Disability meets Diversity

Dispositivtheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Situativität, Intersektionalität, Agency und Blindheit

Autor:in - Miklas Schulz
Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Soziale Probleme, Zeitschrift für soziale Probleme und soziale Kontrolle 2/2014, Hrsg.: Elisabeth Wacker und Axel Groenemeyer, S. 286–300. Soziale Probleme (2/2014)
Copyright: © Miklas Schulz 2014

Abstract

Angeleitet durch die sich von einer defizitorientierten Perspektivierung abwendende Ressourcenorientierung im Diversity Diskurs erprobt der Autor an Hand autoethnografisch inspirierter Überlegungen solche Herangehensweisen für das Phänomen der Behinderung(serfahrung). Vorgeschlagen wird die als kulturell verstandene Dimension Blindheit zu verflüssigen und zu kontextualisieren, sodass ihr intersektioneller, was meint situativ-interaktiver und damit notwendig kontingenter Konstruktionscharakter offengelegt ist. Über die Differenzierung von Subjektivierungsform und Subjektivierungsweise gelingt es, das Dispositiv der Behinderung zu erweitern und zu differenzieren. Indem Handlungsspielräume in der taktischen und selbstpraktischen Aneignung der Dimension Blindheit benannt und illustriert werden, ist ein Beitrag zu den Disability Studies geleistet, der einen Emanzipationsgedanken stark macht und zugleich auf die Vielfältigkeit der Subjekte abhebt.

1. Einleitung

„Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ So lautet ein bekannt gewordener Slogan der Behindertenbewegung aus den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dieser Satz birgt viel Wahrheit und kann als Chiffre gelesen werden für das Umdenken einer gesamten Generation: Barrieren existieren in den Köpfen, Körper werden zu behinderten gemacht, Teilhabe scheitert an Strukturen. Jedoch verfehlt Anerkennung ihr Ziel, wenn sie auf stereotypen Askriptionen aufruht. Ich stelle im Folgenden eine etwas provokante These zur interaktiven und koproduktiven Herstellung des Phänomens der Behinderung vor und bewege mich damit bewusst an den Grenzen des Sagbaren. Ich verspreche mir davon, auf eine – meiner Ansicht nach vernachlässigte – Möglichkeit der Perspektivierung des Phänomens der Behinderung auf die Sprünge helfen zu können. Knüpfen wir noch einmal kurz an den einleitenden Satz an, so stellen wir fest, dass der erste Teil im Sinne einer identitätspolitischen Verortung gelesen werden kann, der zu Folge es ein Wir gibt, das sich gegen defizitäre Zuschreibungen wehrt und sich damit gegen das medizinisch- individualisierende Modell von Behinderung richtet (vgl. Waldschmidt 2005).

Fokussieren wir auf seinen zweiten Teil, in dem es heißt: Wir werden behindert. Dieser in der Tendenz auf ein soziales Modell von Behinderung verweisenden Feststellung ist ebenso mit Sicherheit und Nachdruck zuzustimmen, wie es erforderlich sein mag, diese Aussage zu differenzieren und zu erweitern:[1] Menschen mit Behinderung sind in dieser (Satz-)Konstruktion als passive, ihnen fremd gesetzte und durch sie nicht beeinflussbare Umstände ausgelieferte Subjekte entworfen. Das ist ein (Selbst-)Bild, mit dem ich mich so nicht zufrieden geben kann und will und daher einen kritischen Beitrag zu seiner Dekonstruktion leisten möchte. Im Folgenden soll daher Blindheit in ihrer konstitutiven und in benennbaren Situationen konstruierten, kulturellen Phänomenalität analysiert werden (vgl. Länger 2002). Ich möchte zeigen, inwiefern Blindheit (ebenso wie Sichtigkeit) selbst eine Konstruktion ist, die der Sache nach kontingent bleiben muss und welche Folgen es haben mag, wenn dieses Konstrukt situativ gar nicht so gut zu einer dieses Merkmal (vermeintlich) tragenden Person passt. Angeregt sein soll damit eine Binnendifferenzierung der gängigerweise unscharf bleibenden Differenzdimension der Behinderung (vgl. Jacob/Köbsel 2010), die womöglich in dem Maße selbst differenziert werden muss, wie sie dem einzelnen Menschen und seinen Möglichkeiten und Einschränkungen gerecht werden will und zugleich tragfähig für ebenso differenzierte wie kritische empirische Analysen sein soll.

Naheliegend für ein solches Unterfangen ist es, auf Überlegungen zu rekurieren, die das Phänomen Behinderung selbst als Dispositiv denken und entwerfen (vgl. Waldschmidt 2011), und diese Überlegungen mit dem Dispositivkonzept nach Bührmann und Schneider (2008) zu erweitern. So wird es möglich, eine differenziertere und analytisch geschärfte Annäherung für die u.a. situativ-interaktive und damit koproduktive Entstehung des Phänomens Blindheit sowie seiner situativen Aktualisierung zu gewinnen. Um dabei existierende Spielräume auszuleuchten, greife ich auf De Certeau (1988) zurück, mit dem die Kreativität sowie die Eigensinnigkeit im Handeln der Menschen betont werden kann.



[1] Ähnlich wie Anne Waldschmidt dies mit ihrem Vorschlag eines kulturellen Modells von Behinderung unternimmt, in dem sie die Dichotomisierung von Körper und Gesellschaft kritisiert (Waldschmidt 2007).

2. Die Diversity Perspektive

Die Frage danach, inwiefern es gegenwärtig einen fest umrissenen oder umreißbaren Diskurs der Diversity Studies gibt, ist schwer zu beantworten (vgl. Krell et al. 2007). Dem soll im vorliegenden Beitrag ebenso wenig nachgegangen werden, wie den Auseinandersetzungen nach der „eigentlichen Herkunft“ eines Diversity-Gedankens, dessen normativen Gehalts oder seiner legitimatorischen Fundierung. Vielmehr geht es um ein kleines Experiment, bei dem versucht wird, etwas Produktives aus dem Diskurs um Diversity (Management) herauszulösen, um dies auf den Zusammenhang der Disability Studies zu übertragen. Auseinandergesetzt wird sich im Diskurs um Diversity mit

  • Fragen der (simultanen) Mehrfachzugehörigkeit von Menschen, die immer zugleich mehrere Dimensionen in ihrer Person vereinen (Diversity als gleichzeitige Präsenz von Gemeinsamkeiten und Unterschieden) (vgl. Krell 2008);

  • dem Umstand, dass nicht jede Dimension von Vielfalt, jede Merkmalsträgerschaft konstant und gleichbleibend relevant ist. Die Relevanz hängt vielmehr von dem jeweiligen Kontext, seiner Erfordernis zur Adressierung oder der Interessenlage gegenüber einer (Selbst-)Markierung ab.

Gestärkt wird somit ein Bewusstsein dafür, dass die Zugehörigkeiten Konstruktionen und damit Resultat von gesellschaftlich machtvollen Differenzierungsprozessen sind, die mit häufig binär organisierten Kategoriensystemen operieren, die mit Auf- und Abwertungen einhergehen, sowie mit (stereotypen) Zuschreibungen von Attributen an eine Person (vgl. Mecheril 2008).[2] Zudem herrscht das Bemühen vor, Dimensionen der Vielfalt als Ressource und Potential zu verstehen, dem Wertschätzung und Anerkennung entgegenzubringen ist, statt auf vermeintliche Unzulänglichkeiten und Defizite zu verweisen. Diese Setzungen und Verständnisse, wie sie die kritischen Diskussionen um Vielfalt gegenwärtig strukturieren, liegen den folgenden Betrachtungen als Inspiration und Ausgangspunkt zu Grunde.



[2] Die Frau versteht nichts von Technik, und der Behinderte ist einfältig, hilflos, ehrlich und dankbar.

3. Methodisches

Dem vorliegenden Erkenntnisinteresse wird nachgegangen, indem auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen wird, die im Sinne autoethnografischer Beobachtungen gesammelt, reflektiert und analytisch ausgewertet wurden. Im Bewusstsein, dass Objektivität und Neutralität in der Forschung ohnehin bloße Ideologie ist, ist Autoethnografie ein Ansatz that acknowledges and accommodates subjectivity, emotionality, and the researcher’s influence on research, rather than hiding from these matters or assuming they don’t exist (Ellis/ Adams/ Bochner 2010: Abbildung 3).

Zu einer ethnografisch inspirierten Forschungshaltung gehört es daneben, „ein experimentelles Spiel mit den analytischen Möglichkeiten unterschiedlicher Theorieangebote“ [...] zu praktizieren (Hirschauer 2010: 222). Insofern hat die wenig orthodox anmutende Verbindung von einer Diversity Perspektive, die auf den Gegenstand der Disability Studies angewandt wird, um dies dispositivtheoretisch zu reflektieren und mit De Certeaus Begriffen zu fundieren, in dieser Forderung – neben ihrer induktiven Logik – ihre Berechtigung bereits gefunden.

Indem in diesem Fall autoethnografisch inspiriert gearbeitet wird, leisten wir einen durch „Insider-Wissen“ gestützten Beitrag zu einem besseren Verständnis der komplexen, intersektionell verwobenen und von jeweiligen Perspektivierungen abhängigen Erkundung des Phänomenbereichs der Behinderungserfahrung. Dabei ist kein Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erhoben, vielmehr illustriert die kurze Szene blitzlichthaft das an die Personen, ihr Wissen und Handeln sowie das an den Einsatz von Artefakten gebundene, kontextabhängige Zusammenspiel und damit die Wirksamkeit verschiedener Differenzlinien.

4. Die Szene als Blitzlicht

Bezüglich der Sehkraft von Menschen werden medizinisch verbindliche Untergrenzen festgelegt (vgl.Länger 2002). Eine Person, die diese Grenze unterschreitet, gilt dann als gesetzlich blind. Sie kann einen Schwerbehindertenausweis beantragen und bekommt als Hilfsmittel einen Blindenstock von der Krankenkasse gestellt. Mit all diesen diskursiven wie nicht diskursiven Praktiken, Objektivationen und Subjektivationen (vgl. Bührmann/Schneider 2008) ist jedoch nicht gesagt, dass diese Person nicht über einen für sie nutzbaren und wertvollen Sehrest verfügt. Es wird offensichtlich, dass sich ein Mensch vollkommen zu Recht als blind bezeichnen kann, Blindheit auch durchaus aus Erfahrungen in seinem Alltag gewohnt ist, aber in einer bestimmten Situation entweder sich selbst nicht als blinder Mensch fühlt, fühlen möchte, oder eben nicht so wahrgenommen wird, womöglich weil er selbst so auch nicht klassifiziert und wahrgenommen werden will.

Daher möchte ich vorschlagen, Blindheit als ein situatives Kontinuum zu denken und zu analysieren,[3] denn eine abschließende, vereindeutigende und identitäre Festsetzung als blind oder sehend ist nicht umstandslos in jedem Fall möglich. Wieviel oder was gesehen werden kann, kann bei bestimmten Krankheitsbildern durchaus abhängig vom jeweiligen Kontext, dessen Vertrautheit, Kontrastreichtum oder den herrschenden Lichtverhältnissen variieren. Die potentiell geringe Passgenauigkeit der Dimension Blindheit kann so Spielräume in der Ausgestaltung mancher Situationen ermöglichen, von denen das folgende fiktive Beispiel handeln soll: Eine männliche Person mittleren Alters und mitteleuropäischer Herkunft setzt sich im Zug hin und arbeitet geschäftig mit im Ohr steckenden Kopfhörern am Laptop. Die Kontrollarbeit der Zugbegleitung wird akustisch parallel zur vertieft wirkenden Computerarbeit verfolgt, während das Ausbleiben einer persönlichen Ansprache erhofft wird. Bis hier hin gibt es wenig Anlass, diese Person als blind zu klassifizieren, es sei denn, ihr mit ausgeklapptem Blindenstock erfolgter Einstieg in den Zug wäre beobachtet worden. Erst nach persönlicher Aufforderung, das Ticket zu zeigen, bittet die Person um Verkauf eines eben solchen, allerdings ohne den für das Nachlösen im Zug fälligen Zuschlag, da dieser bei blinden Menschen, die die Automaten nicht eigenständig bedienen können, erlassen werden kann. Die potentiell des Schwarzfahrens angeklagte Person ruft also eine Klassifikation als blinder Mensch hervor, um so drohende Konsequenzen abzumildern. Vorgenommen ist ein Wechsel von einem doing ability zu einem doing dis-ability (vgl. Waldschmidt 2011).

Wir halten fest, dass es durchaus Situationen gibt, in denen sich Menschen gerne selbst als einer Gruppe zugehörig markieren, da sie auf Basis dessen bestimmte Erwartungshaltungen darüber, wie eine solche Person eben vermeintlich ist, (gezielt) abrufen können. Demzufolge setzen Dimensionen und Klassifizierungen in ihrer Anwendung nicht ausschließlich Identitätszwänge (vgl. Knapp 1989), sondern erschaffen immer gleichzeitig auch Räume, die eigensinnig instrumentalisiert und vermittels der Selbstpraktiken unter ihrer Oberfläche gewendet werden können.

4.1. Einschränkung und Selbstreflexion

Um zur hier zu diskutierenden Konstellationsbeschreibung zu gelangen, sind manche durchaus nicht unproblematischen Punkte im gleichzeitigen Bewusstsein ihrer Existenz und Relevanz zu übergehen: Auch bei der Vorstellung von Blindheit als Kontinuum bleibt das Problem einer dualistischen Unterscheidbarkeit von gesunden vs. defizitären Körpern unangetastet. Die damit implizit angesprochene erkenntnistheoretische Problematik der Konstruktionen von Differenzdimensionen hält diese jedoch nicht von ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit ab, weswegen sie auch irgendwie wissenschaftlich bearbeitet werden müssen. Des Weiteren ausgeklammert bleiben Fragen nach:

  • der Verkörperung einer Dimension/ Kategorie;

  • dem Repräsentationsdilemma;

  • der problematischen Konstruktion von Gruppenidentitäten;

  • der bleibenden Gefahr von Essentialisierungen.

Diese vielfach diskutierten Aspekte können alle im feministisch-intersektionellen Diskurs nachgelesen werden. Auf einen weiteren Umstand soll hingegen kurz eingegangen werden: Die Gefahr reflexiver Schleifen. Insbesondere bei autoethnografisch angelegter Forschung ist die (Selbst-)Deutung zu reflektieren, was in unserem Beispiel heißt, die Eindeutigkeit des vermeintlich entscheidenden Markers zu hinterfragen: Der junge Mann mag ebenso gut eine[4] Frau mittleren Alters sein, der PC durch ein Buch ersetzt werden, in dem angestrengt gelesen wird, sowie der Ohrhörer womöglich durch eine teure Brille ausgetauscht werden könnte. Beide Personen sehen so aus als könnten sie sich Fahrkarten leisten, weswegen das Resultat wahrscheinlich dasselbe bliebe: Kein ins Schema Schwarzfahrender Verdächtigungen passender Anschein und in Folge dessen auch keine gezielte Kontrolle. Die damit angesprochene subjektiv-sinnhafte Verwendung kultureller Artefakte kann mit Goffman (vgl. 2006) als Requisite einer Bühnendarstellung interpretiert, oder als symbolisch verdichtete, kulturelle Form – in den Worten von Bührmann und Schneider (2008) als Objektivation – verstanden werden, die ihrem Träger und ihrer Trägerin etwas zu bekunden helfen können.[5]

Ebenso wie der nicht barrierefreie Fahrkartenautomat eine diskursive Materialisierung der Logiken eines Ableism ist, signalisiert der Einsatz der Ohrhörer eine akustische Raumspaltung und verspricht als gezielte Beigabe zur Situationsdefinition Schützenhilfe. Folglich verdichten sich soziokulturelle, symbolische Gehalte auch des PC oder der Brille in diesem Kontext mit dem subjektiven Erfahrungswissen, zu der synthetisierenden Interpretation in Form der Zuschreibung gelehrsamer Rechtschaffenheit.

4.2. Das Dispositiv der Behinderung

Anne Waldschmidt spricht von einem Dispositiv der Behinderung und differenziert unterschiedliche Ebenen und Praxisformen voneinander. Bezugnehmend auf Erving Goffmans Stigmatheorie (Goffman 1996) spricht sie von einem doing dis-ability, mit dem die interaktive Herstellung sowie identitätsmäßige (nicht-)Inszenierung von Gesundheit/Behinderung verdeutlicht werden kann. Da dieser Ansatz ihren Reflexionen zufolge jedoch Behinderung als mit einem naturalistischen Kern verknüpft entwirft, schlägt sie vor, das Making von dis-ability mit Foucaults Macht- und Diskurstheorie zu denken (vgl. Foucault 1978, 1988). So lassen sich die konstitutiven Dimensionen der Diskursivierung, Disziplinierung, Normierung und Normalisierung herausfiltern, mit denen die Objektivierung und Institutionalisierung beschrieben werden kann, wie sie sich in den gesetzgeberischen Diskursen und deren auf medizinischem Fachwissen gründenden Konstruktionen wiederfinden lassen.

Über das Konzept der symbolischen Gewalt nach Bourdieu (1997, 2005) versucht sie den dispositiven Kreis der Formierung zu schließen, indem sie von einem being dis-abled spricht, was meint, dass die Dimension Behinderung akzeptiert und in die Ich-Identität integriert wird. So hält sie zusammenfassend fest: „Nicht zuletzt – das ist die Pointe der symbolischen Gewalt – akzeptieren auch die als behindert etikettierten Menschen ihren Status und übernehmen für die Selbstbewertung“ die Vorurteile, die Teil ihrer „Gefühlswelt, zu einer persönlichen Erfahrung und einem Bestandteil von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata,“ werden und als „handlungsleitend in der Konstruktion der eigenen Alltagswelt“ (Waldschmidt 2011: 102) wirken. Waldschmidt unternimmt in ihrem Goffman, Foucault und Bourdieu integrierenden Entwurf den Versuch, die einzelnen Ebenen in ihrem dispositiven Zusammenwirken zu bestimmen, mit dem Ziel, über Bourdieu die Handlungs ebene hinreichend abzubilden, unterschätzt dabei aber scheinbar die komplexe Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Logik des potentiell eigensinnig und subversiven Handelns selbst.

Im vorliegenden Fall wird daher davon ausgegangen, dass die einzelnen Ebenen und Praxisformen des Dispositivs der Behinderung je nach Situation, deren Kontext und variierend durch die beteiligten Personen, in eine spezifische Konstellation zueinander treten. Diese analytische Präzisierung gelingt, wenn wir die Differenzierung nach Subjektivierungsform und Subjektivierungsweise nach Bührmann und Schneider heranziehen. Dort heißt es: „Die diskursiv vermittelten Subjektformierung und Subjektpositionierung vermitteln ein Wissen davon wer der einzelne im Verhältnis zu anderen sein soll, welche Praktiken dabei zu verfolgen sid und welche Bewertungen damit einherzugehen haben“ (Bührmann/Schneider 2008: 69).

Hiervon differenziert werden muss, wie die Akteure vermittels ihres Bewusstseins sich selbst ins Verhältnis zu dem diskursiven Wissen der Adressierung und Positionierung setzen, wie sie es in Selbstpraktiken aneignen, wenden und wie bzw. inwiefern es tatsächlich handlungswirksam und für das Selbst-Erleben sowie die Selbstpositionierung relevant wird, was letztlich nur eine am Einzelfall empirisch zu klärende Frage darstellt (vgl. Bührmann/ Schneider 2008: 69). Somit darf das herrschaftslogische Funktionieren der symbolischen Gewalt nicht als schlichter Automatismus über die Existenz widerständiger und wiederstrebender, innerer Gefühlswelten hinwegtäuschen.



[3] An dem einen Ende soll nicht das defizitäre Blindsein stehen und am anderen der Normkörper mit all seinen Möglichkeiten. Vielmehr geht es um eine ressourcenorientierte Perspektive. Damit ist gemeint, alltägliche Verrichtungen entweder nurauf die eine Weise – eines Sehenden – ausführen zu könnennd zu müssen oder um das Potential der Kompetenz alternativer Handlungsstrategien.

[4] Für diesen hilfreichen Hinweis danke ich an dieser Stelle Andrea Bührmann.

[5] Dabei ist anzumerken, dass der Begriff der Objektivation entscheidend über Goffman hinausweist, da er mehr umfasst als nur unmittelbar interaktionsgebundene Bedeutungszuschreibungen. Vielmehr handelt es sich Foucault (1978: 118ff.) folgend um das produktive Zusammenwirken von Diskurs und Machttechniken, die materiale Vergegenständlichungen (Objektivationen diskursiver Prozesse) hervorbringen (vgl. Bührmann/Schneider 2008: 58ff.).

5. Dispositive Konstellationen

Mit De Certeaus Begriff der Taktik lässt sich die subversive und eigensinnige Aneignung der Dimension Blindheit analytisch differenzierter fassen: Wendet er sich mit ihm doch gegen die Vorstellung einer lückenlosen Disziplinarmacht, die in als totalitär gedachten Dispositiven zirkuliert:

„Wenn es richtig ist, daß das Raster der Überwachung sich überall ausweitet und verschärft, dann ist es umso notwendiger, zu untersuchen, wie es einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich nicht darauf reduzieren zu lassen: welche populären und auch verschwindend kleinen alltäglichen Praktiken spielen mit den Mechanismen der Disziplinierung und passen sich ihnen nur an, um sie gegen sich selber zu wenden“ (De Certeau 1988: 23).

Aufbauend auf der Differenzierung von Subjektivierungsform und Subjektivierungsweise können wir nun von folgenden Konstellationen ausgehen, wie sie in einer gemischten,[6] koräsenten Interaktionssituation auftauchen mögen.

Bei der ersten an unserem Beispiel identifizierbaren Konstellation kommt es zu einer kohärenten Subjektivierung, was bedeutet, dass Übereinstimmung herrscht zwischen der Subjektivierungsform im Making Disability und der Subjektivierungsweise auf der Ebene des Doing Disability und des Being Disabled. Es gelingt die Herstellung eines angepassten, mit den (diskursiven) Fremdpositionierungen identischen, bruchlosen Subjekts. Zugleich ist jedoch denkbar, dass, wie in unserem Beispiel angedeutet, Subjektivierungsform und Subjektivierungsweise auseinandertreten, sodass von einer simulierten Kohärenz bei existenter Inkohärenz gesprochen werden kann. Dies ist in zweierlei Richtungen möglich:

Erstens als ein Überspielen der Beeinträchtigung, bei der die – nicht als blind identifizierte – Person zuerst unauffällig wie alle anderen im Zug sitzt und angereizt durch präsentes und kontrollierendes Zugpersonal eine inszenierte Selbstnormalisierung im Sinne eines Doing Abilitypraktiziert. Hierfür ist ein spezifisches erfahrungsgesättigtes (Körper-)Wissen sowie auch eines um die Situation, die kontextuellen Fremdzuschreibungen und der symbolischen Dimensionen der gegenwärtigen Objektivationen erforderlich. Im zweiten Schritt – und der dritten Konstellation –, der persönlichen Ansprache, kommt es im Doing Disability zum Überziehen der Beeinträchtigung, bei der die Person ohne Fahrschein im Ausbleiben eines eigeninitiativen Fahrkartenkaufs blinder und eingeschränkter tut, als sie es womöglich ist. Dies lässt sich dann als oberflächlich-situative Integration der Behinderung in das Selbstbild und als being disabled bezeichnen. Solch subjektivierende Selbstpraktik kann mit einem inneren Widerstand verbunden bleiben und dennoch mit einer gleichzeitigen temporären Akzeptanz – der auf Basis der Selbstpositionierung als hilflose Person angereizten – Fremdzuschreibung einhergehen.

Beiden Fällen liegt auf je eigene Weise die Praxisform des Making Disability zu Grunde, dem über medizinisches Wissen eine hegemoniale Definitionsmacht über das Normale und das Abweichende eigen ist. Gleichzeitig geht mit diesen Differenzierungen ein Herrschaftswissen über analoge Verhaltenserwartungen und Zuschreibungen einher. Insofern produziert dieses Herrschaftswissen als ein Effekt seiner selbst auf den Ebenen des Doing Disability und des Being disabled bei den Betroffenen ein Wissen mit, „das sich in der Unterwerfung unter Machtdiskurse oder als Erfahrungswissen im Widerstand gegen sie herausbildet“ (Becker-Schmidt 2009: 302).

Schlüsseln wir die kurze Szene nun noch weiter mit De Certeaus Ideen auf, so stellen wir fest, dass die Ebene des Making Disability mit seinem Strategiebegriff zusammenfällt: Die Strategie verfügt über Räume und Institutionen, in denen ihr Macht-Wissen zirkuliert, sodass sie für identitäre Festsetzung sorgen kann, wofür die Objektivation des Schwerbehindertenausweises und die durch ihn symbolisierten Ansprüche stehen mögen. Damit produziert eine machtvolle Differenzordnung die Subjektposition des Blinden (als hilflos, ehrlich, dankbar, desorientiert, und vielleicht auch etwas einfältig?), die erst in Übereinstimmung mit der geleisteten Selbstpositionierung wirklich wirksam wird.

Die Taktik hingegen nutzt – De Certeau hierin weiter folgend – die situative, zeitlich begrenzte Gelegenheit, sie hat keinen eigenen Ort, ist listig, zerstreut und berechnend, denn nur so vermag sie es letztlich, Machtstrategien gegen sich selbst zu richten. So dient die herrschende Ordnung „zahllosen Produktionen als Stütze, aber sie verheimlicht deren Eigentümern diese Kreativität“ (De Certeau 1988: 26).



[6] Bezugnehmend auf Saerberg (2007) soll hiermit das Zusammentreffen von blinden mit nicht-blinden Menschen im Alltag gemeint sein.

6. Fazit und Ausblick

Die mit dem Begriff De Certeaus benennbare und hier vorgeschlagene Perspektive ermöglicht es, das Alltagsleben als kulturellen Ort des Kampfes und der Auseinandersetzung zu analysieren. Denn die Akteure verwandeln die ihnen vorgegebenen und zugewiesenen oder zur Antizipation nahe gelegten, auf Dimensionen der Vielfalt aufbauenden Askriptionen durch ihren eigensinnigen Gebrauch, wie oben angedeutet, in etwas Eigenes. Der blinde Mann wird als blind wahrgenommen und bekommt Attribute des Blindseins schließlich auch aufgrund seines eigenen Verhaltens – oder eben gerade nicht – zugeschrieben. Er findet sich in denen in Konstellationen umrissenen Situationen somit nicht in Gänze fremdgesetzten Umständen gegenüber, sondern leistet einen durch Selbstpraktiken in Teilen mitentworfenen Beitrag zur Konstruktion der Wirklichkeit des beschriebenen Settings. Ebenso wie es Aneignungsspielräume bei der Dimension Gender gibt (vgl. Hirschauer 2013), lässt sich – so die hier vertretene These – bei manchen Formen von körperlicher Beeinträchtigung in bestimmten Situationen von der Möglichkeit eines Undoing Disability ausgehen. Hinzu kommt, dass die hergestellte und hier als Übereinstimmungen der dispositiven Ebenen nach Waldschmidt verstandene Konformität eine Oberflächenerscheinung sein kann, die Tieferliegendes verdeckt. Und selbst wenn scheinbare Konformität zwischen den Ebenen zu herrschen scheint, mag diese dennoch von einem strategischen Essentialismus (Spivak 1988) oder einer Politik des Durchkommens motiviert sein (Pieper/ Mohammadi 2014), die auf den ersten Blick in ihrer kontextuellen Eigenheit undurchschaubar sind.

Sobald Analysen jedoch vor der Verworrenheit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Dickichts sozialer Wirklichkeit stehen bleiben, verlieren sie das womöglich Interessanteste aus dem Auge. Wenn Emanzipation heißt, sich zu aller erst selbst von erniedrigenden und defizitären Selbstbildern zu befreien, muss nicht im gleichen Moment auch die Sichtbarkeit dessen unmittelbar evident sein. So ist mit diesem Beitrag eine Perspektive eingebracht, wie auch die Disability Studies sich der Herausforderung annehmen können, die häufig schwer als solche zu erkennenden zarten Pflänzchen einer heranwachsenden Veränderung auffindbar und benennbar zu machen. Aus Platzgründen ende ich nun in der Hoffnung auf weitere – durch mich oder andere zu leistende – Ausführungen dieser und ähnlicher Gedanken mit offenen Fragen: Was sagt es uns nun wenn,

  • eine abschließende Entscheidung über die (vorrangige) Wirksamkeit einzelner Dimensionen von Vielfalt, insbesondere durch ihr wechselseitig konstitutives Zusammenspiel, schwierig bleibt?

  • die Emanzipation scheinbar über einen Operationsmodus verfügt, der vordergründig stereotype Zuschreibungen reproduziert?

  • der subjektive Gebrauch von nicht selbst produzierten Produkten (De Certeau) und die Aneignung durch das Gegenüber nicht deckungsgleich miteinander sein müssen, sie aber dennoch eine situative Kohärenz ausbilden können und damit wirksam sind?

  • Differenzierungen von Differenzdimensionen – wie der Behinderung/ Blindheit – aus akademischer Perspektive geboten erscheinen, aus aktivistischer Sicht allerdings im Hinblick auf nur allzu berechtigte Angst vor Fragmentierung kontraproduktiv sein mögen?

  • die hier beispielhaft illustrierte, spielerische Ingebrauchnahme von Differenzdimensionen an individuelle Ressourcen und Kompetenzen gebunden ist und damit vermutlich nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht?

Literatur

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Quelle

Miklas Schulz: Disability meets Diversity: Dispositivtheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Situativität, Intersektionalität, Agency und Blindheit. In: Soziale Probleme, 25 (2014), 2, S. 286–300; http://www.soziale-probleme.de/08_Schulz_-_Disability_meets_Diversity.pdf.

bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.4.2018

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