Thesen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Perspektive der De-Institutionalisierung

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Recht, Lebensraum
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Thesen für ein Referat beim 9. Internationalen Menschenrechtsforum Luzern (IHRF) 2013 des Zentrums für Menschenrechtsbildung (ZMRB) der PHZ Luzern zum Thema "Menschenrechte und Menschen mit Behinderungen", 26./27. April 2013
Copyright: © Volker Schönwiese 2013

Thesen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Perspektive der De-Institutionalisierung

1. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist stark von der internationalen Selbstbestimmt Leben Bewegung initiiert worden. Das entsprechende Konzept ist in den 1980er-Jahren so beschrieben worden: »Selbstbestimmt leben heißt, KONTROLLE ÜBER DAS EIGENE LEBEN zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrnehmen und Entscheidungen fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Selbstbestimmung ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muss.« (Frehe 1990) Im Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention ist dieses Konzept nun menschenrechtlich abgesichert.

2. Welchen Bruch diese Formulierungen mit der Entwicklung der Behindertenhilfe seit 1945 darstellen, soll kurz nachvollzogen werden:

Nach den nationalsozialistischen Eugenik- und Mordprogrammen hat sich das System der Behindertenhilfe auf der Ebene totaler Institutionen (vgl. Goffman 1973) neu stabilisiert. Diese Institutionalisierung in Großeinrichtungen folgte einem Ordnungs- und Heilungsparadigma, das Disziplinierung, Aufbewahrung, Spaltung in Heilbare-Unheilbare und damit eine neue nur wesentlich verdecktere Eugenik praktizierte.

Die Entwicklung ist damit als gleichzeitig katholisch-konservativ und fortschrittlich-eugenisch geprägt zu bezeichnen. Die fortschrittlich-eugenische Variante des Zugriffs auf behinderte Menschen heißt: An Anpassung orientierte Förderung mit modernen Therapien und gleichzeitige einschränkende bis repressive Haltung gegenüber Grundbedürfnissen des Lebens, was sich besonders deutlich beim Thema unterdrückte Sexualität, Sterilisation und Abtreibung zeigt. Dazu Selektion über Pränataldiagnostik. Erst ab den späten 70er-Jahren regt sich Widerstand.

Die Entwicklung läuft grob in drei Phasen, die miteinander verschränkt sind, sich überschneiden und bis heute fortsetzen:

  • Rekonstruktionsphase: von der totalen zur humanisierten Institutionalisierung: Wiederherstellung, Bewahrung und Verbesserung der Großheime, ab 50-60er-Jahre, Humanisierung und Kolonisierung (ein Begriff von Goffman 1973) verbunden mit einem Paradigma der "Heilung" als Aufbewahrung und repressiver Förderung in speziellen/isolierten Räumen. Das praktizierte Modell Kloster ist von einem medizinischen Pflegemodell, direktiver Pädagogik, Gewalt und Barmherzigkeit als "harte Liebe" und einem hoch strukturierten Leben geprägt. Ziel: Disziplin

  • Phase der Modernisierung über regionalisierte De-Instititutionalisierung und Normalisierung: Modernisierung ab den 60er-70er-Jahre, Verstärkung Rehabilitations-Paradigma, spezielle Förderung und vollständige Therapeutisierung des Alltags unter Einbeziehung des sozialen/ familiären Umfeldes (vor allem: die Mutter als Co-Therapeutin), Dominanz verhaltenstherapeutischer Modelle als Basis von Förderung, teilweiser Integration und teilweise De-Institutionalisierung bzw. Regionalisierung der Instititutionalisierung, Unterwerfung unter ein Dienstleistungs-Markt-Modell, das systemlogisch an der Ausweitung von Dienstleistungen und Monopolisierung interessiert ist. Ziel: Anpassung McKnight stellte schon 1979 fest, dass die professionellen Dienstleistungen Bedürfnis als Mangel definieren und dem Klienten drei Dinge suggerieren: »1. Du leidest unter Mängeln. 2. Du selbst bist das Problem. 3. Du hast ein ganzes Bündel von Problemen auf dich vereinigt. Aus der Perspektive der Interessen und Bedürfnisse der Dienstleistungssysteme lauten diese drei Mängel-Definitionen so: 1. Wir brauchen Mängel. 2. Die ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist das Individuum. 3. Die produktive ökonomische Einheit, die wir brauchen, ist ein Individuum mit vielen Mängeln. « (McKnight 1979, S. 48)

  • Menschenrechts-Orientierung: Das Paradigma des Lebens mit Unterstützung wird ab den 80er-90er-Jahren vertreten und orientiert sich an Selbstbestimmung, Inklusion in sozialer Kohäsion, Unterstützung durch Assistenz, persönliche Zukunftsplanung und persönliche Unterstützerkreise, Individualisierung und Menschenrechtsparadigma, im Zwiespalt zwischen Kunden-Modell und Befreiung. (Vgl. Hinz 2006) Ziel: Selbstbestimmung

3. Therapie als hauptsächliche Legitimation von Institutionalisierung - der Mythos Therapie

Der Arzt Adriano Milani-Comparetti - einer der zentralen Exponenten der Integrationsbewegung im Klima der Anti-Psychiatrie-Bewegung in Italien - beschrieb schon in den 1970er-80er-Jahren zu der um sich greifenden Therapeutisierung des Alltags behinderter Kinder, Jugendlicher, Erwachsener - Männer und Frauen:

»So ist die totalitäre und betrügerische These entstanden: mehr Therapie = mehr Resultate, während in jedem anderen, verantwortungsbewußteren Bereich der Medizin Therapie in dem Maße verabreicht wird, das der Notwendigkeit entspricht. So ist auch die Zwangsvorstellung aufgekommen, daß für den Behinderten alles besonders sein muß, die zur Absurdität der Institutionalisation geführt hat, wobei die eigentlichen Probleme des durch den Defekt seines Kindes in Angst versetzten Erwachsenen maskiert werden konnten.

Alles wurde besonders - von der Schule zum Spielzeug, von der Behandlung zur pädagogischen Förderung, vom Schonraum zum Personal, das allein nur das besondere Kind zu verstehen in der Lage war. Das behinderte Kind war dazu verdammt, bei allem was es tat und was es berührte, dem besonderen zu begegnen; König Midas aber starb schließlich daran, daß alles zu Gold wurde, was er berührte. Infolge des Mißbrauchs der Medizin und der Pädagogik durfte also das Kind nicht mehr am täglichen Leben teilhaben ....«

Harte Worte sind dies, die die Modernisierung und an Defekten orientierte Medikalisierung und Therapeutisierung geiselten. Heilpädagogik hat sich bis heute nicht diesem Spannungsfeld zwischen Förderparadigma und sozialer Konstruktion von Behinderung entziehen können. Die in der Stigma-Theorie beschriebene Struktur selbsterfüllender Prophezeiungen (»self-fulfilling prophecy«) bleibt im Drei-Schritt der Diagnostik, Förderung und Kontrolle in ihrer Bedeutung für die Produktion von Behinderung grundsätzlich erhalten. (vgl. Hohmeier 1975)

4. Nochmals zur Logik der aktuellen Ausweitung der Dienstleistungsstruktur im Feld der Behindertenhilfe:

»Charakteristisch für die Stellung der freien Wohlfahrtspflege ist ... das enge Kooperations- und Austauschgeflecht, das diesen Sektor mit dem Staat verbindet« schreibt Wansing (2005, S. 160) und zeigt, wie diese privilegierte Position zu Monopolbildungen führt und Dienstleistungsmärkte bremst. Wansing (ebd. S. 167) verweist darauf, dass eine Angebotssteuerung der Kunden von Dienstleistungen entsprechende finanzielle Ressourcen bei den betroffenen behinderten Personen erfordert (»persönliches Budget«), sonst ist die Kundenorientierung, von der aktuell immer mehr gesprochen wird, ein reiner Etikettenschwindel. Sie zitiert (ebd. 168) Grunwald: »Eine professionelle Dienstleistungsorientierung muss die Rolle des Subjekts als Koproduzenten der sozialen Dienstleistung (...) und die Ausrichtung an der Herstellung und Sicherung sozialer Bürgerrechte ihrer NutzerInnen betonen, um nicht einer ökonomisch und technologisch orientierten Instrumentalisierung durch die Hintertür zu erliegen.«

5. Gewichtige Dokumente der Europäische Union unterstützen den Übergang von Institutionalisierung zur gemeindenahen Unterstützung (vgl. Europäische Kommission 2009, Europäische Expertengruppe 2012). Dass eine Reform der Behindertenhilfe nicht an Kosten scheitert, zeigt ebenfalls eine Studie im Auftrag der Europäischen Kommission zum Übergang von Großeinrichtungen zum selbstbestimmten Wohnen in der Gemeinde, die zu folgenden Schlussfolgerungen kommt:

»Bei teureren Großeinrichtungen können Entscheidungsträger davon ausgehen, dass Bewohner mit leichteren Behinderungen im Rahmen guter gemeindeintegrierter Dienste bei gleicher oder besserer Versorgungsqualität zu niedrigeren Kosten versorgt werden können. Die Kostenwirksamkeit des gemeindeintegrierten Modells ist hierbei also besser. Eine gute gemeindeintegrierte Versorgung von Menschen mit schwereren Behinderungen aus teureren Großeinrichtungen wird genau so viel kosten, wobei die Versorgungsqualität besser sein wird. Folglich ist auch hier die Kosteneffizienz des gemeindeintegrierten Modells besser.« (Mansell u.a. 2007, im Internet)

De-Institutionalisierung scheitert nicht an den Kosten sondern an der zu geringen politischen Steuerung der Eigendynamik des privilegierten Dienstleistungssektors der Behindertenhilfe und fehlender Umverteilung. Jede Reform läuft unter diesen Bedingungen auf eine Verdoppelung der Systeme hinaus, den bekannten »two track approach« den sozial und finanziellen teuersten Weg, der weder von Qualität und Wahlfreiheit von akzeptablen Alternativen (»choice«) noch von der aktiven Beteiligung der Betroffenen (»voice«) geprägt ist, sondern von Ausweitung und Logik von Dienstleistungssystemen. Die Entwicklung in Richtung schulischer Integration unter Aufrechterhaltung der Sonderschulen ist dafür ein Beispiel, wie sich ein gesellschaftliches Subsystem über Steuerung der Definition ihres Klientels (»sonderpädagogischer Förderbedarf«) stabilisiert und ausweitet.

6. Warum sich trotz UN-Behindertenrechtskonvention und trotz rational gut zu argumentierender Forderung nach Umverteilung keine entscheidende De-Institutionalisierung in die Behindertenhilfe zu bemerken ist, ist mangelndem politischen Willen zu verdanken, der seinen Nährboden nicht nur in verselbständigten institutionellen Interessen der Verwertung von Behinderung sondern auch in den historisch und kulturell stark geprägten Bildern von Behinderung hat: Behinderung als Schicksals-Konstruktion und die Logik der Angst, die Nähe, Akzeptanz und Chancengerechtigkeit verhindert. (vgl. Schönwiese 2012) Der Kampf um Menschenrechte ist damit auch eine Politik um Gefühle und gegen die vorherrschende "Politik der Gefühle"(Haslinger 2001) sowie grundsätzlich ein Bemühen um Gerechtigkeit, die ökonomische, kulturelle und politische Dimensionen gleichermaßen beinhaltet. (Plangger/Schönwiese 2013)

Literatur:

Europäische Kommission - Generaldirektion für Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit: Bericht der Ad-Hoc-Expertengruppe zum Übergang von der Heimpflege zur gemeindenahen Pflege, Brüssel 2009. Im Internet: http://www.integration-tirol.at/dokumente/upload/094f2_desinstitutionalisation-german.pdf (25.4.2013)

Europäische Expertengruppe zum Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft: Gemeinsame europäische Leitlinien für den Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft, Brüssel 2012. Im Internet: http://deinstitutionalisationguide.eu/wp-content/uploads/2013/04/Common-European-Guidelines_German-version.pdf (25.4.2013)

Frehe, H.: Thesen zur Assistenzgenossenschaft, in: Behindertenzeitschrift LOS Nr. 26/1990, o.S.

Goffman, E.: Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/ Main 1973

Haslinger, J.: Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich, Frankfurt 2001

Hinz, A.: Inklusion und Arbeit - wie kann das gehen? 2006. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/imp-39-06-hinz-inklusion.html (25.4.2013)

Hohmeier, J: Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß. In:Brusten, M. /Hohmeier, J. (Hrsg.), Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975. S. 5 - 24. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/hohmeier-stigmatisierung.html (25.4.2013)

Mansell, J. u.a.: Übergang von Großeinrichtungen zum selbstbestimmten Wohnen in der Gemeinde - Ergebnisse und Kosten: Bericht einer europäischen Studie. Teil 1: Zusammenfassende Darstellung. Canterbury 2007. Im Internet: http://ec.europa.eu/employment_social/index/vol1_summary_final_de.pdf (25.1.2009)

McKnight, J.: Professionelle Dienstleistung und entmündigende Hilfe, in: Ivan ILLICH (Hg.): Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek 1979, S. 37-56

Plangger, S./ Schönwiese, V.: Bildungsgerechtigkeit zwischen Umverteilung, Anerkennung und Inklusion. In: Dederich, M. u.a. (Hg.): Gerechtigkeit und Behinderung - Heilpädagogik als Kulturpolitik. Gießen 2013, S. 55-76

Schönwiese, V.: Behinderung als Schicksals-Konstruktion. Zur Analyse von öffentlichen Darstellungen behinderter Menschen. In: Virus, Beiträge zur Geschichte der Sozialmedizin, Nr. 11, 2012, S. 11-26

Quelle:

Volker Schönwiese: Thesen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Perspektive der De-Institutionalisierung

bidok-Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 16.09.2013

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation