Von Normalisierung zur Inklusion?

Eine kritische Betrachtung der Wirksamkeit der Autismus-Intervention Applied Behavior Analysis (ABA)

Autor:in - Corinna Schuhegger
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Bachelorarbeit
Releaseinfo: Bachelorarbeit an der Hochschule Landshut - Hochschule für angewandte Wissenschaft; Studiengang: Soziale Arbeit; Sommersemester 2015; Gutachter: Prof. Dr. phil. Clemens Dannenbeck
Copyright: © Corinna Schuhegger 2015

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Einen herzlichen Dank an

alle Experten, von denen ich sehr viel gelernt habe, meine ehemaligen Arbeitskollegen, für zahlreiche Anregungen, Herrn Prof. Dr. phil. Dannenbeck, für die gute fachliche Beratung und Begleitung sowie postwendenden Antworten auf meine E-Mails, Rainer, Manuela und Gabi für ihre Mühe, die Arbeit kritisch zu lesen, Christina, insbesondere für ihre Geduld, Zeit und das intensive Korrekturlesen und allen anderen, die mich während meiner Bachelorzeit unterstützt und motiviert haben.

1. Einleitung

„Der Autismus an sich ist keine Hölle. Die Hölle entsteht erst durch eine Gesellschaft, die sich weigert, Menschen zu akzeptieren, die anders sind als die Norm, oder diese Menschen zur Anpassung zwingen will.“ (O’Neill 2001, S. 71)

Die Autorin Jasmine Lee O’Neill beschreibt leider eine traurige Wirklichkeit. Trotz des Gedankens der Inklusion, in der Vielfalt und Verschiedenheit etwas selbstverständliches sein soll, existiert auch bis heute weitgehend eine Welt in der „Anders-Sein“ nicht akzeptiert wird. Es scheint immer noch in vielen Punkten eine veraltete Denkweise zu herrschen. Verhalten, das von der breiten Öffentlichkeit als nicht „normal“ gilt, muss immer noch verändert beziehungsweise therapiert werden. So stoßen auch Autisten immer wieder auf Kritik und Unverständnis. Es hat sogar den Anschein, dass selbst viele Spezialisten dazu neigen, eigene Lebensweisen (und somit Normen) als allgemeingültig anzusehen. Durch diese Haltung besteht schnell die Gefahr, dass Autisten ein Verhalten antrainiert wird, mit dem sie sich jedoch nicht identifizieren können. Vor allem, wenn von „Heilung“ gesprochen wird, scheint sich die Fachwelt nicht einig zu sein. Immer wieder entbrennen neue Debatten, ob eine solche Heilung überhaupt möglich beziehungsweise notwendig ist oder ob es sich dabei nur um ein alleiniges Unterbinden autistischer Symptome handelt.

Anbieter der Autismus-Therapie Applied Behavior Analysis sind davon überzeugt, eine solche Heilung bei einem Großteil ihrer Klienten erreichen zu können. Dazu nutzen sie das operante Konditionieren, um ihr Erfolgsversprechen, eine „Befreiung“ vom Autismus, erzielen zu können. Sie verweisen auf die jahrzehntelange Erfahrung und Weiterentwicklung ihrer Anwendung und führen zahlreiche Studien auf, die die Wirksamkeit der Intervention beweisen sollen. Aber wie wird Wirksamkeit definiert? Kann man hier von Wirksamkeit im Sinne der Betroffenen sprechen oder handelt es sich um eine Wirksamkeit im Interesse der Gesellschaft? Inwieweit trägt die Methode Applied Behavior Analysis, welche eine Normalisierung des autistischen Menschen anstrebt, zur Inklusion bei? Werden hier alle Potenziale und Bedürfnisse des Individuums umfassend berücksichtigt? Für eine Beantwortung dieser Fragen, muss neben der Berücksichtigung messbarer Ergebnisse ein intensiver Blick auf ethische Aspekte erfolgen.

Im Laufe der Arbeit werden zuerst die Autismus-Intervention Applied Behavior Analysis und deren Handlungsweisen genauer vorgestellt. Im Rahmen einer kritischen Betrachtung der Studien von Lovaas (1987), McEachin, Smith und Lovaas (1993), Smith, Groen und Wynn (2000), sowie eine im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium durchgeführte HTA-Studie (2009) wird untersucht, inwieweit die daraus abgeleitete Wirksamkeit dieser Therapieform haltbar ist. Anschließend werden bestehende ethische Grundsätze der Sozialen Arbeit für eine weiterführende Bewertung herangezogen. Nach Erarbeitung dieser Grundlagen soll mit Hilfe eines qualitativen schriftlichen Experteninterviews die Stellungnahme von Betroffenen eingeholt werden, um einen weiteren Blickwinkel zu erhalten. Diese Vorgehensweise soll eine fundierte Grundlage für die Bewertung der zuvor aufgestellten Hypothesen bilden.

2. Einseitige Betrachtungsweise von Autismus

Zum Thema Autismus gibt es mittlerweile eine umfassende Bandbreite an Literatur. Meist wird versucht dem speziellen Persönlichkeitstyp auf die Spur zu kommen. Laut Fachliteratur und klinischen Klassifikationsmanualen (ICD-10 / DSM-V)[1] ist Autismus vor allem an drei wesentlichen Kerncharakteristiken zu erkennen.

Dazu zählen eine Beeinträchtigung der „sozialen Interaktion“ (Theunissen/Paetz 2011, S.13) und interpersonellen Relationen, ein gewisses Defizit in der „(verbalen) Kommunikation“ (ebd.), sowie ein begrenzter Umfang an persönlichen „Interessen und Aktivitäten“ (ebd., S.14), welche vielfach in Form eines monotonen, schematischen Verhaltens auftreten. Ergänzend werden seit kurzem auch „emotionale Störungen“ (ebd.) und „Wahrnehmungsbesonderheiten“ (ebd.) als zusätzliche Kerncharakteristiken betrachtet.

Grundsätzlich sind zwar alle diese Beschreibungen zutreffend, allerdings erscheinen sie auch allzu einseitig. Fokussiert man sich rein auf diese drei Kernbereiche, so verfügt man nur über eine sehr begrenzte Sichtweise auf die signifikante Charakteristik eines Autisten (ebd., S.24). Auffallend ist, dass hier rein von Fehlverhalten oder Verhaltensstörungen gesprochen wird, wie „Unvermögen“, „Defiziten“, „Beeinträchtigungen“, „abnorm“ (American Psychiatric Association 2015, S.64f.) oder „Mangel“ und „Auffälligkeiten“ (Weltgesundheitsorganisation 2002, S.21).

Was ist aber mit besonderen Werten, Fähigkeiten, Ressourcen und Stärken, die ein einzigartiges Individuum erst ausmachen? Wie Recherchen von Theunissen & Paetz (2011) aufweisen, werden in der Autismus-Forschung, der Fachwelt und auch in der breiten Öffentlichkeit Stärken und Fähigkeiten von autistischen Menschen bislang zu wenig oder gar nicht erkannt beziehungsweise anerkannt. Einerseits wollen Experten ein umfassendes Bild von Autismus erhalten, andererseits wird die Notwendigkeit, persönliche Ressourcen autistischer Menschen miteinzubeziehen, bisher weitgehend ignoriert.

Der Grund, warum sich die Gesellschaft so auf die negativ assoziierten Auffälligkeiten der Autisten[2] versteift, wirkt auf den ersten Blick banal. Der enorme medizinische Fortschritt der letzten Jahre, welcher sich auch intensiv mit dem Gedanken der Rehabilitation kranker Menschen auseinandergesetzt hat, trägt einen großen Teil zu dem negativen Image behinderter Menschen bei. Im Bereich der Medizin wird der Fokus auf die medizinischen, biologischen und psychosomatischen Symptome eines Erkrankten gelegt und mit Hilfe naturwissenschaftlicher Ansätze in die Kategorien „gesund“ oder „nicht gesund“ eingeteilt (vgl. Lob-Hüdepohl 2011, S.67). Man konzentriert sich somit speziell auf die von der biologischen Norm abweichenden Verhaltensauffälligkeiten autistischer Menschen, welche meist mit geistigen, körperlichen oder auch psychischen Beeinträchtigungen einhergehen. Es ist durchaus nicht zu verleugnen, dass verschiedene biologische und neurologische Faktoren die Ursache für viele Verhaltensweisen von Autisten darstellen. Dennoch wäre es falsch, den Autisten ausschließlich auf diese Symptome zu reduzieren.

Wie Theunissen & Paetz (2011) aufzeigen, verweist nur eine geringe Abundanz darauf, dass eine Störung des Sozialverhaltens – wie selbststimulierende Handlungen in Form von Autoaggression oder fremdaggressiven Reaktionen – rein organpathologischen Gründen zugrunde liegt (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.103). Daraus lässt sich schließen, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Autisten primär erlernt sein müssen. Was ist damit gemeint? Die Autoren verweisen darauf, stereotypische Verhaltensweisen auch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. So diene dieses, von Nicht-Autisten definierte Problemverhalten, autistischen Menschen oft als Schutzmethode, um sich vor kritischen, „stresshaften Situationen, Überforderungen, Krisen, Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Dekompensationen“ (Theunissen/ Paetz 2011, S.103) in Form von Reizüberflutungen schützen zu können. Daher streben viele autistische Menschen danach, sich zurückzuziehen und sich alleine auf ihre Art mit der Problematik auseinander zu setzen. Dies tun sie oft, indem sie ihren eigenen Körper rhythmisch schaukeln, sich endlos mit Gegenständen beschäftigen oder völlig in sich selbstversunken scheinen. Darüber wird also eine persönliche Erleichterung erreicht. Zudem kann dies als „Lösungsweg, der zugleich Ausdruck eines zweckhaften autistischen Verhaltens, einer Stärke und Kompetenz“ (ebd., S.7) ist, verstanden werden.

Auch die Autistin Jasmine Lee O’Neill kritisiert, dass medizinische Wertungen und Aussagen Außenstehender über autistische Verhaltensweisen oft zu vage seien, um sich ein umfangreiches Bild über den Autismus machen zu können. Oft wird durch diese sogar ein fälschliches Image der Betroffenen publiziert, welches dann von der Gesellschaft unreflektiert übernommen wird (vgl. O’Neill 2001, S.11).

Um dies zu vermeiden, sei es wichtig, dass Autisten als Experten in eigener Sache Gehör verschafft wird. Nur so sei es möglich, diese wirklich aus objektiver Sicht verstehen und sich in deren Lebenswelt einfühlen zu können (vgl. ebd., S.13).

Diese medizinische Fokussierung führt derzeit auch einige autistische Förder- und Therapieprogramme in Grenzbereiche. Weil Autismus-Interventionen fast ausschließlich von Pädagogen, Psychologen, Ärzten und Eltern bestimmt und gestaltet werden, melden sich nun die Betroffenen selbst zu Wort, um mehr Mitspracherecht einzufordern. Sogar viele Spezialisten hätten eine zu eingeschränkte Sichtweise, wobei sie die inneren Empfindungen autistischer Menschen vollkommen außer Acht lassen. Viele von ihnen orientieren sich hauptsächlich an den genannten Klassifikationsmanualen, ohne dabei den Autisten als Mensch an sich zur Genüge zu berücksichtigen und zu akzeptieren. Werte und Kompetenzen der Leidtragenden gingen dabei unter, da sie nicht den gegebenen Standards (Normen) entsprechen würden. Nach Meinung der Betroffenen wird dabei eine vermeintliche Inkompetenz dargestellt, die es ausdrücklich zu heilen gilt (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.17).

Vor allem um die Autismus-Therapie Applied Behavior Analysis (ABA) entbrennt aktuell eine harte und emotionale Diskussion. Dabei fällt immer wieder auf, dass Fachkräfte, Eltern und Autisten unterschiedlicher Meinung über die Anwendungen dieser Therapie sind.



[1] n der Medizin und Psychiatrie werden die Diagnoseklassifikationsmanuale ICD-10 der WHO und der DSM-V der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung als Richtlinien für Krankheiten genommen. Diese Klassifikationssysteme dienen auch vielen Autismuszentren als Orientierung.

[2] Für eine flüssigere Lesbarkeit der Arbeit, werden die Texte im generischen Maskulinum gehalten. Mit dieser Form werden beide Geschlechter angesprochen, außer es wird auf eine spezielle Person verwiesen.

3. Applied Behavior Analysis

3.1 Öffentliche Debatte

In Deutschland wirbt das Institut-Knospe ABA GmbH in Hespe mit Heilungserfolgen: „Dank ABA [...] erzielen jedes Jahr immer mehr Kinder wichtige Fortschritte und erholen sich von den Auswirkungen des Autismus“ (Schramm 2015c).

Um diese Heilung zu erreichen, sei es erforderlich, dass autistische Kinder Verhaltensweisen entwickeln, die keine autistischen Symptome mehr zeigen. Die Frage, ob eine solche Heilung tatsächlich möglich beziehungsweise notwendig ist und wenn ja, mit welcher Intention und Intensität, wird derzeit strittig diskutiert.

Der Regionalverband autismus Mittelfranken e.V., der mittlerweile selbst eine Autistin im Vorstand hat, setzt sich kritisch mit ABA auseinander. Der vierzehnköpfige Vereinsvorstand hat einstimmig beschlossen, auf ihrer Homepage eine öffentliche Stellungnahme gegen ABA zu veröffentlichen. Hierbei wird speziell die Firma Knospe-ABA GmbH kritisiert. Seiner Auffassung nach ist ABA zu erfolgsorientiert. Ergebnisse werden ausschließlich daran gemessen und festgelegt, inwieweit sich das autistische Kind der neurotypischen Umwelt schon angepasst hat.

Er wirft der Intervention vor, um eine „Heilung“ erreichen zu können, werde Autisten ohne Reflexion und unter enormer „Anpassungs- und Kompensationsleistung“ (autismus Mittelfranken e.V. 2015, S.7) ein normorientiertes Verhalten antrainiert. Dabei würde nicht beachtet werden, dass es dem autistischen Kind nur unter immensem Aufwand möglich sei, seinen Autismus unkenntlich zu machen (ebd.). Ob dabei noch das individuelle Wohlbefinden des Kindes gewährleistet werden kann, stellt autismus Mittelfranken e.V. stark in Frage. Das ganze Streben von ABA ziele darauf ab, autistische Stereotypien zu unterbinden. Damit nehme man aber dem Kind jegliche Chance auf ein Schutzverhalten vor Reizüberflutungen der Umwelt und jegliche Möglichkeit auf Partizipation.

Der Vorstand geht sogar noch weiter und stellt die gewagte These auf, dass Autisten nach Beendigung der Therapiemaßnahmen womöglich sogar Folgeschäden davon tragen könnten. Durch den enormen Anpassungszwang trage man mehr zu Unsicherheit, Stress und Minderwertigkeitsgefühlen bei, als dass man dem autistischen Kind hilft (ebd., S.8).

Das eindeutige Statement lautet also, dass ABA eine demütigende Haltung Autisten gegenüber vertritt, indem dem Kind vermittelt wird „Du bist nicht richtig so wie du bist und du musst Dich verändern! “ (ebd., S.9).

Als Resonanz auf diese Stellungnahme folgte unverzügliche eine Gegendarstellung des Instituts Knospe-ABA GmbH. Robert Schramm, der Leiter der Firma, weist diese Anschuldigungen vehement zurück. „Ich würde behaupten, dass dieser Artikel nur eine falsche und extrem irreführende Beschreibung von ABA ist“ (Schramm 2015a). Darüber hinaus sei ABA „der wirkungsvollste, hilfreichste und ethisch vertretbarste Ansatz bei der Autismus-Intervention“ (ebd.).

Die Heftigkeit der geführten Debatte zwischen den beiden Parteien führte sogar dazu, dass sich zwischenzeitlich auch die Fachgruppe Therapie des Bundesverbands Autismus- Deutschland in die Diskussion miteingeschaltet hat. Sie befürchtet, „dass der Austausch dieser beiden Positionen, [...] nicht zu einem konstruktiven Dialog führen wird, sondern zu einer Zuspitzung des Gegeneinanders und weiteren Missverständnissen und damit letztlich zu einer Verunsicherung der Betroffenen und ihrer Angehörigen“ (Rickert-Bolg 2015).

Demzufolge handelt es sich um eine Auseinandersetzung, in der es um die elementare Fragestellung geht, ob ABA sowohl die Partizipation des Klienten berücksichtigt als auch dabei die ethische Würde erhalten bleibt. Denn schlussendlich sollen Therapieformen danach streben, einen bestmöglichen Beitrag zur Inklusion zu leisten. Um das Ausmaß dieser Diskussion zu verstehen und vor allem auch bewerten zu können, ob die von vielen Pädagogen angewandte Autismus-Intervention ABA diesen Beitrag gewährleisten kann, muss tiefer in die Thematik eingestiegen werden. Dazu ist es notwendig, die Debatte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

Zunächst einmal sollen sowohl die Intention als auch wesentliche Schritte der Vorgehensweise ABAs vorgestellt werden.

3.2 Handlungsweisen der Applied Behavior Analysis-Intervention

Applied Behavior Analysis (übersetzt: angewandte Verhaltensanalyse) beruht auf einem behavioristisch, verhaltensanalytischem Ansatz (vgl. Menze 2012, S.15). Das operante Konditionieren (nach Skinner) bietet im wesentlichen das Fundament für die Handlungsweisen von ABA (vgl. ebd.). Dr. Ivar Lovaas setzte diese Art des Konditionierens in den 60er Jahren erstmals am Institut der Universität Kalifornien in Los Angeles (UCLA) bei Kindern mit Autismus um (vgl. Bernard-Opitz 2009, S.246).

ABA beinhaltet verschiedene Anwendungsstrategien (dazu gehören unter anderem das Discrete Trial Teaching, Natürliches Lernen, Verbal Behavior, Pivotal Response Training oder das Picture Exchange Communication System) (vgl. ebd., S.242).

Die Autismus-Intervention ist mit einem Training von circa 20-40 Stunden pro Woche angesetzt und hat zum Ziel, unangemessene Verhaltensweisen zu ändern beziehungsweise abzubauen und adaptive, sozial-kommunikative, angemessene Verhaltensweisen aufzubauen (vgl. ebd., S.246; Rittmann 2014, S.22).

Um dies zu erreichen, werden Dilettanten (z.B. Eltern, Geschwister, Lehrer, Hilfskräfte) zu Co-Therapeuten ausgebildet, indem sie lernen mit sogenannten Unterrichtskontrollen zu arbeiten (vgl. Rittmann 2014, S.21). Für eine vereinfachte Handhabung für Laien, wurde die Methode „auf wenige Basisinterventionen reduziert“ (ebd.).

Mit Basisinterventionen sind Konsequenzen gemeint, wie die positive und negative Verstärkung sowie Bestrafung und Löschung (vgl. Molnár 2005, S.43).

Die positive Verstärkung stellt eine Konsequenz dar, die dazu führt, dass ein erstrebenswertes, psychosoziales Verhalten häufiger auftritt (vgl. Feineis–Matthews/Schlitt 2009, S.231). Hierbei wird zwischen primären (z.B. Lob), sekundären (z.B. Nahrung), sozialen (z.B Zuneigung), materiellen (z.B. Geschenke) – und Aktivitätsverstärkern (z.B. Lieblingstätigkeiten) unterschieden. Diese Verstärker werden immer dann eingesetzt, wenn das Kind gern gesehenes Verhalten zeigt. Die negative Verstärkung wird angewandt, um widriges Verhalten zu löschen beziehungsweise notfalls zu bestrafen (vgl. Molnár 2005, S.43f.; Menze 2012, S.19), wobei die Bestrafung nur zu einem kurzweiligen Ausbleiben des Verhaltens führt und durch die Löschung das ungewünschte Verhalten mit der Zeit völlig ausbleibt (vgl. Molnár 2005, S.44).

Die Eltern haben eine bedeutende Funktion für diesen Prozess (vgl. Feineis-Matthews/Schlitt 2009, S.229). Sie sollen stets die „äußere Kontrolle über Gegenstände“ (ebd.) haben, die „für eine bestimmte Zeit dem Kind als Belohnung zur Verfügung gestellt werden können, jedoch nicht frei zugänglich sein sollten“ (ebd.). Dadurch erlangen die Eltern volle Stimuluskontrolle und können bestimmen, welches Verhalten wann und wie als erwünscht oder unerwünscht angesehen wird und welche Verstärker eingesetzt werden (vgl. ebd., S.223).

Die Handhabung der sieben Unterrichtskontrollen soll im anschließenden Kapitel dargestellt werden.

3.3 Die sieben Schritte zur Unterrichtskontrolle

Hat man sich als Elternteil eines Autisten dafür entschieden, sein Kind mit Hilfe der Therapieform ABA zu behandeln, hat man in der Regel das Ziel vor Augen, sein behindertes Kind von den Ausprägungen des Autismus zu befreien und es dadurch besser in die Gesellschaft zu integrieren.

So sieht ABA ein sehr systematisches und strukturiertes Konzept vor. An dieses müssen sich Eltern, Verwandte und Pädagogen strikt halten, um den maximalen Erfolg der ABA-Therapie erreichen zu können. Basis der Behandlung wird es sein, die sogenannte Unterrichtskontrolle über sein Kind zu erlangen. Diese dient anschließend als Grundlage für die nötige Motivation des Kindes, um neue Fähigkeiten erwerben zu können (vgl. Schramm 2013, S.104). Hierzu ist es nötig, als Außenstehender bewusst in die Umgebung des Behinderten einzugreifen und diese so zu verändern, dass der Betroffene lernt, den Aufforderungen der Gesellschaft wie selbstverständlich nachzukommen (vgl. ebd., S.111). So kann es dem Autisten gelingen ein gleichwertig behandelter und akzeptierter Teil der Gesellschaft zu werden. Dank diesem Ansatz, soll es möglich sein, den „Kampf gegen den Autismus zu gewinnen“ (Schramm 2015b). Hierzu ist es jedoch nötig, sich vollkommen auf die ABA-Methode einzulassen und diese in den Alltag der Familie und besonders in den des behinderten Kindes zu integrieren (vgl. ebd).

Vorgesehen sind genau sieben Schritte, welche bei richtiger Anwendung zum erwünschten Erfolg führen sollen.

Mit dem ersten Schritt der ABA-Therapie werden die nötigen Grundlagen geschaffen, um den Klienten bestmöglich trainieren zu können. Hierzu verschaffen sich die Eltern Kontrolle über wichtige Wertgegenstände und Vorlieben des Kindes. Als Bezugsperson des Behinderten wird man nun während der Trainingszeit darüber entscheiden, wann, wo, ob und wie lange das Kind mit seinem Lieblingsobjekt Zeit verbringen kann und darf. Der Aufbewahrungsort dieser Dinge sollte für das Kleinkind zwar sichtbar, jedoch nicht erreichbar sein. Die Motivation des Kindes mit dem Gegenstand spielen zu wollen, soll dadurch gesteigert werden (vgl. Schramm 2013, S.113). In der Freizeit sollte der Heranwachsende ebenfalls nicht mit Spielmöglichkeiten überflutet werden, um das Interesse an den Verstärkern für Trainingsphasen aufrecht zu erhalten. Der Autist soll im Laufe der Therapie lernen, sich seine Verstärker zu verdienen, indem er klar formulierten Aufforderungen seiner Umgebung nachkommt. Eltern und Pädagogen erlangen so eine starke Kontrolle über das Umfeld und das Verhalten des Autisten. Dies ist der erste entscheidende Schritt, um dem Kleinkind neue Fähigkeiten anzutrainieren.

Im Schritt Zwei wird nun der Fokus auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern beziehungsweise Kind und Therapeut gelegt. Durch einen besonders lustigen, freudigen und aufregenden Umgang mit dem autistischen Kind während der Unterrichtsphase soll es zwischen Kind und Eltern zu einem sogenannten „Pairing“ (ebd., S.115) kommen. Darunter versteht man eine sehr enge Interaktion zwischen dem Kind und dessen Bezugsperson, welche durch nonverbale und deklarative Sprache, verbunden mit einer sehr aufmunternden und spaßigen Art gegenüber dem Kleinkind, erreicht werden soll (vgl. ebd.). Hilfreich hierbei können zahlreiche Verstärker des Behinderten sein, welche in eine enge Verbindung mit den Eltern gebracht werden können. Wichtig ist es zum einen, dem Sprössling alle Spielmöglichkeiten zu erlauben, solange man als Elternteil mitspielen darf und man dadurch die Freude am Spielen bei dem Kind erhöhen kann (vgl. ebd., S.117). Zum anderen sollten sich die Eltern nicht das Recht auf Kontrolle nehmen lassen und bei falschem Benehmen die Spielsituation abbrechen dürfen (vgl. ebd., S.116). Während des Trainings stellt das Pairing einen sehr zentralen Aspekt dar. Es muss ein angemessenes Verhältnis aus Spaß und Lernen möglich sein. Um den besten Erfolg zu erlangen, ist das Pairing stärker gewichtet als das Lernen selbst. Man erhofft sich, die Motivation des Sprösslings während des Unterrichts besonders hoch zu halten (vgl. ebd.). Weiterhin ist zu beachten, dass man keine strikte Abtrennung zwischen Lernen und Spaß vornimmt. Beide Bereiche sollen fließend und abwechselnd ineinander übergehen, damit das Kind keine klare Linie zwischen den beiden Themenbereichen ziehen kann. Nur so kann man verhindern, dass der Autist anfängt selbst entscheiden zu wollen, wann er lernen und wann er spielen will. Hält man sich an das vorgegebene Konzept, gibt es für den Heranwachsenden am Ende nur eine mögliche Entscheidung: „Entweder mit Ihnen arbeiten oder aber keine Verstärkung jedweder Art zu erhalten“ (ebd.). Somit liegt es nahe, dass das Kind sich eher für das Spielen mit seiner Bezugsperson entscheiden wird, als alleine nichts zu tun. Eltern und Pädagogen können über fortlaufendes Pairing ihre Kontrolle über das Verhalten des Kindes immer weiter stärken und noch tiefer in dessen Entscheidungswelt eingreifen.

Im dritten Schritt spielt nun das Vertrauen zwischen dem Autisten und seinen Bezugspersonen eine besonders wichtige Rolle. Dieses Vertrauen kann nur dann entstehen, wenn sich der Heranwachsende immer auf die Aussagen und Handlungen seiner Eltern verlassen kann (vgl. ebd., S.119). Es ist wichtig, sich den richtigen Umgang und eine angemessene Kommunikation mit dem Kind anzueignen. Eltern sollten im Gespräch mit ihrem autistischen Kind ausschließlich klar verfasste Anweisungen geben und sich auf keine Ausreden oder Bitten um eine weitere Chance einlassen (vgl. ebd., S.124). So kann es zwischen den beiden Parteien zu keinen Missverständnissen kommen. Der Autist weiß nach jeder Aussage seiner Eltern, was ihn erwartet. Neben dem starken Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Eltern sollte auch eine intensive Abhängigkeit zwischen dem Verhalten des Kleinkindes nach einer Aufforderung und seinen Verstärkern geschaffen werden. So ist es besonders gut möglich, die Kontrolle über die Lernmotivation und den Lernerfolg zu gewinnen, da das Kind sein Verhalten umgehend mit einer möglichen Belohnung in Verbindung bringen wird und es somit für sinnvoller erachtet, sich für die gewünschte positive Reaktion zu entscheiden (vgl. ebd., S.119).

Ist es erstmals gelungen, diese enge Verknüpfung zwischen Verstärker und Verhalten herzustellen, können die Lieblingsobjekte und Lieblingsaktivitäten des Kindes noch effektiver eingesetzt werden, um das autistische Kind zu unterrichten und zu trainieren. Es wird den Anweisungen selbstständiger und häufiger nachkommen und mehr Begeisterung am Lernen zeigen. Die Verstärker werden den Weg bahnen, um dem Kind neue Fähigkeiten anzueignen (vgl. ebd., S.121).

Schritt Vier dient nun dazu, die in den ersten Schritten erarbeiteten Grundlagen zu verstärken. Man wird beginnen die „Verhaltensentscheidungen“ (ebd., S.128) des Kindes bewusst zu lenken. Hierzu wird man weiterhin den Ansatz verfolgen, klar definierte Aussagen zu treffen. „Wenn-dann-Aussagen“ (ebd.) sind hierbei ausdrücklich nicht erwünscht, im Gegensatz zu den „Erst-dann-Aussagen“ (ebd., S.129). Diese verhindern ein Diskussionspotential und leiten das autistische Kind genau an, was es für einen Verstärker zu tun hat. Auch hier ist vorgesehen, das Kind erst dann zu belohnen, wenn es seine Aufgaben in wünschenswertem Umfang erfüllt hat. Außerdem sollte man dem Autisten eine nächste Belohnung nicht unbedingt ankündigen, da er so anfangen kann abzuwägen, wie viel Anstrengung dieser Verstärker ihm wert ist (vgl. ebd.). Bleibt die Kontrolle den Eltern immer erhalten, kann man das Leistungs- und Lernniveau des Kindes in diesem Stadium stetig vorsichtig steigern (vgl. ebd., S.130). Dazu muss man mit dem Behinderten jedoch täglich konsequent üben. Die erwünschte Unterrichtskontrolle wird somit immer stärker erlangt (vgl. ebd., S.129).

In Schritt Fünf des Trainings werden meist schon einige Erwartungen der Eltern erfüllt. Das Kind sollte begonnen haben, aus eigenem Willen Anweisungen Folge zu leisten und im besten Fall sogar selbst auf der Suche nach neuen Lernmöglichkeiten sein, um anschließend angemessen belohnt zu werden (vgl. ebd., S.130). Tritt dieses Stadium der Therapie ein, ist es den Eltern erlaubt die Verstärker zu minimieren und das „Antwort-Verstärker-Verhältnis“ (ebd.) dem Fortschritt anzupassen. Der Autist wird nun nicht mehr konsequent nach jedem guten Benehmen eine Belohnung erhalten. Die Anzahl der Belohnungen wird stetig gemindert werden, um die Motivation ihres Sprösslings aufrecht zu erhalten. Als weiteres Ziel wird es nun angesehen, das Kind in sein soziales Umfeld bestmöglich einzugliedern, indem man dessen Interesse an sozialem Ansehen und an dem Umgang mit seinen Mitmenschen erhöht (vgl. ebd., S.131). Die sozialen Kontakte sollen zu „künstlichen Verstärkern“ (ebd.) für das behinderte Kind werden.

Schritt Sechs sieht nun vor, sein Kind als Elternteil abermals intensiv zu studieren. Dessen Interessen und Vorlieben sollten andauernd als mögliche Verstärker wahrgenommen und verwendet werden. Zudem wird eine Liste der Lieblingsobjekte erstellt, um das Umfeld eben falls darüber zu informieren (vgl. ebd., S.133). Im weiteren Training sind die Eltern aufgefordert genau zu überlegen, welche Fähigkeiten sie ihrem Kind aneignen wollen. Von den Vorstellungen der Erziehungsberechtigten ist das Lernen des Autisten hauptsächlich abhängig, da diese vorgeben was als richtig und was als falsch angesehen wird (vgl. ebd., S.136). Ziel der Therapeuten und Verwandten des Kindes ist es, „die Welt ihres Kindes in eine umfassende Lernumgebung zu verwandeln“ (ebd., S.137). So gelingt es ihnen, den Autisten durchgehend zu formen und zu trainieren, um die gesetzten Ziele möglichst umfassend zu erreichen.

Der letzte Therapieschritt sieht den Prozess der „Löschung“ (ebd., S.177) vor. Dies wird mit als der schwierigste Schritt des Trainings erachtet. Hier ist es ratsam, einen „Verhaltensberater“ (Schramm 2015b) zur Unterstützung heranzuziehen (vgl. ebd.). Es geht darum, dem Kind problembehaftetes Verhalten abzugewöhnen, indem man darauf keine Verstärker folgen lässt. Der Autist wird diese Reaktionen langsam mindern, weil er versteht in diesem Fall keine Belohnung erwarten zu können. In diesem Stadium zeigt sich abermals die strikte Macht- und Kontrollaufteilung zwischen Kind und Betreuenden. Der Behinderte muss den Forderungen und Zielsetzungen der Erwachsenen nachkommen, damit er an seine geliebten Verstärker gelangen kann (vgl. Schramm 2013, S.177). Der Ansatz der Löschung bedeutet auch für die Eltern eine gewisse Herausforderung und Verantwortung. Der Versuch, eine Löschung durchzuführen kann nämlich sowohl positiv als auch negativ enden. Meistens kommt es zu einem sogenannten Löschausbruch, der dann einsetzt, wenn man begonnen hat ein bestimmtes Verhalten minimieren zu wollen. Dieser Ausbruch führt zuerst zu einer Intensivierung des unerwünschten Verhaltens. Im Anschluss sollte sich dieses langsam reduzieren. Die Kombination aus dem Erlernen neuer Fähigkeiten in den ersten sechs Schritten und dem Erlöschen unangemessener Verhaltensstrukturen im siebten Schritt soll die Eltern zum gewünschten Erfolg, dem „recovery“ ihres Kindes führen (vgl. ebd., S.178).

4. Evidenzbasierte Studien – Ein Beweis für die Wirksamkeit von ABA?

In den letzten Jahren fand ein starker Zuwachs an Forschungen bezüglich verhaltenstherapeutischer Methoden statt.

Erstmals verwiesen Ferster und DeMyer (1961) auf die Möglichkeit, dass durch kontingente Verstärkung autistische Kinder neue Stärken erlangen (vgl. Degner 2011, S.115).

Wie sich zunächst eruieren lässt, finden sich heute zahlreiche Vertreter der ABA-Methode, die wissenschaftliche Belege als Begründung zur Wirksamkeit dieser Behandlungsweise aufführen (vgl. ebd.).

2006 schrieben die Verhaltensforscher Lovaas und Wright, dass mittlerweile über 500 Studien vorhanden seien, die scheinbar die Wirksamkeit von ABA belegen (vgl. ebd., S.116). Von dieser Anzahl an empirischen Belegen waren jedoch nur wenige Studien in der Lage, die Kriterien für einen ausreichenden Beweis (evidenzbasierte Forschung) zu erfüllen. Dazu gehört die Studie Lovaas (1987) und das Follow-up aus dem Jahre 1993 von McEachin, Smith und Lovaas (vgl. ebd., S.117). Des Weiteren zählt man eine neuere Studie des Jahres 2000 von Smith, Groen und Wynn (vgl. Gernsbacher 2003, S.22) hinzu.

4.1 Klassische Lovaas-Studie (1987) und das Follow-up (1993)

Dr. O. Ivar Lovaas und seine Kollegen an der Universität von Kalifornien (UCLA) führten 1987 eine der wenigen Studien durch, die einen Experimentalaufbau mit zwei Kontrollgruppen hatten.

19 Kinder (Durchschnittsalter 35 Monate) wurden mit einer angesetzten 40 Stunden- Trainingswoche in der Experimentalgruppe gefördert. Der ersten Kontrollgruppe wurden weitere 19 Kinder zugeordnet, die allerdings pro Woche nur 10 Stunden Förderung erhielten (vgl. Degner 2011, S.117). Im Gegensatz dazu wurde noch eine zweite Kontrollgruppe erstellt, in der 21 autistische Kinder außerhalb des Projekts Förderung erhielten (vgl. ebd.).

Alle autistischen Probanden hatten laut Beschreibung die gleichen Ausgangsbedingungen. Allerdings beruhte die Auswahl der autistischen Kinder nicht auf einem Zufall und sie wurden auch nicht wahllos in die jeweiligen Gruppen verteilt (fehlende Randomisierung). Dies kann darauf hinweisen, dass eine (möglicherweise unwillkürliche) Suggestion der Ergebnisse durch die Fachkräfte stattfand (vgl. Gernsbacher 2003, S.21).

Nachdem die Kinder eingeschult wurden, wurden sie abermals untersucht. Wie sich dabei zeigte, konnte eine drastische Verbesserung der kognitiven Entwicklung der Kinder aus der Experimentalgruppe festgestellt werden. So war der IQ der Probanden aus der Experimentalgruppe um durchschnittlich 30 IQ-Punkte mehr angestiegen als bei den Kindern aus den Kontrollgruppen (vgl. Degner 2011, S.117).

Im Alter von sieben Jahren erreichten neun Kinder aus der Experimentalgruppe (47%) ein „normales intellektuelles Funktionsniveau“ (ebd.) und konnten erfolgreich das erste Schuljahr meistern. 40% von ihnen verbesserten ihre Fähigkeiten beträchtlich und nur ein kleiner Anteil (10%) der autistischen Kinder wurde anschließend in Spezialklassen eingeschult. In der Gegenüberstellung dazu erreichten in den Kontrollgruppen nur 2% der Probanden ein „normales“ Funktionsniveau (vgl. ebd.).

Einige Jahre später führte McEachin et al. (1993) eine Follow-up Studie durch, um festzustellen, ob die Ergebnisse Lovaas (1987) anhaltend waren. Dabei analysierte er die vorgenannten Kategorien nochmals mit 10 Jahre (Kontrollgruppe) und 13 Jahre (Experimentalgruppe) alten Autisten (vgl. ebd.). Durch die wiederholten Messungen zeigte sich, dass acht der autistischen Kinder aus der Experimentalgruppe von Kindern im selben Alter ohne Autismus nicht mehr differenziert werden konnten (vgl. ebd.).

Mit ähnlichem Design wurden Evaluationen von Birnbauer und Leach (1993), Smith et al. (1997), sowie Sheinkopf und Siegel (1998) durchgeführt, wobei von den drei Studien nur Birnbauer und Leach (1993) einen Experimentalaufbau mit einer Kontrollgruppe nachweisen konnten. Dieser war jedoch wiederum, wie auch bei Lovaas (1987), nicht randomisiert und wies somit ebenfalls methodische Schwächen auf (vgl. Gernsbacher 2003, S.22).

Alles in allem konnten die Ergebnisse der Lovaas-Studie (1987) nie repliziert werden. Kritiker bemängeln, dass diese Vorgehensweise erhebliche Mängel aufweist. So wird rezensiert, dass aufgrund der fehlenden Randomisierung ein hohes Risiko an Manipulation der Ergebnisse besteht. Darüber hinaus führt Degner auf, dass die Kontrollgruppen von Anfang an ein geringeres Leistungsniveau aufwiesen als die Experimentalgruppe, sodass von Beginn an deplatzierte Ausgangsbedingungen herrschten (vgl. Degner 2011, S.117). Vor allem auch die kleine Stichprobengröße (in allen vorgestellten Studien), macht eine Verallgemeinerung nur schwer möglich.

Lovaas und seinem Team wurde vorgeworfen, dass sie die entstandenen Resultate nachtragend an die Untersuchungsbedingungen angeglichen hätten, was ein fundiertes Urteil über die wissenschaftliche Belegbarkeit ABAs stark einschränken würde (vgl. Gernsbacher 2003, S.21).

Als ganz besonders gravierend wird aber angeprangert, dass Lovaas und sein Kollegium bewusst und gezielt aversive Methoden (beispielsweise gezieltes Schlagen) anwendeten, um wirksame Ergebnisse zu erhalten (vgl. Döringer/Müller 2014, S.14).

Von aversiven Anwendungen in diesem Sinne wird heutzutage zwar weitgehend abgelassen, als imposantes Exempel zur Wirksamkeit von ABA wird die klassische Lovaas – Studie von 1987 aber immer noch gerne herangezogen und konsultiert (vgl. ebd.). „Eine Auseinandersetzung oder gar Distanzierung von der Art und Weise, wie diese Ergebnisse erzielt wurden, findet bisher nicht statt!“ (ebd.).

Erst 2000 wurde von Smith, Groen und Wynn eine erste Studie mit zufallsbasierter Kontrollgruppe veröffentlicht.

4.2 Studie von Smith, Groen und Wynn (2000)

Um Kritikpunkten der klassischen Lovaas – Studie zu begegnen und die methodische Strenge zu erhöhen, führten Smith, Groen und Wynn (2000) anhand von 28 autistischen Kindern die erste richtige randomisierte klinische Versuchsreihe durch. Die Kinder waren bei diesen Untersuchungen im Alter zwischen 41 und 117 Monaten (vgl. Gernsbacher 2003, S.22).

Es erhielten 15 Kinder eine intensive Begleitung und Betreuung durch Interventionen nach Lovaas, im Schnitt 25 Stunden pro Woche für den Zeitraum von 18 bis 63 Monaten (randomisierte Experimentalgruppe), während die restlichen 13 Kinder nach Anliegen ihrer Eltern behandelt wurden (randomisierte Kontrollgruppe). Die Studie wurde in verschiedene Kategorien unterteilt, um Messungen spezifischer vornehmen zu können. Dazu gehörten die Bereiche der geistigen Fähigkeit (IQ), schulische Leistungen, sprachliches Ausdrucksvermögen, sozioemotionale Qualifikationen, sowie adaptive Verhaltensweisen (vgl. ebd.).

Die Ergebnisse zeigten im Vergleich zu den vorigen Studien ernüchternde Veränderungen (vgl. Degner 2011, S.117).

Nur zwei der eindringlich nach Lovaas behandelten autistischen Kinder erreichten einen höheren IQ-Wert (IQ über 85) und nur diesen zwei war es möglich, Regelschulen ohne Beihilfe zu besuchen (vgl. Gernsbacher 2003, S.23).

Dies liegt deutlich unter den Ergebnissen von Lovaas (1987) und McEachin et al. (1993). Insgesamt konnten nur in den Bereichen der schulischen Leistungen und des Intelligenztests erkennbare Disparitäten erforscht werden, somit wurden die Ergebnisse Lovaas kaum bestätigt (vgl. ebd.).

Angesichts dieser Tatsache beurteilt Gernsbacher die Studien Lovaas (1987) und McEachin et al. (1993) folgendermaßen: „Given the current state of the sience, claims of ‚cure’ and ‚recovery’ from autism produced by ABA are misleading and irresponsible“ (ebd.). Laut ihm werden Eltern verhängnisvolle Botschaften von „Heilung“ versprochen, an denen jedoch nach den Ergebnissen von Smith et al. (2000) erhebliche Zweifel aufkommen.

4.3 HTA (Health-Technology-Assessment) – Studie (2009)

Die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums 2009 durchgeführte HTA (Health- Technology-Assessment)-Studie kommt ebenso zu einem eingeschränktem Ergebnis (vgl. Döringer/Müller 2014, S.16). Im Rahmen dieser umfassenden Metaanalyse stellte sich heraus, dass zwar eine umfangreiche Anzahl an englisch- und deutschsprachigen Studien zur Wirksamkeit autismusspezifischer Förder- und Therapiemaßnahmen existieren (über 2200 Studien), davon jedoch nur 15 Studien und 6 Reviews in die Analyse aufgenommen werden konnten, da nur diese als „angemessen methodisch ausreichend“ (Rittmann 2014, S.21) klassifiziert wurden (vgl. Döringer/Müller 2014, S.16).

Dabei wurden bewusst nur Studien berücksichtigt, welche sich sowohl auf „frühe intensive Interventionsprogramme“ (ebd.) stützen als auch auf einigen Aspekten der Lerntheorie und Verhaltenstherapie aufbauen (Einbezug von Probanden bis 12 Jahre). Darüber hinaus hatten die in die Revision aufgenommenen Evaluationsstudien verschiedene Vergleichs- und Kontrollgruppen. An dieser Stelle sollte aber erwähnt werden, dass keine dieser ausgewählten 15 Studien in Deutschland durchgeführt und beurteilt wurde (vgl. ebd.).

Alles in allem kamen die Verfasser der HTA-Studie zu der Feststellung, dass nicht aufgezeigt werden konnte, welche Frühintervention bei welchem autistischen Kind am wirksamsten ist. Es lässt sich keines dieser Programme, aufgrund der Vielfalt an Individuen und unterschiedlichen Ausprägung von Autismus, auf alle Betroffenen verallgemeinern. Ganz im Gegenteil, die Forschungen zeigten auf, dass die Therapieeffekte oft erheblich variieren (vgl. ebd., S.15). Und weiter: „Es gibt keine Hinweise, dass bei einem substantiellen Anteil der Kinder eine vollständige Normalisierung der Entwicklung erreicht wird“ (ebd., S.17). Obendrein werden Bereiche wie emotionale Schwierigkeiten, Identitätsentwicklung und Autonomie gar nicht oder kaum mit einbezogen (vgl. ebd.).

So wird die ABA-Intervention zwar derzeit als die erfolgreichste Methode angesehen (vgl. Weinmann et al. 2009, S.90), allerdings muss betont werden, dass diese Therapie nur für einen ausgewählten Bruchteil autistischer Personen entworfen wurde, nämlich für Kinder mit frühkindlichem Autismus. Ebenso kritisch wird angesehen, dass ABA auf abzählbare Basisinterventionen, für eine vereinfachte Delegation für Laien reduziert wurde (vgl. Rittmann 2014, S.21). Auch weisen die Forscher darauf hin, dass wesentliche Konzepte aus der Entwicklungspsychologie (zum Beispiel die Bindungstheorie) in ABA nur mangelhaft oder gar nicht einbezogen wurden. Dies wäre aber nach Ansicht der Wissenschaftler ein wichtiger Bestandteil, um „die Bedeutung eines wechselseitig bestimmten, entwicklungsförderlichen sozialkommunikativen Austauschs zwischen (autistischen) Kindern und ihren Bezugspersonen in den Mittelpunkt der Intervention“ (Döringer/Müller 2014, S.17) zu stellen.

Schlussendlich verweisen die Autoren darauf, dass angesichts des aktuellen Forschungsstandes und hinsichtlich des differierenden Förderbedarfs eine rein verhaltenstherapeutische Ausrichtung als Förderung und Therapie autistischer Menschen nicht ausreicht. Stattdessen empfehlen sie einen multidimensionalen Ansatz.[3]

Hier lässt sich auch noch einmal Schopler (2005) heranziehen, welcher sich ein genaueres Bild über die RCTs verhaltenstherapeutischer Therapien verschafft hat (vgl. Degner 2011, S.118).

Schopler (2005) bestreitet nicht, dass RCTs einen wesentlichen Beitrag für die Interventionsforschung liefern. Allerdings hebt er hervor, dass sich diese ausschließlich auf therapeutische Richtlinien mit einem zeitlich begrenzten Rahmen und einer eindeutigen Absicht beziehen (vgl. ebd.). Damit wird der Rahmen der Forschung jedoch sehr stark eingeschränkt. Es darf hier nicht vergessen werden, dass es aufgrund der Vielfältigkeit und der unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens Autismus unmöglich ist, die Wirkung eines Konzepts ausschließlich an den Ergebnissen der RCTs festzumachen (vgl. ebd.). So befinden sich auch Menschen mit Autismus in einem ständigen Wandel an persönlichen Zielen und Interessen. Oftmals ist ein lebenslanger Bedarf an Unterstützung und Hilfeleistung notwendig. Diese zeitliche Innovation schließt die Forschung jedoch nicht mit ein (vgl. ebd.). Schopler (2005) verweist darauf, dass nicht auszuschließen ist, dass ABA gegenüber anderen Autismus-Therapien nur deshalb einen so großen Erfolg verzeichnen kann, da diese aufgrund ihrer messbaren Ergebnisse, abgestimmten Ziele und Interventionsvorgaben am besten und intensivsten erforscht werden kann. Maßnahmen hingegen, die mit variablen Größen wie „der Lebensqualität, der Selbstbestimmung und dem Niveau der Anpassung an die Gemeinschaft“ (ebd., S.119) arbeiten, lassen sich nur schwer messen und wissenschaftlich belegen.

4.4 Erkenntnisgewinnung

Trotz intensiver Forschungen und Erörterungen zur Überprüfung der Wirksamkeit und Effizienz der Applied Behavior Analysis Therapie lässt sich angesichts der Erkenntnisse aus den Studien schließen, dass der Forschungsstand nach wie vor unbefriedigend ist. Es lassen sich erhebliche Forschungslücken in Bezug auf Aufbau und Durchführung der Methode feststellen. Darüber hinaus wird deutlich, dass bisher nur messbare, wissenschaftliche Erfolge fokussiert werden. Nebenwirkungen oder gar Langzeitschäden aufgrund therapeutischer Maßnahmen wurden bisher außer Acht gelassen (vgl. ebd., S.118). Angesichts der Tatsache, dass das Augenmerk der Forschung derzeit weitgehend auf ein rein wissenschaftliches Menschenbild gerichtet ist, kann man sagen, dass bisher missachtet wurde, essentielle Hypothesen und Erkenntnisse in Bezug auf Ethik, Selbstbestimmung, sowie die freie Entfaltung der Persönlichkeit autistischer Menschen miteinzubeziehen (vgl. Döringer/Müller 2014, S.17). Es ist jedoch ausschlaggebend und unvermeidbar, diese bestehenden Forschungslücken für eine bedenkenlose Beurteilung der Autismus-Therapie ABA zu füllen. Erst dann kann man wirklich von „Wirksamkeit“ sprechen.

Maßgebend für diese Arbeit ist es daher, statt sich rein auf theoretisch sichtbare Fortschritte zu stützen, ABA sowohl aus einem ethischen Blickwinkel als auch aus der Sichtweise der betroffenen Autisten selbst zu erörtern.

Die emotionale Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern der ABA-Intervention ist sicherlich auch zum Teil auf das Fehlen solcher Untersuchungen und die nicht vorhandenen Wertmaßstäbe für Behandlungsformen zurückzuführen.



[3] Vgl. hierzu beispielsweise Rittmann 2011, S. 245-262.

5. Ethik als Grundlage der Sozialen Arbeit

5.1 Normalität und Menschenbild – Zwang zur Anpassung?

Es ist auffallend, dass der Begriff „Normalität“ „sich im alltäglichen Sprachgebrauch zum sozialen Orientierungs- und Klassifikationsbegriff ersten Ranges entwickelt“ hat (Wildfeuer 2007, S.320). Aber was ist „normal“?

Das Normalitätsverständnis ist ein gesellschaftliches Konstrukt und es wird dabei ein Menschenbild impliziert, das ein Ideal vorgibt, wie der Mensch nach allgemeinem Verständnis zu leben, sich zu verhalten oder aufzutreten hat (vgl. Radtke 1996, S.78). Dies führt unweigerlich dazu, dass dem Menschen ein gewisser Zwang auferlegt wird, sich diesem Ideal anzunähern beziehungsweise anzupassen.

Trotz einer Zeit der Dynamik, des Individualismus und der Vielfalt verschiedener Lebensstile gilt für ein soziales Miteinander immer noch ein gewisser Maßstab des vermeintlich „Richtigen“ oder „Falschen“.

Als „normal“ gilt derjenige, der sich nach herrschenden Normen ausrichten lässt (vgl. Wildfeuer 2007, S.322). Menschen werden dabei beurteilt, ohne als Person genauer betrachtet und hinterfragt worden zu sein (vgl. ebd., S.320). Wer sich nicht reibungslos in ein vorgegebenes gesellschaftliches System eingliedern kann, gilt als „behindert“ oder „abnormal“ (vgl. Radtke 1996, S.74).

Es versteht sich von selbst, dass behinderte Menschen (und somit auch Autisten) in diesem Sinne kein „normales“ Leben führen, wenn man Normalität am Durchschnittswert der Gesellschaft fest zu machen vermag (vgl. ebd.). Einem Idealbild nachzueifern fällt bereits Menschen ohne Handicap nicht leicht. Diesen Anspruch an einen Autisten zu stellen, scheint beinahe unmöglich und trotzdem vertritt die Gesellschaft den Standpunkt, dass jeder Mensch diesem Leitbild weitgehend entsprechen solle, um als „normal“ angesehen zu werden.

Im Sinne dieses Normalitätsverständnisses, „ziehen wir eine bestimmte Norm einer anderen vor, weil wir uns wünschen, bestimmte Vorrangigkeiten zu schaffen, mit Hilfe derer wir mit jenen Bedingungen umgehen, die wir von uns fern halten wollen“ (Wildfeuer 2007, S.335). Hierbei gerät man schnell in eine kränkende, inadäquate und diskriminierende Zuschreibung, die Stigmatisierung und Zwang zur Anpassung selbstredend impliziert (vgl. ebd., S.325).

Aufgrund unserer Individualität gibt es den Idealmenschen nicht. Jeder Mensch wird mal mehr und mal weniger dem vorgegebenen Maßstab entsprechen und je nachdem besser oder schlechter in die Gesellschaft aufgenommen werden.

„Gewiss kann die Medizin nicht darauf verzichten, sich an Normen des ein oder anderen Typus zu orientieren, dennoch liefern allein diese Normen keinen Begriff von Krankheit oder Behinderung. – Eine Normalitätsvorstellung, kann nur dann mit unserer Auffassung von Gesundheit und Krankheit einhergehen, wenn sie auf dem Hintergrund der Kontingenten und individuell differenten menschlichen Natur interpretiert wird, zu der auch das Leiden des Kranken gehört“ (ebd., S.336).

Um dieser Unausgeglichenheit behinderter Menschen entgegenzusteuern, wurde in den 1950er Jahren das Normalisierungsprinzip entwickelt, welches mittlerweile unter der Bezeichnung „Gleichstellung behinderter Menschen“ im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)[4] gesetzlich verankert ist.

Es hat sich zum Ziel gesetzt, unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung so weit es geht ein normales Leben zu ermöglichen (vgl. Thimm 2008a, S.14).

Thimm fordert klar dazu auf, behinderten Menschen die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen, wie sie auch eine neurotypische Person hat. Sowohl im wirtschaftlichen, sozialen als auch im kulturellen Bereich dürfen keine Unterschiede gemacht werden (vgl. Thimm 2008b, S.224). Autisten sollen die selben Rechte wie ihre Mitmenschen haben. Behinderung darf kein Grund für Benachteiligungen in der Gesellschaft sein.

Laut Nirje lassen sich diese Bedingungen an acht wesentlichen Grundzügen orientieren. Dies sind: ein normaler Tagesrhythmus; Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen; normaler Jahresrhythmus; normaler Ablauf und Erfahrungen des Lebenszyklus; Respekt vor dem Individuum und dessen Recht auf Selbstbestimmung; Geschlechtergleichheit; normaler wirtschaftlicher Standard sowie Umweltmuster und Standards innerhalb der Gemeinschaft (vgl. Thimm 2008a, S.21f.). Grundlegend ist die Idee dieses Normalisierungsprinizps nicht verwerflich, jedoch ist es fraglich, ob eine Umsetzung in diesem Ausmaß überhaupt möglich ist.

Betrachten wir „Normalität“ einmal aus einem anderen Blickwinkel. Auch behinderte Menschen sind autonome Wesen, mit einer eigenen „Werteskala des ‚Normalen’“ (Radtke 1996, S.75) und ein Teil der Gesellschaft. Würde man laut Wildfeuer „Normalität“ auf einen glücklichen Tatbestand und Zufriedenheit zurückführen und am Glücksstreben eines jeden Menschen messen, kommt ein völlig neues Licht in diesen Sachverhalt.

Kant beschreibt es so: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“ (KpV AA V, 25 zit. nach: Wildfeuer 2007, S.338).

Damit meint er auch, dass es verschiedene Optionen des Glücks gibt und sich menschliches Glück ebenso in zahlreichen verschiedenen Absichten widerspiegeln kann (vgl. Wildfeuer 2007, S.338).

Verfolgt man nicht das Ziel glücklich zu sein, so kann man diesen Zustand als „abnormal“ bezeichnen, denn jeder wünscht sich innerlich zufrieden zu sein und jeder von uns ist auch dazu veranlagt, nach dem Glück zu streben.

Mit Blick auf die Normalität besitzt dies Gültigkeit, solange ein Rahmen individueller Privatsphäre gegeben ist (vgl. ebd.).

In diesem Punkt kann man sich jedoch erneut die Frage stellen, ob es überhaupt jemandem gelingen kann vollends glücklich zu sein. Wildfeuer zieht es nach dieser These vor, uns alle als „Nicht-Idealisten“ zu betiteln, da niemand dem vorgegebenen Maßstab des „Glücklichseins“ gerecht werden kann. Er weist somit darauf hin, dass wir alle in gewisser Weise „gehandicapt“ oder auch „behindert“ sind. Denn das Erreichen eines vollkommenen, unübertroffenen, makellosen Ideals ist immerhin nur ein Wunschbild (vgl. ebd., S.339).

Nach diesem Konzept gilt nicht derjenige als normal, der „dem Idealen“ am nächsten kommt sondern normal ist es, eine Idealvorstellung zu haben, die es zu verfolgen gilt.

Von sozialer und gesellschaftlicher Gerechtigkeit kann erst dann die Rede sein, wenn eine Chancengleichheit bei der Suche nach den eigenen individuellen Glück vorherrscht. Eine reine Orientierung an einem statistischen Normalitätskonzept lässt dies jedoch nicht zu (vgl. ebd.).

Auch therapeutisch-pädagogisches Handeln zielt meist auf die „Normalisierung“ autistischer Verhaltensweisen ab, daher fordert Autism Rights Movement:

„Anstatt Autisten durch Therapien einer Anpassung an das Umfeld zu unterziehen, muss es im Einverständnis von Neurodiversität zu einer gegenseitigen Akzeptanz kommen, in deren Folge ein Streben nach Normenkonformität unnötig ist und stattdessen ein Umfeld existiert, welches allen Menschen erlaubt, sich in ihrer individuellen Art des Seins darin wieder zu finden“ (Theunissen/Paetz 2011, S.49).

Nach dem Autism Rights Movement soll nicht der Wille der nicht-autistischen Menschen, den Behinderten helfen zu wollen, an sich kritisiert werden. Vielmehr soll die Art und Weise, wie die therapeutisch-pädagogische Unterstützung durchgeführt wird, angeprangert werden. Sich von dem Ansatz der „Normalisierung und Anpassung“ loszulösen und sich auf eine neurodiverse Gesellschaft einzulassen, wird als empfehlenswerter und unabdingbarer Schritt erachtet (vgl. ebd.).

5.2 Die Würde des Menschen im Zusammenhang mit Selbstbestimmung

Um dem Druck des Idealisierungs- und Normalisierungsgedanken der Gesellschaft entgegen zu wirken beziehungsweise Stand zu halten, ist es notwendig ein Selbstverständnis entwickeln zu können, um dann emanzipiert leben zu können. Nur durch eine gesunde Selbstbestimmung kann man den Zwängen der Gesellschaft entkommen und seine eigenen Lebensvorstellungen verwirklichen. Besonders Menschen mit Behinderung wird oft die Chance und das Recht darauf verwehrt, ihrem eigenen persönlichen Bewusstsein Ausdruck zu verleihen (zum Beispiel die eigene Entscheidung zu treffen, wann man Blickkontakt aufnehmen möchte, angefasst werden möchte oder wie viel man von sich selbst preisgibt).

Einführend in diese Thematik, ist zunächst der Einbezug des Menschenwürdepostulats vonnöten. Die Menschenwürde steht für jeden Menschen unabhängig und vorurteilsfrei von seinem Alter, seinem Können, seiner gesundheitlichen Verfassung, seinem intellektuellen Leistungsvermögen, sprachlichen Ausdrucksvermögen oder der Intensität seiner Hilfsbedürftigkeit (vgl. Wunder 2012, S.4).

Alle ethischen Richtlinien der Sozialen Arbeit lassen sich auf die Grundwerte „Eigenverantwortlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz“ (Gruber 2005, S.50) zurückführen, welche sich ebenfalls als die Grundlagen der Würde der Menschen definieren lassen. Der wichtigste Anspruch der Sozialen Arbeit ist somit, sich stets dieser Werte bewusst zu sein und sie als Basis für ihre Arbeit anzuerkennen, um so die Würde eines jeden Menschen bewahren zu können (vgl. ebd.).

Bereits Kant formulierte, dass jedem Individuum ein „absoluter, unbedingter Wert“ (Kant 1974b, Nr. 434 zit. nach: Gruber 2005, S.51) zukommt, der in der „Freiheit der Selbstbestimmung“ (Gruber 2005, S. 51) besteht. Unter dieser freien Selbstbestimmung versteht Kant vor allem, dass jeder Mensch Herr seines eigenen Willens ist. Das bedeutet, dass jeder von uns sein eigener Gesetzesgeber und Vertreter ist (vgl. Conradi 2012, S.169). Er definiert Selbstbestimmung als zentralen, unbedingt zu berücksichtigenden Aspekt in Bezug auf die Menschenwürde. Dies begründet er, indem er den Menschen als autonomes Wesen definiert, das seinen Mitmenschen sehr ähnlich ist, für diese sorgt und sich gegenseitig unterstützt (vgl. ebd., S.173). Vernachlässigt man diese Würde, so wie Kant sie definiert hat, nimmt man in Kauf, den Menschen nur noch als „bloßes Mittel“ (Gruber 2005, S.52) zu verstehen und ihn entsprechend respektlos zu behandeln. Dieses ethische Grundprinzip nennt Kant den praktischen Imperativ: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 1974b, Nr. 429 zit. nach: Gruber 2005, S.52).

Kants Moralphilosophie ist jedoch in Bezug auf die Menschenwürde und Menschenrechte von behinderten Menschen nur schwer anzuwenden.

Denn die angeführten Annahmen Kants, dass alle Menschen gleichwertig, gleichgestellt und gleich autonom sind, sowie dass alle einen gleichen Machtanspruch innehaben, trifft leider, schon wegen der oft unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten beziehungsweise Chancen, in der Realität nicht zu. Besonders, wenn man den Blick auf behinderte Menschen richtet, ist dies nicht immer der Fall und oftmals auch in dieser Form der Beschreibung nicht umsetzbar. Ein ausgeglichenes Geben und Nehmen zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen gestaltet sich größtenteils schwierig (vgl. Conradi 2012, S.173).

Des Weiteren setzt Kant in seinen Ausführungen die Begrifflichkeiten „Selbstbestimmung“ und „Selbstständigkeit“ in ihrer Bedeutung gleich. Dies sollte so jedoch nicht stehen gelassen werden, da eine eingeschränkte Selbstständigkeit – beispielsweise durch eine Sprachbehinderung – nicht zwangsweise eine Fremdbestimmung zur Folge hat. Ist man durch eine körperliche oder geistige Behinderung auf Hilfe und Unterstützung angewiesen und deshalb in einer gewissen Form von anderen Menschen abhängig, versteht man darunter nicht automatisch eine Fremdbestimmung (vgl. Niehoff-Dittmann 1996, S.58).

Man kann Selbstbestimmung, anders als Selbstständigkeit, also nicht an den persönlichen Fähigkeiten eines Individuums festmachen beziehungsweise daran messen. Selbstbestimmung definiert sich vielmehr darüber, inwieweit es einem Menschen möglich ist, über Aspekte des eigenen Lebens selbst verfügen zu können. Dies gelingt einem Behinderten dann, wenn er seine Betreuer weitgehend anleitet und über deren Hilfsangebote frei entscheiden kann (vgl. ebd.). Denn für eine behinderte Person können Handlungen, wie eine einfache Umarmung, durchaus Stress verursachen. Es sollte ihm also möglich sein, über solche Situationen selbst entscheiden zu können. Für die Bezugspersonen des Behinderten ist dies nicht immer leicht, da solche Situationen für sie selbst meist alltäglich und selbstverständlich sind (vgl. Röh 2009, S.64).

Viele trauen autistischen Menschen nur sehr wenig bis gar nichts zu und konzentrieren sich deshalb mehr auf deren Schwächen als auf deren Stärken. Das hat zur Folge, dass man Menschen mit Beeinträchtigung oft unterschätzt indem, was sie selbst leisten können und sie mit Fürsorge und Hilfe überschüttet. Dies kann schnell zu einer Art Bevormundung und persönlichen Einschränkung des Autisten führen. Individuelle Fähigkeiten und Sehnsüchte des Behinderten finden hierbei nur wenig Platz und werden somit stark begrenzt.

Niehoff-Dittmann schrieb hierzu: „Weil Entscheidungen immer von anderen Personen getroffen werden, gibt es keinen Grund für die behinderte Person, selbst zu wählen und damit Verantwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen. Es gibt folglich auch keine Möglichkeiten, die Entscheidungsfähigkeit stufenweise zu erlernen“ (Niehoff-Dittmann 1996, S.56).

5.3 Care Ethik – Achtsamkeit als ein zentraler Aspekt der Ethik

Will man Inklusion bei behinderten Menschen erreichen, so ist eine vorurteilsfreie, akzeptierende Beziehung zwischen Autisten und Nicht-Autisten unumgänglich. Wie bereits angeführt, können in dieser Konstellation schnell Komplikationen, wie beispielsweise eine Bevormundung des Beeinträchtigten durch seine Bezugspersonen, auftreten. Um diesen Problemen entgegenzuwirken, ist es ratsam, sich das Konzept der Care-Ethik vor Augen zu führen. Hierbei steht die Achtsamkeit eines jeden Individuums im Fokus und wird nicht an der Autonomie eines Menschen festgemacht (vgl. Conradi 2013, S.11). Es wird deutlich, dass jedem Menschen, auch geistig oder körperlich Behinderten, eine gewisse Fürsorge (Care) zusteht, die durch ihre Mitmenschen geleistet wird.

Insofern kann man Autonomie nicht als absolute Unabhängigkeit verstehen, da jedes Individuum weitgehend in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden ist und somit Prozesse bewusst gemeinsam mit seinen Alltagsbegleitern gestaltet und entwickelt (vgl. ebd., S.10). An diesem Punkt setzt die Care-Ethik an. Diese möchte hinterfragen, wie genau der richtige Umgang mit hilfebedürftigen Menschen aussehen könnte, ohne Bedrängung, Bevormundung oder auch eine Selbstaufopferung entstehen zu lassen. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wie man nötige Förder– und Unterstützungsmaßnahmen aussichtsreich gestalten kann, sodass ein homogenes Miteinander möglich ist (vgl. Großmaß 2014, S.1). Betrachtet man diese beiden Ansätze der Care-Ethik genauer, so fällt auf, dass Inklusion den Grundsatz verfolgt, seinen Mitmenschen achtsam und gleichgesinnt zu behandeln. Die Förderung und Unterstützung Hilfebedürftiger hingegen basiert auf der Vorstellung, dass eine bizarre Benachteiligung besteht, die es zu kompensieren gilt (vgl. ebd.). Diese beiden Ansätze versucht die Care-Ethik in Einklang zu bringen.

Im Zentrum aller care-ethischen Aspekte stehen also der gegenseitige Rückhalt und die Achtsamkeit für Andere sowie Verantwortung und Respekt in der wechselseitigen Beziehungsgestaltung (vgl. Großmaß 2006, S.330). Damit ist nicht nur die Mikroebene gemeint, sondern auch eine Aufmerksamkeit und gegenseitige Bereitschaft zur Unterstützung auf der Makroebene (vgl. ebd., S.331).

Auf solche wechselseitigen Hilfeleistungen ist jeder Mensch zu gewisser Zeit angewiesen. Jeder wird einmal als Hilfebedürftiger gelten und Fürsorge von Anderen benötigen (beispielsweise als Baby oder alternder Mensch) (vgl. Großmaß 2014, S.2). Dadurch findet eine ständige Wechselbeziehung statt, die dafür sorgt, dass jedes Individuum als Gebender und Nehmender in eine ganzheitliche Gemeinschaft eingebunden ist.

Somit stellen auch versorgende, vorantreibende, pflegende, unterstützende Maßnahmen und Beziehungen alltägliche Asymmetrien dar, die darauf basieren, „dass die eine Seite geben und leisten kann, was die andere braucht“ (vgl. ebd.).

Dieses Wechselverhältnis gestaltet sich in der Praxis jedoch meist schwierig und verhält sich häufig nicht reziprok. Oft kommt es zu einer „Kolonialisierung des anderen als Hilfebedürftigen durch moralische Ansprüche“ (Röh 2009, S.76) oder auch zu einer Überversorgung.

Um diesen falschen Umgang zu vermeiden, zieht Großmaß die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Joan Tronto (1993) heran, welche Care-Interaktionen genauer analysiert hat. Tronto versteht Care-Kontakte als gesellschaftlichen Akt, der sich durch die vielen zwischenmenschlichen Beziehungen auszeichnet (vgl. Großmaß 2014, S.3). Trontos Ziel ist es, sich der Herausforderung dieser Care-Verhältnisse zu stellen und zwischen der Abhängigkeit der Hilfebedürftigen und ihrem Gleichheitsstreben ein ausgeglichenes Verhältnis herzustellen (vgl. ebd.).

Hierfür sieht Tronto vier Phasen vor:

Phase 1: Caring about

In dieser Phase geht es darum, Wünsche, Sehnsüchte, Interessen und Verlangen Anderer in Augenschein zu nehmen, Anmerkungen anderer Persönlichkeiten innezuwerden und sich deren Bedürfnisse bewusst zu werden. Der Fokus liegt darauf, wo Unterstützung von außen gefragt ist (vgl. Großmaß 2006, S.331).

In dieser Phase gilt es als Außenstehender zu erkennen, ob eine Hilfeleistung überhaupt erforderlich und gewünscht ist und wenn ja, warum diese vonnöten ist (vgl. ebd., S.334).

Phase 2: Taking care of

Hier findet die Entscheidung und Abwägung der zu aktivierenden, hilfeleistenden Interventionen statt. Dazu werden sowohl die eigenen Fähigkeiten als auch die des Anderen überprüft und mobilisiert (vgl. ebd., S.331). Hierbei sollte zudem genau hinterfragt werden, was sowohl der Helfende als auch der Hilfebedürftige fähig sind zu leisten. Zudem sollte man sich vor Augen führen, wie viel Unterstützung überhaupt nötig ist, um eine Überversorgung vermeiden zu können und dem Bedürftigen ausreichend Freiraum zum eigenständigen Handeln einräumen zu können (vgl. ebd., S.334).

Phase 3: Care giving

Mit dem Ziel die Bedürftigkeit der hilflosen Person zu mindern, findet nun mit Hilfe der zuvor abgewägten Ressourcen und Mittel eine Intervention statt (vgl. Großmaß 2014, S.4). Der Fokus liegt auf den Aspekten „Nähe und Distanz, Körperlichkeit und Würde“ (Großmaß 2006, S.335), welche unbedingt ethisch hinterfragt und analysiert werden müssen. Es ist also intensiv darauf zu achten, der hilfebedürftigen Person sowohl Anerkennung als auch Hilfe zukommen zu lassen. Besonders in der sozialpädagogischen Hilfeleistung befindet man sich immer in einem Spannungsfeld zwischen Autonomie und gewissen Vorgaben. Trotzdem sollten immer beide Verantwortungsbereiche ausreichend ethisch betrachtet werden (vgl. ebd.).

Phase 4: Care receiving

Letztendlich gilt es, die angewandten Unterstützungsmaßnahmen und das Verhältnis zwischen Helfendem und dem Hilfeempfänger zu verifizieren. Es muss reflektiert werden, wie umfangreich und genau man als Helfender die Lage des Betroffenen erkannt hat und ob die anschließende Hilfestellung wirklich angemessen, hilfreich und bedachtsam durchgeführt wurde. Zudem sollte man einen kurzen Blick auf die nähere Zukunft des Betroffenen richten,

um gegebenenfalls weitere Unterstützung leisten zu können (vgl. Großmaß 2014, S.4). Grundsätzlich wird sich der Hilfebedürftige jetzt jedoch weitgehend selbst überlassen, damit er seinen eigenen Lebensweg, mit Hilfe seiner eigenen Fähigkeiten und Stärken, gestalten kann. Der Hilfeleistende sollte ihm ermöglicht haben, ohne ihn grundsätzlich zu verändern, dies nun selbstständig tun zu können (vgl. ebd.).

Im Sinne dieser Care-Ethik bedeutet das, besonders für sozialpädagogisch geschulte Menschen, sich der Bedürfnisse autistischer Menschen innezuwerden und diese zu verstehen. Oft heißt das auch bestimmte Verhaltensweisen und Dinge einfach hinzunehmen, ohne sie sofort anprangern und verändern zu wollen, um somit auch Vertrauen aufbauen zu können. Dies ist letztendlich die Grundlage, um umfangreiche Hilfe und langfristige Unterstützung zu leisten (vgl. Müller-Teusler 2011, S.328).

5.4 Das Empowerment-Konzept

Um eine Negierung zu vermeiden, spielt für das sozialpädagogische Handeln vor allem das Empowerment-Konzept eine bedeutende Rolle.

Das Konzept beruht darauf, dass jeder Mensch seinen individuellen Lern- und Entwicklungsterminus hat, mal schneller, mal langsamer; dies gilt es zu tolerieren. Dazu gehören auch uneinheitliche Lebensstile, die vielleicht manchmal etwas unüblich oder fremd scheinen mögen (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.22).

Das Empowerment-Konzept agiert auf verschiedenen Ebenen, die in einer ständigen Wechselbeziehung zueinander stehen.

So verweist die subjektzentrierte Ebene darauf, anstatt sich rein auf medizinische Symptome zu konzentrieren, auch individuelle und soziale Ressourcen miteinzubeziehen (vgl. ebd.; Theunissen 2007, S.77).

Ziel ist es, Menschen mit Benachteiligung selbst zu bemächtigen. Sie sollen sich ihrer eigenen Stärken und Kompetenzen bewusst werden und diese einsetzen, um ihren persönlichen Werdegang und alltägliche Herausforderungen möglichst autonom meistern zu können (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.22f.).

Auch laut Weick et al. (1989) hat jedes Individuum zahlreiche „Talente, Fähigkeiten, Kapazitäten, Fertigkeiten und auch Sehnsüchte“ und weiter heißt es: „Menschen wachsen nicht durch Konzentration auf ihre Probleme – im Gegenteil, dadurch wird das Vertrauen in die eigene Fähigkeit sich auf selbstreflektierende Weise zu entwickeln, geschwächt“ (Weick et al. 1989, S.352f. zit. nach: Theunissen/Paetz 2011, S.21f.).

Zu betonen ist, dass das Konzept dabei Beeinträchtigungen (ob psychisch oder physisch) nicht in den Schatten stellen möchte. Diese „Defizite“ sind durchaus ein Teil des Individuums und erschweren oft den Alltag, sodass Mithilfe als Unterstützung oft adäquat und wichtig ist (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.22f.; Theunissen 2007, S.78).

Dabei werden bei dieser Methode neben Assistenten mit „advokatorischer Funktion“ (Theunissen 2007, S.82) auch Methoden herangezogen, die alleinig auf das Individuum selbst zugeschnitten sind. Das sind beispielsweise individuelle Routineübungen zur Alltagsbewältigung, psychosoziale Einzelfallhilfe oder für Menschen mit verbaler Einschränkung augmentative und alternative Kommunikationsmethoden (vgl. ebd., S.77f.; 82). Da sich Potenziale erst durch ein Zusammenspiel aus der Leistungsfähigkeit des Subjekts und aus dessen Umfeld optimal entfalten können, ist es nicht nur wichtig, dass das Individuum seine Fähigkeiten erkennt und nutzt, sondern auch sein soziales Umfeld.

„Wenngleich die Arbeit mit dem Einzelnen im Vordergrund steht, schließt die Subjektzentrierung kontextorientierte Maßnahmen nicht prinzipiell aus (z.B. Erschließung von Umfeldstärken)“ (ebd., S.78). Grundbasis bietet in erster Linie die Familie. Im Sinne des „Empowered Family Model“ (ebd., S.179) sollen, anstatt dem Versuch das autistische Kind an eine Norm anzupassen, die Hilfeleistungen der Eltern gezielt auf den Stärken und Kompetenzen ihres Sprösslings aufbauen. Dies gelingt den Eltern dann, wenn sie sich zunächst ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten vor Augen führen und diese dann so nutzen, dass sie „zur Verbesserung der Lebensbedingungen [,] [...] ihrem behinderten Kind bei der Entwicklung und Verwirklichung von Autonomie im Sinne von Empowerment behilflich sein können“ (ebd.). Dazu ist es auch wichtig, dass sie ihr eigenes Handeln stets reflektieren und externe Fördermaßnahmen überdenken, um ihre advokatorische Funktion erfüllen zu können.

Nicht immer wissen Fachkräfte besser, was „das Richtige“ für das Kind ist. Kritisch wird es vor allem dann, wenn Eltern „als ‚Vollzugsgehilfen’ therapeutischer oder pädagogischer Kräfte“ (ebd., S.177) miteinbezogen werden, sie aber den Ansprüchen, Erwartungen und Aufforderungen der Experten nicht gerecht werden können und mit „Insuffizienz- oder Schuldgefühlen reagieren“ (ebd.), da sie gewisse Anleitungen mit ihrem elterlichen Gewissen nicht vereinbaren können. Unter diesem elterlichen Druck leidet vor allem das Kind (vgl. ebd., S.178).

Simultan möchte die gruppenbezogene Ebene zu einer Netzwerkausdehnung animieren. Das heißt, Betroffene sollen ihre Protektionen erweitern, um von verschiedenen Beziehungen, wie zu Angehörigen, Bekannten- oder Freunden Hilfestellung oder soziale Ressourcen erhalten zu können (vgl. ebd., S.78).

Zusätzlich soll auf dieser Ebene motiviert werden, sich zu Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen, um Menschen in ähnlichen Lebenslagen kennenzulernen. Dort kann man sich austauschen und gemeinsam Probleme und Anliegen besprechen und bewältigen (vgl. ebd., S.78f.).

Mit der institutionellen Ebene soll erreicht werden, dass speziell die Menschen, die in öffentlichen Einrichtungen leben, ein Mitspracherecht für eine bessere Gestaltung der Institutionen verliehen wird (vgl. ebd., S.79f.).

Dazu ist es empfehlenswert, alle Beteiligten (beispielsweise Betroffene, Bezugspersonen sowie die gesamte Belegschaft usw.) miteinzubeziehen und gemeinsam neue Entwicklungen einzuleiten. So kann eine kollaborative und demokratische Gestaltung und Teilhabe erreicht werden (vgl. ebd., S.81f.).

Die sozialpolitische und gesellschaftliche Ebene des Empowerment-Konzepts setzt sich für eine gleichberechtigte Gesellschaftspolitik ein. Das heißt, dass behinderte Menschen nicht räumlich ausgegrenzt werden dürfen und Ausschüsse, Wahlen, Resolutionen, Instanzen der Behindertenarbeit im Sinne der Betroffenen beschlossen und eingesetzt werden sollen. Außerdem sollen „Menschen in marginaler Position, Selbsthilfe-Initiativen oder selbstorganisierten Netzwerken“ (ebd., S.82) in regional-kommunalen Unterredungen sowie in politischen Gremien zu Rate gezogen werden und eigene Wünsche, Bedürfnisse, Vorschläge ausdrücken und miteinbringen können (vgl. ebd., S.82f.).

Ebenso setzt sich dieses Konzept für eine sensibilisiertere Öffentlichkeit ein, um mehr Verständnis für Menschen mit Beeinträchtigung zu erreichen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die vierte Ebene zum Ziel hat „Diversity, Inklusion und Gerechtigkeit auch in die Gesellschaft zu tragen und diese durch aktive Partizipation zu einer humanen Gestalt zu verändern“ (Theunissen/Paetz 2011, S.23).

5.5 Inklusion statt Integration

Rückblickend auf die geschichtliche Entwicklung des Umgangs und der Arbeit mit behinderten Menschen lassen sich vier wesentliche Perioden der Veränderung erkennen: von der Exklusion[5] zur Segregation[6] zu der bis heute weitanhaltenden Integration. Derzeit findet ein dynamischer, notwendiger, aber auch stark debattierter Wandel in die vierte Periode der Inklusion statt. Auf die letzten beiden Perioden wird nun etwas genauer eingegangen.

In der Phase der Integration kam es langsam zu einem veränderten Blickwinkel, wo behinderte Personen als sozial Benachteiligte erkannt wurden (vgl. Theunissen/Schwalb 2012, S.12).

Zwar stehen hier die Schwächen der Betroffenen noch weitgehend im Vordergrund, aber man erkennt auch eine bestehende soziale Ungleichheit. Vor allem gesellschaftliche Barrieren versperren den Zugang zur Öffentlichkeit, dies zeigt, dass eine verringerte Teilnahme nicht allein den individuellen Defiziten zuzuschreiben ist (vgl. ebd., S.12f.).

Aus diesem Grund versucht man vermehrt benachteiligte Menschen in die Welt der „nicht Behinderten“ „strukturell Einzugliedern“ (ebd., S.13).

Man strebt an, diese in bereits existierende Systeme zu integrieren. Das System und Regime selbst ändert sich dabei aber nicht wesentlich.

So ist zwar die Person lokal integriert, aber seine Relation zur Umgebung hat sich nur räumlich verändert, menschlich gesehen bleiben Disparitäten weiterhin erhalten, sodass sich die integrierte Person nach wie vor den bestehenden Formen der Gesellschaft anpassen muss (vgl. ebd.).

Demzufolge handelt es sich um eine Welt, in der „zwischen integrationsfähigen und integrationsunfähigen Personen differenziert“ (ebd., S.15) wird. Das lässt sich allein daran erkennen, dass Pflegeheime oder Werkstätten für Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht allein als ergänzende Unterstützungsmaßnahme angeboten, sondern immer noch als eine Unerlässlichkeit angesehen werden (vgl. ebd.).

Nun soll diese Aussage nicht zur Annahme verleiten, dass Ergebnisse des Integrationsprozesses charakterlos beziehungsweise schlecht wären. Im Gegenteil, generell ist der Integrationsgedanke bedeutend, da er einen Beitrag leistet, Behinderten den Zugang zur Gemeinschaft (zumindest organisatorisch) zu erleichtern. Dennoch zielt diese Periode ausschließlich darauf ab, den Einzelnen in bestehende Schemen zu integrieren. So wird zwar der behinderte Mensch in der Gesellschaft besser eingegliedert, jedoch nicht als vollwertiges, selbstbestimmtes Individuum akzeptiert. Teilhabe heißt aber nicht nur Konditionen zu verbessern, auszubauen und den Betroffenen „in eine Dominanzkultur [...] sozial zu integrieren“ (Lop- Hüdepohl 2011, S.65), sondern Teilhabe bedeutet auch, dass der behinderte Mensch seine Kompetenzen miteinbringen kann, „ohne dass die jeweilige Eigen- und damit auch die bleibende Andersheit ihrer Lebensoptionen und Lebensführung zerstört bzw. in ihrer eigensinnigen Entwicklung behindert wird“ (ebd.). Denn auch diese speziellen Fähigkeiten und Lebensweisen sind ein Teil der Gesamtgesellschaft und somit ein Gewinn.

Zwischenzeitlich wurde erkannt, dass für eine vollständige Gleichstellung eine reine Integration der Betroffenen nicht ausreichend ist.

So findet seit einiger Zeit ein bedeutsamer und notwendiger Umbruch in die vierte Phase der Inklusion statt (vgl. Theunissen/Schwalb 2012, S.11; 16).

Hat sich die Behindertenarbeit „bisher den Prinzipien der Integration und im Zusammenhang damit der pädagogisch-therapeutischen Förderung verschrieben, so steht heute das Paradigma Inklusion, verbunden mit dem Empowerment-Konzept, auf der Tagesordnung“ (ebd., S.11).

Im Gegensatz zur Integration lautet der Ansatz der Inklusion, dass es keinen Stellenwert mehr hat, ob man gehandicapt ist oder nicht. Im Sinne von Inklusion ist Vielfalt etwas Selbstverständliches, das „nicht nur akzeptiert; [sic!] sondern existenzielle Grundlage der Entwicklung aller Beteiligten ist“ (Rödler 2011, S.40).

Der Leitgedanke der Inklusion ist mittlerweile auch gesetzlich verankert. Die UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)[7] hat sich eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen zum Ziel gesetzt. Jeder Mensch soll gleichrangig und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die UN-BRK definiert Inklusion als ein Menschenrecht. Hervorzuheben sind primär die Allgemeinen Grundsätze (Artikel 3 UN-BRK), in denen unter anderem die Achtung der Würde des Menschen, Entscheidungsfreiheit, allgemeine Freiheit und Anerkennung der Autonomie festgelegt sind. Die von unterschiedlichen Persönlichkeiten geprägte Gesellschaft ist ausdrücklich erwünscht. Behinderte Menschen sind ein vollwertiger und gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft und tragen zur Vielfalt bei. Ein besonders wichtiger Punkt dieses Artikels ist „die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderung und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität“. Ebenso wichtig wie diese Aspekte ist es, das körperliche und seelische Wohlbefinden eines jeden behinderten Menschen zu bewahren. Dieser Leitgedanke wird deshalb explizit im Artikel 17 der UN-BRK „Schutz der Unversehrtheit der Person“ festgehalten.

Somit konkretisiert und ergänzt die UN-BRK die Grundaussagen des Deutschen Grundgesetztes[8] Artikel 1 (1) „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und Artikel 2 (1) „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“.

Die rechtlichen Rahmendaten sind damit klar definiert, dennoch wird ein alleiniger Verweis auf diese nicht ausreichen. Allein die Definition von Würde kann sehr weit ausgedehnt und die Vision von Inklusion als Menschenrecht unterschiedlich realisiert, interpretiert und umgesetzt werden. Die Gefahr, dass daher neue Zonen von Exklusion wachsen, besteht unverändert.

In Bezug auf die Soziale Arbeit ist das kein leichtes Unterfangen. Da sie es als Auftrag sieht, Exklusion zu beseitigen (beziehungsweise zu bekämpfen) und Inklusion zu erreichen, ist sie einigen Dilemmata ausgesetzt. Sie ist in Diskurse[9] eingebunden, welche sich in einem Netzwerk von Machtverhältnissen bewegen (vgl. Seifert 2013, S.8).

Starke Lenkungen und Kontrollen in gesellschaftlichen Prozessen haben die Macht, Menschen eine bestimmte Form aufzuerlegen, wonach diese anschließend ihr eigenes Handeln und persönliche Denkweisen ausrichten (vgl. ebd., S.6). Wenn sich Soziale Arbeit nun von diesen Mächten und Lenkungen der Diskurse steuern lässt, wären dann Klienten nicht wieder nur „Objekte von (sozial-) politischen bzw. (sozial-) pädagogischen Inklusionspraktiken?“ (ebd.). Genau dies stellt eine Herausforderung dar, da sich die Soziale Arbeit einerseits an geltenden politischen, theoretischen, betrieblichen und gesellschaftlichen Richtlinien ausrichten und orientieren muss, andererseits einem normativen Verständnis entgegenwirken möchte (vgl. ebd., S.8).

Grundlage für die Weiterentwicklung der Inklusion ist somit ein ständiges kritisches Hinterfragen des persönlichen Tuns aller Beteiligten und der vorgegebenen Rahmenbedingungen. Sozialarbeiterisches Handeln kann nur einen zweckmäßigen Beitrag zur Bewältigung von Inklusion und Exklusion leisten, wenn sie dieser konstant mit Kritik und Reflexion begegnet (vgl. ebd., S.8f.). Nur so kann auch eine „eigene Trivialisierung und Deprofessionalisierung“ (ebd., S.9) vermieden werden. Dieses homogene Umdenken muss auch in den Köpfen der Gesellschaft stattfinden.

Als Fazit lässt sich festhalten: Es muss noch einiges getan werden, um eine authentische, tatsächliche Gleichstellung zu erreichen. Es gibt nicht die eine Methode, die auf einen Schlag Inklusion ermöglicht (vgl. ebd., S.8). Im Gegenteil, diese wird es wohl auch nie geben. Eine ständige Reflexion der herrschenden Diskurse ist unabdingbar.



[4] Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) vom 27. April 2002 (BGBL. I S. 1467, 1648), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 19. Dezember 2007 (BGBL. I S. 3024, 3034) geändert worden ist.

[5] In der ersten Periode, der Exklusion, wurden gesellschaftliche Randgruppen bewusst von der Öffentlichkeit isoliert, asyliert und ausgegrenzt (vgl. Theunissen/Schwalb 2012, S.11).

[6] In der zweiten Periode, der Segregation, wurden Behinderte zwar immer noch als „abnormal“ und „krank“ angesehen und waren in jeglicher Hinsicht hilfs- und behandlungsbedürftig, aber es wurde zwischen zwei „Klassen“ an Behinderung unterschieden. Denen die „erziehbar“ waren und denen die weiterhin als „hoffnungsloser Fall“ galten (vgl. Theunissen/Schwalb 2012, S.11). Die Hoffnungslosen kamen nach wie vor in Heime oder Anstalten, für „Lernfähige“ wurden erste Förder- und Unterstützungsinstitutionen erbaut. Für diese Wandlung im 19. Jahrhundert gab es verschiedene Motive. „Neben den christlichen Impulsen ging es um ‚Heilung’ und die Erziehung zur ‚Brauchbarkeit’ für die Gesellschaft“ (ebd.).

[7] Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) vom 13. Dezember 2006, Bundesgesetzblatt (BGBL. 2008 II, S. 1419).

[8] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) vom 23. Mai 1949, Bundesgesetzblatt (BGBL. I, S. 1), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2014 (BGBL. I S. 2438) geändert worden ist.

[9] Anhand von Diskursen wird aufgezeigt, was die Gesellschaft derzeit als „normal“ einstuft. Sie setzen somit die Maßstäbe, an welchen sich das Individuum anzupassen hat beziehungsweise nach welchen es sich zu richten hat (vgl. Seifert 2013, S.5).

6. Empirischer Teil

Die Vorbereitung der Empirie bestand aus mehreren Phasen. Bevor die Befragungen durchgeführt werden konnten, fand zu Beginn eine Auswahl der Befragten durch die persönliche Entscheidung der Verfasserin statt. Anschließend wurde die Methode ausgewählt und dementsprechend vorbereitet und optimiert. Überdies war es ebenso wichtig, vorab einen Pretest durchzuführen. Erst dann konnte zum wesentlichen Teil der Durchführung und Auswertung übergegangen werden. Die folgenden Schritte sollen nun vorgestellt werden.

6.1 Vorbereitung der Experteninterviews

6.1.1 Auswahl und Anschreiben der Interviewpartner

Um ein breiteres Verständnis aufzubauen und Kenntnisse für die sozialpädagogische Arbeit zu gewinnen, wurden vor Erstellung des Leitfadens ausführliche Überlegungen angestellt, wer als Experte für den Rahmen dieser Arbeit geeignet ist. Erst einmal ist festzuhalten: „Expertin ist ein relationaler Status“ (Meuser/Nagel 1991, S.443). Wer als Experte bezeichnet werden kann, hängt vorrangig „vom jeweiligen Forschungsinteresse“ (ebd.) ab. Meuser und Nagel betonen, dass der Expertenstatus „in gewisser Weise vom Forscher verliehen“ (ebd.) wird und „auf eine spezifische Fragestellung“ (ebd.) begrenzt ist. Prinzipiell meinen sie damit Experten, die eine Funktion „innerhalb eines organisatorischen oder institutionellen Kontextes“ (ebd., S.444) darstellen.

Da jedoch durch diese Expertenfunktion lediglich eine objektive Bewertung der Innenansicht des Autisten durchgeführt werden kann, fiel die Wahl schnell auf eine Befragung der Betroffenen selbst. Denn „auch Betroffene sind Experten“ (Mayer 2013, S.31) und wer könnte die Gefühlswelt eines mit ABA „behandelten“ Autisten besser wiedergeben als der Betroffene selbst?

Betroffenheit und Expertentum können daher in diesem Fall als nicht trennbare Einheiten betrachtet werden. Das persönliche Erfahrungswissen ist ausschlaggebend für die Forschung dieser Arbeit. „Der Versuch, sich als Expertin und Experte mit ‚fremdem Blick’ an die Einheitsversorgung benachteiligter Menschen zu machen, ignoriert die Fähigkeit und den Wunsch nach selbstständigen Alternativen zum herkömmlichen Versorgungssystem“ (Stark 1993, S.42).

Mit dem eigentlichen Ziel eine persönliche, mündliche Befragung durchzuführen, wurde bei insgesamt fünf möglichen Teilnehmern per E-Mail angefragt, ob sie bereit wären, sich an der Forschung zu beteiligen. Drei Personen waren zur Teilnahme an der Befragung bereit.

Auf deren Wunsch nach einem geschützten Rahmen, sowie mehr Bearbeitungszeit, einigte man sich anstatt eines mündlichen Interviews auf eine schriftliche Befragung. Die Teilnehmer wiesen darauf hin, dass ihnen schriftliche Ausarbeitungen leichter fallen als unter immensem Aufwand ihr Wissen direkt in passende Wörter und Sätze zu fassen. Aufgrund dessen wurde die Methode des schriftlich, qualitativen Interviews anhand eines Leitfadens ausgewählt. Durch diese Methode hatten die befragten Autisten die Möglichkeit, den Leitfaden „zu einer von ihnen genehmen Zeit auszufüllen und zurückzusenden“ (Mayer 2013, S.105). Zudem war es der Interviewerin dadurch möglich, dass „Daten gewonnen werden können, zu denen mittels mündlichen Face-to-Face-Interviews kein oder nur ein sehr mühsamer Zugang besteht“ (Schiek 2014, S.387).

6.1.2 Vorstellung der Teilnehmer

Besonders erfreulich ist es, dass für die vorliegende Untersuchung ein Autist (Diagnose Frühkindlicher Autismus) gewonnen werden konnte, bei dem selbst ABA von der frühen Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter angewandt wurde. Um seine eigene Vergangenheit und die Entscheidung oder Überzeugung seiner Eltern verstehen zu können, beschäftigt er sich seit längerer Zeit umfangreich mit den Theorien ABAs. Die Wahrnehmungen als Betroffener, ergänzt durch die theoretischen Grundlagen, bilden einen umfassenden Erfahrungsschatz. Er kann sowohl zu der Innen- als auch Außenperspektive Stellung beziehen, was ihn für diese Arbeit besonders auszeichnet. Aus Datenschutzgründen wird er bei seinen Stellungnahmen mit dem Pseudonym Michael zitiert.

Als Ergänzung fiel die Wahl auf zwei weitere autistische Personen, die sich aufgrund ihrer Diagnose (beide Asperger – Syndrom) inhaltlich intensiv mit Autismus auseinandersetzen. Das Studium von wissenschaftlicher Literatur, der Besuch von Fachvorträgen und der regelmäßige Austausch innerhalb von Selbsthilfegruppen beziehungsweise über Internetforen bilden die Grundlage für das theoretische Wissen über verschiedene Autismus-Therapien. Aufgrund der aufgeworfenen Diskussionen haben sich beide in letzter Zeit verstärkt mit dem Thema ABA auseinandergesetzt und sich intensiv eingearbeitet. Durch diese inständige Auseinandersetzung mit ABA und aufgrund des besonderen Blickwinkels eines Autisten, ist es ihnen möglich subjektive Einschätzungen und Bewertungen über ABA zu schildern. Sie werden im Verlauf der weiteren Arbeit unter den fiktiven Namen Lena und Anna vorgestellt.

Zu betonen ist, dass es (vorrangig) nicht die Absicht dieser Arbeit ist, die individuelle Lebensgeschichte der Betroffenen zu analysieren, vielmehr soll mit Hilfe der Teilnehmer die Autismus-Intervention ABA genauer hinterfragt werden, um ethische Bedenken besser einstufen, bestätigen oder verwerfen zu können.

Die Entwicklung des Leitfadens soll im nächsten Kapitel vorgestellt werden.

6.2 Konzeption des Leitfadens

6.2.1 Grundregeln zur Erstellung des Leitfadens

Bevor der Leitfaden entwickelt werden konnte galt es, ein „sensibilisierendes Konzept“ (Mayer 2013, S.43) auszuarbeiten. Das heißt, die zuvor recherchierten Gedankengänge, Theorien und Literaturanalysen bilden die Basis „für die Entwicklung des Leitfadens“ (ebd.). Bei der Formulierung der Fragestellungen wurde darauf geachtet, diese an die gegebene Problemstellung anzupassen (vgl. ebd.).

Bei der Entwicklung des Leitfadens ist es wichtig, auf grundlegende Regeln zu achten, um dessen Gütekriterien zu gewährleisten. Die qualitative Forschung hat andere Kriterien als die quantitative Forschung und kann daher von dieser nicht einheitlich übernommen werden (vgl. ebd., S.56). Die Reliabilität in der qualitativen Forschung entsteht durch die Offenlegung aller Daten und Fragestellungen. Die Gültigkeit lässt sich im Rahmen dieser Arbeit durch „die Zustimmung der Befragten zu den Ergebnissen der Interpretation“ (ebd., S.57) (die sogenannte kommunikative Validierung) gewährleisten.

Für den gesamten Aufbau war entscheidend, wer mit dem Leitfaden angesprochen werden soll und mit welcher Absicht dieser erstellt wurde (vgl. Thielsch/Lenzner/Melles 2012, S.222). Daher wurde die mögliche Zielerreichung zuvor reflektiert, sowie ausreichend Zeit zur Ausformulierung der Überlegungen mit eingerechnet (vgl. ebd.). Generell lässt sich sagen, dass ein wesentlicher Unterschied zum quantitativen standardisierten Interview dadurch besteht, dass bei dieser qualitativen Studie eine bindende, starr vorgegebene Einhaltung der Reihenfolge der Fragenbeantwortung und Antwortvorgaben vermieden wird. Die Validität wird dadurch gesichert, dass subjektive Perspektiven und Deutungen freier zum Ausdruck kommen können. Teilnehmer sollen persönlich als wichtig empfundene Aspekte, Sachkenntnisse, Feststellungen „frei artikulieren können“ (Hopf 1995, S.177).

Um eine Eingrenzung seitens der Interviewerin zu vermeiden, wurde versucht, Suggestivfragen zu umgehen. Die Art des Schreibstils sollte die Teilnehmer motivieren, frei und offen zu antworten (vgl. Thielsch/Lenzner/Melles 2012, S.226).

Bei der Konstruktion der Fragen wurde berücksichtigt, den Schwierigkeitsgrad und das Sprachniveau den Interviewpartnern anzupassen, um seitens der Teilnehmer weitgehend Überforderung und Verständnisprobleme zu vermeiden (vgl. ebd., S.222). Ebenso wurde bedacht, dass die Gesamtlänge der Befragung zumutbar und durchführbar ist (vgl. Mayer 2013, S.44).

Bei der Gestaltung des Layouts wurde darauf geachtet, dass es ansprechend, verständlich und gut lesbar ist (vgl. ebd., S.104). Des Weiteren wurden differierende Inhaltsfragen „für ein besseres Verständnis“ (ebd.) in extra Themenblöcke separiert.

Ein Leitfaden soll als Orientierung für beide Seiten dienen. So wird laut Meuser und Nagel dieser „beiden gerecht, dem thematisch begrenzten Interesse des Forschers an dem Experten wie auch dem Expertenstatus des Gegenübers“ (Meuser/Nagel 1991, S.448).

6.2.2 Einleitungstext des Leitfadens

Der Einleitungstext ist entscheidend dafür, das Interesse der Befragten zu wecken. Darüber hinaus enthalten die einleitenden Worte alle substanziellen Elemente (beispielsweise Anlass der Fragestellung, Informationen zur Durchführung und Datenschutz), um die Interviewpartner über alle notwendigen Informationen und Vorgehensweisen aufzuklären.

Dazu gehören Hinweise wie, dass es sich bei der Befragung um eine Bachelorarbeit im Rahmen der Fakultät Soziale Arbeit an der Fachhochschule Landshut handelt und diese zum Ziel hat herauszufinden, wie Teilnehmer ABA allgemein bewerten. Auch wird den Teilnehmern eine Anonymisierung und hohe Vertraulichkeit ihrer Angaben nach § 3 des BDSG (Bundesdatenschutzgesetz) (vgl. Helfferich 2011, S.191) unmissverständlich zugesichert.

Überdies werden die Befragten in der Einleitung über den generellen Aufbau und Ablauf des Leitfadens unterrichtet. Zudem wurden sie darüber informiert, dass die Interviewerin bei aufkommenden Fragen jederzeit zur Verfügung steht. Die Rücksendung des ausgefüllten Leitfadens sollte bis spätestens 26.07.2015 an die angegebene E-Mail-Adresse erfolgen, damit noch genügend Zeit zur Auswertung der Ergebnisse bleibt.

Eine Danksagung erfolgt am Ende des Textes.

6.2.3 Inhalt des Leitfadens

Im folgenden Abschnitt soll der Leitfaden hinsichtlich seiner thematischen Aspekte sowie seines Aufbaus kurz vorgestellt werden. Dabei wird auch auf die jeweiligen Überlegungen und Hintergründe zur Wahl der Fragen eingegangen. Der Interviewleitfaden wurde in fünf Themenblöcke einschließlich Ergänzungsfragen gegliedert und zielt auf folgende Sachverhalte ab.

Um den Einstieg in die Befragung zu erleichtern, betont Helfferich anfangs schwerelose, „öffnende, erzählgenerierende Einstiegsfragen“ (ebd., S.181) zu stellen. Daher wurden zu Beginn allgemeine Fragen gestellt, wie Angaben zur Person und zu deren persönlichem Bezug zu ABA.

Da in der Literatur weitgehend seitens der Nicht-Autisten über den Umgang und das Zusammenleben mit autistischen Menschen berichtet wird, zielt der zweite Frageteil des Leitfadens darauf ab herauszufinden, wie Autisten selbst ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit beurteilen. Es soll erkundet werden, ob sich die Betroffenen von der Gesellschaft akzeptiert, inkludiert und verstanden fühlen. Wie reagiert nach ihrem Empfinden das Umfeld gewöhnlich auf autistische Verhaltensweisen? Ebenso interessiert es, ob es Autisten „erlaubt“ ist, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, sprich eigene Wünsche, Gefühle, Bedürfnisse oder Sorgen zum Ausdruck zu bringen.

Im dritten und vierten Abschnitt geht es um die wesentliche Analyse der Forschungsarbeit. Im dritten Teil soll eine Einschätzung gegeben werden, welchen Einfluss ABA auf das familiäre und soziale Umfeld sowie die Persönlichkeit eines Autisten hat. Darüber hinaus soll die Betreuung und Schulung der Co-Therapeuten beurteilt werden. Im anschließenden vierten Teil wird die Methodik der Therapie hinterfragt. Dazu wird Bezug auf die sieben Unterrichtsschritte von ABA genommen.

Zum Schluss werden noch bedeutsame ergänzende Fragen thematisiert, die zur endgültigen Beurteilung von ABA dienen. Die Fragen des letzten Themenblocks sollen auch darauf hindeuten, dass es langsam zum Abschluss der Befragung kommt. „Es empfiehlt sich, eine Frage aufzunehmen, die der Erzählperson gegen Ende des Interviews noch einmal die Gelegenheit gibt, eigene Relevanzen zu setzen“ (ebd.).

6.3 Pretest

Vor der eigentlichen Befragung wurden zwei Pretests durchgeführt, um die theoretische Aussagekraft des Leitfadens zu testen und dessen Verständlichkeit zu prüfen. Der Leitfaden wird einerseits auf inhaltliche Aspekte und Verständlichkeit der Fragen, andererseits in der Struktur überprüft.

Es wurden zwei Teamleiter aus dem Praxissemester befragt, die beide seit etlichen Jahren nach anthropologischen Grundsätzen mit Autisten arbeiten. Trotz, beziehungsweise gerade wegen der gegensätzlichen Ansätze, die in beiden Therapieformen verfolgt werden beteiligen sich beide an der derzeitigen Diskussion.

Durch diesen Pretest konnten noch zusätzlich wichtige Anregungen zur Gestaltung des Leitfadens gewonnen werden. Zugleich konnten einige Verständnisprobleme geklärt und der zeitliche Rahmen für die Beantwortung des Leitfadens geprüft werden.

Der revidierte Leitfaden wurde anschließend an die Hauptteilnehmer versandt.

6.4 Durchführungsphase der Teilnehmer

Der E-Mail-Kontakt zu den Befragten wurde während der gesamten Vorbereitung sowie im Zeitraum der Beantwortung der Leitfäden aufrechterhalten. Dadurch bestand die Möglichkeit, den Leitfaden an das Wissensniveau sowie die Artikulationsfähigkeit der Teilnehmer anzupassen. Außerdem wurde es von den Beteiligten als sehr positiv bewertet, dass sie Rückfragen stellen konnten.

Die Beantwortung der Leitfäden sollte im Zeitraum vom 20.05 bis 26.07.2015 erfolgen. Innerhalb dieses Zeitrahmens wurde eine Erinnerungsemail versandt. Die Teilnehmer wurden darin noch einmal um die Beantwortung und Rücksendung des Leitfadens gebeten und auf die besondere Bedeutung für den Erfolg des Forschungsvorhabens hingewiesen. Während der Durchführungsphase gab es eine Besonderheit. Eine Teilnehmerin konnte aus persönlichen Gründen den zeitlichen Rahmen nicht einhalten, daher verlängerte sich die angegebene Bearbeitungszeit um einige Tage.

6.5 Auswertung des Leitfadens

Zur Auswertung der Experteninterviews wird Bezug auf das Auswertungsverfahren von Meuser und Nagel (1991) genommen, welches in die verschiedenen Bearbeitungsschritte Paraphrasierung, thematisches Ordnen, thematischer Vergleich, Konzeptualisierung und theoretische Generalisierung gegliedert wird (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.455ff.). Wichtig ist, das „Repräsentative im Expertenwissen“ (ebd., S.451) zu erkunden. Dabei geht es nicht darum, das Individuelle aus den Texten zu entnehmen, sondern das „Überindividuell – Gemeinsame herauszuarbeiten“ (ebd., S.452).

Da es sich in der vorliegenden Arbeit um eine schriftlich qualitative Empirie handelt, konnte der Schritt der Transkription ausgelassen werden und es konnte ein direkter Übergang zur Paraphrasierung stattfinden. Aussagen der Interviewten wurden kontextuell und in eigenen Worten referiert (vgl. ebd., S.456). Dabei ist nach den beiden Autoren darauf zu achten, dass kein „Verschenken von Wirklichkeiten“ (ebd.) geschieht. Die Reihenfolge der Paraphrasierung darf von dem ursprünglichen Leitfadenverlauf nicht abweichen und muss exakt „Meinungen, Urteile, Beobachtungen, Deutungen“ (ebd.) der befragten Autisten darstellen. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass Inhalte nicht entstellt werden. Eine falsche Wiedergabe birgt die Gefahr, dass aussagekräftige Essenzen ausgelassen werden und somit die Gültigkeit nicht gewährleistet werden kann. Die „Gültigkeit einer Paraphrase beruht darauf, daß [sic!] [...] nichts unterschlagen, nichts hinzugefügt und nichts verzerrt wiedergegeben wurde“ (ebd., S.457). Ebenso wird von einer vorschnellen, leichtsinnigen Klassifizierung abgeraten, da sonst die Gefahr einer verstellten Wiedergabe besteht (vgl. ebd.).

In der nächsten Phase des thematischen Ordnens ist zunächst von Belang, dass alle Aussagen der Einzelinterviews sortiert werden und dabei auf die Terminologie der Teilnehmer eingegangen wird. Dabei soll auch textnah gearbeitet werden. Die jeweils bedeutendsten und einander ähnlichsten Erkenntnisse der Aussagen werden zusammengebracht und mit Überschriften versehen (vgl. ebd., S.457ff.).

Erst nach der Fokussierung der Einzelinterviews kann in die Phase des thematischen Vergleichs übergegangen werden. Hier sollen nun die jeweiligen Leitfäden anhand der zuvor festgelegten Überschriften untereinander verglichen und analysiert werden (vgl. ebd., S.459). Analoge Ausschnitte werden gruppiert und noch einmal durch Überschriften vereinheitlicht. „Das ist mit einer weiteren Reduktion der Terminologie verbunden, erfüllt aber die notwendige Aufgabe, Redundanzen zu tilgen. Allerdings ist weiterhin an einer textnahen Kategorienbildung festzuhalten“ (ebd.).

Nun erst ist eine Entfernung von der Terminologie der Experten möglich und die aus den Experteninterviews gewonnenen Daten können mit Kenntnissen aus dem erarbeiteten Theorieteil in Beziehung gebracht und in eine wissenschaftliche Ausdrucksweise umformuliert werden (Phase der Konzeptualisierung) (vgl. ebd., S.462). Meuser und Nagel bezeichnen diesen Vorgang als das „Gemeinsame im Verschiedenen“ (ebd.). „Die Verallgemeinerung bleibt aber auf das vorliegende empirische Material begrenzt“ (ebd., S.463).

In der letzten Phase der theoretischen Generalisierung wird die eigene Terminologie angewendet und einzelne Materien werden in ihre theoretische Einheit gebracht (vgl. ebd.). „Die Systematik gelangt in der Darstellung der Ergebnisse darin zum Ausdruck, daß [sic!] wir aus der erweiterten Perspektive der soziologischen Begrifflichkeit eine Interpretation der empirischen generalisierten Tatbestände formulieren“(ebd., S.463f.). Durch die Zusammenbringung der erarbeiteten Recherchen und der Forschung kann festgestellt werden, ob die Empirie unqualifiziert, verfälscht oder zutreffend ist (vgl. ebd., S.465). Bei Feststellung, dass die Studie unqualifiziert oder verfälscht ist, muss diese noch einmal überarbeitet werden (vgl. ebd.). In dieser Phase wird auch noch einmal die Wichtigkeit der Einhaltung und Durchführung der Reihenfolge explizit hervorgehoben und betont, nur dadurch „zeichnet sich die Auswertung durch Rekursivität aus“ (ebd.).

Im anschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der eigenen Erhebung vorgestellt und mit Teilen der theoretischen Arbeit verglichen.

6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Interviews

Bei allen bisherigen Ausführungen kam bisher nur die Gesellschaftsperspektive in Bezug auf autistische Verhaltensweisen zum Ausdruck. Ausschlaggebend sollte es jedoch auch sein, das Ganze aus dem Blickwinkel eines Autisten zu betrachten.

6.6.1 Gesellschaftliche Wahrnehmung von Autismus

Alle drei Befragten schildern unterschiedliche Wahrnehmungen und Empfindungen, wie auf sie reagiert wird. Sie alle kritisieren, dass sie sich keinesfalls inkludiert fühlen. Sogar eine Integration ihrerseits wird teilweise in Frage gestellt. Für Lena (persönliche Komunikation, 05.08.2015) ist es schwierig, sich in nicht autistische Gruppen einzugliedern beziehungsweise überhaupt in diese aufgenommen zu werden. Dadurch isoliert sie sich stark von der Außenwelt und sucht nach Gleichgesinnten in der virtuellen Welt des Internets. Hier findet sie Ansprechpartner, die besser auf ihre Verhaltensweisen eingehen und reagieren. Neben diesen virtuellen Freunden scheinen nur ihre Eltern sie zu verstehen und zu akzeptieren. Von ihnen werden ihre Stärken und Fähigkeiten weitgehend anerkannt. Andere Familienmitglieder und Fremde legen den Fokus auf ihre „autistischen Probleme“ und wollen ihr diese abtrainieren.

Das hat zur Folge, dass sich Lena bewusst von neurotypischen Personen isoliert und abgrenzt. Zudem zieht sie es vor, ihre Diagnose „Autismus“ vor ihren Mitmenschen geheim zu halten, damit sie unangenehmen Reaktionen auf ihre Behinderung aus dem Weg gehen kann.

Auch Anna (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) berichtet davon, dass sie ihre autistischen Züge weitgehend vor der Gesellschaft zu verbergen versucht. Dadurch will sie unnötiges Mitleid ihr gegenüber vermeiden, da die vermeintliche „Andersartigkeit“ bei ihr zu Minderwertigkeitsgefühlen führt. Auch sie fühlt sich von der Außenwelt unverstanden, da sie von dieser meist als „Behinderte“ abgestempelt wird, für welche man alle Entscheidungen übernehmen muss. Nur ihr Mann und ihre Kinder können sie so akzeptieren, wie sie ist.

„Man bemerkt die Defizite, aber das, was mich sonst noch ausmacht, wird nicht erkannt.“ (Anna – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Michael (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) hegt ein sehr gestörtes Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld, das von Misstrauen geprägt ist. Er betont, dass seine Mitmenschen in ihm große Ängste auslösen, da viele von ihnen ihm gegenüber sehr aggressiv reagieren.

„Die Aggressionen meiner Mitmenschen mir gegenüber lösen bei mir Ängste aus.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Zudem ist er der Ansicht, dass eine unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich seiner Fähigkeiten und Stärken zwischen ihm und der Gesellschaft herrscht, was in seinen Augen ebenfalls einen großen Nährboden für Missverständnisse und Diskrepanzen bietet. Sich den Ansprüchen seines Umfeldes anzupassen bedeutet für ihn einen enormen Stress und belastet ihn sehr. In Folge dessen verstärken sich seine stereotypischen Verhaltensweisen, worauf das Umfeld wiederum mit Unverständnis reagiert.

Besonders bedenklich empfindet er, dass auch geschultes Personal, wie Ärzte und Pädagogen in Institutionen, ähnlich negativ auf ihn reagieren. Wendet er sich an diese, wird er oftmals mit Tadel und Zurechtweisungen konfrontiert, wodurch ihm abermals vermittelt wird, dass er eine Belastung für seine Mitmenschen darstellt.

Auch Assistenten, welche im Alltag Unterstützung leisten sollen, vermitteln ihm das Gefühl, dass sie die Zeit mit ihm als reine Verpflichtung ansehen. Würde er gerne außerhalb von deren Arbeitszeiten, beispielsweise Abends oder am Wochenende, einem bestimmten Freizeitangebot nachgehen, so findet er so gut wie nie eine geschulte Begleitung.

Diskussion

Das Bild Autismus ist in unserer Gesellschaft meist mit negativen Assoziationen besetzt. Wie bereits in Kapitel 2 und 5.1 erörtert, stoßen Autisten oft auf Unverständnis, Kritik und Abneigung im Kontakt mit ihren Mitmenschen. Diese Grundeinstellung kann man bereits als eine der Ursachen werten, weshalb in der Autismus-Therapie ABA angestrebt wird, einen Autisten in der beschriebenen Form zu verändern. Es herrscht die Überzeugung, dass ein Autist nur dann ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden kann, wenn sich dieser den Normvorstellungen seines Umfelds anpasst. Auffallend ist, dass alle drei befragten Experten hervorheben, dass sie fast täglich von ihren Mitmenschen mit dieser Erwartungshaltung konfrontiert werden. Dies löst in den Betroffenen einen starken Druck aus, ihre autistischen Züge weitgehend verbergen zu wollen (vgl. Anna, persönliche Kommunikation, 26.07.2015; Lena, persönliche Kommunikation, 05.08.2015). Dadurch bauen sich zunehmend mehr Minderwertigkeitsgefühle, Stress und Ängste auf. Diese führen vermehrt zu stereotypischen Verhaltensweisen, wie von Michael berichtet und von Theunissen & Paetz (2011) bestätigt wurde. Das Konstrukt aus Erwartungshaltungen der Gesellschaft und dem daraus entstehenden Druck, welcher zu ungewollten Belastungssituationen für die Autisten führt, kann als Teufelskreis bezeichnet werden. Laut Bericht der Teilnehmer müssen sich diese hierbei mit extremen Belastungen, Fluchtgedanken und notgedrungener Anpassung auseinander setzten. Da sich ABA an den Vorstellungen der Gesellschaft orientiert, ist der durch ABA ausgelöste Druck mit dem der Öffentlichkeit vergleichbar, lediglich wird dieser hier in Form einer Therapie angewandt und erhält somit noch mehr Intensität. Hieraus lässt sich schließen, dass bei den mit ABA therapierten Kindern ähnliche Emotionen und Ängste entstehen können wie bei den Befragten. Die Kleinkinder sind jedoch noch zu jung, um eigene Wünsche und Vorstellungen äußern zu können. Deshalb ist es umso wichtiger, die Sichtweise von erwachsenen Autisten zur laufenden Verbesserung und Überprüfung der Behandlungsmethoden heranzuziehen.

Die Probleme zeigen sich auch im Umgang mit geschultem pädagogischem Personal. Auch dieses vermittelt dem Autisten oftmals das Gefühl, eine Belastung zu sein (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015). Die mit ihm verbrachte Zeit wird als reine Arbeit und Verpflichtung angesehen, was noch mehr Skepsis in ihm auslöst und ihn weiter in die Isolation treibt. Anhand der Beschreibungen der Autisten zeigt sich, dass ein Umdenken in der Gesellschaft und teilweise auch in den Köpfen der Pädagogen und Therapeuten unumgänglich ist, um eine wünschenswerte Inklusion überhaupt einleiten zu können. Bis jetzt ist noch klar erkennbar, dass die Diagnose Autismus automatisch den Stempel aufdrückt „behindert“ und somit „andersartig“ zu sein. Hierbei werden medizinische Erkenntnisse unreflektiert übernommen (vgl. Lop-Hüdelpohl 2011, S.67). Das Wort Behinderter steht als alleinige Definition für den Menschen und dessen Diagnose steht im Fokus im Umgang mit diesem Individuum. Das hat zur Folge, dass der Mensch sehr häufig unterschätzt wird. Eine gezielte Hebung der jeweiligen Fähigkeiten und Potenziale findet offensichtlich nicht statt.

Verheimlicht der Autist bewusst seine Behinderung, so ist die Reaktion auf die Person an sich oft eine ganz andere (vgl. Lena, persönliche Kommunikation, 05.08.2015). Dies verdeutlicht noch einmal wesentlich, wie stark viele Mitmenschen rein von der Diagnose Autismus beeinflusst werden. Setzt man diese Erkenntnis mit ABA in Verbindung, so wird deutlich, dass ABA jener Einstellung gegenüber behinderten Menschen nicht entgegenwirkt, sondern diese vielmehr zu intensivieren scheint. Dass ABA sich an den Normvorstellungen der Gesellschaft derart stark orientiert, muss daher kritisch betrachtet werden und ist nach den Aussagen der befragten Autisten negativ zu bewerten.

Im Folgenden wird nun genauer auf die Autismus-Therapie ABA eingegangen.

6.6.2 Betreuung der Bezugspersonen

Die Autismus-Intervention ABA bezieht sehr stark die Eltern des behinderten Kindes mit ein. Durch diese wird der Autist hauptsächlich therapiert. Hierbei empfindet Michael (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) es als bedenklich, dass den Eltern nach einer Teilnahme an einem ABA-Einführungsworkshop ein sogenanntes „Qualifikationszeugnis“ ausgestellt wurde, welches sie als Co-Therapeuten auszeichnet und die Anwendung von intensiven Interventionsmaßnahmen ermöglicht. Dies beurteilt er als sehr gefährlich, da diese Art der Ausbildung in Deutschland den Bestimmungen hinsichtlich Psychotherapie nicht gerecht wird.

„Mehr ‚Qualifikation’ benötigt man nicht!“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Zudem berichtet er explizit von Listen, welche vom ABA-Team für seine Eltern erstellt wurden. Diese sollten ihnen ihre genauen Zielsetzungen vor Augen führen und ihnen eine gewisse Anleitung zum Erlangen von Erfolgen sein. Michael kann hierbei mit dem Begriff „Erfolg“ nichts anfangen. Diese Wortwahl entspricht in seinen Augen zwar der Normvorstellung der Gesellschaft, nicht aber dem inneren Empfinden des Autisten. Zusätzlich kritisiert Michael die Tatsache, dass ihm bei der Erstellung der Listen keinerlei Mitsprache zugesprochen worden ist. Im Verlauf der Therapie wurden diese nie mit ihm besprochen. Bereits das hat ihn in einer bewussten Entfaltung seiner eigenen Stärken und Fähigkeiten eingeschränkt. Um die fokussierten Entwicklungsschritte erreichen zu können, setzten die Eltern die Therapiemaßnahmen extrem hart und zielstrebig durch. So kam es in den Augen von Michael ihm gegenüber zu einer enormen Fremdbestimmung, welche er mit dem Verhältnis 1 (Selbstbestimmung) : 300 (Fremdbestimmung) beschreiben möchte. Auch heute hat er noch mit den Folgen dieser ABA-Maßnahme zu kämpfen.

„ ‚Entwicklungsschritte’ im Sinne von ABA gab es durchaus, die sich bis heute halten und es mir unmöglich machen, effizient und auf für mich natürliche Weise Stress abzubauen, Anspannung, Überraschung sowie Freude auszudrücken. […] Nebenbei habe ich meine Interessen verloren, weiß nicht, was ich selbst will, was ich mag oder nicht mag und mein Leben erscheint mir absolut fremdbestimmt.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Folglich ist auch das starke Urvertrauen zu seinen Eltern verloren gegangen. Heute bezeichnet er sie als „Fremde“, welchen er anstandshalber antwortet, diese in seinem Leben jedoch nicht vermissen würde. Sie haben ihm beigebracht, natürliches, autistisches und spontanes Verhalten zu unterdrücken, sodass der Gesellschaft ein völlig falsches Bild seiner Persönlichkeit vermittelt wurde. Aus heutiger Sicht belastet ihn, dass man ihn als einen Menschen wahrnimmt, welcher er gar nicht ist und auch nicht sein will.

Diskussion

Wie in Kapitel Menschenwürde (vgl. Kapitel 5.2) angesprochen, sind die zentralen Aspekte der Sozialen Arbeit „Eigenverantwortlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz“ (Gruber 2005, S.50). Anhand der durchgeführten Befragungen soll nun beurteilt werden, ob die Autismus-Intervention ABA diesen Grundsätzen entspricht beziehungsweise diese gewährleisten kann. Hierbei liegt der Fokus erst einmal auf den Eltern des behinderten Kindes, welche an der Therapie maßgeblich beteiligt sind. Die von Michael angesprochene entworfene Liste der Eltern, welche angestrebte Zielsetzungen festlegt, schränkt die Punkte Toleranz und Eigenverantwortlichkeit bereits stark ein. Diese Liste, ausschließlich von den Anbietern und Eltern verfasst, wird, mit den Worten von Michael ausgedrückt, „kompromisslos und hartnäckig“ (Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015) durchgesetzt. Das Kind ist bei diesen Festlegungen vollkommen außen vor und kann selbst keine Entscheidungen treffen. Zu berücksichtigen ist hierbei aber, dass das Kind bis zu einem gewissen Alter selbstverständlich an der Gestaltung dieser Liste nicht teilhaben kann. Kann der Autist jedoch seine eigenen Wünsche und Vorstellungen zum Ausdruck bringen wäre es nötig, ihn in diese Fördermaßnahmen stark miteinzubeziehen. Auch im Hinblick auf individuelle Stärken und Fähigkeiten kann gesagt werden, dass ABA darauf abzielt, die in ihrem Konzept bevorzugten Kompetenzen anzutrainieren. Durch diese starke Fokussierung besteht die Gefahr, dass eigentliche Potenziale des Kindes untergehen beziehungsweise nicht wertgeschätzt werden. Es soll sogar noch weitergegangen werden und unterstellt werden, dass durch die permanent aufgezeigten gewünschten Verhaltensweisen, das Kind sich selbst und seiner Fähigkeiten nicht bewusst werden kann. Folgt man den bisherigen Ansätzen, so entsteht aufgrund der starken Fremdbestimmung ein verfälschtes Bild der Persönlichkeit (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015). An dieser Stelle bietet sich ein Blick in das Grundgesetz nach Artikel 2 (1) an, das für die freie Persönlichkeitsentfaltung eines jeden Menschen steht. Aufgrund der angesprochenen Widersprüchlichkeiten, kann man einen Verstoß gegen dieses Gesetz unterstellen (vgl. Kapitel 5.5).

Mit den strikten Zielsetzungen streben es die Eltern an, im Sinne ihres Kindes zu handeln. Für sie steht das Wohlbefinden ihres Sprösslings im Mittelpunkt. Deshalb verstehen sie ihre Vorgehensweise als Fürsorge, was grundsätzlich nachvollziehbar ist.

ABA jedoch scheint diese Fürsorge durch den enormen Fokus auf die Zielsetzungen und Erfolgsvorstellungen in eine Art der Bevormundung zu verwandeln. Wie in der Care-Ethik angesprochen (vgl. Kapitel 5.3) bedeutet Fürsorge, dass man sich auf das Individuum einlässt und dessen Bedürfnisse und Wünsche hinterfragt. Man sollte sich auf Mithilfe- und Unterstützungsmaßnahmen reduzieren und konzentrieren und die angewandten Handlungen sollen immer bewusst reflektiert werden. Durch das Zusammenspiel von Hilfe und Selbsthilfe kann ein langfristiges Vertrauen zwischen den Interaktionspartnern entstehen. Bei ABA kann es dazu kommen, dass nur eine kurzzeitige, sehr intensive Vertrauensbasis aufgebaut werden kann (siehe Pairing als Verstärker). Wie im Fall von Michael kann dieses Urvertrauen zerstört werden, sobald der Autist beginnt das Handeln seiner Eltern zu hinterfragen, darauf aber keine ausreichenden Antworten findet. Auch die Tatsache, dass Eltern in der ABA-Therapie zu Co-Therapeuten geschult werden, kann die Beziehung zwischen Kind und Erziehungsberechtigten negativ beeinflussen. Da ABA extrem zeitintensiv ist, handelt es nicht im Sinne des Empowerment-Konzepts (vgl. Kapitel 5.4). Es ist kritisch zu betrachten, dass Eltern die Rolle des Co-Therapeuten übernehmen und großteils selbst die therapeutischen Maßnahmen durchführen.

Fraglich ist also, ob den Bezugspersonen als Co-Therapeuten, trotz ihrer geringen Ausbildung nicht zu viel Verantwortung übertragen wird und diese sich in einem therapeutischen Tunnelblick verlieren. Ein therapiefreies familiäres Zusammenleben kann unter dem ganzen Pflichtgefühl der Eltern verloren gehen beziehungsweise zu wenig ausgelebt werden. Die Anforderungen der Experten setzen viele Eltern unter Druck und die Erziehungsberechtigten projizieren diesen wiederum auf ihr Kind. Folglich stehen alle Beteiligten unter Anspannung (vgl. Theunissen 2007, S.178). Das Familienleben besteht hauptsächlich daraus, den Anforderungen eines anderen nachzukommen und diese erfüllen zu wollen.

Therapeutische Maßnahmen sollten deshalb von geschultem Personal übernommen werden, da Pädagogen einen professionellen und distanzierten Blick auf das Verhalten des Kindes werfen und mit ihrem Fachwissen besser intervenieren können. Das soziale Umfeld sollte rein als Unterstützung im Bezug auf Fördermaßnahmen dienen, nicht aber die hauptsächliche Verantwortung übertragen bekommen.

Die besondere Eltern-Kind-Beziehung soll bewahrt bleiben, indem dem Kind ein externer Ansprechpartner und Auslöser für therapeutisch-pädagogische Fördermaßnahmen zur Seite gestellt wird. Folgendermaßen kann es Interventionen nicht grundsätzlich mit seinen Eltern in Verbindung bringen.

Natürlich spielen die Eltern in der Therapie weiter eine wichtige Rolle, da sie die Förderungen des Pädagogen im Alltag bewusst unterstützen. Hierzu ist eine professionelle Anleitung, sowie eine gemeinsame Zusammenarbeit und Absprache notwendig. So können individuelle, familiäre Wünsche und fachliches Wissen am besten miteinander vereint werden.

Anschließend soll auf die Handhabung der sieben Schritte der Unterrichtskontrolle ABAs eingegangen werden.

6.6.3 Erster Schritt zur Unterrichtskontrolle

Unter der ständigen Kontrolle seiner Bezugspersonen über die von ihm bevorzugten Gegenstände oder Freizeitaktivitäten hat Michael (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) sehr gelitten. Er beschreibt, dadurch dass ihm Dinge unentwegt gegeben und wieder weggenommen wurden, hat er das Interesse an den jeweiligen Spielwaren und somit an der Ausführung der ihm gestellten Aufgaben verloren. Zudem hatte er das Gefühl, dass er ständig „umschalten müsse auf Betrieb“ (Michael - persönliche Kommunikation, 26.07.2015), sodass er keine Ruhe mehr hatte, um sich mit Leib und Seele auf etwas einzulassen, das ihm einmal wichtig gewesen war.

„Das ist eine enorme Einschränkung!“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Lena (persönliche Kommunikation, 05.08.2015) schildert, dass durch die intensive Kontrolle das Kind nicht weiß, wann es uneingeschränkt spielen darf. Dies kann zu einer starken Unsicherheit bei dem autistischen Kind führen. Für das Kind ist es nicht möglich, zwischen Spiel- und Lernzeit zu unterscheiden, da auch Aktivitäten, in denen Spiel und Spaß stattfinden sollen, für das Kind oft mit Anforderungen verbunden sind. Michael bestätigt diese Befürchtungen und führt des Weiteren an, dass auch die Eltern hierbei mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Einerseits sollen Bezugspersonen in der Lernphase Aufforderungen erteilen und gewisse Dinge steuern und einschränken, andererseits soll es auch einen Rückzugspol geben, in dem Dinge genehmigt und akzeptiert werden.

6.6.4 Zweiter Schritt zur Unterrichtskontrolle

Pairing ist für Autisten grundsätzlich zu viel. Zu Laut, zu eng, zu intensiv, davon ist Lena (persönliche Kommunikation, 05.08.2015) überzeugt.

Was für Michael Spaß war und was seine Eltern als Spaß empfanden, waren aus seinem Blickwinkel zwei verschiedene Empfindungen. So war es für ihn zum Beispiel schmerzhaft,

wenn Eltern Kitzelattacken starteten. Wohingegen ausreichend Abstand Wohlbefinden ausgelöst hat.

„Es hätte keine Nähe etc. erzwungen werden müssen.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Diesen engen Körperkontakt kann er bis heute nicht nachvollziehen. Obwohl er Schwierigkeiten damit hatte diesen innigen Kontakt zu zulassen, zwang er sich, nach außen hin ruhig zu bleiben. Er hatte Angst ansonsten als „schlechter Mensch“ gesehen zu werden, da er offensichtlich „gute Entscheidungen“ für unangenehm befand. Innerlich hätte er sich jedoch „eingefroren oder geistig nicht mehr anwesend“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015) gefühlt. Für eine gute Eltern-Kind-Bindung betonen Michael und Anna, ist es wichtig, dem Kind mehr Rückzug zu bewilligen und ihm lediglich Nähe hin und wieder anzubieten. Die Eltern stehen in der Pflicht, die Grenzen ihres Kindes zu schützen und zu bewahren.

6.6.5 Dritter Schritt zur Unterrichtskontrolle

Dem Kind soll solange kein Zugang zu irgendeiner Verstärkung gegeben werden, bis es den Aufforderungen hinreichend nachgekommen ist. Diese konsequente Verhaltensweise, soll nach ABA dazu dienen Vertrauen aufzubauen. Nach Meinung Michaels (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) hat dies nichts mit Vertrauen zu tun. Nach seinen Angaben fühlen sich Elternteile dabei oft hilflos und sind nicht mehr sie selbst. Er würde es nicht als klar verbindliche Aufforderung definieren, sondern als Drohung bezeichnen.

Alle drei Befragten sind sich einig, der Begriff „Vertrauen“ wird hierbei von ABA stark missbraucht.

6.6.6 Vierter Schritt zur Unterrichtskontrolle

Michael sieht „Wenn, dann“-Aussagen als Erpressung an.

„Allein durch das Verhalten und die Konsequenzen wird bereits ‚Wenn-dann’ vermittelt als sehr direktes Erleben und im Grunde ohne Möglichkeit vorher darüber nachzudenken und eventuell andere Lösungen für solche Probleme zu finden. Und ohne Möglichkeit, zu verhandeln.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Dieses Konzept kann, laut Lena (persönliche Kommunikation, 05.08.2015), in der Erziehung durchaus angewandt werden. Ausschlaggebend hierbei ist jedoch, die Intensität der Anwendung. Ziel muss es sein, dass das Kind trotzdem das Verhandeln lernt, um somit einen eigenen Willen entwickeln zu können. Genau mit dieser Problematik hat sich Michael heutzutage auseinanderzusetzen, er hat nie gelernt zu verhandeln und ist somit leicht zu übervorteilen.

6.6.7 Fünfter Schritt zur Unterrichtskontrolle

Derjenige der ABA am Kind praktiziert legt fest, welches Verhalten gelobt und verstärkt werden soll. Michael sieht dies als grenzwertig an.

Denn es ist nicht der Fall, dass „das Positive“ immer auch vom Kind als positiv erlebt wird (beispielsweise der bereits beschriebene Körperkontakt). Vielmehr wird seiner Meinung nach dadurch vermittelt, dass man nur gut ist,

„wenn man zur vollsten Zufriedenheit die Erwartungen aller Menschen erfüllt und dabei keine eigene Persönlichkeit mehr besitzt.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Lena (persönliche Kommunikation, 05.08.2015) führt dies auf die zu stark orientierte Leistungsgesellschaft zurück. Michael (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) hat als Kind das „Antwort-Verstärker- Verhältnis“ bereits so stark verinnerlicht, dass er keine Reduktion dieser Vorgehensweise wahrnehmen konnte.

Auch als Erwachsener kommt es bei Michael wegen diesem „Antwort-Verstärker-Prinzip“ noch zu unangenehmen Situationen, denn auch wenn er Probleme hat, Forderungen seiner Mitmenschen nachzukommen, tut er es trotzdem, da er es eben so gelernt hat.

6.6.8 Sechster Schritt zur Unterrichtskontrolle

Den Ansatz, dass das Umfeld seine Vorlieben (durch Verteilung der Liste) ebenso gut kennt wie er selbst, empfindet Michael nicht nur als falsch sondern sogar als gefährlich. Dieses Ausmaß von Wissen über eine Person, kann seiner Meinung nach nicht sicherstellen, dass sämtliche involvierte Personen und deren erweitertes Umfeld, nicht

„in anderer Weise übergriffig werden.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Des weiteren schildert Michael, dass diese Vorgehensweise weiteren Druck auf das Kind ausübt, da er von allen Beteiligten wegen dem gleichen Fehlverhalten sanktioniert wird. Freiräume, in denen er sich nicht kontrolliert fühlte, gab es wenige. Eigene Prioritäten gingen dabei unter. Anna (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) befürwortet, sich mit den Vorlieben und Abneigungen des autistischen Kindes auseinanderzusetzen. Nach ihrer Einschätzung wird dies aber bei ABA mit der falschen Intention umgesetzt.

Ein neurotypischer Mensch bekommt zwar vermittelt, dass er in einer Sache einen Fehler gemacht hat, doch wird derjenige deswegen nicht pauschal verurteilt. Zudem wird nicht versucht, dieses Verhalten umgehend zu „löschen“.

6.6.9 Siebter Schritt zur Unterrichtskontrolle

Löschung als Konsequenz sieht Michael in keiner Situation als angebracht an. Nach seinem Standpunkt ist Löschung bei ABA mit Demütigung, in Form von destabilisierenden Maßnahmen wie

„Verbannung (time out), Ignorieren, Entzug von Zuwendung“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

gleichzusetzen. Das Ergebnis der Löschung ist gemäß den Schilderungen Michaels ein reiner Schockzustand, welcher einen daran hindert, das bestrafte Verhalten erneut auszuführen.

Auch Lena und Anna (persönliche Kommunikation, 05.08.2015/26.07.2015) werten dieses Verfahren als unzulässig, denn jedes Verhalten hat einen Auslöser. Es gilt nach Möglichkeit diesen zu finden und zu verhindern. Will man das Verhalten selbst unterbinden, so wird dieses rein unterdrückt; das kann zu psychischen Belastungen führen.

„Wenn ich das Verhalten nicht mehr zeigen darf, dann geht es ‚nach innen’ und führt in die Depression.“ (Anna – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Diskussion

Es ist natürlich, dass Eltern eine stärkere Autorität in der Familienstruktur besitzen als das Kind. Diese sollte jedoch nicht in einen reinen „Machtanspruch“ durch übermäßige Kontrolle ausgedehnt werden. Die in Schritt Eins (vgl. Kapitel 3.3) über Verstärker erlangte Kontrolle ordnet das Kind dem Erziehungsberechtigten stark unter. Man löst oft eine psychische Belastung aus, indem gewisse Reize bewusst in Szene gesetzt werden, die für das Kind jedoch nicht erreichbar sind. Derartige Erziehungsmaßnahmen werden bei nichtbehinderten Kindern ebenso durchgeführt, allerdings nicht in einer solchen Intensität und Rigorosität. Bei den mit ABA therapierten Kindern kann diese Vorgehensweise im Extremfall dazu führen, dass der Respekt dem Kind gegenüber verloren geht. Man kann sagen, dass eine derart starke Kontrollausübung sich negativ auf die Gleichstellung der Individuen auswirkt (vgl. Kapitel 5.1).

Durch die Abgrenzungsproblematik ist die unterrichtsfreie Zeit nicht mehr erkennbar und wird zu einer Unsicherheit, die sich in einer permanenten Anspannung widerspiegelt (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015; Lena, persönliche Kommunikation, 05.08.2015). Die kindliche Unbeschwertheit, welche einem jeden Kind zustehen sollte, geht dadurch verloren.

Durch das Pairing (vgl. Kapitel 3.3) soll eine starke Bindung zu den Eltern geschaffen und Spaß vermittelt werden. Sowohl Lena als auch Michael weisen darauf hin, dass es hierbei oftmals zu einer gewissen Grenzüberschreitung kommt (vgl. Lena, persönliche Kommunikation, 05.08.2015; Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015). Es kommt häufig zu mehr Körperkontakt, als es für das Wohlbefinden des Kindes gut ist. Oft wird übersehen, dass viele autistische Kinder körperliche Distanz bevorzugen (vgl. Großmaß 2006, S.335). Fraglich ist, ob Pairing nicht eher eine Methode für die Eltern ist, um Liebe und Zuneigung körperlich vermitteln und erhalten zu können. Aufgabe des Pädagogen wäre es, Eltern über die Gestik und Mimik eines Autisten aufzuklären. Wenn das Kleinkind Distanz zu Mutter und Vater sucht, ist das kein Indiz dafür, dass es diese nicht lieb hat. Im Gegenteil, es kann dies lediglich nicht so ausdrücken wie es allgemein erwartet wird. Die Eltern müssen akzeptieren, dass autistische Kinder genauso wie alle anderen Kinder Berührungen unterschiedlich zulassen können. Bei Autisten kann dieses Unwohlbefinden noch intensiver oder sogar schmerzlich (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015) auftreten. Daher wäre es gut, dem Kind an diesem Punkt mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen und nicht durch Fremdbestimmung Liebe erzwingen zu wollen (vgl. Kapitel 5.2).

In Schritt Drei und Vier soll durch klare Anweisungen Vertrauen aufgebaut werden. Das Kind muss wissen, dass auf getroffene Aussagen Verlass ist. Diese Art des „sich auf den anderen verlassen können“ wird hier als Vertrauensbasis verstanden. Die Care-Ethik verweist darauf, dass Vertrauen die Grundlage für eine umfangreiche Hilfeleistung und langfristige Unterstützung ist (vgl. Müller-Teusler 2011, S.328). Vergleicht man das angestrebte Vertrauen der Care-Ethik mit dem Vertrauen wie es durch ABA aufgebaut werden soll, so stellt sich die Frage, ob man hier von dem gleichen Vertrauen sprechen kann.

Man kann allen drei Befragten Recht geben, dass von einem „Missbrauch“ gesprochen werden kann, wenn man Vertrauen als reines Mittel versteht, um Verstärker besser einsetzen zu können. Wenn Vertrauen nur auf einer Therapiemaßnahme aufbaut und man dabei den eigentlichen Gedanken der Zuverlässigkeit, welche in der gesamten zwischenmenschlichen Beziehung vorhanden sein soll außer Acht lässt, kann man hier nicht von einer tiefgründigen und langanhaltenden Vertrauensbasis sprechen.

Wie in Schritt Fünf durch die Aussagen von Michael klar wurde, ist es für die ferne Zukunft des Autisten notwendig, dass er lernt seinen eigenen Standpunkt vertreten zu können, um eine gewisse Selbstständigkeit zu erreichen. Diese ständige Lenkung durch das „Antwort- Verstärker-Prinzip“, welches in jeglichen Lebensbereichen des Kindes angewandt wird, verhindert eine notwendige Emanzipation (vgl. Niehoff-Dittmann 1996, S.56). Da immer Dritte für das Kind entscheiden, welche Fähigkeiten als positiv oder negativ angesehen werden und welche es zu verändern gilt, lernt das Kind nie selbst einzuschätzen, was richtig und was falsch ist (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015).

In Schritt Sechs wird eine Liste der aktuellen Verstärker an das soziale Umfeld des Kindes weitergegeben. Hierbei findet ein starker Eingriff in seine Privatsphäre statt, da alle seine Interessen publiziert werden. Rückzugsorte und mögliche Vertrauenspersonen, welche keine therapeutischen Absichten verfolgen, sind dadurch schwer zu finden. Zudem birgt die Veröffentlichung von persönlichen Daten und Vorlieben die Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015).

Nach dem Empowerment-Konzept ist es wichtig, dass jeder seinen eigenen Entwicklungsterminus hat, den es zu akzeptieren gilt (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.22). Durch eine durchgehende Therapie kann es dazu kommen, dass die individuelle Geschwindigkeit, die das Kind für seine Entwicklungsschritte benötigt, nicht eingehalten wird. Wäre der Kontakt zu seinem sozialen Umfeld nicht durchgehend mit Training verbunden, so könnte das Kind besser von den Ressourcen seiner Mitmenschen profitieren und seine eigenen Fähigkeiten miteinbringen (vgl. Kapitel 5.4). Die Eltern legen fest, welche Fähigkeiten dem Kind angeeignet und an diesem gefördert werden. Diese Prioritäten werden anschließend von allen Beteiligten strikt durchgesetzt. Persönliche Stärken und Kompetenzen des Individuums werden dabei leicht übersehen.

In Schritt Sieben setzt man sich nun mit dem von den Eltern und Pädagogen definierten Problemverhalten auseinander. Mit dem Ziel dieses abzutrainieren, wendet man die sogenannte „Löschung“ an. Hierbei wird nicht erkannt, dass manche Verhaltensweisen, die als negativ eingestuft werden eigentlich „Warnsignale“ der Kinder sind (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S.103). Diese sollen darauf hinweisen, dass sie sich in bestimmten Situationen gestresst und unwohl fühlen. Auch an dieser Stelle wäre es wieder empfehlenswert einen Pädagogen heranzuziehen, welcher die Eltern darüber aufklärt wann es sich um ein Schutzverhalten des Kindes und wann es sich um ein gängig trotziges Verhalten handelt. Man kann also davon ausgehen, dass durch diese enge Gradwanderung dem Kind ein für sich nützliches Verhalten abtrainiert wird, nur weil dieses nicht dem Normalitätsgedanken entspricht (vgl. Kapitel 5.1).

Vor allem aber lässt sich die Art und Weise anprangern, wie die „Löschung“ durchgeführt wird. So wird doch in den heutigen Studien darauf verwiesen (vgl. Kapitel 4.1), dass auf aversive Methoden in der Intervention ABA verzichtet wird. Dabei lässt sich jedoch darüber streiten, ob die angewandten Maßnahmen der Löschung, wie beispielsweise Ignorieren, Time out oder die Verweigerung von Zuwendung (vgl. Michael, persönliche Kommunikation, 26.07.2015), nicht als eine andere Form der aversiven Methoden definiert werden kann. Die Grenzen nach Artikel 17 UN-BRK, nach Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit des Kindes sind in diesem Fall sicherlich erreicht, wenn nicht bereits überschritten (vgl. Kapitel 5.5).

Der Ansatz der Experten, nach Ursachen für ungewünschtes Verhalten zu forschen und diese nach Möglichkeit zu unterbinden, ist vielleicht im ersten Moment aufwändiger, langfristig gesehen werden dadurch aber persönliche Stärken des Kindes weiterentwickelt.

6.7 Abschließende Betrachtung und Bewertung von ABA

In folgendem Abschnitt, sollen die jeweiligen Bereiche Inklusion, Ethik und Erfolg durchleuchtet und Verbesserungsvorschläge der Experten angeführt werden.

„Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch so wie er eben ist einen Platz in der Gesellschaft finden kann. Wird er dazu zunächst verbogen, kann es nicht mehr Inklusion genannt werden!“ (Lena – persönliche Kommunikation, 05.08.2015)

ABA ist bereits im Ansatz keine Inklusion, darüber sind sich alle drei Teilnehmer einig. Michael (persönliche Kommunikation, 26.07.2015) beschreibt es so, dass der Autist bei dieser Methode als Barriere verstanden wird; dies ist jedoch nicht im Sinne der Inklusion.

Auch in Bezug auf die Ethik vertreten alle drei Befragten den gleichen Standpunkt. ABA ist ethisch nicht vertretbar. Lena und Anna (persönliche Kommunikation, 05.08.2015/ 26.07.2015) werten ABA gar als einen Verstoß gegen die Menschenwürde und somit als Verbrechen. Michael erklärt, dass die ethischen Richtlinien des ABA-Programms von deren Zertifizierungsstelle vorgegeben werden. Seiner Meinung nach beschreiben diese aber mehr „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015). Von Ethik könne man hier nicht sprechen.

Des weiteren weisen alle darauf hin, dass man sich generell mit der Begrifflichkeit „Erfolg“, welchen ABA verspricht, auseinandersetzen sollte.

„Solange ein Verhalten als ‚Erfolg’ gewertet wird, das möglichst den Normvorstellungen entspricht und nicht dem entspricht, was ein autistischer Mensch für sich selbst vorab und frei festgelegt hat, persönlich erreichen zu wollen und für seine persönlichen Ziele Unterstützung zu erhalten, sollte nicht nach Erfolgschancen gefragt werden.“ (Michael – persönliche Kommunikation, 26.07.2015)

Auch Lena kann bei diesen Fortschritten, die durch Konditionierung erreicht werden, keinen Erfolg beziehungsweise keine positive Veränderung für das Kind erkennen.

Bei der Frage nach ihren individuellen Wünschen, äußern alle Drei relativ übereinstimmende Vorstellungen. Dies sind ein offener Dialog mit neurotypischen Personen, mehr Verständnis für ihre Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen und als gleichwertiger Mensch angesehen zu werden. Wichtig wäre ihnen auch, dass man ihnen zuhört und ihren Aussagen Glauben schenkt. Alle Drei sind eindeutig der Meinung, dass diese Zielsetzungen nicht durch ABA verwirklicht werden können. Michael unterbreitet den Vorschlag, ABA ausschließlich Personen anzubieten, die nachweislich in der Lage sind zu verstehen, was ABA in der Umsetzung bedeutet. Es ist wichtig, selbst entscheiden zu können ob man „normalisiert“ werden möchte. Dabei sollten auch alternative Therapieformen, die mehr einer Lebensberatung ähneln, vorgestellt und angeboten werden. So werden Wünsche, Bedürfnisse und die Partizipation der Betroffenen berücksichtigt.

Diskussion

Die Experten können keinerlei Inklusionsabsichten in ABA erkennen. Diese Haltung kann tatsächlich vertreten werden, nachdem man die ethischen Grundzüge der Inklusion genauer betrachtet hat. Zu diesen zählen, die Würde des Menschen, die Bewahrung der Identität, Entscheidungsfreiheit und Autonomie, sowie wie die Achtung vor Kompetenzen von behinderten Kindern und der Schutz vor seelischer und körperlicher Unversehrtheit, welche in den Artikeln 3 und 17 der UN-BRK verankert sind (vgl. Kapitel 5.5). Diese gesetzlichen Richtlinien sollen bewusstes ethisches Handeln festlegen. In der vorliegenden Arbeit wurden diese Aspekte genauer aufgezeigt und mit den Ansätzen ABAs verglichen. Deutlich wurde, dass in jedem angesprochenen Gesichtspunkt Unstimmigkeiten aufzufinden sind.

Vergleicht man den Ansatz ABAs mit dem der Inklusion, so sind zwei vollkommen unterschiedliche Zielsetzungen und Grundsätze zu erkennen. ABA zielt auf die „Normalität“ der Autisten ab, die Inklusion hingegen strebt nach Akzeptanz der Individualität eines jeden Menschen, mit welcher er zur Vielfalt der Gesellschaft beiträgt. Bereits diese beiden Grundeinstellungen lassen sich nicht vereinen. Auch die Selbstbestimmung und Würde des Menschen werden durch die Interventionsform ABA nicht ausreichend gewürdigt. Gezeigt hat sich, dass ABA dem Autisten verwehrt, seinen eigenen Willen entwickeln zu können. Im Extremfall wird er durch die ständige Kontrolle und Anweisungen zur Marionette der Gesellschaft. Richtet man sich rein nach den Mitmenschen, kann die eigene Persönlichkeit und Identität verloren gehen.

Nach allen getätigten Recherchen und Befragungen, hat sich herausgestellt, dass man mit der Begrifflichkeit Erfolg, den ABA verspricht, vorsichtig umgehen muss. Das Verständnis von Erfolg kann unterschiedlich ausgelegt werden. So bezeichnen es die Anbieter als Erfolg, je weniger autistische Züge aufgezeigt werden. Doch kann man wirklich von Erfolg sprechen, wenn man dabei die Charakteristik des Kindes völlig verändert? Stützt man sich auf die Aussagen Michales (vgl. persönliche Kommunikation, 26.07.2015) so kann es durch ABA, wie bereits erwähnt, zu einer großen psychischen Belastung kommen. Dies hat zur Folge, dass die seelische Unversehrtheit, eines der wichtigsten Güter eines Menschen beeinträchtigt wird. Wirkt sich eine Intervention negativ auf die Psyche eines Kindes aus, wäre es zynisch von Erfolg und somit auch von Heilung zu sprechen.

Deutlich wurde in der Befragung, dass die Autisten das Bedürfnis haben, ihre Wünsche und Erfahrungen zum Ausdruck bringen zu können. Sie machen sich viele Gedanken und haben durchaus gute Veränderungsvorschläge erarbeitet. Das alles zeigt, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, um diese Missverständnisse aus dem Weg zu schaffen, vorhanden ist. Der erste Schritt wäre es nun, dass sich beide Parteien aufeinander zubewegen.

7. Resümee

Zielsetzung dieser Arbeit war es, die Autismus-Therapie Applied Behavior Analysis unter Abwägung ethischer Grundsätze nach ihrer Leistungsfähigkeit im Rahmen der Inklusion von Autisten in die Gesellschaft zu hinterfragen. Anhand der durchgeführten Studie konnte aufgezeigt werden, dass man bei der Wirksamkeit ausschließlich nach einer im Sinne der Gesellschaft getroffenen Definition sprechen kann. Es hat sich herauskristallisiert, dass sich ABA auf die Psyche und inneren Bedürfnisse autistischer Menschen überwiegend negativ auswirkt. Individuelle Fähigkeiten der Autisten werden im Katalog weder mitaufgenommen noch systematisch gefördert. Angesprochene Kritikpunkte wurden bis heute nicht wirklich aufgearbeitet und in der Umsetzung berücksichtigt. Durch die Recherchen wurde deutlich, dass Ziele rein durch Pädagogen und Eltern formuliert werden, wodurch das Kind in seiner Partizipation, Emanzipation und Entwicklung seiner Fähigkeiten eingeschränkt wird.

Soziale Arbeit ist in ihrem Ansatz und aufgrund gesetzlicher Anforderungen auf das Ziel der Inklusion ausgerichtet. ABA und Inklusion lassen sich bereits in ihrem Ansatz, ihrer Einstellung zur Selbstbestimmung, ihren Vorgehensweisen, sowie in der Art und Weise wie Fürsorge definiert wird, nicht vereinbaren. In allen Punkten konnten starke Widersprüchlichkeiten gefunden werden die aufzeigen, dass der nach ABA definierte Erfolg nicht dem Sinn der Inklusion entspricht.

Wie kann man mit diesen Defiziten der verhaltenstherapeutischen Ansätze nun im Rahmen der Sozialen Arbeit umgehen? Die Ergebnisse machen deutlich, dass ein pädagogisches Umdenken in Bezug auf ABA unumgänglich ist. Zum einen sollten eigene Lebensvorstellungen nicht auf Klienten übertragen werden, zum anderen sollte man sich als Pädagoge nicht zwangsweise medizinischen, institutionellen und gesellschaftlichen Richtlinien unterordnen. Wünschenswert wäre es zudem, dass sich die Fachkräfte intensiver mit den Fähigkeiten und Wünschen des Kindes auseinandersetzten. Abschließend kann festgestellt werden, dass die entfachte Diskussion über ABA nachvollziehbar und die geäußerte Kritik des Regionalverbandsautismus Mittelfranken e.V. durchaus berechtigt ist.

Es hat sich als eine Stärke dieser Arbeit herauskristallisiert, dass ein qualitativ schriftliches Experteninterview mit Betroffenen durchgeführt wurde. Trotz ihrer gehemmten verbalen Kommunikation war es ihnen dadurch möglich ihre inneren Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.

Die vorliegende Arbeit soll einen Anstoß geben, die aktuelle Debatte ernst zu nehmen und sich intensiver mit der Problematik auseinanderzusetzten. Es wurde in einem hohen Maß deutlich, dass noch erhebliche Forschungslücken bestehen. Sowohl ethische Aspekte, als auch Erfahrungen der Betroffenen wurden bisher zu wenig miteinbezogen. Ein Ziel dieser Studie war es, einen Teil dieser Mängel aufzuzeigen. Aufgrund des begrenzten Umfangs einer Bachelorarbeit, konnte nur eine geringe Anzahl an Befragungen durchgeführt werden. Bei weiteren Forschungen auf dem Gebiet der angewandten Verhaltensanalyse sollen daher Autisten vermehrt als Experten in eigener Sache gehört werden.

Literaturverzeichnis

American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5R. Göttingen: Hogrefe Verlag.

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Anhang

Bachelorarbeit:

Von Normalisierung zur Inklusion? Eine kritische Betrachtung der Wirksamkeit der Autismus-Intervention Applied Behavior Analysis

Durchführung einer empirischen Untersuchung – Eine Befragung zur Einschätzung der Autismus-Therapie Applied Behavior Analysis

Das qualitativ schriftliche Experteninterview

Liebe Teilnehmerin, lieber Teilnehmer,

vielen Dank, dass Sie sich an der Befragung beteiligen möchten.

In meinem fünften praktischen Studiensemester des Studienganges Soziale Arbeit an der Fachhochschule Landshut habe ich mit Kindern- und Jugendlichen mit Autismus zusammengearbeitet. Dies hat mir sehr viel Freude bereitet und ich konnte zahlreiche Erfahrungen sammeln. In dieser Zeit haben die Jugendlichen und ich ein intensives Vertrauensverhältnis aufgebaut. Durch sie habe ich gelernt die Welt bewusster wahrzunehmen, wie zum Beispiel sich über Kleinigkeiten wieder mehr zu freuen.

Aufgrund dieser Erfahrungen möchte ich mich auch weiterhin intensiv mit dem Thema Autismus auseinandersetzten. Somit bin ich zu meinem Bachelorthema gekommen.

Mit Hilfe dieses Leitfadens möchte ich erfahren, wie Sie die Therapieform Applied Behavior Analysis einschätzen und bewerten.

Die Befragung ist in fünf Themenblöcke, einschließlich Ergänzungsfragen, gegliedert. Die Forschungsarbeit unterliegt den Regelungen der Datenschutzgesetzgebung. Das heißt, alle Angaben werden anonym und mit hoher Vertraulichkeit behandelt. Natürlich ist es Ihnen überlassen, aus persönlichen Gründen, einzelne Fragen zu streichen.

Bitte stellen Sie den ausgefüllten Leitfaden bis zum 26.07.2015 an mich zurück. Bei Verständnisfragen

können Sie mich gerne unter der folgenden E-Mail-Adresse: s-cschuh@haw-landshut.de kontaktieren. Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit und Unterstützung!

Ihre, Corinna Schuhegger

Interview mit Hilfe eines Leitfadens

1. Angaben zur Person und persönlicher Bezug zu ABA

1.1 Geschlecht

1.2 Welche Erscheinungsform von Autismus wurde bei Ihnen festgestellt?

1.3 Wurde ABA bei Ihnen angewandt?

1.4 Wenn ja, über welchen Zeitraum?

1.5 Falls ABA nicht bei Ihnen angewandt wurde, wie sind Sie auf die Intervention aufmerksam geworden?

1.6 In welcher Art und Weise setzen Sie sich aktuell mit ABA auseinander?

2. Gesellschaftsbezogene Fragen

2.1 Inwieweit fühlen Sie sich von der Gesellschaft akzeptiert und verstanden?

2.2 Werden ihre Bedürfnisse und Wünsche bzw. Stärken und Fähigkeiten berücksichtigt und anerkannt?

2.3 Werden Ihnen genügend Möglichkeiten gegeben, sich selbstbestimmt zu entwickeln?

2.4 Wie reagieren ihre Mitmenschen auf ihre autistischen Züge?

2.5 Welche Empfindungen lösen diese Reaktionen bei Ihnen aus?

2.6 Fühlen Sie sich von der Gesellschaft optimal integriert bzw. inkludiert?

2.7 Wenn ja, wie zeigt sich das?

2.8 Wenn nein, woran scheitert es?

3. Einbindung der Bezugspersonen in die Therapiemaßnahmen

In diesem Abschnitt bitte ich Sie mir Ihre persönliche Einschätzung bzw. Erfahrungen zur ABA-Methode mitzuteilen. Entweder aus persönlichen Erlebnissen aus der Behandlung oder aus Ihrem Wissen- und Erfahrungsschatz. Sollten Sie zu einzelnen Fragen keine Angaben machen können bzw. wollen, können Sie diese gerne streichen.

3.1 Wie wurden Sie, ihre Eltern und das Umfeld von Pädagogen und Therapeuten der Institution begleitet?

3.2 Welche Schulungen wurden ihren Eltern angeboten, um die Qualifikation als Co-Therapeut zu erhalten?

3.3 Wurden zu Beginn der Therapie Ziele festgelegt, die es galt zu erreichen?

3.4 Wenn ja, welche?

3.5 Wurden ihre Stärken und Fähigkeiten durch die ABA-Intervention erkannt und gefördert?

3.6 Wie würden Sie während der Anwendung die Aufteilung von Selbst- und Fremdbestimmung bewerten?

3.7 Wie entwickelte sich die Bindung zu ihren Eltern bzw. zu ihrem Umfeld während der Behandlung?

3.8 Wie würden Sie zum heutigen Zeitpunkt Ihre Beziehung zu ihren Bezugspersonen beschreiben?

3.9 Werden Sie bis heute von ABA-Therapiemaßnahmen in irgendeiner Form positiv oder negativ „beeinflusst“? Bitte begründen Sie ihre Aussage.

3.10 Welche Entwicklungsmöglichkeiten bzw. Einschränkungen sehen Sie in der Anwendung dieser Methode?

4. Fragen zu den sieben Schritten der Unterrichtskontrolle

1. Schritt: „Zeigen Sie Ihrem Kind auf, dass Sie die Kontrolle über jene Dinge besitzen, welches es haben oder mit welchen es spielen möchte und dass Sie entscheiden werden, wann und wie lange Ihr Kind diese Dinge haben kann.“

4.1 ABA ist mit einer 20-40 Stunden Woche angesetzt. Denken Sie es bleibt noch genügend Zeit, um sich uneingeschränkt mit Lieblingsdingen / - aktivitäten zu beschäftigen?

4.2 Wie würden Sie die Kontrolle, welche über einen Großteil des Tages über das Kind ausgeübt wird, bewerten?

4.3 Wie grenzt man kontrollierte Unterrichtszeit von der persönlichen Freizeit ab?

2. Schritt: „Zeigen Sie Ihrem Kind, dass es mit Ihnen Spaß haben kann. Machen Sie jede Interaktion zwischen Ihnen zu einer freudvollen Erfahrung, so dass Ihr Kind gerne Ihren Aufforderungen folgen möchte, um mehr Zeit zu haben, diese Erfahrungen mit Ihnen zu teilen.“

4.4 Wie beurteilen Sie die überzogene Art des Spielens?

4.5 Wird damit eine Grundlage für eine gute Eltern-Kind-Bindung geschaffen?

4.6 In welchem Anteil haben die Kinder beim Spielen die Möglichkeit Ihre eigenen Gedanken und Ideen mit einzubringen?

4.7 Wer setzt die Grenzen bei Überschreitung der Intimsphäre (z.B. Umarmung, Küssen, Blickkontakt)?

3. Schritt „Zeigen Sie Ihrem Kind, dass es Ihnen vertrauen kann. Sagen Sie immer, was Sie meinen und meinen Sie immer, was Sie sagen. Wenn Sie Ihrem Kind die Aufforderung geben etwas zu tun, geben Sie ihm keinen Zugang zu irgendeiner Verstärkung, bis es Ihrer Aufforderung hinreichend nachgekommen ist.“

4.8 Würden Sie diese konsequenten Verhaltensweisen als vertrauenswürdig bezeichnen?

4.9 Wird hier Klarheit und Verbindlichkeit in der Sprache mit Vertrauen vertauscht?

4. „Zeigen Sie Ihrem Kind auf, dass die Befolgung Ihrer Aufforderungen vorteilhaft und der beste Weg ist, zu bekommen was es möchte. Geben Sie Ihrem Kind so oft wie möglich einfache Aufforderungen, um dann seine Entscheidungen für deren Nachkommen durch gute Erfahrungen zu verstärken.“

4.9 „Wenn, dann “ – Aussagen sind zu vermeiden, um das Kind nicht zum Verhandeln einzuladen. Wie sehen Sie diesen Ansatz?

4.10 Jede sich bietende Möglichkeit soll für eine Anweisung genutzt werden. Trifft das Kind eine angemessene Entscheidung so wird dies als Verstärker verwendet. Heben sich bei dieser Häufigkeit dieser Anweisungen die Verstärker gegenseitig auf?

4.11 Inwieweit ist die Entwicklung eines eigenen Willens bei dieser Vorgehensweise möglich?

5. Schritt: „Verstärken Sie während der frühen Phasen der Erlangung von Unterrichtskontrolle nach jeder positiven Antwort/Reaktion. Wechseln Sie schließlich zu einem ständig steigenden variablen Verhältnis an Verstärkung.“

4.12 Bedeutet der Ansatz ABA, dass das Kind durchgehend Leistung zeigen muss, um positive Resonanz zu erhalten?

4.13 Wenn ja, wie stehen Sie dazu?

4.14 Das Antwort-Verstärker-Verhältnis soll dem Kind vermitteln, wann es richtig handelt. Wer legt fest was eine richtige Entscheidung ist?

4.15 Haben Sie eine Reduktion des Antwort-Verstärker-Verhältnisses wahrgenommen?

4.16 Wenn ja, bitte beschreiben Sie diese kurz.

4.17 Welche Empfindungen löst diese Vorgehensweise bei Ihnen aus?

6. Schritt: „Zeigen Sie, dass Sie die Vorlieben Ihres Kindes ebenso gut wie Ihre eigenen kennen.“

4.17 Eine Liste der aktuellen Verstärker (Vorlieben) wird an das soziale Umfeld weitergegeben. Ist die Achtung vor der Privatsphäre dabei gegeben?

4.18 Inwieweit werden die Interessen der Kinder bei der Priorisierung der Ziele berücksichtigt?

4.19 Wo findet das Kind einen Rückzugsort ohne Leistungsdruck?

7. Schritt: „Zeigen Sie Ihrem Kind, dass das Ignorieren Ihrer Aufforderungen oder eine unangemessene Verhaltensentscheidung nicht zum Erhalt von Verstärkung führt.“

4.20 Schildern Sie bitte aus Ihrer Sichtweise ein Beispiel in der Sie die Löschung eines unangemessenen Verhaltens als angebracht und richtig ansehen.

4.21 In welcher Situation ist nach Ihrer Meinung der Einsatz einer Löschung nicht angemessen bzw. kontraproduktiv?

5. Ergänzende Fragen

5.1 Die Methode zielt darauf ab, autistische Verhaltensweisen abzutrainieren. Würden Sie diese Vorgehensweise als Erfolg für autistische Menschen definieren?

5.2 Denken Sie, dass ABA zur Inklusion beitragen kann? Bitte begründen Sie ihre Aussage.

5.3 Denken Sie, dass ABA ethisch vertretbar ist? Bitte begründen Sie ihre Aussage.

5.4 Welche Wünsche / Anregungen hätten Sie an Pädagogen, Therapeuten und Ihr soziales Umfeld?

Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere hiermit, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst, noch nicht anderweitig für Prüfungszwecke vorgelegt, keine anderen als die angegebenen Quellen oder Hilfsmittel benutzt sowie wörtliche und sinngemäße Zitate als solche gekennzeichnet habe.

Landshut, den 15. September 2015,

An der HAW Landshut können Studien- und Prüfungsleistungen auf Plagiate überprüft werden.

Mit meiner Unterschrift erkläre ich

...................................................................................................................................

(Vorname, Name, Matrikelnummer)

mich damit einverstanden, dass die von mir im Rahmen der Erstellung der Bachelorarbeit erbrachten Studien- und Prüfungsleistungen nach Abgabe einer automatischen EDV-gestützten Plagiatsüberprüfung unterzogen werden können.

Die Überprüfung der Arbeiten erfolgt ausschließlich in anonymisierter Form, d.h. meine persönlichen Daten (Vorname, Name, studentische E-Mail-Adresse) werden nicht verwendet.

Meine Arbeiten werden zur Plagiatsprüfung nicht dauerhaft gespeichert. Mit dem bestandskräftigen Abschluss des jeweiligen Prüfungsverfahrens werden der Prüfbericht sowie sonstige Dateien gelöscht.

Sonstige Aufbewahrungspflichten seitens der Hochschule bleiben unberührt.

Mir ist bekannt, dass eine Nutzung von fremden, nicht kenntlich gemachten Quellen einen Täuschungsversuch darstellt.

............................................... .......................................................

(Ort, Datum) (Unterschrift des Studierenden)

Bei der Abgabe der Arbeit muss eine Bibliothekserklärung ausgefüllt werden, die die Zugänglichkeit der Arbeit über die Bibliothek der Hochschule entsprechend dem Willen der/des Studierenden regelt.

Der Dekan

gez. Prof. Dr. Stefan Borrmann

Der Vorsitzende der Prüfungskommission

gez. Prof. Dr. Clemens Dannenbeck

Quelle

Corinna Schuhegger: Von Normalisierung zur Inklusion? Eine kritische Betrachtung der Wirksamkeit der Autismus-Intervention Applied Behavior Analysis (ABA). Bachelorarbeit an der Hochschule Landshut - Hochschule für angewandte Wissenschaft; Gutachter: Prof. Dr. phil. Clemens Dannenbeck.

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 12.09.2016

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