inklusionsquoten sich eindeutig zurückführen lässt auf die im Zuge der Inklusion ausufernde Bereitschaft und Praxis, nicht behinderte Problemschülerinnen und –schüler in den allgemeinen Schulen als sonderpädagogisch förderungsbedürftig zu etikettieren. Für NRW hat dies übrigens auch Andreas Kloth (2015) unlängst nachgewiesen.

Wocken sieht in der Sonderpädagogik den Hauptakteur für die Fehlentwicklung in der Inklusion, denn schließlich habe sie die Behinderungsdiagnosen erstellt und sich mit der Konstruktion von Behinderung in den Dienst der Ressourcenbeschaffung gestellt. Er problematisiert die Unbestimmtheit der sonderpädagogischen Diagnostik. Es fehlen ihr „klare Grenzen, deutliche Konturen und erst recht operationalisierte Kriterien“ und deshalb sei sie „deutungsoffen, interpretierbar und auch missbräuchlich verwendbar“. Wer könne den allgemeinpädagogischen von dem sonderpädagogischen Förderbedarf scharf abgrenzen, fragt Wocken mit Blick auf den verbreiteten Glauben an die sonderpädagogische Diagnostik.

Die sonderpädagogischen Doppelstrukturen werden über die Einführung des Elternwahlrechts begründet. Jahrzehntelang haben Eltern von Kindern mit Behinderungen vergeblich das Recht eingefordert, über den Förderort ihrer Kinder selbst zu entscheiden. Nun macht sich die KMK dafür stark. Warum wohl?

Wie Prof. Theresia Degener, eine an dem Entstehungsprozess der Menschenrechtskonvention maßgeblich beteiligte deutsche Juristin, immer wieder betont, gibt es aber nach der Konvention kein Menschenrecht auf Sonderschule. Auch der Anspruch auf Wahlfreiheit sei von den Vorbereitungsgremien der Konvention abgelehnt worden. Die Konvention habe eine eindeutige Werteentscheidung getroffen für das Recht des Kindes auf inklusive Bildung.

Valentin Aichele hat für die Monitoringstelle ebenfalls dazu eindeutig klargestellt: „Das Recht auf Inklusion ist das Recht der Person mit Behinderung. Die Eltern haben bei der Ausübung ihrer elterlichen Sorge den Leitgedanken der Inklusion zu beachten und ggf. zu erklären, warum sie keine inklusiven Bildungsangebote wahrnehmen“ (2011). Sie haben mit anderen Worten die Rechtsansprüche des Kindes treuhänderisch zu verwalten. Ein eigenes Wahlrecht haben sie nicht.

Das vorbehaltlose, individuelle Recht des Kindes auf inklusive Bildung mit angemessenen Vorkehrungen wird nicht nur durch das Elternwahlrecht verfälscht. Durch einen weit gefassten Finanz-, Organisations- und Ressourcenvorbehalt kann das Recht auf gemeinsames Lernen ausgehebelt werden. Wenn diese Vorbehalte greifen, dann kommt es auch weiterhin gegen den Willen der Betroffenen zu Sonderschulüberweisungen. Das Elternrecht kann daran nichts ändern. Die Monitoringstelle hat ebenso wie der zuständige UN-Fachausschuss festgestellt, dass sowohl ein allgemeiner Finanzierungsvorbehalt als auch der im Schulrecht angeordnete Organisations- und Ressourcenvorbehalt gemessen am völkerrechtlichen Maßstab der UN-BRK unzulässig sind.

Hessen ist hier ein besonders negatives Vorbild. In § 54 des entsprechenden Gesetzes heißt es: „ Kann an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpädagogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen, weil die räumlichen und personellen Möglichkeiten oder die erforderlichen apparativen Hilfsmittel oder die besonderen Lehr- und Lernmittel nicht zur Verfügung gestellt werden können, bestimmt das Staatliche Schulamt auf der Grundlage der Empfehlung des Förderausschusses nach Anhörung der Eltern, an welchen allgemeinen Schulen oder Förderschulen die Beschulung erfolgt.“

Im folgenden Teil meiner Ausführungen komme ich nun zu den besonderen Folgen des konventionswidrigen Kurses. Zu sprechen ist über den Erhalt der Armenschulen, die Sonderrolle des Gymnasiums und die „Sonderpädagogisierung“ der allgemeinen Schulen.

Erhalt der Armenschulen

Mit dem Wahlrecht der Eltern bleiben auch die Sonderschulen für Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache (LES) erst einmal erhalten. Das ist blanker Zynismus. Wir wissen, dass es sich bei den Schülerinnen und Schülern dieser Sonderschularten nicht um Kinder mit Behinderungen handelt, sondern um sozial benachteiligte Kinder in Armutslagen, die durch die Separierung in Sonderschulen noch einmal benachteiligt werden.

Im Rahmen vertiefender Analysen der PISA-2000-Daten hat Gundel Schümer festgestellt: „Schüler, die unter ungünstigen sozialen und kulturellen Bedingungen aufwachsen und entsprechend häufiger als andere Schulschwierigkeiten haben, werden noch einmal benachteiligt, wenn sie extrem ungünstigen Schülerpopulationen angehören. Das heißt, durch die soziale Herkunft bedingten Nachteile werden institutionell verstärkt“ (2004). Dies gilt für die Mehrzahl der Hauptschülerinnen und - schüler, aber noch mehr für Schülerinnen und Schüler der Sonderschulen Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache.

Besonders gut erforscht ist die Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit diesem Förderschwerpunkt ist zwar rückläufig, sie stellen aber immer noch die weitaus größte Gruppe mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ihre Separierung in der Sonderschule ist im internationalen Vergleich ein deutscher Sonderweg. Von Prof. Wocken liegen bedeutsame Studien über die Lernineffizienz dieses Förderschultyps vor.

Wocken (2000) hat die Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler in den 7. Schuljahren an Sonderschulen in Hamburg überprüft und sie mit der von Hauptschülerinnen und Hauptschülern verglichen. Er ging dabei von der Annahme eines zweijährigen Leistungsrückstands der Sonderschülerinnen und Sonderschüler aus. Sein Ergebnis ist ernüchternd, indem er feststellt: „ Sie erreichen im 7. Schuljahr bei weitem nicht jene Leistungen die bei Hauptschülern des 5. Jahrgangs zu beobachten sind. Im Mittel kann die Förderschule das Auseinanderklaffen der Leistungsschere nicht aufhalten. Ein kompensatorischer Effekt ist nicht einmal auf der minimalen Ebene einer Stabilisierung eines ursprünglichen Leistungsabstands von zwei Jahren festzustellen.“ Die Sonderschule ist daher für ihn „keine Stätte einer kompensatorischen Rehabilitation“.

Die Hauptursache für die schlechten Ergebnisse sieht er in der kognitiven und sozialen Anregungsarmut behinderungsspezifisch ausgelesener Lerngruppen, die einen dreifachen Reduktionismus in didaktischer, methodischer und sozialer Hinsicht befördert. Der Anregungsreichtum, der von einer heterogenen Gruppe ausgeht, kann auch nicht durch die Verkleinerung der Lerngruppe und spezialisierte Lehrkräfte kompensiert werden, so Wocken.

Prof. Haeberlin hat in einer Schweizer Langzeitstudie wissen wollen, ob die spätere berufliche und soziale Situation durch schulische Integration oder durch eine separate Unterrichtung besser gefördert wird. Er konnte feststellen, dass diejenigen, die in einer Sonderklasse gelernt hatten, als junge Erwachsene keinen Zugang zu anspruchsvolleren Berufen finden konnten. Ausbildungsabbrüche und Langzeitarbeitslosigkeit waren charakteristisch für diese Gruppe. Vergleichbare junge Erwachsene, die in Regelklassen lernen konnten, fanden leichter Anschluss an eine berufliche Ausbildung. Integrierte Schulabgänger hatten sogar gewisse Chancen auf eine Ausbildung im mittleren oder höheren Segment der beruflichen Ausbildung.

Im Vergleich zu ehemaligen integrierten Schülerinnen und Schülern aus Regelklassen, waren ehemalige Schülerinnen und Schüler aus Sonderklassen schlechter sozial integriert. Ihr Selbstwertgefühl war wesentlich geringer. Sie verfügten über ein bedeutend kleineres Beziehungsnetz. Anders als die jungen Erwachsenen mit schulischen Integrationserfahrungen zeigten sie häufig ausländerfeindliche Einstellungen.

In meiner eigenen wissenschaftlichen Untersuchung bin ich der Frage nachgegangen, welches Selbstbild Schülerinnen und Schüler der Sonderschule für Lernbehinderte entwickeln. Die Auswertung meiner qualitativ und quantitativ erhobenen Daten ergab, dass die Überweisung zur Sonderschule eine institutionelle Beschämung darstellt. Der stigmabehaftete Sonderschulstatus zwingt fast alle Beschämten dazu, ihren Schülerstatus in Alltagssituationen zu verschweigen bzw. zu verleugnen. Diese Reaktionen verweisen auf ein negatives Selbstkonzept. Die soziale Ungleichheit, die durch das Schulsystem faktisch reproduziert wird, wird im Schamgefühl auch symbolisch reproduziert und legitimiert. Der Scham kommt dann die Funktion der Selbstverurteilung zu. Die so Beschämten haben nicht einmal theoretisch die Chance, ihre Anerkennungsansprüche individuell geltend zu machen, noch können sie sie kollektiv als politisch-moralische Überzeugung zur Geltung bringen.

Das von dem Schulministerium in Auftrag gegebene Gutachten von Klemm / Preuss-Lausitz (2011) für die inklusive Schulentwicklung in NRW fordert auch „das generelle Auslaufen der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache, um die schulische Absonderung von Armutskindern zu vermeiden, die sich zudem sowohl kognitiv als auch für die Persönlichkeitsentwicklung negativ auswirkt“.

Meine Schlussfolgerung lautet: Es gibt keinen einzigen Grund, an dem „Schonraum“ Sonderschule festzuhalten. Angesichts der Erkenntnisse, die von der Bildungsforschung hinreichend wissenschaftlich belegt sind, ist es vollkommen abwegig und unverantwortlich, die „Armenschulen“ mit Hilfe des Elternwahlrechts aufrechtzuerhalten.

Warum hat die Politik kein klares Ausstiegskonzept - Bremen einmal ausgenommen?

Prof. Dagmar Hänsel hat sich mit der Geschichte der Hilfsschulpädagogik, der Begründerin der Sonderpädagogik in Deutschland, intensiv forschend auseinandergesetzt, Zuletzt in ihrer Buchveröffentlichung „Lehrerausbildung im Nationalsozialismus“ (2014). Ihre Antwort darauf lautet, dass die politisch und gesellschaftlich unaufgearbeitete Geschichte der Hilfsschule und der Hilfsschulpädagogik vor und während der Zeit des Nationalsozialismus bis in unsere Zeit nachwirkt und so die Sonderpädagogik selbst an dem Mythos ihrer Unverzichtbarkeit für Kinder mit Behinderungen ungehindert und unwidersprochen arbeiten konnte und noch arbeitet.

Hänsel zeigt, dass in der Kontinuität der Hilfsschulpädagogik die Sonderpädagogik auch heute noch die „besondere“ Zuständigkeit für sozioökonomisch extrem benachteiligte Kinder mit Schulleistungs- und Entwicklungsproblemen reklamiert. Mit der Wahrnehmung dieser „besonderen“ Aufgabe begründet sie bis heute ihre Abtrennung von der allgemeinen Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin, die getrennte Ausbildung von allgemeinen Pädagogen und Sonderpädagogen und das Festhalten an der Institution Sonderschule. Der sonderpädagogische Glaubenssatz, dass die Schülerinnen und Schüler, denen die allgemeine Schule nicht gerecht wird, „behindert“ sind und sonderpädagogischer Unterstützung bedürfen, ist weiterhin wirksam, so Hänsel.

Hänsel (2015) fordert dazu auf, die allgemeinen Pädagogen so zu qualifizieren und die allgemeinen Schulen so auszustatten, dass sie für alle Kinder pädagogische Verantwortung übernehmen. Das bedeutet in ihrer historischen Perspektive: Mit dem Auslaufen von Sonderschulen für die Förderschwerpunkte LES laufen auch die Lehramtsstudiengänge für Sonderpädagogik mit den Fachrichtungen LES aus.

Sonderrolle Gymnasium

Die selektiven Schulformen werden sehr unterschiedlich an der Inklusion beteiligt. Es ist politischer Usus in fast allen Bundesländern, das Gymnasium von der Inklusionsverpflichtung zu befreien, Die Bildungspolitik zeigt sich verständnisvoll, wenn es darum geht, dem Gymnasium die Aufnahme von Kindern mit „Lernbehinderung“ aus den unteren sozialen Schichten zu „ersparen“.

Schließlich kennt die Politik die Motive der Eltern - Distinktion und soziale Homogenität -bei der Schulwahl des Gymnasiums nur allzu gut. Kinder aus der sozialen Unterschicht sollte es aus dieser Elternperspektive nach Möglichkeit an der Schule des eigenen Kindes nicht geben. Soziale Segregation ist ein erwünschter Effekt der frühen Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge. Die Studie der Konrad -Adenauer- Stiftung hat dies unlängst bestätigt und damit auch bestätigt, was uns die Sozialforschung als Gesellschaftsbefund schon seit langem attestiert: Die sozialen Milieus der Ober-und Mittelschicht gehen im Zuge der gesellschaftlichen „Modernisierung“ auf Abstand zu den Milieus der unteren sozialen Schichten.

In NRW betont die Ministerin, dass alle Schulformen in die Inklusion von Kindern mit Behinderungen einbezogen werden sollen, aber die konkrete Umsetzung auf der Schulträgerebene ist nicht gesetzlich geregelt. Es zeigt sich, dass trotz der vielen guten Worte auch hier die Gesamtschulen und die Sekundarschulen als „Schulen des längeren gemeinsamen Lernens“ für das gemeinsame Lernen zuständig sind.

In fünf Bundesländern haben wir schon ein zweigliedriges System mit dem Gymnasium, das nach 8 Jahren zum Abitur führt, und einer zweiten Säule, die das Erreichen des Abiturs nach 9 Jahren ermöglicht. Ein pragmatisches Modell, Es soll die Ungleichheit der Bildungschancen reduzieren, indem es eine Schulform anbietet, die alle Schülerinnen und Schüler willkommen heißt. Gleichzeitig soll es die Nachfrage der Eltern aus Ober- und Mittelschicht nach einem Gymnasium befriedigen, das auf eine akademische Laufbahn vorbereitet und deshalb sich nicht auf die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen einstellen muss.

In Hamburg und Berlin gibt es erste deutliche Hinweise, dass die bildungspolitisch postulierte und behauptete Gleichwertigkeit der beiden Säulen schon kippt. Das Gymnasium ist der Marktführer, seine Attraktivität ist ungebrochen. Die Stadtteilschule in Hamburg und die Integrierte Sekundarschule in Berlin werden von Teilen der Elternschaft schon als eher zweitklassig und als Problemschulen wahrgenommen, weil sie alle Kinder nehmen müssen, auch die Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium weiterhin abschieben darf.

Inklusion wird nicht als bildungspolitischer Auftrag wahrgenommen, um einen Prozess der Konvergenz einzuleiten zwischen den gegliederten Schulformen einerseits und den integrierten Schulformen wie Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, etc. andererseits. Die soziale Segregation wird institutionell eher noch vertieft, indem das Gymnasium eine Sonderrolle spielen darf. Dass einzelne Gymnasien sich der Aufgabe des gemeinsamen Lernens freiwillig und gerne stellen, ändert nichts an dieser Tatsache.

„Sonderpädagogisierung“ der allgemeinen Schulen

Die „European Agency for Special Needs and Inclusive Education“ stellt immer wieder heraus, dass mit der Umsetzung von Inklusion die allgemeine Schule und die allgemeine Pädagogik sich paradigmatisch verändern müssen. Die Sonderschule lediglich unter das Dach der allgemeinen Schule zu holen, wird dem Inklusionsanspruch nicht gerecht.

Die UNESCO (2008 ) lehnt in ihrem Dokument “Inclusion - The Way of the Future” sehr explizit die Einführung des sonderpädagogischen Paradigmas in der Regelschule ab, wenn sie feststellt: „The importing of practices from special educational needs tend to lead to the development of new, more subtle forms of segregation within mainstream settings . ( … ) Inclusion will not be achieved by transplanting special educational thinking and practice into mainstream contexts” (ebd., S.26). Kurz: Sie sieht die Gefahr, dass mit der Übernahme sonderpädagogischer Praktiken und Konzeptionen in den Regelschulen neue subtile Formen der Segregation Einzug halten.

Die UNESCO stellt klar: „ It is important to stress that inclusion is about the development of mainstream schools, rather then the reorganisation of special schooling. The aim has to be to increase the capacity of all mainstream schools, so that they can meet the needs of all children, whilst offering them similar rights and opportunities” (ebd.,25 ). Noch einmal wird hier angemahnt, die allgemeine Schule zu einer Schule für alle Kinder zu entwickeln und nicht die Sonderschule in der allgemeinen Schule zu reorganisieren.

Wie kommt es trotz der deutlichen Hinweise dennoch zur „Sonderpädagogisierung“ der Regelschulen in Deutschland? Warum wird Inklusion zur Sache der Sonderpädagogik gemacht und warum werden auf diesem Weg Kulturen, Praxen und Strukturen der Sonderpädagogik in die allgemeine Schule implementiert?

Die Antwort liegt auf der Hand: Um möglichst wenig strukturelle verändern zu müssen, hat die Politik Inklusion verfälscht zu einem Recht für Eltern von Kindern mit Behinderungen, innerhalb des bestehenden selektiven Schulsystems zu entscheiden, ob der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf ihrer Kinder in separierten oder „inklusiven“ Settings erfüllt werden soll. Das genau macht sich die Sonderpädagogik zunutze.

Führende Wissenschaftsvertreter und -vertreterinnen der Sonderpädagogik haben die Gunst der Stunde erkannt. Die Inklusionsdebatte ist für sie „Anlass für eine selbstbewusste Weiterentwicklung der Sonderpädagogik in der Allgemeinen Schule“. Dies ist ein Zitat von Prof. Heimlich. Sie wollen ebenfalls keine tiefgreifenden strukturellen und inhaltlichen Veränderungen im Sinne der Menschenrechtskonvention. Auf der Basis dieses Interessengleichklangs mit der Politik können sie dieser bei der Verhinderung eines inklusiven Schulsystems nützlich sein.

Insbesondere die so genannte empirische Sonderpädagogik reklamiert für sich den Expertenstatus für inklusive Bildung. Sie verbindet dies mit der gezielten Diskreditierung der Integrationsforschung, die seit den frühen 1980er Jahren in westdeutschen Bundesländern erfolgreiche Schulversuche zum Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen wissenschaftlich begleitet und evaluiert hat. Die damaligen Forschungsmethoden entsprächen nicht den heute geltenden, international anerkannten Standards evidenzbasierter Forschung, verkündet Prof. Clemens Hillenbrand, exponierter Vertreter der empirischen Sonderpädagogik, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. So auch auf der Fachtagung des Deutschen Philologenverbands in Kassel 2012.

Die Sonderpädagogik definiert Inklusion in Übereinstimmung mit der KMK- Position, Sie setzt auf die Pluralität der sonderpädagogischen Förderorte mit Förderschulen, Förderklassen und „full inclusion“ in Regelschulen. Im Zentrum inklusiver Bildungssysteme, die keineswegs die Abschaffung von Förderschulen bedeuteten, stehe „die wirksame Gestaltung schulischer und unterrichtlicher Entwicklungs-und Lernprozesse“, so Hillenbrand (2012). Die Gestaltung müsse wissenschaftlich fundiert erfolgen.

Die Sonderpädagogik bestimmt selbstverständlich die Aus- und Fortbildungskonzepte für die inklusive Unterrichts- und Schulentwicklung. Mit der Unverzichtbarkeit der sonderpädagogischen Fachkompetenz für die vielfältigen Aufgaben der Inklusion an unterschiedlichen Förderorten begründet sie den Ausbau von Sonderpädagogik an den Universitäten, den Erhalt eines eigenständigen Studiengangs Sonderpädagogik für alle Fachrichtungen und fordert die sonderpädagogische Anreicherung der Aus – und Fortbildung für alle anderen Pädagogen.

Baden-Württemberg hat sich mit der Entscheidung für die Beibehaltung eines grundständigen Lehramtes für Sonderpädagogik auf diese Ausrichtung verständigt. Auch NRW fühlt sich dieser Linie in dem kürzlich vorgelegten Referentenentwurf verpflichtet. Und das, obwohl in NRW an der Universität Bielefeld beispielhaft ein integrierter Studiengang entwickelt und erfolgreich evaluiert worden ist, der den Erwerb eines allgemeinen und sonderpädagogischen Lehramts ermöglicht, Mit diesem Studiengang ist die Integration der Sonderpädagogik in die Erziehungswissenschaft vollzogen und die fatale Trennung von Sonderpädagogik und allgemeiner Erziehungswissenschaft aufgehoben.

Wie die Fortbildungskonzeptionen für Inklusion zeigen, kann die Sonderpädagogik sich auch hier erfolgreich durchsetzen. Bettina Amrhein und Benjamin Badstieber (2013) haben im Auftrag der Bertelsmann Stiftung über 700 Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Inklusion analysiert. Sie konnten feststellen, dass fast jede zweite Fortbildungsmaßnahme ihrer untersuchten Stichprobe zum Ziel hatte, Wissen und Kompetenzen zu sonderpädagogischer Förderung zu vermitteln. Die Autoren sehen darin die Gefahr, „dass die Angebote damit weiterhin einer Integrationslogik folgen, der es mehr um eine bloße Anreicherung bestehender Strukturen und Praktiken der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischen Inhalten als um einen tatsächlich grundlegend veränderten Umgang mit Heterogenität geht“.

Die Sonderpädagogik bietet - wohlwissend, dass ihre Diagnostik nicht mehr unumstritten ist - ein neues Modell von Diagnostik und Förderung an. Sie versucht dies unter dem Vorzeichen von Inklusion in die Aus- und Fortbildungskonzepte zu implementieren. Die Anwendung in den Schulen ist im Rügener Modellversuch bereits erfolgt. Das von US-amerikanischen Sonderpädagogen entwickelte und dort auch implementierte Diagnose- und Förderprogramm Response- to- Intervention (RTI) soll also die Inklusion in unseren Schulen unterstützen.

Danach sollen alle Grundschulkinder in Stufe 1 regelmäßig getestet werden, damit Lern- und Entwicklungsprobleme frühzeitig erkannt werden. Stellt sich dabei heraus, dass Kinder keine oder nur geringe Lernfortschritte machen, haben sie Anspruch auf intensivierte Diagnostik und Förderung in Stufe 2. Parallel zur Intensivierung der Förderung wird eine engmaschigere Lernverlaufsdiagnostik (bis zu ein- bis zweimal pro Woche) eingeleitet, die der Lehrkraft und den Schulkindern eine direkte Rückmeldung über die Wirksamkeit der eingeleiteten Intervention gibt. In Stufe 3 wird die Förderung ganz zur spezialisierten Angelegenheit der Sonderpädagogen. Erweist sich das Kind trotz aller Fördermaßnahmen in seiner Lern- und/oder Verhaltensentwicklung am Ende nicht als „responsiv“, dann wird ihm ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf mit intensiver Langzeitförderung zuerkannt, der sowohl in einer Förderschule als auch in einer allgemeinen Schule realisiert werden kann (vgl. Huber/ Grosche 2012).

Andreas Hinz (2013) hat es abgelehnt, dieses Konzept als „inklusiv“ zu adeln. Er hat als Merkmale von RTI herausgestellt: die Defizitorientierung, das behavioristische, mechanistische Lernverständnis, die Orientierung am herkömmlichen medizinischen Modell von Behinderung. Er bewertet RTI als Versuch, die Sonderpädagogik auf 25 % der Kinder eines Altersjahrgangs auszuweiten.

Ich kann mich der Auffassung von Hinz voll und ganz anschließen. Mit der frühen Vermessung aller Kinder und der Vermessung der Effekte von Förderprogrammen sind Stationen markiert, die in letzter Konsequenz in die individuelle Diagnose einer Behinderung einmünden, wenn die Kinder nicht erfolgreich „respondieren“.

Mit dieser „Sonderpädagogisierung“ werden weiterhin Lern- und Verhaltensprobleme bei Kindern individualisiert. Damit wird geleugnet, wie seit den Anfängen der Hilfsschulpädagogik im 19. Jahrhundert, dass der Ausgangspunkt für Lern-und Entwicklungsprobleme in der Schule die Armut der Kinder ist.

Mit dieser „Sonderpädagogisierung“ bekommt der Vermessungswahn, der mit der „empirischen Wende“ durch die empirische Bildungsforschung Einzug gehalten hat, in den allgemeinen Schulen zusätzlich Auftrieb und Verstärkung.

Ich komme zum Schluss:

Für Lehrerverbände droht die Inklusion in unseren Schulen an der Ressourcenfrage zu scheitern. Ich bin zwar auch der Meinung, dass die personelle und sächliche Ausstattung unserer Schulen unzureichend ist. Aber ein Scheitern der Inklusion entscheidet sich für mich an der Frage, ob die Bildungspolitik weiterhin an der Verfälschung des menschenrechtsbasierten Inklusionsbegriffs festhält und damit die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik und einer inklusiven Schule in einem inklusiven Schulsystem verhindert.

Inklusive Pädagogik misst Kinder nicht an einem Normalitätsverständnis, das vorschreibt, was Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt können müssen. Von der Erfüllung bestimmter Normen hängt nicht ab, ob sie dazu gehören oder ausgeschlossen werden. Inklusive Pädagogik ist begründet in einem menschenrechtlich fundierten Heterogenitätsverständnis, das auf dem grundlegenden Prinzip der Gleichheit beruht. Annedore Prengel (2013) hat das in die Worte gefasst, dass jedes Kind auf seiner Entwicklungsstufe intelligent ist.

Insofern stellt das selektive Schulsystem eine erhebliche Barriere für Inklusion dar, die überwunden werden muss. Mit der „Sonderpädagogisierung“ der allgemeinen Schule wird das nicht gelingen. Die „Sonderpädagogisierung“ selbst muss als Barriere identifiziert werden, damit Inklusion überhaupt eine Entwicklungschance in den allgemeinen Schulen bekommt.

Folgt die Politik dem Inklusionskonzept, zu dem die UN-BRK Deutschland verpflichtet, dann schließt dies auch die Verpflichtung zu hochwertiger inklusiver Bildung ein. Und diese ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Literatur:

Amrhein, B. / Badstieber, B.: Lehrerfortbildungen - eine Trendanalyse. Expertise im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2013

Eichholz, R.: Mehr als Regelschule plus Behindertenpädagogik. Interview 2012. Verfügbar über: http://bildungsklick.de/a/82558/mehr-als-regelschule-plus-behindertenpaedagogik/

Haeberlin, U. et al.: Langzeitwirkungen in der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern 2011

Hänsel, D.: Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn 2014

Hänsel, D.: Die Sonderpädagogik weitet ihren Einflussbereich aus. Interview 2015. Verfügbar über: http://bildungsklick.de/a/93315/die-sonderpaedagogik-weitet-ihren-einflussbereich-aus/

Heimlich, U.: Inklusion und Sonderpädagogik. Die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention (BRK) für die Modernisierung sonderpädagogischer Förderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 2/2011

Henry-Huthmacher, C. et al. (Hrsg.): Eltern-Lehrer-Schulerfolg. Wahrnehmungen und Erfahrungen von Eltern und Lehrern. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart 2013

Hillenbrand, C.: Inklusion im Gymnasium - vom Programm zur Wirklichkeit. Gymnasium und Inklusion - Möglichkeiten und Grenzen. Dokumentation einer Fachtagung des Deutschen Philologenverbandes am 6. Februar 2012 in Kassel

Hillenbrand, C.: Lernen vielfältig gestalten. Auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem. Grundschule aktuell. In: Zeitschrift des Grundschulverbandes. 2012, Heft 125

Hinz, A.: Inklusion - von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit !? - kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland. Zeitschrift für Inklusion 1/2013.Verfügbar über: www.inklusion-online.net/

Huber, Ch., Grosche, M.: Das response - to - intervention - Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, /2012

Klemm, K./ Preuss-Lausitz, U.: Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen. Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der allgemeinen Schulen. Juni 2011

Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte: Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems (Primarstufe und Sekundarstufe I und II). Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz (KMK) und den Bund, 31. März 2011. Verfügbar über: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/stellungnahme_der_monitoring_stelle_eckpunkte_z_verwirklichung_eines_inklusiven_bildungssystems_31_03_2011.pdf

Prengel, A.: Inklusive Bildung in der Primarstufe. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes. Frankfurt am Main 2013

Schümer, G.: Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Schümer, G. et al.(Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Vertiefende Analysen der PISA-2000-Daten im Kontext von Schulleistungen. Wiesbaden 2004

Schumann, B.: „Ich schäme mich ja so“. Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“. Bad Heilbrunn 2007

Unabhängiger Monitoringausschuss: Stellungnahme zu inklusive Bildung vom 21. Juni 2010. Verfügbar unter: http://monitoringausschuss.at/dokumente/

UNESCO: International Conference on Education. Reference Document „Inclusion - The Way of the Future“, 2008. Verfügbar über: http://www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/Policy_Dialogue/48th_ICE/CONFINTED_48-3_English.pdf

UN-Fachausschusses CRPD: Abschliessende Bemerkungen in der deutschen Übersetzung.Verfügbar über: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-dokumente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands_ENTWURF.pdf

Wocken, H.: Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderungen. Vergleichende Untersuchungen an Förderschulen in Hamburg. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 2000

Wocken, H.: Bayern integriert Inklusion. Zur schwierigen Koexistenz widersprüchlicher Systeme. Hamburg 2014

Quelle

Brigitte Schumann: Der bildungspolitische Umgang mit Inklusion und die Folgen. Vortrag, gehalten auf der Fachtagung des Zentrums für Lehrerbildung an der Uni Kassel am 10.7.2015

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 16.12.2015

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