Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Eltern im Spannungsfeld von Selbstorganisation und professioneller Hilfen

Autor:in - Volker Schönwiese
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Tagung des European-Integration-Network (EIN) im HELIOS-Programm der Europäischen Kommission, Reutlingen, 20.-25.September 1994: Eröffnungsreferat: Integration - eine Herausforderung im Gemeinwesen. Verantwortung von Eltern, Selbsthilfe, professioneller Unterstützung und (lokaler) Politik.
Copyright: © Volker Schönwiese 1994

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich dafür, daß ich als Mitglied österreichischer Selbsthilfegruppen für Integration für das Eröffnungsreferat eingeladen worden bin. Ich möchte versuchen, zu dem mir genannten Thema des Einleitungsreferates einige Hintergrundüberlegungen darzustellen.

Für Integration - oder besser: - für Nichtaussonderung zu arbeiten und zu kämpfen, ist eine Herausforderung für alle Beteiligten.

Die Herausforderung geht davon aus, daß Nichtaussonderung seinem Anspruch nach sich nicht spalten läßt, sich nicht auf einzelne Handlungen und Handlungsfelder reduzieren läßt. Nichtaussonderung erfordert ganzheitliches Denken.

Dies beinhaltet strukturelles Denken bezogen auf:

  • Das institutionelle Tätigkeitsfeld,

  • die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen - die sich in Gesetzen verwirklichen

  • sowie die alltäglichen kollektiven Interpretations- und Wissensmuster, die Behinderung konstituieren.

Ganzheitliches Denken geht aber auch vom individuellen Handeln von behinderten und nichtbehinderten Personen aus, wobei natürlich gesellschaftliche Strukturen als Handlungsrahmen und individuell vollzogene Handlungen in einem komplexen, Alltag konstituierenden Wechselwirkungsverhältnis stehen.

Das Erreichen der geforderten ganzheitlichen, kompletten Sichtweise erfordert auch, daß im Rahmen einer kritischen Sicht der individuellen Dimensionen von Nichtaussonderung zwei Perspektiven voll berücksichtigt werden. Die eine Seite ist die der Eltern - Mütter, Väter -, LehrerInnen, TherapeutInnen, ÄrztInnen usw. also von Erwachsenen und von im üblichen Sinn Nichtbehinderten; die andere Seite die Perspektive der behinderten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen - der direkt Betroffenen. Diese Unterscheidung ist nicht so banal, wie sie klingt, da die Sicht und Definition von Behinderung sich alltagspraktisch über erwachsene Nichtbehinderte als Träger gesellschaftlichen Wissens verwirklicht und das Gegenwissen der direkt Betroffenen, das sich durch Selbsthilfegruppen immerhin schon öffentlich darstellt, - das Gegenwissen also noch viel zu wenig Kraft hat, um den Dialog, der die unterschiedlichen Positionen von Behinderten und Nichtbehinderten in einem gemeinsamen Prozeß verbinden könnte, zu einem gleichwertigen zu machen.

Erlauben Sie deshalb, daß ich meine Ausführungen explizit auch aus dem Pathos meines Betroffenseins gestalte. Zu versuchen, in Dialog zu treten, ohne die eigene Position zu benennen und sich selbst zu vertreten kann nur zu Mißverständnissen führen. Denn: So herrschaftsfrei, wie manchmal gewünscht oder unterstellt, sind die herrschenden Dialoge nicht, wie wir wissen.

Ohne mich hier um eine anthropologische Rechtfertigung zu bemühen, gehe ich davon aus, daß wir behinderte Menschen

1. ein grundlegendes Recht auf Nichtaussonderung haben,

2. ein grundlegendes Recht auf ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben und

3. ein grundlegendes Recht, daß Gewalt und Diskriminierung gegenüber uns behinderten Menschen verhindert wird.

Zum ersten Punkt, der Nichtaussonderung, ...

sind in den letzten Jahrzehnten weitgehende Konzepte entwickelt worden - die Integrationspädagogik beginnt sich zu etablieren. Neben mehr oder weniger zaghaften fachlichen Entwicklungen haben sich in der Tradition von Sozialen Bewegungen Behinderten- und Elternselbsthilfeinitiativen gebildet, die für die Nichtaussonderung aus allen Lebensbereichen, z.B. für die wohnortnahe schulische Integration kämpfen. Hier ist in der Bildung neuer Rahmenbedingungen viel in Bewegung gekommen, ohne daß ein Systemwechsel von der Segregation zur Integration deshalb auch schon vollzogen ist. In Österreich wurde z.B. ein Gesetz erreicht, das Eltern behinderter Kinder ein Antragsrecht auf Nichtaussonderung ihrer behinderten Kinder in der Grundschule gibt und das zur Einrichtung einer großen Anzahl von Integrationsklassen[1] geführt hat. Zur Sicherung und Weiterentwicklung dieses Teilerfolgs gibt es noch außerordentlich viel zu arbeiten und weiter zu entwickeln.

Der 3. Punkt bezüglich Verhinderung von Gewalt und Diskriminierung - schrecklich aktualisiert durch die "Neue Euthanasiedebatte" und offene Gewalttaten gegen behinderte Personen - ,hängt stark von der Anerkennung des 2. Punktes, dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ab.

Hier möchte ich nun mit konkreten Beispielen ein Stück weiter argumentieren.

Georg Feuser einer der konsequentesten Denker in Richtung schulischer Integration, nennt als unabdingbare didaktische Prinzipien und damit Rahmenbedingungen des integrativen Unterrichts, das Prinzip der Kooperation am gleichen Gegenstand und die Individualisierung[2]. Ich füge hinzu, daß diese integrative Didaktik zusätzlich erfordert, daß z.B. Lehrerinnen und Lehrer bereit sind vom realen Kind auszugehen und nicht von den Bildern, die sie von dem behinderten Kind u.U. haben. Gegenüber uns behinderten Menschen wird vielfach aufgrund von Bildern gehandelt, die unserer Realität nicht entsprechen. Der Schock den Eltern von behinderten Kindern haben, wenn sie ein behindertes Kind bekommen ist ja zum großen Teil der Schock, den sie von den Bildern von Behinderung beziehen, der u.U. völlig abgelöst von der Realität des Kindes selbst ist. Diese Bilder, die Behinderte mehr oder weniger zu monströsen, fremden Wesen machen, sind aber nicht nur die eigenen Bilder der Eltern, sie werden oft von "freundlichen" Verwandten und Bekannten und insbesondere auch von den Profis im ärztlich dominierten Team besonders heftig vermittelt.

So verschmelzen die Bilder von Behinderten schnell mit einem unterstellten Anderssein. Das Bild wird zur Realität. Die Psychoanalytikerin Dietmut Niedecken hat gezeigt, daß dieser Vorgang als Phantasma erklärt werden kann.

Sie sagt: "Phantasmen sind jene psychischen Konfigurationen, in denen Gesellschaften ihre Herrschaftssysteme in den Individuen gesellschaftlich unbewußt absichern, sie wie unabänderlich und naturgegeben erscheinen lassen. Sie sind in Institutionen organisiert und verleihen diesen ihre Aura von zeitloser Notwendigkeit."[3]

Die unbewußte Absicherung der Phantasmen geschieht durch die Bindung an Gefühle die sich jeweils gegen die Behinderten wenden. Das eigene Erleben von Verlust und Trauer sowie der Angst vor Verlust und Trauer wird z.B. in der Leidensprojektion umgesetzt. Fredi Saal - ein Behinderter der nur durch Zufall der Nazi-Euthansie entkommen ist - hat das unlängst so beschrieben: "Nein, nicht der Behinderte erlebt sich wegen seiner Behinderung als unnormal - er wird von anderen als unnormal erlebt, weil ein ganzer Ausschnitt menschlichen Lebens ausgesondert wird. Dadurch bekommt seine Existenz etwas Bedrohliches. Man geht dabei nicht von den behinderten Menschen selbst aus, sondern vom Erlebnis der eigenen Person. Man fragt sich, wie man selbst reagieren würde, schlüge jetzt eine Behinderung zu - und überträgt das Ergebnis auf den Behinderten. So bekommt man ein völlig verzerrtes Bild. Denn man sieht nicht den anderen, sondern sich selbst. Das hat ein Paradoxes Verhalten zur Folge: Man sieht in den anderen das Leid geradezu hinein - und meidet deshalb seine Gegenwart."[4]

Die Angst vor dem projizierten Leid mündet in Angstabwehr und die würde ich dann so beschreiben: Angstabwehr ist die individuelle, ästhetisch vermittelte Reaktion auf die gut internalisierte Last der gesellschaftlichen Wertvorstellungen vom leistungs- und funktionsfähigen Menschen.

Wir leben eben in einer Leistungsgesellschaft in der die individuelle Leistungs- und Bildungsfähigkeit des Bürgers erste Pflicht ist - dies ist tief in unser bürgerlich-aufgeklärtes Unbewußtes als Erschrecken und distanziert-nichtbeachtendes oder distanziert-mitleidiges Verhalten gegenüber behinderten Menschen eingepflanzt.

Ich hoffe, ich werde nicht mißverstanden. Was ich hier sage, ist keine Anschuldigung, sondern der Versuch der Benennung von Bedingungen, die im gemeinsamen Handeln und in Nichtaussonderung in Familie und Schule aufgehoben und in Therapiebemühungen - soweit sie überhaupt sinnvoll sind - handlungsleitend berücksichtigt und überwunden werden müssen. Selbsthilfegruppen von Eltern behinderter Kinder oder Behindertenselbsthilfegruppen thematisieren das meist - wie bewußt oder unbewußt auch immer - sehr stark.

Jetzt wieder aus meiner Position: Ich anerkenne den Schock der Familie vor dem behinderten Kind als in unserer Gesellschaft unumgängliche Realität. Ich verlange aber genauso den durch nichts einzuschränkenden Respekt vor dem behinderten Kind und die Anerkennung des Schocks des behinderten Kindes vor dieser behindertenfeindlichen Welt, in die es hineingeboren wird. Vieles was bei behinderten Kindern als Behinderung diagnostiziert wird, ist nichts anderes als die Diagnose dieses Schocks und seiner lebensgeschichtlichen Folgen, der dem Kind selbst wieder als Behinderung oder abweichendes Verhalten angerechnet wird.

Die in Diagnosen ausgelebten institutionellen Allmachtsphantasien verstellen den Blick auf das reale Kind und auf die selbst produzierten Hospitalismen.

Zum Schock der Eltern über das behinderte Kind ist noch etwas anzumerken, nämlich daß das Problem vorwiegend an den Müttern hängen bleibt. Die Väter delegieren das Problem an die Frau. Mag in der frühkindlichen Sozialisationsphase, die durch die engste Symbiose zwischen Mutter und Kind gekennzeichnet ist, dies noch nicht besonders auffallen, so bekommt es seine unumkehrbare Bedeutung mit dem Zeitpunkt, wo die zunehmende Auflösung der Symbiose durch Ansätze von Spielen und Erweiterung des Handlungsspielraumes des Kindes das Hinzutreten von Dritten erfordert. Die Weigerung der meisten Männer hier in gleicher Betroffenheit wie die Mütter Verantwortung zu übernehmen, wird oft zu einer lebensbestimmenden Sozialisationseinschränkung für Behinderte mit schwerwiegenden Folgen[5]. Der Mann als Repräsentant des patriarchal-gesellschaftlichen Überichs und den entsprechenden Phantasmen trennt sich von dem Kind oft von Anfang an, szenisches Vorbild für alle folgenden Segregationen. Der Mutter wird es überlassen, die durch Phantasmen bestimmte Entwicklung zu verantworten. Wer mag in so einer Situation über Mord- und Selbstmordphantasien von Müttern - die regelmäßig und fast notwendig auftreten - und die folgenden schwersten Schuldgefühlen verwundert sein. Die schon zitierte Psychoanalytikerin Niedecken schreibt dazu: "Der gesellschaftliche Mordauftrag: So will ich das nennen, womit die Mütter geistig Behinderter beladen und alleingelassen werden."[6]

Alleine diese sehr kurze Analyse zeigt schon die - ich sage - "Perversität" der rationalen Euthanasie-Debatte, die das Entscheidungsrecht von Eltern und Ärzten auf Tötung von behinderten Kindern einführen will.

Das Merkwürdige dabei ist, daß Eltern trotz der genannten Probleme als unmittelbar Mitbetroffene oft besser in einem Prozeß der Trauerverarbeitung (wie partiell dieser auch immer bleibt) einsteigen - insbesondere, wenn sie sich an Selbsthilfegruppen beteiligen - , - also Eltern oft besser in den Prozeß der Trauerverarbeitung einsteigen als viele Profis, für die die Auflösung der Angstabwehr eigentlich die Voraussetzung wäre, überhaupt pädagogisch oder therapeutisch handlungsfähig zu sein. Vieles, was als spezielle Didaktik oder Therapie für behinderte Kinder und Jugendliche gilt, ist nichts anderes als der institutionalisierte Versuch, wieder heil und normal zu machen, wo es zuerst einmal darum ginge, die Selbstbestimmung und eigene Ausdrucksfähigkeit des behinderten Kindes oder des Jugendlichen zu akzeptieren. Neben der Phantasma-Produktion und der Diagnose, werden damit Behandlungstechnologien Mittel, um die Realität der Therapierten entsprechend gesellschaftlicher Normen noch perfekter zuzurichten.

Der andauernde Therapieboom für behinderte Kinder ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Man könnte wie bei Witzen fast jede Woche sagen: Übrigens kennen sie die neueste Therapie? Nach der sehr interessanten Biblio-, Wander- und Dunkeltherapie hätte ich als neuestes Stück hier die Delphintherapie zu bieten. Sie haben noch nichts davon gehört? Dann kaufen Sie sich schnell ein Flugticket nach Florida oder kaufen einen Delphin für die eigne Badewanne ...[7]

Dieser ganze Sonderheilungs- und Therapiewahn ist der Grund warum nicht speziell ausgebildete LehrerInnen, sofern sie nur gute LehrerInnen sind, mit behinderten Kindern oft besser zurecht kommen und die Normalität behinderter Kinder besser erkennen als SonderschullehrerInnen, die in ihrer speziellen Situation die Angstabwehr rituell züchten mußten, statt sie auflösen zu können. Vieles was als Therapie benannt wird, ist nur aus der Angstabwehr der betroffenen Erwachsenen zu verstehen.

Das ist kein Anti-Professionalismus - es geht darum, neue und bessere Standards in der professionellen Begleitung behinderter Menschen zu finden.

Allen, die an Nichtaussonderung arbeiten, muß klar sein, daß es die Mächtigkeit der Angstabwehr erforderlich macht, Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrem Eigensinn, ihrer Eigensicht und Selbstbestimmung zu respektieren. Das bedeuten z.B. auf behinderte Jugendliche bezogen, sie auch loslassen zu können und anzuerkennen, daß sie erwachsen werden. Von diesem Problem sind auch "Integrationseltern" nicht ausgenommen. Eltern, die für ihre Kinder kämpfen, müssen auch irgend wann einmal ihren Kindern zugestehen, daß sie sich selbst durch das Leben kämpfen. Kinder, die als Erwachsene immer noch im Elternhaus leben- wie bei uns üblich -, sind in ihrem Recht auf Selbstbestimmung sicher nicht anerkannt. Die Folge ist oft, wie ja bekannt, eine spätere Heimeinweisung dieser als Kinder gehaltenen behinderten Personen. Zu viel Schutz vor den Risiken des Lebens, ob das nun Straßenverkehr oder Sexualverkehr ist, entmündigt. Die Verweigerung von Lernmöglichkeiten im Straßenverkehr bietet keinerlei Schutz. Verweigerung von Sexual- und Verhütungsaufklärung ist kein Schutz, so wie Sterilisation kein Schutz vor Vergewaltigung ist. Der einzige Schutz vor Gefahren ist in der Förderung der Selbstbestimmung zu sehen, die durch entsprechenden Respekt vor der autonomen Persönlichkeit von behinderten Personen, wie jung oder alt auch immer sie sind, entstehen kann. Die Mutter eines behinderten Kindes hat unlängst bei einer Diskussion der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Integration deutlich auf dies hingewiesen und von der Selbstverantwortung von neugeborenen Kindern gesprochen. Ich hoffe ich muß nicht betonen, daß diese Selbstbestimmung und Verantwortung natürlich nur unter gesicherten sozialen Bezügen und unter Aufrechterhaltung des Dialogs gesehen werden kann und nicht mit dem Abschieben eigener Verantwortung auf behinderte Personen zu tun hat.

Das Loslassen durch die Eltern und Verantwortlichen muß im Sinne der schon vorhergenannten Entwicklungslogik der Symbioselösung schon lange vorher im Respekt vor dem "Recht des Kindes auf Eigensinn"[8] geübt werden, sonst funktioniert auch die von uns erkämpfte Integration nicht. Mit "Kooperation am gemeinsamen Gegenstand und Individualisierung" ist der schulpädagogische Rahmen genannt; wenn er entsprechend "entwicklungslogisch" gefüllt werden soll, ist der gegenseitige Respekt und die Auflösung der Angstabwehr im Dialog unumgänglich.

Ich sage das alles unter dem Aspekt, daß ich es selbst erlebt habe, daß ich in meiner Kindheit zwar schulisch ausgesondert aber als Externist nicht einer Sondereinrichtung übergeben, durch Eltern- und Hauslehrerunterricht intellektuell sehr gefördert wurde - ich war eben ein "gescheites körperbehindertes Kind". Dennoch hatten meine Eltern einen richtigen "Heilungswahn", der vom medizinischen und anderen fachlichen Personal ganz stark unterstützt wurde. Hier gab es, um mit Milani-Comparetti zu sprechen - eine "perverse Allianz"[9] zwischen Eltern und medizinischem System. Bei mir führte das neben richtigen und wichtigen medizinischen Maßnahmen dazu, daß ich als behinderte Person, so wie ich war und bin, keinesfalls anerkannt worden bin. Ich denke, ich habe zu viele Jahre incl. einer Psychoanalyse gebraucht, um mit dieser existentiellen Abwertung umgehen zu lernen, ohne die Schuld vorwiegend bei mir selbst zu suchen. Zur "Gescheitheit" ist immer auch die Forderung nach "Bravheit" gekommen, was immer auch bedeutet hat, daß ich die Verantwortung für die Trauer meiner Eltern zu übernehmen hatte und somit auch die Pflicht ihnen ihre Trauer zu verkleinern. Meine eigene Trauer über den ganzen Vorgang hatte dabei zur Bravheit zu verkommen, mit dem intimen Wissen, daß ich an dem Problem meiner Familie schuld bin - Schuldgefühl zu erzeugen ist immer noch einer der beliebtesten bürgerlichen Techniken der Angstabwehr und Disziplinierung.

Ich meine damit natürlich auch, daß zumindest wir erwachsene Behinderte nicht mit hilflosen Gegenschuldzuweisungen operieren dürfen und uns aus einer Opfer-Haltung an der Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse beteiligen. Sich zum Opfer zu stilisieren ist etwas anderes als Gegenwehr gegen behindernde Denkmuster, Verhaltensweisen und Verhältnisse zu leisten.

Damit sollte klar sein, daß auch meine Beschreibung nicht als individuelle Anklage beabsichtigt ist, sondern als die Beschreibung einer persönlich erlebten, gesellschaftlich geprägten Szene.

Mit meinem persönlichen Hintergrund, den die meisten behinderten Erwachsenen in ähnlicher Weise haben, oft noch verstärkt durch die Vorenthaltung von schulischer Förderung und Qualifikation durch den Sonderschulapparat,

- mit diesem persönlichen Hintergrund war und ist für mich der gemeinsame Kampf von Behinderten - oder Krüppeln wie wir oft sagen um das uns bedrohende Gewaltsystem nicht zu verschleiern -

- ist für mich der gemeinsame Kampf gegen Aussonderung und gegen Gewalt und für Selbstbestimmung persönlich unumgänglich. Der Kampf gegen aussondernde Bedingungen und das damit verbundene Ringen um die persönliche Standortbestimmung ist für meine Identitätsentwicklung unverzichtbar.

So wie bei den Eltern sehe ich die organisierte Selbsthilfe als einzige Form des politischen und auch persönlichen Auswegs, der zur Selbstbestimmung führen kann. Ziel dabei ist, Selbstbestimmung zu erreichen. Die kann nach der amerikanischen "INDEPENDENT-LIVING-BEWEGUNG" so definiert werden[10] : "Selbstbestimmt leben heißt, KONTROLLE ÜBER DAS EIGENE LEBEN zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrnehmen und Entscheidungen fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Unabhängigkeit ('Independence') ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muß." - und (was ganz wichtig ist) kein neues Kompetenzkonzept, kein Konzept das definierte Fähigkeiten bei Behinderten voraussetzt!

Damit will ich meine Argumentation nun beenden und noch einmal zusammenfassen.

Ich habe versucht in diesem kurzen Referat zu zeigen, daß entsprechend dem Anspruch einer ganzheitlichen Sicht von Behinderung "blinde Flecken" aufgespürt werden müssen. In diesem Zusammenhang muß der Prozeß der Verarbeitung von gesellschaftlicher und individueller Angstabwehr mehr Beachtung finden. Eltern- und Behindertenselbsthilfegruppen können sich dem nicht entziehen. Dem professionellen System der Behindertenhilfe steht die Akzeptanz der dargelegten Problemdefinition noch weitgehend bevor, sie verharrt in weiten Bereichen in Segregation und Abwehr. Für die Darstellung der Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der professionellen Begleitung behinderter Menschen und ihrer Familien, benötigte ich mehr als ein weiteres Referat. Sicher ist, wir müssen in einen wesentlich erweiterteren kritischen Dialog eintreten, als das bisher geschehen ist, wenn wir an Entwicklung und Integration interessiert sind.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.



[1] Im Schuljahr 1993/94 existierten in Österreich bereits 450 Integrationsklassen

[2] Vgl. Georg Feuser: Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik, in: Behindertenpädagogik, 1/1989, S. 4-48.

[3] Dietmut Niedecken: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. Ein Buch für Psychologen und Eltern, München (Piper Verlag) 1989, Seite 113.

[4] Fredi Saal: Behinderung = Selbstgelebte Normalität. Überlegungen eines Betroffenen, in: Miteinander, 1/92, Seite 8.

[5] Vgl. Niedecken, a.a.O. Seite 71.

[6] Vgl. Niedecken, a.a.O. Seite 55.

[7] Vgl. Delphine therapieren Kinder, in: Profil, 27. Sept. 93, Seite 97. Zitat daraus: "Eine mögliche 'Heilungsquelle' könnte in den von den Delphinen ausgesandten Schallwellen liegen, die das zentrale Nervensystem und die Gehirnströme, vorallem bei Kindern, deren Gehirn sich noch im Wachstum befindet, stimulieren."

[8] Vgl. Reinhard Voß (Hg.): Das Recht des Kindes auf Eigensinn. Die Paradoxien von Störung und Gesundheit. Mit Beiträgen u.a. von Anna Gidoni und Hans von Lüpke, München (Reinhardt Verlag) 1989.

[9] Adriano Milani-Comparetti: Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit". In: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit..., Paritätisches Bildungswerk 1986, Seite 10.

[10] Horst Frehe: Thesen zur Assistenzgenossenschaft, in: LOS Nr. 26/1990, Seite 37).

Adresse:

Univ.Doz. Dr. Volker Schönwiese, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, Liebeneggstr. 8, A-6020 Innsbruck, Tel.:0512-507-4049 (FAX 0512-507-2880)

Quelle:

Volker Schönwiese: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Eltern im Spannungsfeld von Selbstorganisation und professioneller Hilfen

Tagung des European-Integration-Network (EIN) im HELIOS-Programm der Europäischen Kommission, Reutlingen, 20.-25.September 1994: Eröffnungsreferat: Integration - eine Herausforderung im Gemeinwesen. Verantwortung von Eltern, Selbsthilfe, professioneller Unterstützung und (lokaler) Politik.

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Stand: 22.08.2005

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