Die Bedeutung des Orff-Schulwerkes für die musikalische Sozial- und Integrationspädagogik und die Musiktherapie

Autor:in - Karin Schumacher
Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 62, Sommer 1999
Copyright: © Karin Schumacher 1999

»Die einzige Freiheit des Menschen ist seine Phantasie!«

Mit diesem Satz lernte ich Carl Orff in den 70er Jahren am Orff-Institut kennen, wo er seit Gründung dieses Ausbildungsinstitutes für Musik- und Tanzerziehung die Studierenden immer persönlich begrüßte. Carl Orff trug an diesem Tag seine »Weihnachtsgeschichte« in bayrischem Dialekt vor, und sein musikalischer Bezug zur Sprache ist mir in unvergeßlicher Weise in Erinnerung geblieben.

Sprache als Musik - Musik als Sprache

Der Musikbegriff Carl Orffs greift den Musikbegriff der alten Griechen wieder auf, die mit »musiké« folgende musikalischen Betätigungen bezeichneten: »singen«, »singen und tanzen« und »auf der Kitharis spielen«. Da Vers, Musik und Tanz in der Frühzeit aufs engste zusammenhingen, gab es keinen Begriff, der nur »Musik« meinte. Sprache, Musik und Bewegung, verbunden durch die »einigende Kraft« (Orff 1976, S. 17) des Rhythmus, sieht Orff als ursprüngliche Ausdrucksformen des Menschen an. Elementare Musikübungen, wie sie im Orff-Schulwerk später veröffentlicht wurden, sollen nach Orff an »Urkräfte und Urformen der Musik heranführen« (Orff 1964, S. 15).

Die bekannte Definition Carl Orffs der »Elementaren Musik« enthält die wesentlichen Gründe, die den Einsatz Elementarer Musik zu sozial-, integrationspädagogischen und therapeutischen Zwecken möglich und sinnvoll macht: »Der Ruf, der Reim, das Wort, das Singen sind der entscheidende Ausgangspunkt ... Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muß, in der man nicht nur als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, sie ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß« (Orff 1964, S. 16).

1. »Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden«

Das Anbieten verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen erhöht die Möglichkeit der Ansprechbarkeit. Dies ist vor allem dort bedeutsam, wo eine Ausdrucksmöglichkeit auf Grund einer Störung oder Behinderung ausfällt. Orff selbst hat nicht an eine Anwendung des Orff-Schulwerks zu therapeutischen Zwecken oder im heilpädagogischen Bereich gedacht, aber Karl Hofmarksrichter, ein Münchner Heilpädagoge, machte Orff schon in den 60er Jahren auf seine Arbeit mit Gehörlosen und Hörgeschädigten aufmerksam. Durch das ausgeprägte Vibrationsempfinden und das optisch und körperlich deutlich spürbare Erzeugen von Rhythmen und Klängen auf Orff-Instrumenten, war es auch diesen behinderten Menschen möglich, miteinander zu spielen, ja sogar zu tanzen. Die Fähigkeit, durch ein geschultes Vibrationsempfinden Tonhöhen zu unterscheiden, verbesserte auch ihre Sprechweise. Claus Bang (1971) und Shirley Salmon (1992/93) haben diese Arbeit intensiv fortgeführt.

Gertrud Orff hat in den 70er Jahren in ihrer Arbeit am Kinderzentrum in München bahnbrechende Erfahrungen gemacht. Die »Orff-Musiktherapie«, wie sie Theodor Hellbrügge, der damalige Leiter des Kinderzentrums, nannte, zeigt, wie mehrfachbehinderte Kinder, vor allem auch sinnesbehinderte und autistische Kinder, von Musik, die alle Sinne anspricht, profitieren können. Gertrud Orff definiert die sogenannte »Orff-Musiktherapie« als eine multisensorische Therapie: »Der Einsatz der musikalischen Mittel - phonetisch-rhythmische Sprache, freier und gebundener Rhythmus, Bewegung, Melos in Sprache und Singen, Handhaben von Instrumenten - ist so gestaltet, daß er alle Sinne anspricht. Durch diese multisensorischen Impulse ist es möglich, auch da noch anzusetzen, wo ein wichtiges Sinnesorgan ausfällt oder geschädigt ist. In spontan-kreativer Zusammenarbeit kann und soll sich das Kind frei äußern, seine Äußerung formen und sozialbezogen anwenden« (G. Orff 1974).

Aus meiner Erfahrung mit autistischen Kindern, die an einer tiefgreifenden Entwicklungs- und damit an extremer Kontaktstörung leiden, bedeutet das Verbinden-Können von hörbaren, sicht- und spürbaren Reizen, wie sie Musik und Bewegung darstellen, das Wiedererlangen der Beziehungsfähigkeit zu sich selbst und zur Umwelt. Fügen wir z. B. der vom Kind angebotenen Ausdrucksweise, wie seiner Bewegung, eine weitere Sinnesmodalität hinzu, indem wir seine Bewegung musikalisch einbinden, so verhelfen wir dem Kind zu hören, was es sonst nur spürt. Verbindet es diese beiden Sinneserfahrungen, so entsteht ein bewußteres Empfinden seiner selbst. Dies ist die Basis zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit (Schumacher 1994). Die Erfahrungen: »Ich höre mich«, »ich höre dich« und »ich höre uns«, die durch den musikalischen (instrumentalen und stimmlichen) Ausdruck gemacht werden, »ich spüre und sehe mich und dich«, wie dies in der Bewegung, beim Tanzen erfahrbar wird, sind für so schwer gestörte Kinder grundlegend nachzuholen bzw. wiederzuerlangen. Die Idee Orffs, Musik als ein multisensorisches Phänomen zu betrachten, ist für die therapeutische Arbeit nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Besonders beziehungsfördernd ist die zwischenmenschliche Erfahrung, daß Gefühle, Empfindungen, Affekte geteilt werden können. Miteinander singen, spielen und tanzen stellen eine besondere Möglichkeit dar, dieses Empfinden »Gemeinsamkeit« zu erleben, zu erfahren (Schumacher 1999).

2. »Elementare Musik ist eine Musik, die man selbst tun muß«

Die Bedeutung der Selbsttätigkeit, der Wirkung des eigenen Tuns auf den Menschen, auf sein Selbstgefühl und sein schöpferisches Potential ist in unserer heutigen Zeit aktueller denn je. Durch technische Medien überflutet, durch perfekte Wiedergabe eingeschüchtert, ist das bescheidene Ergebnis, das sich zunächst beim Selbsttun, hier beim sich Selbstäußern durch Musik und Bewegung, hören und sehen läßt, oft entmutigend. Ist das Selbstgefühl nicht stark genug und zeigt die Umgebung, d. h. wenigstens ein anderer Mensch, nicht entsprechende Freude und Anerkennung an der eigenen Äußerung, so geht sie schnell wieder verloren. Von der Empfindlichkeit der eigenen musikalischen Äußerung, die, da sie nichtsprachlich und vor allem emotional, seelisch determiniert ist, wissen viele »ein Lied zu singen«. Sie singen oder spielen keinen Ton mehr, wenn sie je mißachtet oder verlacht wurden.

Musiktherapie als Psychotherapie, die Seelisches beeinflussen will, ist ein Behandlungsverfahren, das - wie jede Psychotherapie - nur durch die Mobilisierung der eigenen selbsttätigen Kräfte des Patienten wirksam werden kann.

Entscheidend an der Orffschen Idee ist die Wiederentdeckung des Wertes der Selbsttätigkeit und des dafür motivierenden und nötigen Spielraumes der Improvisation, der aus dem Stegreif erfundenen Musik, Bewegung und Sprache. Eine spielerisch-improvisatorische Haltung, wie sie Orff immer wieder forderte, ist aber auch in einer Ausbildung nicht unbedingt erlernbar. So fanden sich immer wieder Lehrer, die durch das notengetreue Nachspiel das Orff-Schulwerk in Verruf brachten: Man assoziiert Xylophonfabriken und Kindergruppen, die aufgereiht dasitzen und vom Dirigenten und den Noten abhängig reproduzieren, was vorgegeben wird.

Die Modellsammlung Orff-Schulwerk entstand aus der Praxis, aus Klangexperimenten und Musikerfindungen an der Güntherschule und sind eine Nachschrift geglückter Ereignisse, »Aufzeichnungen fixierter Improvisationen« (Orff 1932). Sie sollen an die eigene Klangphantasie und Findekunst des Nachvollziehenden appellieren. Die Aufzeichnung und Veröffentlichung dieser Arbeits- und Gestaltungsmodelle förderte zwar die Verbreitung der musikpädagogischen Vorstellungen Orffs, sie trug aber auch den Keim von Mißverständnissen in sich. So notierte Orff schon zur Erstausgabe: »Ich wußte, daß die Publikation und alle damit verbundene Festlegung dem Charakter der Improvisation nicht entsprach, aber doch unumgänglich für die Entwicklung und Verbreitung der Arbeit war.« Und später, noch genauer: »... nicht das Abspielen nach Noten, sondern das freie Musizieren, zum dem Aufzeichnungen Hinweise und Anregungen geben sollen, ist gemeint und gefordert« (Orff 1976).

3. »Elementare Musik ist eine Musik, in der man nicht nur als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist.«

Nicht nur das aktive Selbsttätig-Sein betont Orff, sondern auch das Mitspielen, das spontane Miteinander-Spielen, wie es durch das entwickelte Instrumentarium möglich ist. In einem Zeitungsartikel 1931 sagt Orff: »Die Musikanweisung beim Kind beginnt nicht in der Musikstunde, die Spielstunde ist der Ausgangspunkt. Man soll nicht an die Musik herangehen, die Musik soll sich einstellen. Das Wichtige ist, das Kind aus sich selbst heraus spielen zu lassen und alles Störende fernzuhalten ...« Spielen und Improvisieren haben bei Orff einen funktionalen Charakter, und er sagt: »Aus dem Spieltrieb erwächst die geduldige Tätigkeit, damit die Übung und aus dieser die Leistung.« Das Orff-Schulwerk bietet Impulse, mit Musik, Bewegung und Sprache zu spielen, dadurch zu üben und zu lernen« (Orff 1976, in: Jungmair 1992, S. 108-109).

Für die Musiktherapie, die sich heute als Psychotherapie, also vornehmlich als seelische Einflußnahme, versteht, gilt die Definition von Psychotherapie des englischen Psychoanalytikers und Kindertherapeuten D. W. Winnicotts: »Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten. Psychotherapie hat mit zwei Menschen zu tun, die miteinander spielen. Hieraus folgt, daß die Arbeit des Therapeuten dort, wo Spiel nicht möglich ist, darauf ausgerichtet ist, den Patienten aus einem Zustand, in dem er nicht spielen kann, in einen Zustand zu bringen, in dem er zu spielen imstande ist« (Winnicott 1973).

Ist Winnicott u. a. mit Hilfe von »Kritzelzeichnungen« seinem Patienten begegnet und hat dessen seelisches Befinden zu erfassen gesucht, bietet der Musiktherapeut den musikalischen Ausdruck als beziehungsstiftendes Mittel an. Wie auch die Säuglingsforschung in den letzten Jahrzehnten wieder neu belegt hat, basiert seelische Entwicklung und Veränderung auf der Begegnung zweier Menschen im Spiel. Musik und Tanz können in besonderer Weise eine zwischenmenschliche Begegnung ermöglichen.

Um dem Laien die aktive musikalische Äußerung zu ermöglichen, hat Orff zusammen mit Kurt Maendler das sog. Orff-Instrumentarium entwickelt. »Der Spieler kann sehen und fühlen und gleichzeitig hören, welche Art und Intensität der Bewegung zu welchem Klangereignis führt. Über die direkte körperliche Beziehung soll sich die innere Beziehung zum Instrument, zum selbstproduzierten Klang, zur Musik entwickeln« (Regner 1988). Wird das Spiel auf Instrumenten im pädagogischen Rahmen auch unter spieltechnischen und ästhetischen Gesichtspunkten praktiziert, gibt diese, oft erst zu erarbeitende innere Beziehung zum selbstproduzierten Klang die Möglichkeit, Musik als Darstellungsmittel und Mittel der Auseinandersetzung mit eigenen seelischen und gruppendynamischen Problemen zu verwenden. Da elementare Instrumente folgende Eigenschaften haben, sind sie auch für die sozialpädagogische und therapeutische Arbeit geeignet. Diese Instrumente

  • sprechen alle Sinne an

  • sind technisch relativ leicht spielbar

  • sind körpernah (trennen die Spieler nicht zu weit vom Instrument und untereinander)

  • sind als Solo- und Gruppeninstrument und

  • für die Improvisation geeignet.

Die Funktionen elementarer Instrumente, wie sie sowohl im pädagogischen wie im therapeutischen Rahmen genützt werden, bestehen in der Möglichkeit

  • sich unmittelbar musikalisch mitteilen und ausdrücken

  • mit anderen unmittelbar zusammenspielen und

  • Klangphantasien entwickeln zu können.

4. »Elementare Musik ist vorgeistig, kennt keine große Form, sie ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.«

Musikalische Ansprechbarkeit ist unabhängig vom intellektuellen Niveau eines Menschen, das macht ihren Einsatz für behinderte wie für unbehinderte Menschen möglich. Ein gemeinsames musikalisches Erleben ist unabhängig vom Alter und der musikalischen Vorerfahrung möglich. Die inzwischen oft zitierten Forschungen zur prä- und postnatalen Sinnesentwicklung des Menschen (Schumacher 1994, S. 19; 1999, S. 90) zeigen, daß die Elemente der Musik »Intensität, Rhythmus und Form« von Geburt an wahrgenommen und die Stimme der Mutter gleich nach der Geburt von anderen differenziert werden kann.

Wilhelm Keller, Komponist und Musikpädagoge, einer der ersten Mitarbeiter Orffs, arbeitete seit den 60er Jahren mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Keller sagt: »Elementare Musik wollen wir daher die Verwirklichung einer ursprünglichen, zentralen musikalischen Potenz, die in jedem Menschen angelegt ist, nennen« (Keller 1980). Er entwickelte eine Form des elementaren Musiktheaters, wie es Carl Orff in seinem künstlerischen Werk verwirklicht hat, ein musikalisch-szenisches Gruppenspiel, in dem jeder Mitspieler seine Rolle bekommt, die seinen Fähigkeiten entspricht und seine Behinderungen berücksichtigt. Das Elementare Musiktheater ist eine Spiel- und Darstellungsform, in der Behinderte und Unbehinderte, junge und alte Menschen zusammen spielen können (ebd.). Kellers beispielhafte Arbeit und seine tiefe Überzeugung, Behinderung durch musikalisches Tun vorübergehend aufheben zu können, lebt in seinen Studenten und Studentinnen weiter. Michel und Manuela Widmer (u. a. 1994), Shirley Salmon (1992/93), Karin Schumacher und Julia Schäfer (1984), Ruth und Björn Tischler (1990) u. a. haben diese Idee vor allem für die Arbeit mit seelisch kranken Kindern und in integrierten Gruppen angewandt und weiterentwickelt.

Ich fasse zusammen

Unterschiede zwischen dem pädagogisch intendierten Orff-Schulwerk, dem Vorgehen in der musikalischen Sozial- und Integrationspädagogik und der Musiktherapie liegen in der Indikation und Zielsetzung. Der Intensitätsgrad der Störung entscheidet, welches methodische Vorgehen sinnvoll ist (aus: Tischler 1983, S. 93).

Unterschiedlich sind Zielgruppe, Zielsetzung und das methodische Vorgehen

Das Orff-Schulwerk will die in jedem Menschen angelegte »musikalisch-tänzerische« Potenz ansprechen und weiterentwickeln. Es geht in seinem methodischen Vorgehen von den vorhandenen Fähigkeiten eines normal entwickelten Menschen aus, der mit- und nachmachen, der »mitschwingen« kann und sich zu eigenen schöpferischen Tätigkeiten auffordern läßt. Der übliche Rahmen, in dem gearbeitet wird, ist eine Klassengemeinschaft oder Gruppe. Musik wird als persönlichkeitsbildendes Medium und als Wissensgebiet eingesetzt.

Die musikalische Sozial- und Integrationspädagogik berücksichtigt die Behinderung und Störung und richtet sich auf die oft ungestörte bzw. weniger gestörte musikalisch-tänzerische Ausdrucksmöglichkeit. Diese zu fördern, hilft die Behinderung zu kompensieren, Folgeerscheinungen wie soziale Isolation zu mildern und ermöglicht, wie in der Integrationsarbeit, mit nicht- oder anders behinderten Menschen zusammenzuspielen. Wenn man bedenkt, wie wenige Medien sich eignen, dieses Gemeinschaftserlebnis unterschiedlich begabter und behinderter Menschen zu ermöglichen, wird der Wert dieser Arbeit noch deutlicher.

Musiktherapie versteht den musikalisch-tänzerischen Ausdruck des Menschen als »nonverbale Sprache«, die trotz einer geistig-seelischen und körperlichen Störung »verstanden« werden kann. Musiktherapie »verwendet« diese Sprache, um dort, wo Menschen an Ausdrucksnot, an einer emotionalen Störung und einer damit verbundenen Kontakt- und Beziehungsstörung leiden, Ausdruck und damit Kontakt herzustellen. Musiktherapie als Psychotherapie versteht diesen musikalisch-nonverbalen Kontakt als Ausdruck des Seelischen und »verwendet« ihn, um dem Patienten einen Zugang zu seinen seelischen Problemen zu ermöglichen. Wie kaum ein anderes Medium versteht es Musik, Bindungen, Lösungen und Übergänge, Probleme wie das Ausbalancieren von Nähe und Distanz in zwischenmenschlichen Beziehungen hörbar und damit bewußt zu machen. Methodisch wird in der aktiven Musiktherapie instrumental und vokal improvisiert, wobei das Erlebte im Anschluß an das Spiel »zur Sprache gebracht« wird. Der Rahmen dieser Arbeit richtet sich nach dem Patienten und dem Schweregrad seiner Störung. Klinisch wie ambulant wird einzeln oder in Gruppen gearbeitet. Bewertet wird nicht der musikalisch-tänzerische Fortschritt, sondern die durch die musiktherapeutische Arbeit sich verändernde Symptomatik, wie sie durch Diagnose und Indikation beobachtet und beschrieben wurde.

Verbindend sind die folgenden grundlegenden Ideen und Mittel, die verwendet werden:

  1. die Verbindung von Musik, Bewegung und Sprache durch das rhythmische Element und das damit verbundene Erleben mit mehreren Sinnen;

  2. das spielerische und improvisatorische Prinzip, das ein vom Kind ausgehendes, den eigenen Ausdruck förderndes Handeln ermöglicht und den entsprechenden Spielraum für aktiven Selbstausdruck schafft;

  3. die Annahme, daß jeder Mensch durch eine musikalisch-körperliche Sprache ansprechbar ist und diese für die emotionale Entwicklung des Menschen von großer Bedeutung ist;

  4. ein technisch relativ leicht spielbares und klangfarbenreiches Instrumentarium.

Das Erleben mit allen Sinnen und das spielerische Lernen und Gestalten kennzeichnen den gut verstandenen Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Für die Behandlung gestörter Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Kontaktfähigkeit, vor allem bei Verlust der spielerischen Fähigkeiten, die wir als Basis des Lernens, des sich Aneignens der Welt sehen, sind Orffs Ideen von wesentlicher und aktueller Bedeutung. Was Spielen-Können mit Kontakt- und Beziehungsfähigkeit zu tun hat, erfährt man am deutlichsten im Umgang mit so schwer gestörten Menschen wie autistischen Kindern. Aber auch für unsere gesunden Kinder ist in einer Welt voller vorgefertigter und reizvoller, ja reizüberladener Angebote die individuelle Fähigkeit der Reizverarbeitung, d. h. Wahrnehmen und Auswählen sowie die Selbsttätigkeit, gefährdet. Der Raum für eigenes Tun und seine Wertschätzung ist daher mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Definiert man »Das Elementare« als etwas Eigenes, das »aus einem aktuellen Bedürfnis heraus zum Ausdruck gebracht wird« (Jungmair 1992), so entspricht dies in der Arbeit mit seelisch Kranken dem therapeutischen Anliegen. Denn nur wenn es gelingt, den Patienten zum Ausdruck seines seelischen Leids zu motivieren, wird dieses mitteilbar und damit einer hilfreichen Begleitung und Bearbeitung zugänglich. Folgt man den von Barbara Haselbach (1990) formulierten Wesensmerkmalen der Orff-Schulwerk-Idee: »... Das allem Lebendigen immanente Prinzip Rhythmus und die ganzheitliche, den Menschen in seinen seelischen, körperlichen und geistigen Anlagen fordernde und fördernde Auseinandersetzung mit seiner Kreativität«, so entspricht dies dem Menschenbild, das einer humanpsychologisch orientierten sozial-, integrationspädagogischen und musiktherapeutischen Arbeitsweise zugrunde liegt.

Prof. Dr. Karin Schumacher

studierte Musiktherapie in Wien und Elementare Musik- und Bewegungserziehung am Orff-Institut in Salzburg. Seit 1974 arbeitet sie als Musiktherapeutin mit psychisch kranken und behinderten Menschen und lehrt das Fach Musiktherapie an der Hochschule der Künste in Berlin.

Summary

The importance of Orff-Schulwerk in the community, for special needs and in music therapy

Which are the features of Carl Orff's and Gunild Keetman's ideas relevant for the work in community and therapy? A child who is mentally or physically handicapped, emotionally or sensorially disabled or autistic, is never just only that. The characteristics of a person that are not expressed in these terms, however, are precisely the ones that make musical communication and thus a connection with the so-called "normal" people possible. A historical review shows the sources from which the adaptation of the Schulwerk for the work with handicapped and disturbed children and young people was made possible and meaningful. A brief section intends to define the fields of "Music Education" - "Music in special needs and community" - "Music Therapy" in order to distinguish them and finally point out the contents they have in common.

The author uses quotes by Carl Orff in order to document the basis for therapeutic work in his ideas and describes how pedagogues and therapists, from the early sixties until today, have developed them for and together with different groups with special needs:

  • The multi-sensorial approach through speech, free and bound rhythm, movement, singing and playing instruments provides possibilities for spontaneous creative play in a social context, even if one important sensorial area is severely damaged.

  • Every member of an integrative music and movement group is participating actively in a creative process.

  • The instrumentarium allows participants to play together in a spontaneous way.

  • Relationship through musical expression and play as an encounter between two people which is the basis for emotional development.

  • Musical reception and expression is independent of intellectual capacity, age and previous musical experience.

Prof. Dr. Karin Schumacher

studied Music Therapy in Vienna and Elementary Music and Dance Education at the Orff Institute in Salzburg. Since 1974 she has worked as a music therapist with psychically ill people and handicapped persons and teaches music therapy at the arts university in Berlin.

LITERATUR

Bang, C.: Ein Weg zum vollen Erlebnis und zur Selbstverwirklichung für gehörlose Kinder. In: H. Wolfgart (Hg.): Das Orff-Schulwerk im Dienste der Erziehung und Therapie behinderter Kinder. Berlin 1971.

Haselbach, B.: Orff-Schulwerk - Elementare Musik- und Bewegungserziehung. In: Eva Bannmüller/Peter Röthig (Hg.): Grundlagen und Perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung. Stuttgart 1990, S. 187.

Jungmair, E. U.: Das Elementare. Zur Musik- und Bewegungserziehung im Sinne Carl Orffs. Mainz: Schott, 1992, S. 245.

Keller, W.: Referat, in: Orff-Institut (Hg.): Symposion »Orff-Schulwerk«. Eine Dokumentation. Salzburg 1980, S. 17-19.

Keller, W.: Musikalische Lebenshilfe, Mainz: Schott 1996.

Orff, C.: Bewegungs- und Musikerziehung als Einheit. In: Die Musik. Berlin 1931, Nr. 23.

Orff, C.: Gedanken über Musik mit Kindern und Laien. In: Die Musik. Berlin 1932, S. 66.

Orff, C.: Das Schulwerk - Rückblick und Ausblick. In: Orff-Institut, Jahrbuch 1963. Mainz: Schott 1964, S. 15-16.

Orff, C.: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976. In: »Carl Orff und sein Werk«. Dokumentation III, S. 17, S. 115.

Orff, G.: Die Orff-Musiktherapie. München: Kindler 1974.

Regner, H.: Musik lieben lernen. Mainz: Schott 1988, S. 97.

Salmon, S.: Musik und Bewegung bei schwerhörigen Kindern in Kooperationsklassen. Orff-Schulwerk Informationen 50, Salzburg 1992/93, S. 17-21.

Schumacher, K.: Musiktherapie - musikalische Sozial- und Heilpädagogik - Instrumentalpädagogik für Behinderte. In: Musiktherap. Umsch. 15, 209-214.

Schumacher, K.: Musiktherapie mit autistischen Kindern. Musik-, Bewegungs- und Sprachspiele zur Integration gestörter Sinneswahrnehmung. Stuttgart: Fischer 1994.

Schumacher, K.: Musiktherapie und Säuglingsforschung. Frankfurt/M.: Lang 1999.

Tischler, B.: Musiktherapie mit neurosegefährdeten Schülern, Regensburg: Bosse 1983.

Tischler, B.und R.: Musik aktiv erleben. Musikalische Spielideen für die pädagogische, sonderpädagogische und therapeutische Praxis. Frankfurt/M.: Diesterweg 1990.

Widmer, M.: Sprache spielen. Vom Kinderreim zur Spielszene. Donauwörth: Auer 1994.

Winnicott, D.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett 1973.

Orff-Schulwerk-Informationen; Nr. 63, Sommer 1999

Herausgegeben von: Hochschule für Musik und Darstellende Kusnt "Mozarteum" in Salzburg, "Orff-Institut" und Orff-Schulwerk Forum Salzburg;

Frohnburgweg 55, A-5020 Salzburg

Schriftleitung: Barbara Haselbach

Quelle:

Karin Schumacher: Die Bedeutung des Orff-Schulwerkes für die musikalische Sozial- und Integrationspädagogik und die Musiktherapie

Erschienen in: Orff-Schulwerk-Informationen, Nr. 62, Sommer 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.07.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation