Männlichkeit, soziale Ausgrenzung und ein doppeltes Coming-out

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Inklusive Leidenschaft. Lesben, Schwule, transgeschlechtliche Menschen mit Behinderung. Dokumentation der Fachtagung am 21. und 22. September 2010.
Copyright: © Hans-Hellmut Schulte 2011

Männlichkeit, soziale Ausgrenzung und ein doppeltes Coming-out

Hans-Hellmut Schulte

Den typischen behinderten Schwulen gibt es nicht!

Ich möchte auf die Individualität von Schwulen mit Behinderung hinweisen. Außerdem ist es mir wichtig, die Verfestigung von Klischees zu vermeiden und nicht zu defizitorientiert über die Behinderung bzw. Beeinträchtigung der betroffenen Schwulen zu sprechen.

Allen ist jedoch gemein, dass sie sozial abhängig sind, wobei es qualitative und quantitative Unterschiede gibt. Sie sind individuell auf Assistenz bei verschiedenen Tätigkeiten angewiesen. Je stärker die soziale Abhängigkeit, desto schwieriger ist es für einen schwulen Mann, seine Sexualität zu leben und sein Coming-out zu vollziehen. Es ist erforderlich, die soziale Abhängigkeit aufzubrechen, Isolation zu vermeiden und Vernetzungstreffen zu ermöglichen.

Ein wichtiger Aspekt ist zudem, zu welchem Zeitpunkt das Coming-out als Mensch mit einer Behinderung und wann das Coming-out als Schwuler geschieht. Wer von Geburt an oder seit seiner Kindheit eine Behinderung hat, kann in den meisten Fällen offensiver mit seiner Behinderung umgehen, fragt sich dann aber: "Kann ich mir die zweite Extravaganz jetzt auch noch leisten, dass ich nicht nur behindert, sondern auch schwul bin?" Viele Eltern hoffen, dass der Sohn mit seiner Behinderung eine Frau findet, die nicht behindert ist, ihm den Haushalt führt und Assistenz leistet. Zwischen der eigenen Identität und den Wunschvorstellungen der Eltern können im Zuge eines Coming-out Konflikte entstehen. Es gibt jedoch auch einige Schwule, die ihre Behinderung, mit der sie seit ihrer Kindheit vertraut sind, erst im Zuge des schwulen Coming-out als "richtige" Behinderung empfinden.

Tritt die Behinderung hingegen während eines Lebensabschnitts ein, in dem man in der schwulen Szene seinen Platz längst gefunden hat, kann dies zu Selbstzweifeln und Selbstdiskriminierung führen. Man denkt, dass man für die "schöne, schwule Welt" unattraktiv geworden sei und keinen Mann mehr bekommen könne, weder für einen One-Night-Stand noch für eine feste Beziehung. Es kommt darauf an, die Einstellung zu sich selbst und zur Szene zu ändern. Für Schwule mit Behinderung ist es wichtig, ihre Behinderung in das individuelle Selbstkonzept und Körperschema zu integrieren und sich parallel mehr und mehr eine eigene schwule Lebenswelt zu erschließen. Dies ist ein Prozess, den der Einzelne nach seinen individuellen Bedürfnissen gestalten kann. Ein weiteres Problem schwuler Männer mit Behinderung, insbesondere bei nicht-sichtbaren Behinderungen, ist die Entscheidung, wann ich meinem Gegenüber von meiner Behinderung erzähle. Kommt die Information über die Behinderung zu früh, könnte das Gegenüber den begonnenen Flirt noch abbrechen, kommt sie zu spät, kann es sein, dass der unvorbereitete Partner erschrocken die Flucht ergreift. Es bedarf einiger Erfahrung, den richtigen Zeitpunkt zu treffen.

Ich möchte nun weitere spezifische Problemlagen von Schwulen mit Behinderung ansprechen, die von der Art der Behinderung abhängig sind. So werden körperbehinderte Schwule in der Szene nicht nur baulich, sondern auch persönlich ausgegrenzt. In einem Bereich, der durch Schönheit und Körperkult gekennzeichnet ist, werden Schwule mit Behinderung nicht immer gern gesehen und im übertragenen Sinne wird auch die Männlichkeit und Potenz in Frage gestellt. Auf Grund vieler Ablehnungen und wegen des Gefühls, nicht mehr vollwertig als "ganzer Mann" anerkannt zu werden, sinkt das Selbstwertgefühl. Blinde und Gehörlose, bei denen die Körperästhetik nicht betroffen ist, haben oft Kommunikationsprobleme. Besonders bei Schwulen mit geistiger Behinderung ist im Coming-out-Prozess auf das individuelle Tempo des Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Generell empfiehlt es sich, in der täglichen Arbeit mit behinderten Schwulen darauf einzugehen, welche persönlichen Wünsche und Ziele der Klient hat und wie er sein Leben gestalten möchte. Für ihn kommt es darauf an, Defizite zu kompensieren und seinen eigenen Stil zu finden. Dabei ist anzustreben, Abhängigkeitsverhältnisse aufzubrechen und einen nüchtern-pragmatischen Umgang mit der eigenen Behinderung zu finden. Zur Verbesserung der Lebenssituation ist es wichtig, das Selbsthilfepotential zu stärken sowie vollständige Barrierefreiheit herzustellen.

Zum Schluss möchte ich die Frage in den Mittelpunkt stellen, warum behinderte Schwule bisher wenig vernetzt sind. Es gibt durchaus entsprechende Angebote, zum Beispiel "queerhandicap e.V.", allerdings werden nicht alle Vernetzungsmöglichkeiten von der angesprochenen Zielgruppe wahrgenommen. Manchen reicht allein die Gewissheit, dass das Angebot da ist. Oftmals gibt es auch Einschränkungen in der Mobilität oder die Energiereserven reichen für entsprechende gemeinsame Aktivitäten nicht aus. Zudem gibt es Schwule, die ihre Behinderung nicht in den Vordergrund stellen möchten und eher den Kontakt mit Schwulen ohne Behinderung suchen. Diese Männer befürchten, Kontakt mit anderen Behinderten könne sich negativ auf ihre Integration unter nicht Behinderten auswirken.

Hans-Hellmut Schulte

Diplom- und Psychologischer Psychotherapeut, ehemaliger Mitarbeiter der Schwulenberatung Berlin.

Gemeinsam mit Marcus Reinhold leitet Hans-Hellmut Schulte das jährliche Treffen behinderter Schwuler in der Akademie Waldschlösschen

www.waldschloesschen.org.

Telefon Hans-Hellmut Schulte (030) 611 12 21

Gunnar Lehmann und Dina Zander-Tabbert übersetzen in die Gebärdensprache

Ein Blick in den voll besetzten Saal

Stephan Brunn und Frank Hartung mit Tagungsteilnehmenden

Hinweis der bidok-Redaktion

Die Broschüre kann auch in größerer Stückzahl als Druckexemplar kostenfrei bei broschuerenstelle@senias.berlin.de oder per Fax unter (030) - 9028 2055 angefordert werden.

Quelle:

Hans-Hellmut Schulte: Männlichkeit, soziale Ausgrenzung und ein doppeltes Coming-out

Erschienen in: Inklusive Leidenschaft. Lesben, Schwule, transgeschlechtliche Menschen mit Behinderung. Dokumentation der Fachtagung am 21. und 22. September 2010 im Konferenzzentrum der Heinrich-Böll-Stiftung.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.07.2012

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